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Es war Vormittag in der großen Stadt. Asphalt und Steingegitter rauchten vom Verkehr. Die Kupees der Straßenbahn schwebten wie lange Kadenzen an den Leitseilen entlang, viele stöhnende Vokale durcheinander; in Kurven brach es aus dem Trapez der Straßenquerschnitte hervor, wie Arme voll Ähren ergossen sich Gleise über Plätze, Schwaden taumelnder Luft hingen gleich großen Nestern um ballige Bauminseln, ein Gekrabbel von Fahrzeug und Fußgänger klomm an sternförmigen Kreuzungen zusammen und barst überlaufend auseinander. Der Boden, eine riesige Membrane, rieselte hohl von Milliarden kleiner Berührungen.
Steward eilte über die Große Straße, die Hauptverkehrsader der Stadt. Er ging schnell, immer schnell, aber gut auf seinen langen Beinen, ein wenig gebeugt in den Knien; turnte um Faustbreite über Wagenborde wie über senkrechte Recke, wich um Daumenlänge sicherstem Tode aus, während hinter ihm das Fahrzeug in ungemindertem Tempo vorbeirauschte. Er fühlte sich inmitten dieser Bewegung sicher. Die Gefahr war nur scheinbar. Wie bei einem Prestdigitateur genügte eine schwache unansehnliche Wendung, um einem drohenden Anprall zu entgehen; wenn er nur um einen Zoll an der eben vorbeiflirrenden Masse vorüber war, war es so gut, als stünde er eine Meile davon. Steward liebte dieses Umbrodeltsein von Bewegung Er liebte die ruhige heitere Ökonomie dieses Ausweichens, die Berechnung, die Gefahr, die tatsächlich eine Gefahr wurde, wenn man plump genug war, um einen einzigen Takt zu spät zu kommen. Diese beherrschbare, förmlich in die Körperbewegung übergeglittene Mechanik war sein eigentlichstes Lebenselement. Er fühlte sie und sich selbst schön, wenn sie aneinander abliefen wie Öl auf Wasser; eng aneinander und doch unberührt, ineinandergreifend gleich rhythmischen Gliedern, hauchweich entweichend, wie Luftwedel sich verblasend. Man tat dem Unrecht. Das alles war nicht Materie mehr, es war durch übermütige Schnelligkeit, durch geniale Bewegung, durch die üppige Möglichkeit der sparsamsten Ausrundung die letzte Potenz von Sinnlichem und in seiner Art Geist geworden.
Es ging ihm nun nur mehr darum, das zu beweisen. Nur darum nahm er diesen Fall so eifrig, in dem sein ganzes körperliches und geistiges System in Frage gestellt werden sollte.
Aber er war bereit, das Element zu tauschen und sich in jedem beliebigen zu bewähren, das man ihm zumutete.
Steward, von der Frottage dieses Verkehrs angeregt, befand sich heute gleichwohl in einer tiefen Unzufriedenheit. Erst kürzlich noch hatte er das fremde Element zu besitzen geglaubt; all die Tage her war es schwingend und figurenbildend in ihm wach gewesen. Heute, an einem sachlichen, stark stofflichen Tage, hatte es sich verloren. Er fühlte sich wieder der gelenkstarke mathematische Steward von sonstmals, der forsche Beobachter und Kalkulator, der Held so vieler dummer und wütender Dinge, die Geheimnisse geblieben waren, bis er sie durchdringend zerfetzt hatte wie ein Mechaniker. Er fühlte sich banal, klug und tüchtig; gesund, fühlte er sich, allzu gesund, und gerade das erregte seine Unzufriedenheit. Er fürchtete den Ausfall an Nervosität für das Werk, das er vorhatte; das schöpferisch Gebannte hatte ihm die Allgemeinheit undeutlich gemacht, aber in diesem Trüben und Chloroformen rottete sich die Imagination leichter zu unvorhersehbaren, um so treffsichereren Bilderketten zusammen.
Er besprang eine Tram. Fest, die große satte Hand an der Messingbarre, zog er sich an den von ihr abschleppenden Zug heran und war von ihm günstig in den Bahnraum gerissen wie ein Gestirn vom andern. Mit Vielen seinesgleichen stand er zwischen schmetternden Fensterscherben. Unter dem Fußboden sang Metall aller Art, knatterte, kochte, flötete; das scherbige Warnen des Signals harkte hinein. Die Gesichter der Menschen waren leer wie Maschinenstücke, Walzen, Spiralen, verlorene Bestandteile, Höhlen, Lager, Rammknorpel, gebrochenes Inventar von wirklichem organischem Gesicht; die ovale Schönheit von Stewards vollkommenem gutem Typ fiel hier auf, manche maßen ihn flüchtig erstaunt. Er fand plötzlich Platz und flegelte sich in ein steifes Holzrechteck, das als Sitz diente. In dieser Beziehung war man noch nicht fortgeschritten.
