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Eine griffige Rippe führte zu dem Knick in der Wand, wo sich der Kamin befand, der zum Weiterweg dienen sollte. In leichtem Fels gewannen sie die nächsten hundert Meter Höhe. Da aber der Knick nach Westen lag, traf jetzt die Sonne sie mit ganzer Wucht.
Als sie nach einer Stunde zu dem gefürchteten Quergang gelangten, der in den Kamin leitete – es war der Glenn-Kamin, ein Parallelgebilde zu der Luziferischen oder Xaverschen Schlucht – auch er durchriß die Wand auf eine lange Strecke–, waren sie bereits wieder vollkommen durchnäßt. Außen durchnäßt und innen vertrocknet. Sie mußten vor dem Quergang rasten, auf der kleinen Kanzel, wo die Rippe abbrach.
Es war ein schattenloser enger Platz. Hätte man die zwei Gestalten hier sitzen sehn, mit starren Augen, ohne zu sprechen, ohne sich zu rühren, man hätte sie für zwei Hohepriester der Sonne halten können. Doch das wäre eine schwere Täuschung gewesen. Sie begannen die Sonne zu hassen, mit einem ganz persönlichen bösen Haß.
»Vollkommen unbeteiligt, dieses erbarmungslose Viech«, krächzte Xaver heiser heraus.
»Gar nicht unbeteiligt«, krächzte Glenn zurück. Er hatte sofort verstanden, wer gemeint war. »Sie grinst ja, sehn Sie's nicht? Sie lacht uns aus, sie grinst uns richtig aus.«
»Mir kommt's auch so vor.«
»Natürlich grinst sie.«
»Los! Da hilft nichts wie los! Im Kamin kommt Schatten.«
Bis hierher hatten sie sich genau an Xavers Erinnerungen und Aufzeichnungen gehalten. Jetzt entdeckten sie eine willkommene Variante. Vielleicht ließ die Angst vor dem Quergang sie's finden. Denn dies war der letzte Posten auf Mord und Kaputt, den sie zu überwältigen hatten.
Im vorigen Jahr hatte Xaver die Querung in ihrer ganzen Länge – zehn Meter waren's vielleicht – durchführen müssen. Die zwei Mauerhaken, mit denen er sich zu sichern versucht hatte, bezeugten es noch. Eine verdammte Katzenstelle war's gewesen. Jetzt, da sie noch zögerten, von der Hitze entnervt – oder war's die Sorge um Glenn, was Xaver zögern ließ, denn die Sicherung während des Quergangs konnte nur reiner Bluff sein – jetzt kam es auf einmal über ihn, daß es auch noch eine andre Möglichkeit gab.
Man konnte sich zu einem Block abseilen, der senkrecht unter ihrer Sonnenkanzel lag. Wenn nicht alles täuschte, gelangte man von dort aus ohne große Schwierigkeit über schroffiges Gestein in den unteren Abschnitt des Kamins. Und daß sie, im Kamin angelangt, die kurze Strecke bis zur Mündung des alten Quergangs emporkämen, war anzunehmen. Es war eine halbe Seillänge. Xaver hatte im vorigen Jahr den Eindruck gehabt, daß der untere Teil des Kamins sehr naiv war.
Aber wenn er sich täuschte? Wenn sie in einen Abschnitt des Kamins gelangten, der nicht zu bewältigen war? Dann waren sie verloren. Ein Zurück über die Abseilstelle gab's nicht mehr. Oder doch? Konnte Glenn das Risiko ermessen? Konnte man ihn als Kundschafter vorausschicken, ihn hinunterlassen, ihn wieder zurückhissen, wenn's nicht weiterging? Oder sollte man für alle Fälle das Reserveseil an der Abseilstelle hängen lassen und selber nachsehn? Aber ob man diese Strecke dann am freien Seil noch schaffte, aufwärts, wenn das Manöver mißglückt war, das war die Frage.
