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Neunzehntes Kapitel

Hoch stand die Sonne schon, als sie erwachten. An dem Tisch vor ihrer Hütte saßen zwei zerlumpte Gestalten. Zwei auffallend abgemagerte Gesichter, beide sehr jung, das war's, was ihnen entgegengrinste, als sie schlaftrunken um die Ecke torkelten, um das Mittagessen zu richten.

»Hallo!« entfuhr es Xaver. Er war zusammengezuckt wie ein altes Weib, das am hellen Tag Gespenster sieht, doch in der gleichen Sekunde ärgerte er sich schon über diese Schreckhaftigkeit. Glenn hatte seine Fassung nicht verloren und schneller begriffen, daß es nur zwei Touristen waren, die sich den Schatten der Hütte zur Rast erkoren hatten.

»Können wir 'n Schluck Milch haben«, sagte der eine von den beiden Jünglingen, und: »wir zahlen es selbstverständlich«, sagte der andere in herrischem Ton. Sie hielten die Hütte für eine bewirtschaftete Alm und die zwei Männer für die Sennen, und das war nicht weiter verwunderlich. Xaver hatte nichts an wie die alte Khakihose, man konnte seinen schweren Brustkorb kaum für den Brustkorb eines Gentleman halten, mit einer massiven Proletenhaftigkeit schob er seine halbe Nacktheit durch die Landschaft. Glenn aber, mit dem überkurzen Bart, war ja leicht mit einem unrasierten Strolch zu verwechseln, wenn er nicht grad eins von seinen eleganten Stücken trug.

»Das ist keine Alm«, sagte Xaver und warf einen prüfenden Blick auf die zwei Rucksäcke, die an der Türschwelle lagen. Das Seil, das mit der gleichen Nachlässigkeit just vor den Eingang geworfen worden war, schien nicht viel wert zu sein. Es war an mehreren Stellen gefährlich angefetzt, das sah man von weitem, und miserabel aufgerollt. Daneben lagen die zerschundenen Nagelstiefel der Jünglinge, sie hatten ihre Kletterschuhe an den Füßen. »Wo kommen Sie denn her?« fragte er in ziemlich barschem Ton. »Aus dem Fels?«

Aber seine Frage wurde überhört. »So, das ist keine Alm?« sagte der eine der beiden Jünglinge spöttisch, und: »Was denn sonst?« kicherte der andere. »Vielleicht 'n Sanatorium? Oder 'n Puff?« worauf sie beide in Gelächter ausbrachen – sie dachten nicht daran, aufzustehn und die zwei Männer als die Besitzer der Hütte anzuerkennen.

»Lachen Sie nicht so blöd«, sagte Glenn, »diese Hütte gehört uns. Aber wenn Sie sich anständig aufführen, können Sie hier sitzenbleiben.«

Jetzt ging ihnen ein Licht auf. Sie sprangen hoch und stellten sich mit schneidigen Verbeugungen vor. »Hellmann«, sagte der eine, und: »Boll«, sagte der andere, und das ärgerte Xaver noch mehr als die Lümmelei zuvor. Siebzehn oder achtzehn Jahre waren die Burschen alt, die Sennen pöbelten sie an, die Kavaliere betrachteten sie ohne weiteres als ihresgleichen, einen wahren Unterschied zwischen Mann und Mann kannten sie nicht. Er ließ die Vorstellung über sich ergehn, ohne seinen Namen zu nennen. Auch Glenn erwiderte nichts.

»Wir kommen von dort«, sagte der eine jetzt in verbindlichem Ton, und: »wir haben eine wahnsinnige Tour hinter uns«, sagte der andere stolz – es waren aber die Nordwände, auf die sie zeigten.

