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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Aus der Biwakhöhle war noch eine Zeitlang ein schwacher Lichtschein herausgedrungen. Man hatte drinnen die elektrische Taschenlampe brennen lassen. Sie hing an einem kleinen Zacken an der Hinterwand der Höhle und war vergessen worden, nachdem man sich zur Nacht zurechtgemacht hatte.

Sie hatten keinen Appetit zum Abendessen gehabt. Am liebsten wären sie zum Schlafen hingesunken, wie sie waren. Aber Xaver hatte darauf bestanden, daß sie noch etwas zu sich nahmen, alle beide. Also hatten sie's getan: die letzten zwei Schluck Kaffee aus der Thermosflasche, eine Scheibe Ananas, ein paar Sardinen, ein Stück Roggenbrot.

Glenn war mitten im Kauen zurückgesackt und eingeschlafen. Xaver hatte ihm noch das Lager gerichtet, indem er ihm ein paar Seilschlingen unters Haupt geschoben hatte. Und um's zu glätten, hatte er noch den entleerten und zusammengefalteten Rucksack dazwischengeschmuggelt, zwischen den Manilahanf und die verschwitzten Haare. Sich selber hatte er das Reserveseil als Kopfkissen bereitet, aber die Lampe hatte er nicht mehr abgedreht.

In tiefem Schlafe lagen sie setzt da, dicht nebeneinander. Xavers Hand war hinübergefallen auf Glenns Schulter, und die Batterie der Lampe brannte aus. Erst noch grell und gelb, dann ein gedämpftes rötlicheres Licht, dann zuckend dem Ende zu, dann war's dunkel.

Die Venus war der Sonne nachgesunken. Auch der Merkur, ihr Zwillingsbruder, war bereits dahin. Der Jupiter stand im Zenit, und je verdunkelter die Erdenbühne lag, um so bedeutungsvoller strahlte dieses grüne Auge. Der Mond, verspätet, war noch anderswo, im Osten, überm Eismeer, über Tundren, der wurde erst noch von den Wölfen angeheult.

Der Uranus stand in den Fischen, er war mit bloßem Auge nicht zu sehn. Doch er war da, sie waren alle da, die Fernen und die Nahen, die Großen und die Kleinen. Die Wagen standen nordwärts, über den gezackten Graten der Ladizer Spitze. Dazwischen schwang sich, vom Polarstern bis zum Horizont herab, der majestätische Drache, dort draußen über Deutschland. Im Osten, dort drüben überm Vomper Loch und seinen Gipfelzügen, lümmelte der Fuhrmann. Die beiden Hunde aber lagerten im tiefen Süden, der Große Hund, der Kleine Hund, die Wächter auf dem Zentrum des Gebirgs, wo's von den Gletscherkämmen nachbarlich herüberschimmerte.

Glenn stöhnte. Er träumte wohl, daß ihm ein Griff ausbrach? Und daß er stürzte und das Seil zerriß? Und dann hinunter mit verzerrtem Angesicht, zum ersten Aufschlag, dem erbarmungslosen, und dann hinausgeschnellt zum zweiten und zum dritten Aufschlag, gedreht, gewirbelt, bis ins Kar hinunter? Vielleicht? Vielleicht war dies der Traum, wer könnt es wissen.

Der Atem Xavers hatte sich bereits beruhigt. Bei ihm ging's hin und her wie eine sanfte Flut. Die Nacht war mild, noch spürte man die Kälte nicht.

Glenn fuhr mit einem kleinen Schrei aus dem Schlaf hoch. Benommen starrte er ins Dunkel und besann sich, wo er war.

»Was ist?« brummte Xaver, denn seine Hand war bei dem jähen Ruck von der Schulter des Freundes herabgefallen. »Was'n los? Wer is da? Is jeman' da?«

Glenn war schon wieder zurückgesunken. Er hatte sich auf die Seite gewälzt und die Beine an den Leib gezogen und schlief schon wieder.

»Nichts, nichts«, brummte Xaver und rollte sich ebenfalls ein, denn jetzt drang bereits die Kälte zu ihnen, »Wieso denn? Wieso denn?« Auch er war schon wieder hinüber.

Der Mond kam draußen hoch. Voraus der gelbe Schein, längs der geschwungenen Gipfelgrate überm Vomper Loch. Dann erst noch ein zerrissenes Gebilde, solange sich die Felsenzacken projizierten. Dann aber schnell empor, die reine magische Scheibe, im freien Schweben, das Gestirn der Frauen und der Tränen.

