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Dreizehntes Kapitel

Zwei Tage später, am Dienstag in der Früh, gab's im Ragazer Hof zum erstenmal wieder seit langer Zeit ein richtiges Familienfrühstück. Die Kinder durften das Spielzeug, das sie aus der Stadt mitgebracht bekommen hatten, in die lärchene Stube herunterschleppen und am Tisch der Eltern ausbreiten. Dieser Tisch war außerdem beladen mit dem blauen Hornbogenschen Geschirr, welches nur an Festtagen gebraucht wurde, mit halbwelken Treibhausblumen und bunt beklebten Konservenbüchsen aus der Stadt, dicken Likörbohnenschachteln und dünnen Gedichtbüchern, Zeitungsausschnitten, einer Flasche Eau de Cologne und einer großen roten Käsekugel.

Das Spielzeug war bereits getauscht worden. Lois ließ immerzu das kleine Karussell ablaufen, welches Barbi gehörte; die zarte Orgel im Sockel quietschte bereits. Und Barbi hatte sich darangemacht, das Segelschiff von Lois, das man auseinander nehmen und wieder zusammenstecken konnte, zu ruinieren.

»Natürlich«, sagte Xaver, »was man selbst nicht hat, das ist das Wahre. Diese Kröten haben auch schon unsern schrecklichen Blick nach dem Nachbartisch.«

»Von wem haben sie das wohl?« fragte Terese lachend. »Von mir oder von dir?«

Er gab ohne weiteres zu, daß es von ihm stammte. »Aber ich werde es ihnen schon austreiben«, fügte er hinzu. »Genau so, wie ich es mir selber noch austreibe. Oder vielleicht schon ausgetrieben habe.«

»Wirklich?« Es klang ziemlich ungläubig.

»Jawohl«, sagte er bestimmt.

Jawohl, es war eine verzauberte Reise gewesen, höchst wunderbar. Nicht nur, weil er die Leute mitgerissen hatte, weil Geld eingegangen war, weil man ihm applaudiert hatte. Sondern weil die Städte und die Menschen diesmal eine ganz andere Wirkung auf ihn ausgeübt hatten als in den letzten Jahren.

»Weißt du, warum ich in den letzten Jahren wie ein Vergifteter zwischen den Leuten herumgelaufen bin?« stellte er fest. »Weil ich etwas von ihnen wollte. Ich wollte immerzu, sie sollten etwas. Für ihre Zukunft hab ich mich gesorgt, für ihr Seelenheil, heller Wahnsinn war das. Diesmal war's umgekehrt. Diesmal war ich bereits vor der Abreise so vergiftet, daß ich nichts mehr von ihnen wollte. Da war alles ganz anders mit einem Schlag. Ohne das Wollen und das Sollen und das ewige Zukunftsgetu. Ohne den Blick nach dem Nachbartisch, den neidischen oder schulmeisterlichen, den wollenden-sollenden. Das war plötzlich wie eine Entgiftung, genau umgekehrt wie sonst, das Gift der Masse war zum Gegengift geworden. Ich schwör dir, ich hab's gefunden: die Erdkugel läuft keine Tourenzahl in die Zukunft ab, wie wir Wahnsinnigen immerzu glauben, nein, sie schwebt dauernd ganz gegenwärtig dahin. Wahrscheinlich hat Galilei den ganzen Saustall angedreht mit seinem: ›Und sie bewegt sich doch!‹ Da haben wir diese Tourenzählerei in die Zukunft angefangen. Nein, sie bewegt sich nicht in die Zukunft hinein, sie steht still und schwebt – heute, heute, nur heute – das Morgen und das Übermorgen, das Wettrennen in die Zukunft, diesen ewigen Fortschritt, Fortschritt, Fortschritt, das gibt's alles nur in unserm Hirn. Ich mach Schluß mit dieser Flucht aus der Gegenwart, verlaß dich drauf, mein Mädchen.«