»Was?« sagte Xaver. »Die Ladizer Nordwand? Im Abstieg?«

»Nein«, sagte der eine lachend, »die ist noch niemals im Abstieg gemacht worden«, und: »Die Sonnenspitz-Nordwand«, sagte der andere, »bisher auch noch nicht gemacht, eine Erstlingstour.«

»Wieso«, sagte Xaver, »lügen Sie doch nicht so albern, Sie kommen nicht von der Sonnenspitz-Nordwand.« »Ehrenwort«, sagte der eine, und: »Das heißt«, sagte der andere, »wir haben uns von der Scharte aus abgeseilt. Sie sehn doch die Scharte zwischen der Ladizer und der Sonnenspitz, nicht wahr –«

Aber Xaver ging nicht auf ihre Erläuterungen ein. Er fragte sie mit knappen Sätzen aus. Er wollte nichts hören wie »ja« oder »nein«. Es ergab sich, daß sie eine Abseiltour gemacht hatten, die zwar erstklassig war, aber schon mindestens hundertmal begangen. Vorgestern waren sie aus der Stadt abgefahren, gestern waren sie auf dem bequemen Steig der Südseite zum Grat aufgestiegen, mittags waren sie droben gewesen, von der Scharte aus hatten sie sich alsdann tatsächlich nach Norden heruntergeseilt, in einem Anfall von Tollkühnheit.

Sie waren sehr begeistert von sich, weil sie es ohne Sachkenntnis und ohne Training vollbracht hatten. Der eine war noch Gymnasiast und kam direkt von der Schulbank. Der andere wollte Ingenieur werden und absolvierte grad sein praktisches Jahr in einer Maschinenschlosserei, vor Beginn seiner Hochschulstudien, er kam von der Drehbank. Und sie hatten wirklich geglaubt, die ersten auf dieser Route zu sein.

Über Xavers Kenntnisse waren sie sehr erstaunt, er kannte tatsächlich jede Phase ihrer Tour. Erst gegen Abend waren sie dem steilen Fels entronnen, nach den verwegensten Seilmanövern und Flugpartien. Da waren sie denn am ersten flachen Fleck im Geröllfeld hingesunken, erschöpft, und hatten biwakiert. Heute hatten sie nur den kleinen Bummel vom Kar bis hierher hinter sich. Aber kaputt waren sie doch noch von der verwegenen Fahrt. Ja, noch immer völlig ausgepumpt fühlten sie sich, obwohl sie glänzend geschlafen hatten, auf den Steinen unterm Sternenzelt.

Indessen, sie täuschten sich, als sie nach diesem Verhör auf das Lob des Kenners warteten. Fürchterlich schimpfte Xaver los, nachdem er alles, was er wissen wollte, aus ihnen herausgeholt und geprüft hatte. Dreißig Meter Seil hatten sie bei sich? Die besten Kletterer des Karwendels benötigten sechzig Meter Seil zu dieser Route. Und was für ein Mistseil das war? Und wozu gab es denn eine alpine Literatur, wenn sie sich schon einmal an solche Touren wagten? Sie sollten aber lieber Motorrad fahren oder angeln, das wären für ihresgleichen geeignetere Sporte als der Alpinismus. Und um Himmels willen sollten sie dieses Vabanquespiel nicht mit Mut und Heroismus verwechseln! Selbstmord, ganz sturer Selbstmord wäre ihre Expedition gewesen, gar nichts anderes. Daß aber dieser blödsinnige Selbstmord mißglückt wäre, ginge nicht auf ihr eigenes Konto, sondern auf das Konto des Gottes ihrer Generation, der bekanntlich ein Faible für Idioten hätte.

Hier aber, als sie schon ganz verdonnert waren, geschah etwas Seltsames. Glenn, der beobachtend danebengestanden war, sagte plötzlich zu Xaver: »Spielen Sie sich doch nicht auf, Mensch!«, scharf, böse, und Xaver war perplex über diese unerwartete Attacke. Er hatte keine Sekunde lang gezweifelt, daß Glenn diese zwei Helden gradso übel eintaxierte wie er selber. Richtiger Verrat war das, wie der Freund es vor den Fremden herausstieß, mit seiner gottverdammten Fistelstimme, und: »Bitte, behalten Sie doch Platz, meine Herren«, fügte er danach hinzu, mit einer freundlichen Verbeugung den Tisch beiseiterückend, damit die Jünglinge wieder ihre Bank erreichen könnten, und: »Seien Sie für ein paar Stunden unsre Gäste, mein Kamerad hat es nicht so schlimm gemeint, er hat sich getäuscht«, und: »Ich will mal nach dem Mittagessen sehn, ich hab heute die Schicht.« worauf er über die Rucksäcke stieg und in der Hütte verschwand.

