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5.

Am nächsten Tage besuchte Richard den Gerichtsdirector Zeltwach, der nach der ersten Begrüßung mehrmals leise auf Richards Brust schlug, und ihm freundlich zunickte.

Was soll Ihre Zeichensprache bedeuten? fragte dieser.

Sie soll bedeuten, erwiederte der greise Richter, daß da drinnen etwas sitzt, das mir Freude macht. Ein Herz für fremdes Leid und Muth zum Beistand.

Das bedarf keines Lobes, sagte Richard. Die meisten Menschen haben etwas von dem göttlichen Funken, den Leidenden in ihrer Noth beizustehen; ein Mann meines Standes aber ist dazu noch mehr verpflichtet, wie jeder Andere. Denn unter der Erde geht es oft noch viel fürchterlicher her, wie oben auf, und brüderliche Liebe und Beistand thun in der Finsterniß noch wohler, wie im Sonnenschein.

Die dunklen, warmen Augen des Gerichtsdirectors ruhten liebevoll auf dem jungen Freund. Sie haben doch keinen Schaden von dem Sprunge ins kalte Wasser gehabt? fragte er dann.

Nicht den geringsten, versicherte er, allein etwas recht Freudiges ist mir begegnet, ich habe meine Wette gegen Fräulein Rosa und meinen Onkel gewonnen.

Das heißt, Sie haben Ihren Rock wieder erhalten?

Heute ganz früh schon hat ihn die arme Frau gebracht. – Es wäre fein großer Verlust gewesen, aber es hätte mich betrübt, wenn ich mich geirrt hätte. Den Armen, den Elenden traut man, als verstände es sich von selbst, auch die meiste Schlechtigkeit zu, und in gewisser Beziehung ist es auch so, gewisse Verbrechen sind die Folgen der Armuth und des Elends: Diebstahl wird zumeist von denen begangen, die nichts haben und nicht die moralische Kraft besitzen, durch Arbeit und Redlichkeit sich ihr Loos zu erleichtern; Mordthaten fallen zumeist in Folge von Gewinngier und Gier nach Besitz vor. Für die Reichen, die Wohlhabenden, die Guterzogenen und von den gesellschaftlichen Verhältnissen Begünstigten ist es daher gar kein so großes Verdienst, nicht zu stehlen und nicht zu morden, ein viel größeres ist es, wenn sie nicht lügen, nicht betrügen, nicht verläumden, ihres Mitmenschen Ehre und Rechte unangetastet lassen, keine schamlosen und nichtswürdigen Handlungen begehen, für welche es keine Gesetze giebt.

Der Gerichtsdirector ging lächelnd und schweigend auf und ab, seine Hände auf dem Rücken, seine weißen, breiten Augenbrauen in die Höhe gezogen und sein Gesicht voll Zustimmung zu Richards Bemerkungen.

Um dessenwegen ist es mir daher immer eine rechte Freude, fuhr dieser fort, wenn ich einen Armen finde, der jenen harten Urtheilen sich entzieht und zeigt, daß er besser ist, wie seine Richter. Aber diese Frau hat viel Ungewöhnliches. Sie ist so hart wie Eisen und doch ist menschliches Empfinden darin. Heute wurden ihre Augen roth, als sie mir dankte und sagte, sie wüßte wohl, das Kind wäre verloren gewesen, wenn ich nicht in der Nähe war, aber ein Geschenk wollte sie nicht nehmen und ihr Schicksal wollte sie mir nicht vertrauen. Sie nahm ihren Korb und ging davon.

Hat sie Ihnen nicht gesagt, wo sie sich aufhält? fragte Zeltwach.

Giebt es hier umher eine Mühle, welche die Buschmühle heißt?

Der Richter nickte bejahend.

So muß sie dort wohnen, denn sie murmelte einen Namen, der wie Buschmühle klang.

Es ist ihr alter Wohnplatz, sagte der Gerichtsdirector.

Sie kennen die Frau also?

Ich kenne sie recht gut, fuhr Zeltwach fort, und leider muß ich Ihnen sagen, daß sie zweimal in meinen Händen gewesen ist. Trotz dessen, daß sie Ihren Rock ehrlich zurückbrachte, ist sie einmal wegen Diebstahl bestraft worden; das zweite Mal wegen lebensgefährlicher Drohungen und Angriffe auf Forstbeamte. Damals saß sie sechs Monate im Gefängniß, dann verschwand sie aus der Gegend, und seit dieser Zeit sind mehr als zwei Jahre vergangen. Ich weiß nicht, was sie wieder hergeführt hat.

Sind Sie überzeugt nicht in der Person zu irren? fragte Richard nachdenkend.