Terese hörte es mit Lust. Sie war sich selber dankbar dafür, daß sie ihm das Gespräch mit der Purgasser unterschlagen hatte. Sie hatte nur einen oberflächlichen Bericht von dem Sonntagnachmittag gegeben. Und er hatte auch nicht das große Interesse gezeigt, das sie erwartet hatte … Ihr war jenes Gespräch schwer nachgegangen. Von der Abfahrt der Purgasser bis zur Einfahrt von Xavers Schlitten hatte sie's mit sich herumgeschleppt. Sie hatte eine tiefe Zuneigung zu dem wachen Mädchen gefaßt. Die barbarische Amazone, welche aufs letzte ging, welche sich von den Männern nichts mehr vormachen ließ, welche einen neuen Männerstamm forderte, oder die Männer sollten zu Boden gezwungen werden von dem neuen Weiberstamm: eine ganze Nacht und einen ganzen Tag lang hatte sie geglaubt, dem Typ der kommenden Epoche begegnet zu sein … Jetzt kam es ihr auf einmal wie Weibergeschwätz vor, und Xaver hatte spielend gesiegt. Was die Purgasser vom Leben verlangte, war auch nur wieder so ein Wollen und Sollen in die Zukunft hinein, nichts weiter. Sie sehnte sich danach, bald wieder mit ihr zusammenzutreffen, um ihr diese gefährliche neue Lehre auszutreiben. Das Wollen und das Sollen und die Zukunft, ja, das war das Gift. Und die Gegenwart, so wie sie war, das war das Missing-Link, das ihnen allen fehlte, Männern und Weibern, Jungfrauen und Müttern. Das nächste Mal brauchte sie nicht mehr als die ratlose Frau Mama vor diesen amazonischen Forderungen zu sitzen, als die unglücklich verheiratete Gans im Lehnstuhl. Gott sei Dank, daß sie Xaver mit diesen Ideen verschont hatte. Gott sei Dank, daß er mit seiner puren Gegenwart darüber hinweghalf. Denn nicht erst jetzt spürte sie's – schon gestern abend, in der gleichen Minute, als er aus dem Schlitten gestiegen war, hatte sie gespürt, daß die Rechnung der Purgasser falsch war.

Er nahm Barbi auf den Schoß und umspannte ihre zarten Schultern mit seinen muskulösen Händen, als wollte er sich dran festhalten. »So etwas Weiches«, sagte er. »Man sollte den Kindern Schnaps geben, damit sie nicht weiterwachsen, damit sie so klein und so weich bleiben. Man sollte dieses Weiche nicht verhärten und erstarren lassen durch unsere irrsinnige Wollen-Sollen-Zukunfts-Welt.«

»Ob Schnaps dafür das Richtige ist?« fragte Terese lachend.

»Möchtest du klein bleiben, oder möchtest du groß werden?« fragte er Barbi und ließ sie auf seinen Knien hopsen.

»Groß werden«, sagte Barbi, »so groß«, und deutete die größte Größe an, die in ihrem Bereich stand.

»Also gut«, sagte er, »lassen wir dich wachsen, lassen wir dich wachsen, aber ohne das Wollen und das Sollen und die Zukunft!« Er setzte sie auf seine Knie und machte mit ihr das Reiten-in-die-weite-Welt. Mit dem Sturz-in-den-Bach als Endeffekt. Er summte zu dem Ritt: »Das-Wollen-und-das-Sollen-und-die-Zukunft«, und ließ sie auf »kunft« herunterfallen.

»Ich auch, ich auch«, bettelte Lois. Er mußte ebenfalls eine Reitstunde mit dem Sturz-in-den-Bach verabreicht bekommen. »Daswollenunddassollenunddiezu-kunft … Daswollenunddassollenunddiezu-kunft … Daswollenunddassollenunddiezu– bumbumbum …«

Da schlug der Hund an, ein Gekläff, wie er's nur bei fremden Passanten losließ, und sie traten alle vier ans Fenster, um zu sehn, was war.

Zum Kuhbrunnen empor stieg eine kleine Kolonne von Schifahrern. Sie waren schon auf halbem Hang. Sie mußten unbemerkt am Haus vorübergefahren sein, der verschlafene Brolly hatte sie zu spät entdeckt. Im Zickzack arbeiteten sie sich empor, der Ploner voraus, dann die Purgasser, als letzter der Glenn. Der Ploner trug Schneestrümpfe bis an die Leisten und einen mächtigen Rucksack. Die Purgasser steckte in langen Garbardinehosen mit roter Jacke, sie war ohne Rucksack. Glenn trug schwarze Norwegerhosen, eine kurze Schafwollweste in Dunkelbraun, einen kleinen Damenrucksack. Ohne sich zu wenden, stapften sie dahin. Offenbar wollten sie über Joch steigen, zu einer kleineren oder größeren Tour. Es war auffallend, daß sie auch an den Kehren keinen Blick auf den Ragazer Hof hinunterwarfen.