Xaver sah ihm zornig nach. Dann gab er sich einen Ruck und sagte zu den Jünglingen: »Bitte, ja, essen Sie bei uns.« Er fühlte jedoch, daß er keine gute Figur dabei machte. Erst als sie mit großen Dankesbezeugungen die Einladung annahmen und ihm beichteten, daß sie keinen Proviant mehr und nur noch fünf Mark in der Tasche hätten, das Geld für die Heimfahrt, für das Eisenbahnbillett nach München, zu den Eltern zurück, weshalb sie auch das Unterkunftshaus in weitem Bogen umgangen hätten, wurde er milder gestimmt. »Was haben Sie denn da?« fragte er und untersuchte die Hand des Gymnasiasten. Es war vom Steinschlag, eine ziemlich tiefe Wunde an der rechten Hand, am Daumenballen. Er trabte in seine Kammer, an Glenn vorbei, ohne ihn zu beachten, und holte den Verbandkasten. Dann reinigte er die Wunde, beschmierte sie mit einer Heilsalbe, bedeckte sie mit sterilem Mull und befestigte schließlich den Mull mit ein paar breiten Leukoplaststreifen.

Die sinnlose magere Jugendhand. Ja, man konnte es auch von der rührenden Seite nehmen. Trotzdem war's ein rüpelhafter Verrat, wie Glenn ihn bloßgestellt hatte.

Fritz Hellmann hieß der Gymnasiast. Er trug eine verbogene Stahlbrille und war nicht besonders glücklich gewachsen. Zwar war er breit über der Brust und riesengroß, größer als Xaver, aber man hatte bei seinen schlaksigen Bewegungen das Gefühl, daß ihm diese Körpergröße nicht zustand. Er war auch intelligent und belesen – Xaver war betroffen, wie gut er in den verschiedensten Dingen des Lebens Bescheid wußte –, aber man hatte auch hierin den Eindruck, daß ihm dieses wissen nicht zustand. Es war alles zuviel für ihn selber. Der Urkeim seiner Existenz war nicht mitgewachsen. Je schneller er sich weiterentwickeln würde, um so zurückgebliebener würde seine ganze Persönlichkeit wirken; schlimme Mannesjahre standen ihm wohl bevor. Im übrigen war er blauäugig und braunhaarig, ein hübscher Mischling. Er stammte entweder von assimilierten Juden ab, muskulösen Juden vom Typ der Makkabäer, oder von süddeutschen Bauern, welche abenteuerlustig in die Stadt gezogen warm, um nun den Kindern jenen städtischen Schuß Blut zu vererben, durch den die Größe eines Menschen sich selber überwuchs. Vermutlich war's aber ein Durcheinander von dem und jenem. Jedenfalls, erklärte er, war er sich über seinen zukünftigen Beruf noch nicht im klaren. Er war jetzt in der Unterprima und verspürte Neigung zu nichts und zu allem. Sollte er Farmer werden, in Kanada? Oder Buchhändler, in Leipzig? Sein Vater war Arzt und wollte auch aus ihm einen Arzt machen, aber er glaubte nicht an die moderne Medizin und hatte sich noch nicht entschließen können, »what to do?« fragte er Xaver. Der aber glotzte ihm zerstreut ins Gesicht und sagte, seltsamerweise im Tonfall eines alten Engländers, den er einmal auf einem Ozeandampfer kennengelernt hatte: »Yes … Yes …«

Otto Boll war die simplere Gestalt. Sein Wuchs war ausgeglichen, er war ein reinrassiger Hamburger, pigmentarm, semmelblond, ein wenig hölzern. Seine Eltern waren, wie's schien, sehr reich, während man von der medizinischen Praxis des Papas Hellmann nach den Sprüchen des Sohnes keinen erstklassigen Eindruck bekam. In allen romantischen Dingen des Lebens schien der zukünftige Maschinenkonstrukteur aus Norddeutschland den jüngeren Freund aus Süddeutschland anzuerkennen. Dagegen fuhr er ihm zuweilen, wenn's um gesellschaftliche Meinungsverschiedenheiten ging, sehr grob übers Maul. Es bestand dadurch die Gefahr, so schloß Xaver, daß sich in diesen zwei jungen Leuten ein geheimer Haß entwickelte, von dem sie selber nichts merkten. Bis eines Tages die ausgeglichene Dummheit aus dem reichen Haus, Otto Boll, über die unausgeglichene Klugheit aus dem kleinen Haus, Fritz Hellmann, herfallen würde, oder umgekehrt, zähnefletschend alle beide. Aber das war nur der Xaversche Pessimismus, der auf die schlimme Prognose verfiel, vorerst war's ein Bund auf Leben und Tod. Und daß die Eltern keine Ahnung von dieser außerordentlichen Tour hatten, war der Hauptspaß. Hellmann war der Anstifter. Doch die grausame Energie, welche zur Durchführung nötig gewesen war, hatte der zähere Boll aufgebracht.