Ohne Zweifel, nein, antwortete der Richter. Als Sie gestern den Vorfall erzählten, wußte ich auf der Stelle, wer das Weib war; auch der Forstmeister wußte es. Ihr Onkel hat sie nicht gekannt und Rosa weiß nicht von Allem, was damals vorfiel. Sie heißt Gertraud, ihr Mann hieß Greif; da er aber auf der Buschmühle wohnte, die sein eigen war, wurde er von allen Leuten der Buschmüller genannt.

Sie sieht nicht aus wie eine Diebin, sagte Richard.

Mein lieber, junger Freund! rief Zeltwach seufzend aus, die Geschichte dieser unglücklichen Menschen und ihre Verbrechen hängen mit unseren socialen Einrichtungen zusammen und sind deren Folgen. Greif war ein rascher, fleißiger Mann, es konnte ihm Niemand Uebles nachsagen. Die Mühle im Busch ist eine Lohmühle Eine Lohmühle dient zur Zerkleinerung der für die Lohgerberei notwendigen pflanzlichen Gerbmittel. Es werden vor allem Fichten- und Eichenrinden aus Lohwäldern zur Lohe zermahlen. Diese ist sehr gerbsäurehaltig und deshalb geeignet zum Gerben von Leder. und hat ein paar Oelstampfen Ölmühlen zur Herstellung von verschiedenen pflanzlichen Ölen. Beim Gewinnungsvorgang wurden die Pflanzensamen, Strauch- und Baumfrüchte, welche vorgängig zerquetscht oder zerstampft worden waren, ausgepresst und ergaben Öle wie Mandel-, Lein-, Nuss-, Mohn-, Senf-, Sonnenblumen-, Oliven- und Kürbiskernöl, mit denen die »Öler« (Ölmüllern) auch selbst Handel trieben., die Gegend umher ist todtes Bruch- und Heideland, auf dem nichts gedeiht; die paar Feldstückchen des Müllers trugen kaum Kartoffeln. Dennoch war er in einem gewissen Wohlstande. Sein Häuschen stand reinlich und nett am Bache, seine Frau hielt die Kinder und sich selbst blank, es sah ordentlich bei ihnen aus und die Leute sprachen mit einer gewissen Achtung von dem Buschmüller und seiner Klugheit. Die Sache war, daß er sein Leinöl und Mohnöl zu verkaufen wußte, ohne an die Steuer zu denken, daß er den Wald so genau kannte, wie seine Mühle, und daß er im Finstern sehen konnte, besser wie die beste Katze, wie die Bauern behaupteten. Mit einem Worte der Buschmüller war ein Wilddieb der schlimmsten Art, aber das war in den Augen seiner Mitmenschen kein Fehler und kein Makel. Er galt als ein besonders kühner, verwegener Mann, und um keinen Preis wäre Einer an ihm zum Verräther geworden, sowohl aus Furcht wie aus Zuneigung, denn Greif hatte überall Freunde und war selbst seiner Freunde treuester Freund. Offenherzig, freigebig und zur Fröhlichkeit geneigt, aber auch eben so gern bereit Böses mit Bösem zu vergelten, war sein Ruf im Guten wie im Uebeln weit verbreitet. – Nach unserem Jagdgesetz darf der Eigenthümer eines Gartens die Hasen nicht schießen, die ihm seinen Kohl abfressen, er darf dem Hirsch oder dem Eber nicht zu Leibe gehen, die sein kleines Feld verwüsten, nicht einmal seinen Hund soll er auf das Wild hetzen, das seine Ernte zu Grunde richtet, und an Schadenersatz ist nicht zu denken, denn wir haben kein Wildschadengesetz, das irgend einen Erfolg böte.

Da haben Sie einen Ihrer gepriesenen europäischen Culturzustände, fiel Richard ein. So macht man Verbrecher!

Ja, so macht man Verbrecher! sagte der alte Richter, und so ist Greif ein Wilddieb geworden, wie viele Andere. Und um die Buschmühle giebt es Wild in Menge. Er wußte nicht, wie er sich der hungrigen Gäste erwehren sollte, die ihm Alles stahlen und abnagten, was er pflanzte. Aus feinem Fenster schoß er in seinem Garten einen Hasen todt, wurde ertappt und bestraft; seit dieser Zeit ließ er sich nicht wieder ertappen, wie groß auch der Verdacht war, daß er ein arger Freibeuter sei. Die Jäger umstellten sein Haus, sie waren ihm oft auf der Spur, schrieen ihn an in Nacht und Nebel, schossen auf ihn, wollten ihn erkannt haben, durchsuchten in der Buschmühle jede Diele und jeden Winkel, um Waffen oder Jagdgeräth zu finden – es war Alles vergebens, Greif ließ sich nicht fangen.