»Er hat einen Schick drin«, sagte Terese.

»Wer?« fragte Xaver, ohne die kleine Kolonne aus den Augen zu lassen.

»Der Glenn. Gut angezogen. Nicht?«

»Hm …«

»Und sie auch. Das ist sie. Sie hat auch einen Schick drin. Nicht?«

»O ja …«

»Daß der Ploner dir nicht guten Tag sagt?«

»Er hat ein schlechtes Gewissen. Sieh nur mal, wie blöd er geht. Er weiß ganz genau, daß ich zugucke.«

»Glaubst du?«

»Siehst du das nicht? Er geht ja im klassischen Langlaufschritt, der Hanswurst. Und wie er die Stöcke dreht! Er möchte sich aufspielen. Und warum hat er denn das Seil und die Lawinenschnüre außen hingehängt? In seinem Rucksack ist noch Platz genug dafür. Außerdem braucht er keine Lawinenschnüre und kein Seil auf den Touren, die er führt. Er möchte Eindruck machen, der Stinker. Er führt sie ja doch keinen Schritt weiter als bis zur Alm, das wette ich. Und das geht schon über seinen Horizont … Na, hoffentlich holt sie der Teufel, der gute alte Schneeteufel, alle drei.«

Terese lachte. »Warum bist du denn so böse auf die armen Leute?«

»Du glaubst wohl, ich beneide den Herrn Ploner, weil er diese schicken Leute übers Joch zerren darf? Ganz im Gegenteil. O nein, ich bin nicht eifersüchtig. Ich mag nur nicht, wenn Menschen mit schlechtem Gewissen im Schnee herumlaufen.«

»Sei doch nicht so gemein«, sagte sie und rüttelte ihn am Arm. Er schaute wie gebannt auf die kleine Kolonne. Es war wirklich wie ein böser Blick, der richtige böse Blick aus dem Mittelalter. »Die haben doch alle drei ein sehr gutes Gewissen. Keine Spur von schlechtem Gewissen. Das ist alles nur Einbildung von dir, weil sie dir nicht guten Tag gesagt haben.«

»Ach, bist du dumm«, sagte er in scharfem Ton und schüttelte ihren Arm ab. »Du hast keine Augen im Kopf. Siehst du nicht, wie der kleine Maler vor sich hin grübelt, während er dahinschiebt? Der denkt über den Fortschritt der Menschheit nach, während er im Schnee steckt. Er sieht den Schnee überhaupt nicht, dieser sogenannte Maler, das merkt man ganz genau. Und das Mädchen, wie es die Oberschenkel zusammenpreßt, das scheint ja die richtige Nummer zu sein. Die hat das schwerste Gewissen von der ganzen Blase. Wie konntest du dich nur mit dieser Oberschenkelpresserin so großartig anfreunden?« Er wandte sich schroff ab und ging an den Tisch, Barbi und Lois mit sich ziehend.

Terese blieb am Fenster, bis die drei im Wald verschwanden. Sie kam sich sehr dumm vor. Er war ernsthaft böse auf diese Menschen? Warum? Warum? Sie sah keinen Grund. Und doch kam es ihr jetzt selber so vor, als bewegten sie sich nicht ganz frei dahin im freien Schnee. Als könnte man es so und so ansehn: so wie sie es sah, das Bild von drei einfachen Menschenkindern auf der Wanderung, und so wie er es gesehn haben mußte, mit einem fremden Widerschein auf diesem Bild. Aber das fühlte sie nur einen Herzschlag lang. Und er selber schien es auch schon wieder vergessen zu haben, nach dem Lachen zu schließen, mit dem er schon wieder Reitstunde gab, dreimal an Lois und dreimal an Barbi.

Sie ließ es sein und trat vom Fenster zurück. Das Reiterlied hatte sich bereits verwandelt. Man konnte es kaum mehr erkennen, wenn man die Ableitung nicht kannte. »Wolloho-und-Solloho-und-Zumbumbum!«

Barbi rief immerzu: »Jetzt ich, jetzt ich, jetzt ich Wolloho-und-Solloho!« Bis es schließlich genug war und sie sich mit Hingabe daranmachten, das Segelschiff zu montieren.