Beim Mittagessen erzählten sie ihr ganzes Leben bereitwillig noch einmal, weil Glenn, der Koch, es noch nicht gehört hatte.

Es gab zwei verschiedene Gedecke. Das heißt, Rührei mit grünem Salat bekamen sie alle vier. Danach aber bekamen die Jünglinge – wie Glenn, der jetzt den Oberkellner spielte, verkündete – alles, was der Keller bot: Wurst, Käse, Pumpernickel, Heringsfilet, Mixed Pickles, Oliven, Fergusschen Burgunderwein. Hingegen gab's für die zwei Männer nichts Scharfes und nichts Schweres. Sie verrieten ihren Gästen nicht, warum sie sich beschränkten, und denen fiel es in ihrem Heißhunger auch nicht weiter auf – aber sie hielten sich in stillem Einverständnis streng an ihre Abmachung, die Nordwand betreffend. Sie nahmen heißen Tee, Toast mit Honig, mehrere Löffel Malzextrakt, danach einen Teller Schleimsuppe. Das war Xavers erprobtes Rezept für den Rasttag vor einer Gewalttour. Sie mußten an ihre Schleimhäute denken, an ihren Speichelfluß in der wasserlosen heißen Wand.

Doch die Jünglinge hauten sich richtig an. Zuerst plapperten sie noch mit vollen Mündern von Gott und der Welt, dann wurden ihre seelischen Ergüsse spärlicher, und die Augen verglasten in Sättigung. Sie durften daher zwischen dem Mittagessen und dem Familienkaffee, zu dem sie noch eingeladen wurden, zwei Stunden schlafen. Da es sehr heiß aus die Almwiesen herunterbrütete – sie hatten zudem beide einen Sonnenbrand, bei Boll zog die Haut im Nacken schon ein paar schmerzhafte Blasen –, durften sie in den beiden Betten der Männer schlafen.

Hellmann wurde in Glenns Kammer transportiert, Boll kam unters Dach. Die Betten waren noch nicht gerichtet, aber das schadete nichts. Der süße Duft der Weiber hatte sich wohl schon verflüchtigt, das andere Parfüm des Lebens, ins Nichts, hinweg? Inzwischen stellte Xaver, an der Föhre draußen, Glenn zur Rede.

»Das war ja nett, wie Sie mich vor den Lausejungen blamiert haben«, sagte er und blieb stehn, während Glenn sich wieder auf den alten Schlafplatz flackte.

»Blamiert?« sagte Glenn. »Ich Sie blamiert? Wieso denn? Man kann sich doch nur selber blamieren? Aber das ist ja gut, wenn Sie sich blamiert fühlen.«

»Aha, frech werden«, sagte Xaver, »das ist das Richtige, wenn man etwas ausgefressen hat.«

»Ich hab nichts ausgefressen«, sagte Glenn kühl, nahm seinen Zeichenblock und begann darauf herumzukritzeln.

»Warum haben Sie mich denn so angebrüllt vorhin? Das heißt, brüllen können Sie ja gar nicht, nur quietschen, recht giftig quietschen. ›Spielen Sie sich nicht auf, Mensch!‹ Was soll denn das heißen?«

»Das soll heißen«, sagte Glenn sehr ruhig, obwohl der andere seine Fistelstimme nachgeäfft hatte, »daß Sie sich aufgespielt haben, recht dumm aufgespielt.« Dabei zeichnete er auf seinem Block herum, als ginge ihn Xavers Zorn nichts an.

»Ich hätte Ihnen eine 'runterhauen sollen, das wäre die beste Antwort gewesen.«

»Machen Sie, daß Sie weiterkommen«, rief Glenn. »Ich will hier zeichnen, sehn Sie das nicht?«

Xaver warf sich sofort neben ihn ins Gras. »Gehn doch Sie gefälligst weg! Das hier ist mein Platz!«

Sie blieben eine halbe Stunde lang stumm nebeneinander liegen. Glenn zeichnete. Xaver kaute an seinem Zorn herum wie an einem alten Kaugummi.