Die Sache ging so fort, bis Lorenz Lüders, der Forstinspector, hierher kam; an ihm fand der Buschmüller seinen Mann. Eine Zeit lang wurde Lüders gerade so gefoppt und genarrt, wie alle Anderen, aber er war eben so wild und verwegen, eben so unermüdlich und schlau, wie Greif, und dabei noch rachsüchtiger und zu Gewaltthaten geneigter wie dieser.

Er sieht danach aus, sagte Richard.

Es kam zu einem Streite zwischen ihm und dem Buschmüller, Lorenz versetzte ihm einen Schlag, aber obwohl er große Körperkraft besitzt, wäre es ihm wahrscheinlich übel ergangen, wenn nicht Andere ihn aus den Fäusten des starken Greif befreit hätten. Seit dieser Zeit waren die beiden Männer Todfeinde, und endlich kam die Rachestunde. In einer nebelvollen Herbstnacht belauerte der Forstinspector den Buschmüller, als dieser tief im Walde mit einem Kameraden eben einen Hirsch geschossen hatte. Was dort vorfiel, ist niemals ganz klar geworden. Lorenz behauptete, als er die Wilddiebe angeschrieen, habe Greif auf ihn gefeuert, und nun erst habe er seine Waffe gebraucht. Man hat jedoch nur einen Schuß fallen hören, und als die beiden Jäger herbeiliefen, welche Lüders begleiteten, lag der Buschmüller todt unter einer Eiche, die nahe bei dem Platz, wo dies vorfiel, auf einem Hügel steht. Der ausgeweidete Hirsch und Greifs Genosse wurden dagegen etwas seitab an einem Graben gefunden. Der Forstinspector war, wie jener Mann später aussagte, wie aus der Erde gewachsen zwischen sie gesprungen. Er selbst hatte in dem Augenblicke, wo er sich aufrichtete, einen Schlag an den Kopf bekommen, der ihn besinnungslos niederwarf. Lüders hatte ihm einen Kolbenstoß versetzt; er wußte nicht, was weiter geschah. Wahrscheinlich ergriff der Müller die Flucht und der Forstinspector lief ihm nach oder schoß von der Stelle aus nach ihm. War dies der Fall, so mußte Greif sich nach ihm umgewandt haben, denn die Kugel hatte von vorn seine Brust durchbohrt, und bei der Untersuchung kam dieser Umstand dem Forstinspector besondere zu Statten.

Er wurde frei gesprochen? fragte Richard.

Es konnte nicht anders sein, antwortete der Richter. Verrufen, wie Greif es war, mußte man glauben, daß er sich nicht geduldig fangen ließ. Dabei hatte Lüders sein eigenes Leben gewagt, und daß er zwei Raubgesellen unschädlich machte, brachte ihm Bewunderung bei den Leuten und Lob bei seinen Vorgesetzten ein.

Und was denken Sie, was denkt der Forstmeister von diesem Menschen? fragte Richard.

Vielleicht denken wir Beide nicht zum Besten von ihm, doch darauf kommt es nicht an. Als Forstbeamter that Lüders seine Pflicht. Seine Aussage nahm er auf seinen Diensteid; der schwarze Christel, Greifs Vetter, wanderte ins Zuchthaus als vielfach bestrafter Wilddieb, da sitzt er noch; des Buschmüllers Weib wurde eingesteckt, weil sie den Forstinspector unter Mordgeschrei verfolgt und Steine auf ihn geschleudert hatte. Vorher schon hatte sie einmal einige Wochen im Gefängnisse zugebracht, weil sie heimlich Wildprett in der Stadt verkaufte, das sie gefunden haben wollte, was natürlich Niemand glaubte. Jetzt saß sie ein halbes Jahr, während dessen ging ihr geringes Eigenthum für Prozeß und Strafe darauf. Als sie entlassen wurde, war sie eine Bettlerin und Landstreicherin, die Niemand duldete und Niemand aufnahm. Die Mühle kaufte der Amtsrath für eine Kleinigkeit und verpachtet sie jetzt.

Unglückliches Weib! sagte Richard aufstehend. Und weiter kann man ihr nichts nachsagen?