»Was hast du denn? Was ist denn los?« sagte um diese Zeit Xaver zu Glenn und rüttelte ihn wach, »Wach auf, was träumst du denn? Du stöhnst ja wie ein Schwein beim Metzger. Du zappelst ja mit deinen Beinen wie mein Hund, wenn er den Alpdruck hat.«

»Besten Dank«, ächzte Glenn und richtete sich auf.

»Was hast du denn geträumt?«

»Ich? Nichts.«

»Natürlich hast du was geträumt! Meinen Hund weck ich auch immer auf, wenn er unter meinem Tisch liegt und schläft und mit einem Male anfängt zu stöhnen und zu zappeln. Ich glaub, der träumt dann immer von einer vorsintflutlichen Verfolgung? Daß ihm ein Mondlöwe nachläuft, ein Mondwolf, vielleicht sogar der ganze Mond selber? Genau so hast du's gemacht.«

Glenn kicherte schlaftrunken los.

»Wir essen was«, sagte Xaver, »das macht 'n bißchen warm.«

»Ha?« sagte Glenn.

»Wir wollen was essen, los, wach auf! Aber was?«

»Was gibt's denn noch?« fragte Glenn und gähnte eine volle Minute lang.

Xaver stand auf und tastete sich zur Hinterwand, zur Taschenlampe, »Päh! Ausgebrannt, das Luder!« Aber vom Eingang der Höhle her kam ein wenig Mondschein, so daß er den Proviantbeutel fand.

Zuerst wurde die angebrochene Sardinenbüchse geleert. »Trink das Öl aus«, sagte Xaver, »aber schneid dir nicht ins Maul, du schläfst ja noch.« Dabei schob er sich selbst ein großes Stück Roggenbrot mit Speck in den Mund und öffnete die letzte Konservenbüchse, Makrelen in Tomatensauce. Nachdem die Fische redlich geteilt waren, leckte er selber diese Büchse aus, während Glenn noch einmal nach der Sardinenbüchse langte, die er schon zur Seite gestellt hatte. Er begann aufs neue drin herumzuschlecken wie eine Katze, obwohl's schon ganz trocken war.

Schluß der Vorstellung. Eine Tafel Schokolade war noch da, aber die wollten sie unter allen Umständen zum Frühstück bewahren. Wenn ihr Hunger so weiterwuchs wie während dieser ersten Hälfte der Nacht, dann konnte es ja noch lustig werden. Wenn sie in der Früh keine Touristen trafen, die sie anbetteln konnten, mußten sie bis zum späten Mittag warten, bis sie etwas bekamen. Der Marsch ums Massiv herum zu ihrer Alm zurück war lang, wenn's auch bequeme Steige waren.

»Mir ist, als ob ich überhaupt nichts gegessen hätte«, sagte Glenn, als er sich wieder zurücklegte. »Austern und Hammelkoteletten und pommes frites, das wär jetzt nicht schlecht, was? Vor allem aber ein frisches Helles!«

»Kellner, Kellner!« rief Xaver sogleich. »Kommen Sie doch mal her, wir warten hier schon 'ne halbe Stunde! Für mich ein Beefsteak, ein frisches Helles, ein Pudding. Und für meinen Kleinen? Wat möcht' denn mein Kleiner? Ei, wat möcht' du denn? Wat möcht' denn mein Philippchen? Vielleicht eine dute Nudisuppi?«

Aber Glenn war schon wieder am Einschlafen und stammelte zur Antwort nur eine gemeine Schimpfrede heraus, einen Lausejungenvers aus seiner Bamberger Schulzeit. Er konnte grad noch ein wenig kichern, weil's ein Spruch war, der ihm seit zwanzig Jahren nicht mehr eingefallen war. Dann war er schon wieder weg, trotz des Hungers und des Durstes und der zunehmenden Kälte.

Sie drückten sich jetzt eng aneinander. Xaver rollte sich ganz um den gekrümmten Rücken Glenns herum. So hielten sie ihre Körperwärme wenigstens an zwei Fronten fest, an der Rückfront des einen, an der Vorderfront des andern, und froren nur im Osten und im Westen.

Der Mond war hinterm Berg verschwunden. Die Sterne waren am Verblassen. Die beiden Wagen und der Fuhrmann waren weg, die beiden Hunde waren weg. Als Morgenstern war heut der Mars daran, er war der letzte. Bald war der Himmel leer.