Indessen ging es draußen weiter, immer weiter. Im Wald war eine breite Spur, ziemlich glatt. Aber das Steigwachs, das der Ploner auf die sechs Bretter geschmiert hatte, bewährte sich. Schnell ging's hinan. Bis die Tannen niedriger und niedriger wurden und die ersten Latschen kamen. Da wurde die Spur schmaler und weniger bequem. Auf dem freien Stück unterm Joch war sie oft ganz verweht. Der Ploner mußte tüchtig eintreten, um es seiner Gefolgschaft leicht zu machen. Sie kamen alle drei ins Schwitzen. Es war windstill, wolkenlos, starke Strahlung.

Das letzte Stück unterm Joch war eine Schinderei. Sie mußten ganz kurze Kehren machen, dicht übereinander. Alle paar Minuten mußten die Bretter wieder herumgeschwenkt werden. Und immer neue Kehren, wenn man längst glaubte, es geschafft zu haben. Aber dann war's doch soweit: sie standen am Joch, und das obere Karwendeltal lag in seinem ganzen Glanz vor ihnen.

Sie rasteten. Der Ploner trat hinter einen Felsblock, danach kam er zurück, um seinen beiden Zöglingen die Route zu erklären und die Berge zu benennen.

Er war ein mittelgroßer, breiter fester Kerl in den besten Jahren. Er machte durchaus nicht den Eindruck, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Die Alm, zu der er sie führte, gehörte seinem Bruder, man sah sie auf der gegenüberliegenden Tallehne unter den Felswänden liegen. Dieses Hochtal stand ihm zu, mindestens ebensogut wie dem Doktor Ragaz, wenn er sich auch erst seit drei, vier Jahren auf den Wintersport umgestellt hatte. Er kannte den Schnee, den Schnee in allen seinen Formen. Er pfiff auf die Winterkurse, die Doktor Ragaz den Karwendelführern gab. Er pfiff auf die Lehrbücher, die der Gentlemanführer schrieb und den Bauernführern aufhängen wollte.

Glenn war höflich genug, sich eine kleine Geographiestunde verabreichen zu lassen, nachdem die Purgasser ein paar Schritte abseits getreten war, um allein die neue Welt zu begucken. Aber er hörte nur halb hin. Er stützte sich auf seine Stöcke und hing seinen eigenen Gedanken nach.

Wenn man schwitzte und den eigenen Schweißgeruch in die Nase bekam, vermischt mit dem Geruch des Schnees und dem Geruch des Himmels, dann mußte man diese letzten Wochen als Humbug empfinden. Wie hatte es geschehen können, daß man der Lyrik dieses Mädchens verfallen war? Eine neue Keuschheit, eine neue Familie, ein neuer Stamm? Waren sie nicht irrsinnig, alle beide? Jedenfalls! Jedenfalls waren sie zwei Irrsinnige. Bildeten sich ein, stolz zu sein vor allen Männern und Weibern, und tanzten nur um ihren beiderseitigen Irrsinn herum. Was war's denn, was immer wieder zwischen sie trat und sie trennte, wenn sie sich umklammert hielten, um sich anzugehören, über die Mitternacht hinaus, über alle Jahre hinaus? Sie nannten dieses Warten und Warten den Dienst an der Wahrheit, der neuen Wahrheit mit dem großen W, und dabei war's wohl der Dienst am Irrsinn, dem neuen Irrsinn mit dem großen I?

Der Ploner fuhr zuerst ab. Es kam eine leichte Abfahrt bis zu einem Bach, dann mußten sie das Hochtal überqueren und an der gegenüberliegenden Lehne wieder aufsteigen. Es ging ins Herz des Gebirges hinein. Der Führer fuhr im Schuß hinunter, und die beiden Schüler warteten, bis er zum Halten kam und ihnen zurief, sie sollten nachkommen und in Bögen fahren.

»Fahr du voraus«, sagte Glenn, ohne aufzuschaun, als die Purgasser zum Start antrat. Erst als sie eine Zeitlang an seiner Seite gestanden war, ohne loszufahren, schaute er auf.

Sie weinte. Die Tränen liefen ihr herunter. Und sie sah auf ihn, ohne sich ihrer Tränen zu schämen.

»Um Gottes willen, was ist denn?«

Er hatte sie noch nie weinen sehn. Trotz ihrer vielen Skrupel war sie immer lustig gewesen. Sie war nicht hysterisch, im Gegenteil, er hatte immer gesagt, sie wäre die einzige Frau ohne Hysterie, die auf der Erdkugel herumliefe. »Was hast du denn?« fragte er ängstlich. Er hatte seine Auflehnung gegen die Lyrik schon wieder vergessen.