Nein, antwortete der Richter. Ich sagte Ihnen schon, daß sie als eine wackere Frau galt, so lange ihr Mann lebte, und an diesem Mann hing sie mit größerer Leidenschaft, als sonst gewöhnlich das Phlegma der Landleute es erlaubt. Sie gerieth vor Schmerz und Herzeleid, als man ihr die Leiche brachte, in eine Art Starrkrampf. Sonst war sie lebhaft und gesprächig gewesen, sauber an ihrem Körper, ohne Unterlaß thätig, jetzt sah sie stier, verwildert und schmutzig aus und sprach kein Wort. Nur bei der Untersuchung, wo sie mit dem Forstinspector zusammentraf, fiel sie plötzlich in Wuth, überhäufte ihn mit Schimpf und Schmach, warf einen Stein nach ihm, der ihn fast an den Kopf traf, und fiel ihn mit Nägeln und Zähnen an, so daß ihre Bestrafung nicht ausbleiben konnte.

Und dieser gewaltthätige Mann, dem ich es zutraue, daß er ohne Noth einen Menschen tödtete, ist nach wie vor in derselben Achtung bei seinen Mitbürgern, vielleicht sogar durch diese Heldenthat noch mehr im Ansehen gestiegen, rief Richard aus. Da haben Sie wiederum einen Beweis, wie es mit der hochgerühmten Civilisation der alten Welt steht.

Der Forstinspector ist ein brauchbarer Beamter, sagte Zeltwach achselzuckend. Unter den Förstern und Holzhändlern, den Pächtern und den wohlhabenden Grundbesitzern ist er sehr beliebt. In der Stadt hat er auch Freunde, der Amtsrath ist sein Vetter und die Amtsräthin seine besondere Gönnerin. Er besitzt auch einige sogenannte Bildung für die Gesellschaft und Klugheit genug, sich den Verhältnissen anzupassen. Wenn ich Ihnen rathen darf, mein lieber Steinau, gehen Sie Ihm aus dem Wege; doch was haben Sie überhaupt mit ihm zu theilen!

Ich möchte auch nichts mit ihm theilen, sagte Richard.

Der Gerichtsdirector lachte und nickte. Sie sehen nach der Uhr, sagte er. Wollen Sie fort?

Ich habe versprochen mich in dem Forsthause zu zeigen, um zu beweisen, daß ich wohl auf bin.

Da müssen Sie freilich gehen und dürfen das liebe Röschen nicht warten lassen. Es ist Schade darum!

Was meinen Sie, was Schade sei?

Daß Sie wieder übers Meer wollen.

Richard wußte recht gut, was in dieser Antwort lag; aber mit der Hartnäckigkeit eines Menschen, der mehr hören, und sich nichts merken lassen will, erwiederte er:

Was könnte es mir helfen, wenn ich hier bliebe?

Es kam mir so ein Gedanke ein, sagte der alte Richter lächelnd, der nicht anders sich wahr machen läßt, als wenn Sie im Vaterlande Ihre Hütte bauen.

Der junge Bergmann schüttelte den Kopf.

Giebt es denn nichts, was Sie halten könnte? fragte Zeltwach, indem er vor ihm stehen blieb.

Was sollte das sein?

Nun, ein Mädchen meinetwegen. Eine junge Frau!

Soll die Frau nicht dem Manne folgen, den sie liebt?

So steht's geschrieben, allein es geht nicht immer an.

Warum nicht? fragte Richard.

Zum Beispiel es wäre Rosa, ich nehme es nur an, sagte Zeltwach die Hand auf seine Schulter legend: würde die den Großvater verlassen können, dessen einzige und letzte Lebensfreude sie ist?

Wenn sie liebt, sagte Richard nach einem augenblicklichen Schweigen, muß die Liebe entscheiden.

Mein alter Freund würde sich seinen Schatz nicht entreißen lassen, fuhr Zeltwach fort, ich möchte es auch Niemandem rathen, ihm das zuzumuthen, und wie ich Rosa kenne, würde sie eher den Geliebten aufgeben, als dem Großvater das Herz brechen.

Es trat eine Pause ein, Steinau nahm seinen Hut.

Es ist doch seltsam, sagte er, daß ein Vater seinen einzigen Sohn ziehen läßt, wohin ihn seine Neigungen oder die Verhältnisse treiben; folgt aber ein Mädchen dem Manne nach, so beklagt man es, wie ein Unglück.

Ein Beweis, erwiederte Zeltwach, daß der Sohn der Welt gehört, die Tochter aber der Familie und dem Hause.

Und Sie glauben, fragte Richard, indem er stehen blieb und nachsann, daß der Forstmeister, wenn seine Enkelin ihn verlassen wollte, dies nicht zugeben würde?

Gewiß nicht, er würde schon bei dem Gedanken außer sich gerathen.

Aber er ist alt, sie ist jung.