Ein großes Zeitungsblatt, aus der Tasche gefaltet, verbarg ihn. Er hatte keinen Anlaß, allzuoft gesehen und auf seinen Wegen verfolgt zu werden. Das nächste Mal würde er ein Mietauto nehmen. Vorläufig mußte er bescheiden und anonym bleiben. Darum war er's auch zufrieden, daß die Zeitung von ihm und seiner Hypothese nicht Notiz nahm und den Chef-Kommissär Kovary in der Entfaltung seiner bureaukratischen Tätigkeit zu vollen Ehren brachte.
Kovary, schien es, beherrschte den Fall vollkommen. Eine photographische Aufnahme zeigte ihn in mächtigem Ausrücken gegen die Hauptzeugin, die verwitwete Lady San Remo, die zuerst den Mord entdeckt haben sollte. Kovary hatte ein bekanntes dämonisches System des Verhörs, das besonders weiblichen Delinquenten gegenüber verfing. Er war bei amerikanischen Untersuchungsrichtern in die Lehre gegangen. Daß sein Opfer eine Amerikanerin war, smart, pikant, unverfroren und phantastisch, erhöhte den Reiz. In langen peinigenden Verhören stellte er Zusammenhänge auf, die um den Kopf der merkwürdigen Hauptzeugin eine Schlinge zogen. Die Zeugin leugnete höhnisch und verwies auf den legendären Chinesen als den mutmaßlichen Täter. Kovary, mit einem sadistischen und verliebten Zug in dem wie von Meisterhand schön gekniffenen Gesichte, beugte sich voll zur Zeugin vor und warf sie wie ein Brunnen, der gutes Ding schüttet, mit seiner warmen Mannhaftigkeit an. Es war sein ihm selbst unbewußter Trick. Er war dominierend. Schwächere Naturen, Frauen, brüchige Existenzen knickten unter den Kraftvorzügen, die Natur ihm dämonisch aufgeprägt hatte, zusammen. Wenn er, dies allerdings planvoll, manchmal über unzureichende oder ungemochte Angaben zu toben begann, zerplattete er mit einem Faustschlag metallene Gegenstände in seinem Bereich; es war Übung, ihm erhabene Aschenschalen einer billigen Art hinzustellen; mit einem Hieb schlug er sie eben, ohne daß ihn der Handballen zu schmerzen schien. Aber gerade dabei war er so schön, daß es Vielen eine Wollust war, sich von ihm unterkriegen zu lassen. Die menschliche Seele ist eigentümlich. Diese seine Begabung mußte von richterlichen letzten Instanzen sozusagen oft durchquert werden, denn er war in manchen Fällen geradezu der wandelnde Justizmord. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle aber war er durch seinen seltsamen Einfluß auf minderwertige Gehirne unersetzlich, und so schadeten ihm auch die Angriffe nichts, die von einigen humanitären Stellen gegen ihn gerichtet zu werden pflegten. Ein Irrenarzt hatte ihn in einer Abhandlung als eine soziale Form von geschlechtlichem Monstrum analysiert. Auch diesmal wurde eine Stimme laut, die ihn einer konträren Laune beschuldigte, als seine Methode, mit Lady San Remo zu verfahren, ruchbar wurde. Steward unterstrich die Passage in der Nummer der Zeitung, die er durchlas. Er wollte sie merken, er würde hier gelegentlich einen Bundesgenossen haben. Denn Steward haßte aus Feinheit und höherartiger Menschlichkeit den dämonisch-bureaukratischen Typus des Chef-Kommissärs Kovary, den er aus Amerika genugsam kannte, den rücksichtslosen Boß, der statt ins business in die Polizei geraten ist und seine stierhafte niederreißende Energie in den Dienst der bürgerlichen Gesellschaft stellt.