»Nichts«, sagte sie, »wirklich nichts. Nichts Schlimmes.«

»Wirklich nicht? Sollen wir umkehren?«

»Nein, nein, es ist doch wunderbar hier.«

»Weinst du, weil es hier wunderbar ist?« Er schürzte ein wenig die Lippen. Er hatte eine Heidenangst vor solchen Schönheitsausbrüchen.

»Ich lieb das Leben«, sagte sie, »ich lieb es wieder, ich lieb es wieder.«

Er sah verwundert auf sie. Sie hatte sich das Gesicht mit Creme gegen den Sonnenbrand eingeschmiert, und die Tränen machten lange Kanälchen darin. Es sah nicht schön aus. Aber ihr Mund zuckte nicht, und ihre Augen strahlten wie zwei blaue Sonnen durch das Wasser der Tränen hindurch.

»Ich auch, ich auch«, sagte er und zog sie an sich. »Lieben wir es, wir zwei zusammen, so wie es ist.«

Die Bretter verquerten sich und ließen's nicht zu, daß sie sich aneinanderschmiegten. Also lehnte sie ihren Kopf von der Seite her an ihn und schaute neben ihm auf die verschneite Welt. Drüben stiegen die Nordwände hoch, kahl und kalt. Sie schwiegen eine kleine Weile.

»Verzeih«, sagte die Purgasser, als der Ploner rief.

»So was Blödes! Da weint man doch nicht gleich!«

Sie machte sich frei. »Albern! verzeih!«

»Alles andere ist albern, nur nicht dies.«

Er trat noch einmal zu ihr und gab ihr einen Kuß, ganz leicht und fern, auf die eingeschmierten Lippen mit dem Cremegeruch. Sie fühlten beide, daß sie eins geworden waren.

Sie fuhren los.

»Langsam, langsam«, schrie der Ploner, »nicht in Schuß kommen lassen.« Es war die Windseite. Der Schnee war hart zusammengeweht. Zuweilen gab es nackt geblasene bösartige Felsbrocken zwischendrin. Sie fuhren beide sehr vorsichtig. Glenn probierte ein paar Schwünge, um sich nicht vor seinem Führer zu blamieren. Doch als es mißlang, fuhr er wie die Purgasser, Damenabfahrt, Stockreiterei, Spitzkehren. Aber das letzte Stück ließen sie die Bretter laufen. Es war eine sanfte Engelswiese mit langem Auslauf. Sie glitten dicht nebeneinander dahin wie in einem wattierten Garten Eden.

Dann ging's wieder aufwärts. Die alten Spuren zweigten links ab. Es war eine Partie gewesen, die nicht zur Alm gestiegen war. Sie kamen in jungfräuliches Gebiet. Der Ploner mußte eine neue Spur anlegen. Sie gerieten wieder in Schweiß. Und nachdem sie eine Stunde lang aufwärts gestapft waren, waren sie wieder von der Wolke der eigenen Atmosphäre eingelullt, alle drei, jenseits von Lust und Leid, jenseits von Wille und Vernunft. Das große Dösen in der Mittagshitze setzte ein.

Der Ploner war sehr zufrieden. Mit dem Schnee, mit dem Tempo seiner Leute, mit sich selber. Er plante für den Frühling einen Anbau an sein Haus; das Holz war schon geschlagen. Wenn das Frühjahr trocken war, war's bis zur Sommersaison unter Dach. Dann konnte er anstatt zwei Betten mindestens sechs Betten an die Sommergäste abgeben. Das war schon so eine Art Pension. In einigen Jahren gab er auch das Essen, dann war's eine richtige Pension. Pension Ploner. Pro Tag sieben Mark Pension, das machte sechs mal sieben, zweiundvierzig Mark Kassa pro Tag. Fünfzig Prozent ab für eigene Kosten, das waren zirka zwanzig Mark pro Tag. Pension Ploner. Sechs Wochen lang voll besetzt, vier Wochen lang zum Teil besetzt, im Winter mehrere Schikurse mit eigener Pension, das machte in einem Jahr, das machte in drei Jahren, das machte in zehn Jahren, das machte, das machte, das machte. Pension Ploner.