Eben deswegen, sagte der greise Richter. Sie kennen das Gefühl nicht, lieber Steinau, das wehmüthige, sehnsüchtige Gefühl, mit dem das Alter auf die Jugend blickt. Es weiß, daß es das geliebte Kind zurücklassen muß, und wenn dies von ihm geht, daß sein irdisches Auge es nicht wieder sehen wird. Daraus entsteht ein heftiges Verlangen nichts fortzugeben, nichts zu missen, was zu seinem Glücke gehört. Man nennt dies den Egoismus des Alters und man hat Recht; das Alter macht egoistisch, es macht habsüchtig. Die großen, stolzen Gedanken der Jugend schrumpfen zusammen, die Träume fallen ab, die Ideale verschwinden. So sieht man zuletzt nur sich, sorgt nur für sich, bewacht mit Aengstlichkeit sein Wohl und seine Freuden, und jede Störung, jeder Eingriff findet harten, heftigen Widerstand.

Richard hörte nachdenkend zu, er antwortete nichts.

Zeltwach fuhr fort:

In diesem Falle jedoch bin ich gewiß, daß der Egoismus des Alters seine Härte zu zeigen nicht nöthig hat, Rosa selbst würde jeden Antrag zurückweisen, der sie weit von ihrem Großvater trennen müßte.

Nun denn, erwiederte der junge Mann in seiner bedächtigen Art, so muß er ihr auch befehlen, ihre Liebe so einzurichten, daß diese gesellig und häuslich an seinem Lehnstuhle sitzt. Er muß ihr einen Mann zuweisen, den er in seiner Umgebung vorräthig hat.

Seine Augen hefteten sich fragend auf den Freund, der den Kopf wiegte, lächelte, und endlich sagte:

Das würde ihm freilich das Liebste sein, denn Rosa's Abschied aus dem guten alten Hause wird immer Schmerzen genug machen. Betrüge der Raum auch nur eine Anzahl Meilen, und wären wenige Tage nöthig, um sie wieder zu sehen, es wäre doch genug, um unser heiteres und behagliches Wohlsein, wie es jetzt ist, zu zerstören. Dies schöne, liebliche Kind mit seinem Frohsinn, seinen neckischen Einfällen, seiner romantischen Schwärmerei, Herzlichkeit und Natürlichkeit, ist so wohlthuend und erfrischend wie die Sonne.

O! die romantische Schwärmerei, sagte Richard vor sich hin.

So engherzig kann freilich Niemand sein, fuhr der Gerichtsdirector fort, um nicht einzusehen, daß Rosa unsertwegen nicht bleiben kann und darf, wenn ihr Herz sie fortzieht. Auch Bruchen wird seinen Kummer stillen, wenn er weiß, es muß so sein. Bewirbt sich ein Mann, den er selbst achtet und ehrt, um Rosa, sieht er seines Lieblings Glück und bleibt ihm die Hoffnung, daß er dies Glück wenigstens von Zeit zu Zeit theilen und mitgenießen kann, so wird er gewiß nicht Nein sagen. Es ist etwas Anderes, mein lieber Steinau, eine Tochter im Lande zu haben, als tausend Meilen weit, und ich selbst, der ich keine Kinder besitze, fühle doch das Grauen solcher Trennung, und würde meine einzige Enkelin niemals von meinem Herzen reißen.

Also lieber von einem anderen Herzen, das wenigstens eben so treu sein kann, sagte Richard. Leben Sie wohl, Herr Director!

Als er fort war, ging der alte Herr, die Hände auf dem Rücken und den Kopf gesenkt, lange auf und nieder. Der kleine, magere Körper bewegte sich leise durch das schattenvolle Zimmer, das durch die Lindenbäume verdunkelt wurde, aber sein strenges, faltiges Gesicht lächelte und seine Augen blitzten unter den dichten Wimpern. –

So wird es geschehen, murmelte er endlich mit sich selbst sprechend, ja, so wird es geschehen. Er wird bleiben, er wird nicht fort können. Armer Knabe! flüsterte er mit einem leisen Seufzer, er hat ein Herz voll stolzer Träume. Neues Leben, Freiheit, Jugendhoffnungen auf eine neue, auf eine bessere menschliche Entwickelung. Und an dieser Leimruthe soll er sich fangen, um an den alten Zugkarren gespannt zu werden, den wir Alle mühsam weiter schleppen helfen. – Wäre ich jung wie er, rief er stillstehend aus, o! wer weiß, was ich träumte und hoffte. Aber Rosa soll glücklich werden; und ist denn die Liebe eines solchen Weibes nichts? Mancher Held hat Ruhm und Thron um ein Weib aufgegeben, warum soll dieser nicht seine rauhe Arbeit in den Bergen von Zacatecas vertauschen gegen diese weiche Hand, die ihn zu Ehren und Wohlsein führt?