Xaver erwachte zuerst. »Auf, auf!« Er fuhr hoch und begann Glenn zu rütteln, der an allen Gliedern zitterte und wie eine Sägemaschine schnatterte, ohne zu sich kommen zu wollen. »Kamerad! Auf! Wir erfrieren! Wach auf, wir sind schon ganz steif!«

Glenn begann heftig mit den Zähnen zu klappern, doch er wollte nicht aufwachen. Er rollte sich statt einer Antwort nur noch mehr zusammen.

»Los«, rief Xaver, »steh auf, Himmelherrgottsakrament! Draußen ist die Sonne schon gekommen, draußen ist's warm. Wir kriegen eine richtige Lungenentzündung, alle beide, steh auf!«

»Du stehst ja selbst nicht auf«, brummte Glenn.

»Lungenentzündung, Mittelohrentzündung, Nierenentzündung, das ist das wenigste, was wir kriegen, wenn wir jetzt nicht sofort in die Sonne gehn«, rief Xaver. Aber er traf selber keine Anstalten, aufzustehn. Ganz starr hockte er da. Sein Körper war grad in einer Position, die ihm am wärmsten schien, jede Veränderung konnte die Friererei nur verstärken.

»Ich steh nie mehr auf«, brummte Glenn. »Ich bin grad in einer warmen Lage, genau wie du, du muckst dich ja auch nicht.« Er kicherte ein idiotisches Kichern. »Los, mach keine Geschichten, wir bleiben jetzt ein paar Jahre in dieser warmen Lage liegen.«

»Lungenentzündung, Mittelohrentzündung, Nierenentzündung«, sagte Xaver verzweifelt.

»Und Gebärmutterentzündung«, kicherte Glenn.

»Die Zehen und die Finger fallen uns wie fauler Zunder ab, die Ohrwatscheln und die Nasen sind bereits weg.«

»Sonst nichts?« sagte Glenn und setzte sich endlich hoch. Er war ganz ins Seil verwickelt. Er mußte sich im Schlaf eine Seilschlinge nach der anderen beigezerrt haben, um sich zu bedecken.

Ein paar Minuten blieben sie still nebeneinander hocken und stierten auf das strahlende Licht, das vor dem Höhleneingang lag. Dort draußen war die Welt schon aufgetaut, ganz gewiß. Und hier drinnen hielt sich die nächtliche Kälte noch stundenlang mit Verbissenheit. Aber sie kamen nicht hoch, sie wagten sich nicht zu verändern. Sie befanden sich bereits wieder in der warmen Lage, die nicht verändert werden durfte. Außerdem hatten sie einen großen Glotzer, alle zwei. Das Schnattern hatte ausgesetzt, obwohl die innere Friererei jetzt den schlimmsten Punkt erreicht hatte, der große Morgenglotzer war da.

Diesmal kam die Rettung von Glenn. Er sprang zuerst auf und zog Xaver mit sich. Am Kragen des alten Manchesterkittels packte er ihn und riß ihn hoch. Fast wären sie wieder auf ihr Seillager zurückgefallen, so steif waren ihre Knochen. Aber dann standen sie mit einem Male vor der Höhle, in dem kleinen Geröllkessel, welcher das Entree zu ihrem Château bildete.

Die Sonne stand schon droben. Ein voller Triumph des Lichts war weithin zu spüren. Die Felsblöcke, welche nach Osten und Süden schauten, warm bereits angewärmt. Die Gletscher drüben offerierten sich bereits in einem Glanz, als gäb's in diesen Alpen weder Nacht noch Kälte. Vom Vomper Loch herüber, von irgendeinem fernen Gipfel, erklang ein heller Schrei. Man konnte aber nicht erraten, nachdem's nur einmal kam und dann nicht wieder, ob's ein großer Vogel, ob's ein Tourist gewesen war. Im Süden, überm deutschen Flachland, lag noch die alte dicke graue Nebelwand; indessen war zu hoffen, daß die Sonne auch mit diesen widerspenstigen Gefilden fertig werden würde.

Nachdem man aber das Panorama eine kleine Weile beschaut hatte, hieß es ans Werk gehn. Man mußte sich Bewegung machen, das war jetzt das wichtigste. Erst sprang man von einem Bein aufs andre und schlug sich die Arme um die Brust. Dann trieb man's mit Methode.