Glenn dachte daran, daß die Nacht, die diesem wolkenlosen Tag folgte, kalt werden würde. Es wehte ein scharfer Ost an den Windstellen. Hier unter den Wänden merkte man's nicht, hier schwitzte man wie im Sommer, aber drüben hatte man's gespürt. Eine kalte, sternenbeglänzte Nacht stand bevor. Die Schlafstuben im Pürschhaus mußten wahnsinnig eingeheizt werden. Sie liebten das Leben, alle beide, es war ein Hochzeitstag. Die Hochzeit der Fanny Purgasser. Ein deutsches Mädchen, wie's in den literarischen Witzblättern stand. Außerdem gab's solche deutsche Mädchen auch noch bei Jean Paul und Dürer und den andern holden Meistern. Und außerdem war alles ganz neu. Ach, die armen Huren aus dem alten Leben, was wußten die von der wahren Sinnlichkeit des Lebens bei allem Gehupf und Gewinsel? Fanny Purgasser. Still wird sie liegen, ganz still zum Beginn. Wie der stille Schnee, so still wird es zuerst sein. Und wie die Kristalle in dieser warmen Hand voll kühlem Schnee, so wird man sie auftaun müssen und schmelzen. Schmelzen, schmelzen, schmelzen. Bis die große Schmelze da war, der linde Wind zuerst, danach der süße Sturm.

Die Purgasser aber war froh, als die Alm näher kam. Sie war ein wenig erschöpft, sie wollte es nur nicht zugeben. Als sie an die Mulde vor der Alm kamen, war ihr Körper auf einem toten Punkt angelangt. Die Bretter wurden immer schwerer, rechter Schi, linker Schi, rechter Schi, linker Schi, rechter Schi, linker Schi, und die Stöcke sackten tief ein, trotz der breiten Reifen, und gaben nur noch einen wackeligen Halt. Aber die kleine Rast, vor dem Quergang über die Mulde, das tat gut und gab wieder neuen Mut in die Gelenke.

Der Ploner behauptete, sie müßten noch zweihundert Meter aufwärts steigen, bis unter die Felsen, und dann zur Alm herunterfahren auf der drüberen Seite der Mulde. Dabei lag doch die Alm zum Greifen nah, gleich vis-à-vis? Offenbar wollte er ihnen Schwierigkeiten vormachen, die gar nicht da waren. Warum konnten sie die Mulde nicht so überqueren, wie sie vor ihnen lag? Sie waren auf gleicher Höhe mit der Alm, wozu erst das langweilige Hinauf und Hinunter?

Der Ploner sagte, es wäre zu windstill in dieser steilen Mulde. Da läge in der Mitte des Hangs ganz weicher und ganz tiefer Schnee. Und unter diesem Schnee lägen verschiedene Schichten von anderem Schnee, Schichten von allerlei Beschaffenheit, Harschplatten oder brettiger Schnee, das könne leicht eine kleine Rutschpartie geben. Aber das schien wirklich nur Wichtigtuerei zu sein, denn schließlich gab er nach und führte sie direkt über die Mulde.

Wenigstens sollten sie einzeln gehn, meinte er, damit sie den Hang nicht zu sehr belasteten, und das leuchtete ihnen ein. Es war ganz lustig; ein wenig Koketterie mit der Gefahr tat immer gut, selbst wenn die Gefahr nur eingebildet war.

Der Ploner überquerte die Mulde zuerst, dann sollte die Dame kommen, danach Glenn. Und wer ins Rutschen kam, sollte quer zum Hang abfahren. Zweihundert Meter tiefer war ein guter flacher Auslauf nach beiden Seiten hin, da konnte nichts passieren außer ein paar Purzelbäumen.

»Gar nichts zu befürchten«, rief er von drüben, nachdem er eine tiefe Spur hinübergezogen hatte. »Die gnädige Frau kann kommen.«

Aber die Purgasser wollte noch ein paar Minuten verschnaufen und überließ Glenn den Vortritt. Sie setzte sich in den Schnee und schaute sich den Quergang ihres Geliebten an.

Sehr sicher und ruhig traversierte er dahin. Der Schnee kollerte bei jedem Schritt von der Spur ab, bildete kleine Ballen, Miniaturlawinchen, und blieb ein paar Meter tiefer in faulen Batzen liegen. Manchmal, wenn unter dem Lockerschnee der harte Altschnee angeschnitten wurde, machte es Rucks-Rucks, ein tiefes Knirschen durch den ganzen Hang, wie wenn ein vorsintflutliches Tier grunzte. Aber sie hatte keine Angst, weder um ihn noch um sich. Da sie eins geworden waren, war der Schnee ihr Freund und wollte ihnen nichts anhaben. Da gab's gewiß einen tieferen Zusammenhang, als die Menschenkinder ahnten.