Während der Gerichtsdirector dies mit sich abmachte und dann zu dem alten Major hinüberging, der heut an seinem lahmen Fuße empfindlich litt, und im Lehnstuhle saß und wetterte, erreichte Richard das Forsthaus. Schon unter der Halle kam ihm Rosa entgegen und empfing ihn voller Freudigkeit.

Nun, da sind Sie ja, rief sie, und das kalte Bad hat nichts geschadet?

Nichts, sagte er, doch was macht der Shawl?

Der ist gründlich verdorben, lachte sie, ich werde ihn aufheben, bis der junge Herr wieder einmal eine Schwimmpartie macht, und um seinen Rock kommt.

O! sagte er ihre Hand nehmend, der Rock ist wieder da, meine Wette habe ich gewonnen, und darüber freuen Sie sich, bestes Fräulein?

Sie nickte ihm mit Blicken zu, die sein Blut erwärmten.

Ja, aufrichtig, rief sie, das ist mir lieb, sehr lieb! Ich will gern bezahlen; doch jetzt kommen Sie herein zu meinem Großvater.

Als sie eintraten, saß der Forstmeister am Frühstückstische, und neben ihm stand Lorenz Lüders mit einigen Papieren, Rechnungen und Berichten. – Der alte Herr unterbrach sein Gespräch über die Geschäftssachen, um seinen Gast zu empfangen.

Nun, da ist er ja, begann er in seiner herzlichen Art, wir waren beide schon besorgt und wollten einen Boten in die Stadt schicken. Rosa ist ein halbes Dutzend Male bis an die Pforte gegangen, um nach Ihnen auszuschauen; sie hat die Zeitung nicht einmal zu Ende gelesen.

Er lachte und sah seine Enkelin an, die für Richard ein Glas Wein einschenkte und einen Teller an den Platz stellte, wo er sitzen sollte.

Was der Papa nicht verräth, sagte sie. Es ist gut, daß er keine Geheimnisse zu bewahren hat.

Kannst Du Deine Geheimnisse bewahren? rief der Forstmeister belustigt. He, Rosa, heraus mit der Sprache. Hast Du Geheimnisse, Mädchen? Sie hat keine! fuhr er lachend fort, indem er den Forstinspector ansah.

Junge Damen haben immer Geheimnisse, antwortete dieser.

Rosa nicht! schrie der alte Herr. Wenn sie Geheimnisse hätte, würde ich es wissen, sie würde mir sie anvertrauen. Ist es nicht wahr, mein Röschen? Der alte Großvater ist schlau, der käme doch dahinter, und wer weiß was er schon Alles entdeckt hat.

Was hast Du denn entdeckt? fragte das Fräulein, und ihr Gesicht wurde so ernst, daß der alte Mann sie in seine Arme zog:

Nun, nun, sagte er schelmisch mit einem Blick auf Richard, Du wirst doch Scherz verstehen! Nichts habe ich entdeckt und will auch nichts entdecken; Geheimnisse müssen von selbst an den Tag kommen, verborgen ist noch selten eines geblieben. Geben Sie die Feder her, Herr Lüders, daß ich unterschreibe.

Er unterzeichnete die Papiere und fuhr dabei weiter sprechend fort:

Sie hätten übel fort kommen können, Lüders. Von einem scheuen Pferde durch Wald und Busch gerissen werden, ist noch schlimmer, als ins Wasser fallen. Da kann Keiner helfen. Sie haben doch gehört, Lüders, was gestern am See passirt ist?

Ich habe davon gehört, erwiederte der Forstinspector.

Arme Frau, murmelte Bruchen. Es giebt viel Unglück in der Welt.

Viel Schuld und viel Unglück und eines mit dem anderen, antwortete Lorenz.

Gott besser's! sprach der Forstmeister zu ihm aufschauend, indem er mit Schreiben einhielt. Schuldig oder nicht, das Unglück hat immer ein Recht auf unser menschliches Mitgefühl.

Er gab dem Forstinspector die Papiere zurück, der mit einem Gruße sich entfernte. Richard betrachtete die Schramme auf seiner Stirn, als er vorüberging, und es kam ihm vor, als sähe der große Mann ihn übermüthig und spöttisch dafür an.

Der alte Herr schnitt inzwischen verdrießlich sein Brod und spießte ein Stück kaltes Fleisch mit solcher Gewalt auf, daß die Gabel bis auf die Schüssel durchfuhr. Er hatte einen Aerger zu überwinden, und erst als die Thür hinter dem Forstinspector sich schloß, hellte sich sein Gesicht auf.