Durch die hochnotpeinliche Art seines Verhörs hatte Kovary den widerhaarigsten Sündern Geständnisse erpreßt, und jedes zehnte Mal etwa mußte verhindert werden, daß es ein falsches war. Steward deuchte dies ein Fall, in dem die tierische Kraft des Kriminalisten die Angelegenheit aufs falsche Gleis zu schieben drohe. Da er aber hinter dem Vorhang des öffentlichen Mißverständnisses besser geborgen war, beschloß er, den Irrtum des Chef-Kommissärs nicht früher aufzudecken, bis er sich seiner eigenen Gedankengänge vergewissert habe. Die Lady, obwohl gegen den Schluß hin schwächer werdend, wie aus den Zeitungsberichten hervorging, war durch ihren hantigen Widerstand vorderhand außer Gefahr. Wie eine Nadel fuhr sie jedesmal in den Fleischblock, der sich vor ihr türmte, vor den wälzenden Griffen dieses massigen Gehirns verschwand sie unsichtbar in den Ritzen, die dem Koloß unzugänglich waren. Das Gespräch zwischen beiden war für den starken Mann schweißtreibend, für das Weib austrocknend bis in die Zungenspitze. Mit einem dünnen roten Pfeilschuß netzte sie sich schamlos die Lippen und Mundwinkel und stach ihrem Partner ein erschauerndes Gefühl unter die Haut, wie an Widerhaken blieb er an ihrem Munde hängen, wenn sie den Köcher der Lüste schloß, klebte minutenlang atemlos an seiner Glasur und wälzte dann neuerdings seinen runden emaillenen Blick auf ihre schlanke hohnvolle Seele. Sie fühlte ihn, geistig überlegen seiner törichten Macht, aber umklammert von den runden Schwellungen an seiner Schulter, wie das schlechthin Ungeheuerliche auf sie stürzen, er nahm sie auf wie eine Injektion; beide rangen mit diskretem Vergnügen.
Aber war es nun List oder ein weiblicher Wille zur Unterlegenheit: Missis San Remo versprudelte sich plötzlich in ihren Aussagen und ließ den Großen mit seiner Breitseite an sie heran. Sie bäumte sich ein letztes Mal auf, schickte irre Blicke wie ein Kind im fremden Raum an die Wände und über die Möbel und erklärte ebenso trotzig, wie sie stets den Chinesen vorgeschoben hatte, daß es gar keiner gewesen sei: »Aber es war ja gar kein Chinese. Es war ein Tatare. Es war unser Tatare aus Dardjilling.«
Eine Bewegung ging fühlbar durch die Öffentlichkeit, die diesen Prozeß verfolgte. Man spürte förmlich ein Aufbücken, ein Blinzeln aus einem Universalauge verfinsterte die Sonne. Diese Änderung der Tonart war Unsicherheit, war Zugeständnis. Kovary stemmte sich gegen den Spalt, der sich geöffnet hatte.
Missis Philomena Akte San Remo, geborene Blustler, aus Brooklyn-Newyork, erzählte eine seltsame und phantastische Geschichte, der man anhörte, daß sie von etwas ablenken sollte. Sie sollte davon ablenken, daß die Ergebnisse des Chef-Kommissärs Kovary den Zusammenhang zwischen dem Tode des Gesandten und dem Niedergang der Geheimbaugesellschaft klargestellt hatten. Missis Akte hatte Beziehungen zu jenem Mister Simpson, der in die Malversationen der Geheimbaugesellschaft verwickelt war. Der Gesandte hatte wegen dieses skandalösen Verhältnisses scharfe Auseinandersetzungen mit seiner Frau. Wer also ein Interesse daran gehabt hatte, diesen Gesandten verschwinden zu lassen, war klar. Es verschwand der Gesandte aus dem Leben und das Geheimbau-Dossier von seinem Schreibtisch. Nach Simpson wurde geforscht. Daß er bei San Remo eingedrungen war und ihn ermordet hatte, konnte nicht nachgewiesen werden. Der Verdacht zumindest der Mitwisserschaft blieb also an seiner Geliebten hängen.
Dieses Kovarysche Arrangement bestritt die anrüchige Witwe durch die Vorspiegelung eines Chinesen.
Drei Tage lang hielt sich Missis San Remo an den Chinesen. Dann brach ihr der Manneindruck, den sie täglich zu empfangen hatte, das Rückgrat, sie bog sich ihm; oder sie warf sich ihm vor, auf daß das pränzende Tier sie zu seiner und ihrer Lust verschlinge. So schien es wenigstens. Sie ließ den Chinesen fallen und drechselte ein kleines Abenteuer.