Jetzt mußte auch sie hinüber. Die Gelenke waren wieder frisch, sie stemmte sich mit einem fröhlichen Ruck ab. Der Ploner rief ihr ein paar Ermunterungen zu, sie hörte gar nicht hin. Sie sah Glenn drüben stehn und winken, sie schob tapfer los.

Hier war der Schnee wirklich sehr tief. Bei den andern beiden hatte es nicht so tief ausgesehn, wie's in Wirklichkeit war. Und wenn man durchtrat und aufs Harte kam, dann machte es viel lauter Rucks-Rucks, als es vom alten Standplatz aus geklungen hatte. Die ganze Mulde dröhnte mit, die kleine abgeschlossene Landschaft, auf der im Sommer die Schafe und die Ziegen weideten.

Aber sie tat nur so bös, die kleine Rucks-Rucks-Mulde. Im Grund war sie, verschneit, genau so lieblich und so mild wie unterm Gras und Farn und Enzian des Sommers. Und vielleicht milder noch? Der Schnee war weicher als die weichste Blumendecke.

»Nicht hinsetzen!« rief der Ploner.

Sie hatte sich gar nicht freiwillig hingesetzt, sie war nur ein wenig abgeglitten. Aber da sie nun schon einmal saß, blieb sie eine Minute lang sitzen, um Atem zu holen.

»Auf!« rief der Ploner, und dann rief auch Glenn: »Auf!«

Also gut, schon gut, stand man halt wieder auf. Was wußten die davon, wie weich es sich hier lag!

Während sie sich zum Stand hoch stemmte, grunzte es wieder, von allen Seiten.

»Sei nur still, mein lieber Freund Schnee«, murmelte sie vor sich hin. »Ich bin die Fanny Purgasser, niemand sonst. Ich werd mich nicht entäußern.«

Jetzt war sie hoch.

»Entäußern, was soll denn das heißen?« brummte sie sich selbst zur Antwort und setzte sich wieder in Schwung. Nur los, nur los.

Da stand sie wieder in der Spur. Da machte es wieder Rucks-Rucks. Aber diesmal knirschte es ganz anders, von oben her und dumpf. Der ganze Hang geriet in Bewegung.

»Oho«, rief sie laut.

»'raus, 'raus, 'rausfahren«, hörte sie den Ploner schrein.

»Auf, aufstehn, seitwärts abfahren, Liebste du –«

Das mußte Glenn gewesen sein.

Sie kam nicht hoch, die Bretter blieben hängen.

»'raus, abwärts, quer abwärts«, klang es von drüben.

Nein, sie mußte mit dem Schnee abfahren, im Sitzen, es ging auch so, es ging auch so ganz gut hinunter zu dem flachen Auslauf.

Aber was war denn das, es schob sich über sie, jetzt war er auf einmal bretthart, der milde Schnee, der weiche Freund, lauter steife Schollen umglitten sie, jetzt kam ein Riß, ein gewaltsamer Stopp durch die ganze Welt, jetzt hatte es sie ganz gerissen, die Beine waren hinten, sie schrie, sie hörte sich selber schrein, einen fremden Schrei, ganz von drunten her, aus dem Bauch heraus, aber da lag sie schon mittendrin, zwischen den roten Bestien, lauter rote Bestien kamen auf sie zu, von den Seiten, von oben und unten, aus ihr selber heraus, rot war der Schnee, der Schnee war gar nicht weiß, das war eine Lüge, er war rot, lauter rote Bestien, in allen Größen, winzige und riesige, Flöhe und Giganten, spitz und quadratisch, alles, alles, bis es endlich anders wurde, bis es endlich still wurde, bis es endlich schwarz wurde, tiefschwarz, ja, lauter tiefschwarze Mütter waren es, keine roten Bestien, nichts Weißes mehr, nichts Rotes mehr, schwarze Mütter, tiefschwarze uralte Mütter, die kamen auf einen zu, die nahmen einen zurück in den tiefschwarzen uralten Schoß, gut, gut, also blieb man gelassen liegen, mittendrin, still, entäußert, und lächelte ein kleines Babylachen vor sich hin, während die Schollen weiterglitten, weiter, drüber hinweg.


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