»Bitte«, sagte dann Glenn auf einmal, »das ist für Sie, Sie alter Aufspieler.« Er wälzte sich herum und reichte Xaver das Blatt hin. »Das verehre ich Ihnen, wenn Sie's auch nicht verdient haben.«

Xaver nahm zögernd das Blatt. Er bockte noch. Er guckte erstmal auf die Zeichnung wie auf einen Feind. Aber je länger er hinsah, um so mehr hellte sich's in ihm auf. Schließlich sagte er: »Sie haben recht, Sie haben recht, es war eine Aufspielerei.«

Glenn, der ihm schon wieder den Rücken zudrehte, erwiderte: »Nein, Sie haben recht, ich hätte mich beherrschen müssen vor den jungen Leuten, ich bitte um Verzeihung.« Der Zwist war weg.

Es war aber auch eine sonderliche Zeichnung, durch die es geschah. Sieben zufällige Figuren in einer alpinen Landschaft – zwei Frauen, ein Tier, vier Männer – das war's, was man hier sah.

Die Landschaft war sehr sparsam ausgeführt, mit wenigen Strichen hingesetzt. Rechts eine Steilwand, aufsteigend bis zum oberen Blattrand. Links unten eine Halde, eine sanfte schiefe Wiese, bestehend aus drei Strichen und ein wenig Schatten. Darüber eine Mittagssonne, ein kindliches Gebilde, die klassischen Strahlenbündel rundum. Doch das war nur die schnell gerissene Kulisse, erst die Figuren machten die Verzauberung aus.

Die beiden Frauen lagen auf der Halde, nackt. Sie waren wie die Landschaft flüchtig hingeworfen, ganz dünn gestrichelt, so daß man fühlte, sie gehörten noch der Landschaft an. Die zarte Wölbung ihrer Bäuche streckte sich dem Taggestirn entgegen. War nicht die eine schwanger? Oder waren's Amazonen? Das Antlitz deckten beide mit dem abgebeugten Arm, es schien ein warmer Schlaf zu sein. Die Beine waren leicht gespreizt, und wenn ein süßer Traum in diese wenigen Striche eingebettet war, dann war er's hier, in dieser leichten Spreizung. Jedoch sie schliefen und gehörten noch der Landschaft an.

Jetzt kam das Tier, inmitten der Figuren, ein Fuchs. Er stand auf seinem eigenen Schatten, auf sonst nichts. Er bellte zu der Sonne hin. Er war, erklärte Xaver, gut getroffen: genau so habe seiner ausgesehn; woher nur habe Glenn das so im Kopf? Glenn aber brummte, daß er sich nicht besinnen könne, schon einmal einen wirklichen Fuchs gesehn zu haben. Da schmeichelte ihm Xaver und verglich sein Können mit dem Können alter gotischer Meister –

oder auch mit Praxiteles' Plastik, der Aphrodite,
und wie die Göttin ihr Bild besuchte, um es zu prüfen,
in dem knidischen Hain, dort war es aufgestellt;
nie noch hatte ein Mensch sie selber gesehn,
also konnte sie nichts erwarten wie Humbug
von dem knidischen Bild; nur um sich zu amüsieren
über den Menschenkerl, der sie in Stein gehauen,
stieg sie herab und schlich in den knidischen Hain;
leise durch das Gehölz und leise über die Lichtung,
leise zu ihrem Stein, da hielt sie leise – da schrie sie:
»Wenn denn, wo denn, wo – sah mich Praxiteles nackt?«
Also lobte der Freund den Freund ob des füchsernen Fuchses,
nicht im heroischen Vers, nur im modernen Gestotter,
ja, es war wirklich da, im Ausgesparten, im Weißen
dieses schönen Papiers, das trunkene Hin und Her
zwischen dem Tier und dem Licht, zwischen dem Licht und dem Tier –

dann aber kamen die vier anderen Figuren, rechts, am Fuß der Steilwand die vier Mannspersonen, zwei Jünglinge voraus, zerlumpt und abgemagert, mit fragenden Augen in die Leere glotzend, dahinterher zwei ausgewachsene Männer, die Hände auf die Jünglingsschultern aufgestützt, der eine Mann trug einen kurzen Bart, der andre an der Stirn zwei komische Hörner, jedoch das Ganze war nicht zu verkennen.