Richard erzählte, daß sein Rock wieder gekommen sei und Rosa ihre Wette verloren habe. Auch den Forstmeister schien dies zu freuen, er ließ seinen Gast berichten, sagte aber nichts dazu, als dieser erwähnte, daß die Frau, wie er gehört, Greif heiße und auf der Buschmühle wohne, sondern schien vielmehr bedacht, darüber so schnell wie möglich fortzukommen, indem er Rosa aufforderte ihre Wette zu bezahlen und künftig vorsichtiger zu sein. –

Wie lange wird es noch dauern, sagte er zulegt, so wird er uns davonfliegen wollen, wie ein Zugvogel, wenn der Herbst da ist.

Diese Wendung brachte das Gespräch auf Richards Angelegenheiten, und er erklärte, daß er höchstens noch einige Wochen bleiben könne. Der September sei da, im October müsse er fort, um nicht in allzuschlechter Jahreszeit die lange Seereise zu machen.

Und was sagt der Major? fragte Bruchen.

Er möchte wohl lieber, daß ich länger bliebe oder gar nicht wieder fortginge.

Nun, so bleiben Sie! rief der alte Herr. Am besten ist es doch im Vaterlande, und Brod wird überall gebacken.

Mein Vaterland ist da, wo es mir wohlgeht, an der Scholle darf der Mensch nicht festkleben, antwortete Richard. Ich habe in Zacatecas wichtige Entdeckungen gemacht, habe Anträge, die eben so ehrenvoll wie gewinnbringend sind, und kann dort in kurzer Zeit durch Fleiß und Ausdauer eben so viel Nützliches leisten und schaffen, wie für meine Zukunft Sorge tragen.

Der Forstmeister ließ einige Minuten vergeben, dann sagte er:

Ich glaube es wohl, daß Sie in Ihrer Sache ein Meister sind, allein eben deswegen sollten Sie nicht in Wüsteneien laufen, sondern dem Vaterlande Ihre Dienste widmen.

Ich wüßte wahrlich nicht, wie ich das vermöchte, versetzte Richard. In diesem wohlgeordneten Staate geht Alles nach dem eingerichteten Schema. Die bureaukratische Organisation ist ein Gewebe von Fäden, welche so geregelt und geknüpft wurden, daß kein reglementswidriger Sonnenstrahl durch die Maschen schlüpfen kann. Es ist eine Leiter mit zahllosen Sprossen, welche Schritt für Schritt erstiegen werden soll; wer endlich das Glück hat oben anzukommen, ist müde und abgenutzt, und wer etwa rasch empor gehoben wird, muß unter besonders günstigen Umständen geboren fein: durch Geburt, durch Gunst, durch mächtige Freunde oder großes Vermögen sich den Weg bahnen. Da ich das Alles nicht besitze, so bleibt es für mich das Passendste, wenn ich mich in ein Land wende, wo alle menschliche Thätigkeit ungehindert sich entfalten darf; wo ich ergreifen und ausbeuten kann, was ich mit Geschick, Talent, Glück und Geld zu unternehmen vermag, und wo der Staat sich mir nicht entgegenstellt, mir mein Loos aufzwingt, meine Kraft lähmt.

Oho! oho! rief der alte Jäger, so arg ist es doch nicht hier zu Lande.

So wenigstens scheint es mir, erwiederte Richard bescheiden, und es kann nicht anders sein in den Staaten Europas, die aus feudalen und streng monarchischen Grundlagen hervorwuchsen und darauf ruhen. Die Gliederung nach Ständen und die verschiedenen Rechte und Vorrechte bringen es so mit sich, die Freiheit der Bewegung ist unstatthaft, Handel und Industrie werden beschränkt durch Regierungsinteressen und Finanzrücksichten, durch Staatsprivilegien und Regalien. Die Völker selbst sind seit Jahrhunderten daran gewöhnt, nicht selbst zu denken, selbst für ihr Wohl zu sorgen, sondern die Fürsten und ihre Beamten für sich sorgen und denken zu lassen. Und darin, bester Herr von Bruchen, besteht eben der große Unterschied dieser Staaten der alten Welt und der jung aufblühenden in Amerika, daß dort die Regierungen so wenig wie möglich thun, und es ihren Bürgern überlassen zu denken und zu organisiren, die denn auch dafür einen wunderbaren Trieb entwickeln. Die Association schafft dort in einem Jahre mehr, wie die Bevormundung in einem Jahrhundert vermag; wo vor Kurzem noch eine Wüste war, steigen plötzlich Städte auf, wachsen Eisenbahnen aus dem Boden, regen sich unermeßliche, ungeahnte Kräfte, die von keinem Beamtennetz, von keiner Polizei bewacht werden, und dennoch keinen Unfug anrichten, weil sie sich selbst bewahren, weil sie Ordnung und geordnete Einrichtungen annehmen, ihres wohlverstandenen Besten wegen.