Sie hauten sich gegenseitig mit der flachen Hand auf den Buckel und auf die Brust. Sie kneteten sich. Sie massierten sich. Dann kamen Freiübungen unter Xavers Kommandoruf. Rumpfbeugen, Hochsprünge mit Beinespreizen, Kniebeugen. Eins zwei, eins zwei, eins zwei. Der Oberkörper fing sich am schnellsten. Aber das Gesäß, die Leisten, die Beine, die Zehen! Da unten streikte es noch lange Zeit. Der neue Tag war bereits auf der Erde eingewöhnt und schon banal geworden, als es endlich so weit war, daß der Blutkreislauf wieder funktionierte und die Luft an den Gelenken wiederkam.

Xaver holte die Schokoladetafel aus der Höhle. Sie setzten sich an eine Klippe und teilten das Frühstück. Der Durst war weg, aber Xaver behauptete, er würde nach der Schokoladetafel ganz schlimm wiederkommen. Eine halbe Stunde südwärts, nah bei dem Steig, den sie zum Abstieg benutzen mußten, wäre aber eine kleine Quelle, da wollten sie Tee kochen und sich in der Sonne braten lassen. Ein Tee-Ei voll schwarzem Tee war noch da. Auch Hartspiritus. Auch noch Zucker genug, um den Becher zweimal bis zum Rand zu süßen. Aber zuerst wollten sie noch ein wenig hockenbleiben und nach den Gletschern blinzeln.

Glenn kaute schweigend auf seiner Schokolade herum, während Xaver das Programm des Tages aufstellte. Der Körper war warm, aber seltsamerweise ging die Kauerei noch schlecht. Die Lippen waren immer das letzte, was auftaute, konstatierten sie. Schließlich verstummte auch Xaver, nachdem er einen kleinen Redeanfall absolviert hatte, und es kam der zweite Morgenglotzer über sie, der wärmere, zu der Zentrale hinüber.

Die Schokoladetafel war verzehrt.

»Was hat sie denn gekostet?« fragte Glenn nach einer langen Pause.

»Was?« fragte Xaver.

»Die Schokoladetafel?«

»Es is nix mehr da. Aus!«

»Nein, was sie gekostet hat?«

»Wer?«

»Was die Schokoladetafel gekostet hat?«

»Wunderbar, das sag ich auch! Aber ich mag den bitteren lieber als den mit Milch. Ist auch für den Durst besser. In Labrador hatten wir nur bitteren. Aber der süße hat dafür mehr Nährkraft.«

»Ich möcht wissen, was es gekostet hat«, schrie Glenn ihn an.

»Was gekostet hat?« fragte Xaver.

»Diese Tafel, verdammt noch mal!«

»Ach so? Siebzig Pfennig. Oder waren's achtzig Pfennig?«

»Nicht vergessen aufzuschreiben!« sagte Glenn. »Ich schulde Ihnen noch einen Haufen Geld. Die drei Sardinenbüchsen stehn meines Wissens auch noch nicht auf der Abrechnung. Oder?«

»Was Sie für Sorgen haben«, sagte Xaver.

»Jawohl, das muß ganz genau gemacht werden, bevor wir von der Alm abmarschieren.«

»Selbstverständlich. Nur keine Angst, daß ich Ihnen was schenke. Sie werden jetzt in der Stadt sowieso viel zuviel Geld verdienen, Sie müssen geschröpft werden.«

»Wenn wir in dieser dreckigen Höhle wirklich«, sagte Glenn darauf, »den neuen Staat begründet haben, dann haben wir aber richtig gefroren dabei.«

»Was quatschen Sie da? Bei Ihnen piepst's wohl? Is das Gehirn noch eingefroren? Soll ich's mal rausnehmen und massieren? Ich bin geprüfter Gehirnmasseur.«

»Ich muß so was geträumt haben«, sagte Glenn.

»Was? Daß wir gefroren haben? Das hab ich auch geträumt, darauf brauchen Sie sich nichts einzubilden.«

»Nein, daß wir einen neuen Staat begründet haben oder solches Zeug.«

»Was Sie für Sachen träumen, wenn's kalt ist!« sagte Xaver und wandte ihm den Kopf zu.

Sie sahn sich an und lächelten. Ein steifes Lächeln, eingefallen die Wangen, die Lippen blau. Jedoch ein Lächeln, das sie nimmermehr vergessen konnten. Und wenn der eine vor dem andern starb und sich verflüchtigte vor dem andern? Dies Lächeln blieb. Unzerstörbar, unantastbar, ein Besitz vor allen andern Besitzen, eine Würde.

 


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