»Ja, es war Aufspielerei«, sagte Xaver, »Wie kam ich nur darauf, die armen Burschen zu beschimpfen? Wenn's auch Blödsinn war, was sie gemacht haben, was geht's mich an? Und schließlich taten sie's doch nur, weil sie nicht wissen, wohin mit ihrem Überschuß. Ich weiß selber nicht, wie ich zu diesem schulmeisterlichen Ausbruch kam.«

»Ich weiß es«, sagte Glenn. »Ich weiß ganz genau, wie es kam. Ich kann's Ihnen auch verraten. Aber ich denke, Sie werden böse, wenn ich's tu.«

»Gewiß nicht«, sagte Xaver, »sagen Sie's.«

»Weil Sie ein schlechtes Gewissen haben vor diesen jungen Leuten, das ist's, ein ganz hündisches Gewissen.«

»Oho!«

»Jawohl!«

»Wieso?«

»Mir geht's gradso«, sagte Glenn sehr bestimmt, »also können Sie's ruhig von mir hinnehmen. Diese jungen Menschen stellen einen Anspruch an uns, den wir nicht erfüllen können. Wenn sie uns ihren Gymnasiastenklimbim erzählen und mit ihren falschen Heldentaten auftrumpfen, dann steckt immer die Frage dahinter: ›Was sollen wir sonst tun, sagt es uns, wohin mit unserm Leben?‹ Und weil wir ausgewachsenen Männer keine Antwort wissen, werden wir wütig.«

»Richtig«, sagte Xaver sofort. »Das ist's, daher kommt diese ewige Kritik, ich geb's zu. Seit Jahrhunderten wissen die ausgewachsenen Männer den Jünglingen nichts zu bieten als Kritik. Wir sollen sie führen, statt uns aufzuspielen.«

»Wohin?« sagte Glenn. »Wohin soll man sie denn führen? Jawohl, sie schrein nach einem Führer, wie die Babys nach der Milchbuddel schrein sie danach, aber das ist doch Schwindel, den Führer zu markieren, wenn man nicht weiß, wohin? Oder? Wissen Sie vielleicht, wohin man solche Jünglinge führen soll?«

»Nein«, gab Xaver sofort zu. »Das ist wieder mal wie mit Ihrem alten Jack the sailor: lieber keinen Kompaß als einen falschen. Was?«

»Nein, nicht ganz«, sagte Glenn. »Wir dürfen ihnen natürlich keinen falschen Kompaß aushändigen, an solchem Zeug fehlt's ihnen nicht. Überhaupt keinen Kompaß, darin haben Sie recht mit Jack the sailor. Keine Wegweiserei in die Zukunft, um Himmels willen nicht! Aber wir können ihnen doch etwas mit auf den Weg geben.«

Ja, dies war Glenns Gebiet, und Xaver ging gehorsam mit. Erstmal, führte Glenn aus, seid klug wie die Schlangen, ihr ausgewachsenen Männer. Sagt den jungen Leuten kein Wort von euch selbst und euren Weibern. Noch sind sie nicht soweit, es richtig aufzufassen. Aus eurer Freundschaft machen sie eine Sentimentalität oder Perversität, denn sie sind verkümmerte Gebilde, schon von den Ahnen her, und wissen nicht, was männliche Freundschaft ist. Die Weiber aber laßt sie erstmal in Ehren halten, die Mütter, ja sogar die Amazonen. Wenn's ihnen später von den Weibern aus an den Kragen geht, entdecken sie von selber die Gefahr. Macht kein Problem, wo keins ist, ihr Männer, dann betten sich die Weiber ganz von selber wieder in die Landschaft ein, und eure eigenen Überschüsse werden wieder frei.