Das hört sich vortrefflich an, sagte der Forstmeister bedenklich, aber ich möchte nicht dabei sein. Was ich davon gehört habe, ist mir genug. Ein wildes, tolles Leben muß es sein, wo Jeder den Herrn spielt, Jeder thut was er Lust hat; keine Obrigkeit da ist, die zu befehlen hat und gehörig respectirt wird. Der Eine schlägt da den Anderen todt und es wird nichts daraus gemacht.

Nun, versetzte Richard lächelnd, dergleichen kommt wohl auch in civilisirten Ländern vor, wo der Mörder frei gesprochen und obenein belobt wird.

Halt! sagte der alte Jäger umherblickend, indem er seine Hand auf Richards Arm legte, Röschen hört uns nicht, dort sitzt sie schon im Garten unter der Akazie mit dem Buche, das Sie so viel gelobt und mit ihr gestritten haben, welches das beste Stück sei, das der Mensch, wie heißt er gleich, geschrieben hat.

Shakespeare, sagte Richard.

Gut, Shakespeare. Reden Sie mit ihr von ihm und von wem Sie wollen, aber nicht von dem Weibe in der Buschmühle, und der traurigen Geschichte. Das Weib taugt nichts, so wenig wie ihr Mann, der Buschmüller, etwas getaugt hat. Sie hat einen Haß auf uns Alle. Guter Gott! ich glaube, sie haßt sogar meine arme, liebe Rosa, die keinem Wurme ein Leid anthun kann. Sie soll nicht erfahren, wie die Sache zusammenhängt, es würde ihr nur wehe thun; sie würde auch bei ihrer Lebhaftigkeit sich einmischen, helfen wollen und neuen Aerger davon haben. Ich kenne das Weib, es hat mir Elend und Schande genug an den Hals gewünscht und ist nicht zu bessern. Ich vergeb's ihr, denn sie ist unglücklich, aber Rosa soll nichts mit ihr zu schaffen haben; hören Sie, Richard? Sie haben doch auch mein Röschen lieb?

Wer sollte sie nicht lieb haben?! erwiederte Richard.

So ist es recht, sagte der alte Herr ihm die Hand drückend, so helfen Sie sorgen, daß sie lieb und froh bleibt, und nichts von dem Unhold hört. Jetzt gehen Sie zu ihr, fuhr er fort, sie hat Sie auch lieb, das kann ich Ihnen sagen. Bei aller ihrer Lust zum Scherzen und Spotten weiß sie doch, was Sie werth sind, und das weiß ich auch.

Der Forstmeister stellte sich ans Fenster hinter den Vorhang und beobachtete die Beiden in der Laube. Er konnte genau sehen was dort vorging, und konnte sogar etwas hören, wenn er sich Mühe gab. Er studirte jedoch lieber ihre Gesichter und je länger er diese betrachtete, um so mehr gefielen sie ihm. Das freundliche, leichterregbare Gesicht seiner geliebten Enkelin kam ihm heut noch viel schöner vor, denn es sah weicher und lieblicher aus wie sonst, und im Gegensatz dazu, meinte er, der Neffe seines Freundes sei männlicher und größer geworden.

Er verstand nicht was die jungen Leute lasen und sprachen, denn sie lasen und sprachen englisch, und der Forstmeister sagte zu sich selbst:

Es schadet weiter nichts, daß ich das nicht gelernt habe, denn deutsch bleibt doch die schönste Sprache in der Welt, aber es freut mich, daß mein Röschen mit dem da parliren kann, der Jahre lang in England gewesen ist und unter den Spaniern. Wer weiß, was sie noch Alles von ihm lernt. –

Als er das sagte, zog er die Augen in die Höhe und fing leise an zu lachen.

Was sie von ihm lernen wird, murmelte er, und der Mexicaner da von ihr – ich glaube wirklich, sie haben sich schon gegenseitigen Unterricht gegeben, und das Ende wird sein – das Ende wird sein –

Eine Hochzeit! sagte eine Stimme ihm ins Ohr, und wie er erstaunt umblickte, stand der Gerichtsdirector dicht bei ihm. – Darum komme ich eben zu Dir, Bruchen, fuhr Zeltwach fort. – Wir müssen ein Protokoll aufnehmen und den Prozeß einleiten, damit das Urtheil bald gesprochen werden kann.



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