»Gemacht«, sprach Xaver, »keine Silbe.«

Sodann, die Luft ist voll von falschen Göttern. Maschinengötter, städtische Götter, christliche Götter, amerikanische und russische Götter. Im Jahre 1961 wandelt ja der große Sonnenbogen in das Tierkreiszeichen Wassermann, zur Jahrtausendwende: das wäre so ein astrologisches Lebensziel, wie bitte? Oder vielleicht die Politik, rechts, Mitte, links, wie bitte? Oder Buddhismus treiben oder Rohkost fressen? Oder die Menschen stolz verachten und die Tiere lieben, die Katzen photographieren und die Hündchen auf die Schnauze küssen: das wäre auch ein Lebensziel, he? Oder die lärchene Arche Noah? Oder die vaterländische Lyrik im alten Stil? Hallo? Wie bitte? Nein, kein Wort davon! Kein Wort, aus dem die Jünglinge eine hurtige Schule machen können. Kein Wort, das sie verbiegen können, bis sich's ihrer Eitelkeit anpaßt. Ein Schlagwort machen sie aus jedem Wort, laßt es sein!

»Gemacht«, sprach Xaver, »und was bleibt? Wenn's nicht nur Geldverdiener und Geschäftemacher werden sollen, Maschinenlakaien, Bubis, Snobs?«

»Alles bleibt«, behauptete Glenn. »Wir müssen sie's fühlen lassen, sonst nichts.«

»Was denn? Was fühlen lassen?«

»Daß wir der menschlichen Sache sicher sind, wir zwei. Und daß wir immer mit ihnen sind, wir zwei. Auch wenn wir sie schnell wieder verabschieden. Auch wenn wir keinen Klub und keine Partei mit ihnen gründen. Auch wenn wir kein Schlagwort zu verkaufen haben. Und«, fügte er hinzu, »daß wir sie lieben. Mit der neuen Liebe, ja! Nicht mit der alten christlichen, die die Krüppel liebt, die Kranken, die Idioten, die Hündchen, sondern mit unsrer neuen Liebe –«

Er brach ab. Sie schwiegen.

Allmählich war's aber Zeit, den Kaffee zu kochen. Die jungen Leute schienen abgrundtief zu schlafen, das Haus war still. Auf den Zehenspitzen schlichen die zwei Männer in der Küche herum. Doch die Holzkloben auf der Feuerstelle waren dürr und krachten kräftig.

Der Kaffee war gerade fertig, da kam das erste Stöhnen aus den beiden Kammern. Zur gleichen Zeit rührte sich's droben und nebenan. »Hallo, Kaffee!« riefen die Wirte, »Platz nehmen zum zweiten Diner!« Und Boll und Hellmann kamen angewackelt, mit ganz entsetzlich blöden Schlafgesichtern, alle beide.

Doch wie sie's besprochen hatten, kam's. Es fiel kein Wort, an das die Jünglinge sich hätten klammern können. Nicht einmal die Namen der Männer erfuhren sie. Kein guter Rat wurde gegeben, wie man schnell Geld verdiente und dabei die alte Flagge doch nicht aus den Händen ließe. Kein Tip, wohin mit den heroischen Überschüssen, die von der Maschinenzeit nicht mehr angenommen wurden. Kein Loblied Deutschlands, obwohl sie's alle liebten. Keine Revolution gegen die Stinker an allen Ecken und Enden. Nichts.

Aber wie kam's dann, daß es andere Gesichter waren, die von ihnen schieden? Kein Zweifel, andere waren's als die gespenstigen, welche sie vor ein paar Stunden an dem Tisch vor der Hütte angetroffen hatten. Wie kam's?

Glenn hatte recht, sie hatten es gespürt. Nur eine banale Kaffeestunde war's gewesen, und dann adieu, doch es war dagewesen. Ja, es war dagewesen, unzerstörbar, unvergeßlich. Was? Dazwischen, dazwischen, vom Mann zum Jüngling, und von dem zurück zum Mann, die neue Gegenwart, die neue Liebe – doch nennt's nicht Liebe, nennt's nicht Gegenwart, nennt's überhaupt nicht, es war dagewesen.

Sie schieden. »Ergebensten Dank«, sagte der eine Jüngling, und: »Herzlichen Dank«, sagte der andre, »es war sehr liebenswürdig von Ihnen.« Drauf sagte Glenn: »Good bye«, und Xaver: »Servus.« Am Teich drunten riß es sie noch einmal herum, ein wenig beschämt. Doch siehe, es war dagewesen. Und blieb bei ihnen, zuverlässig. Das hellgrün Ewige, die andre Hülle dieser Erde, die zweite Luft, die sie zum Atmen brauchten.


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