Er brach mit einem heiseren »Avanti!« seine Bedenken ab und ließ Glenn hinunter. Der Quergang in den Kamin schien nicht schwierig zu sein. Und wirklich, nach zehn Minuten krähte der Hahn – eine ausgetrocknete Fistelstimme, auch diesmal wieder gleich der Stimme eines Cherubs –, ja, es kam die Meldung, daß man das Spiel gewonnen hatte, daß der Kamin gangbar war.
Trotzdem ließ er das Reserveseil hängen, wo es hing. Er zog es nicht ein, er opferte es. Weithin hing's, gedoppelt, und wehte leis hin und her. Die Herbststürme würden es wie einen Glockenzug schwingen, bimbam, bimbam. Im Winter würde der Schnee dran hängenbleiben, in dicken Batzen, eine feierliche Girlande. Dann rann das Tauwetter dran herab, im nächsten März. Und in den Nächten würde es wieder gefrieren, zu langen Eiszapfen unterm Sternenzelt. Wo steckten dann die zwei Männer, die dran gehangen waren? Wer weiß, vielleicht ganz nah?
Jedoch es klappte. Als sie nebeneinander im Kamin standen, lag die letzte Stelle, vor der Xaver richtige Angst gehabt hatte, hinter ihnen. Sie standen in einer kleinen Nische. Man konnte auf den ersten Blick sehn, daß der Fels über ihnen dem Vormarsch freundlich gesonnen war.
Xaver knüpfte sofort seine Jackentasche auf, nahm seinen Block heraus und machte sich Notizen. Es war schlimm, daß in seinem Buch diese Variante nicht angegeben war. Es mußte sofort veröffentlicht werden, mit Nachdruck. Bis jetzt hatte er noch keine Nachfolger auf dieser Route gefunden, aber er war gewiß, daß bald welche kommen würden. Junge Bolls, junge Hellmanns, junge Xavers vielleicht. Es gab einen großen Überschuß von solchen jungen Leuten, hatte Glenn vorhin festgestellt, mehr als man ahnte. Eine heiße Welle von schlechtem Gewissen kam über ihn, wenn er bedachte, daß er diese zukünftigen Kumpane der Nordwand mit seiner ersten Beschreibung auf jenes Katzenband hinauslockte, nachdem man's so leicht umgehn konnte.
Glenn stand neben ihm und döste mit halbgeschlossenen Augenlidern vor sich hin. Eine Zeitlang merkte er gar nicht, daß Xaver Notizen machte. Er war aus sich herausgeschweift. Seine Seele war zur Sonne emporgeschweift und schlug in wahnsinniger Wut auf diesen erbarmungslosen Feind ein. Nein, das war nicht mehr Philipp Glenn, der Maler aus Bamberg, was hier stand und wartete … Auf was wartete er denn eigentlich? Warum blieben sie in der Sonne stehn, statt in den Schatten zu gehn? Im Grund der Nische war Schatten, eine kleine schattige Höhle … Er kam wieder zu sich und fuhr Xaver ungeduldig an. »Sie sind doch der richtige Professor! Können Sie diesen Blödsinn nicht morgen aufschreiben?«
»Nein«, sagte Xaver, »daß muß sofort festgelegt werden. Später stimmt's nie.«
»Mist!« stieß Glenn heraus.
Xaver schrieb weiter, ohne zu antworten.
»Alles Mist! Die ganze Tour ist Mist! Der Teufel soll Ihren Spleen holen!«
Xaver hörte nicht hin.
»Das ist ja zum Lachen«, schrie Glenn, »nichts wie Wichtigtuerei! Die ganze Nordwand nichts wie Wichtigtuerei! Und jetzt schreiben Sie noch Romane hier! Das ist ja die übelste Wichtigtuerei, die jemals dagewesen ist!«
»Halten Sie Ihr Maul«, schrie Xaver ihn an. Seine Stimme funktionierte jetzt wieder. Der helle Tenor in seiner ganzen Kraft war wieder da. »Das kann irgendeinem jungen Menschen das Leben kosten!«
»Ach was! Wichtigtuerei! Aufspielerei! Genau wie gestern!«
»Genau wie gestern!« äffte Xaver die Fistelstimme nach und schrieb weiter.
»Renommisterei«, schrie Glenn. »Dieser ekelhafte falsche Geltungstrieb! Daran geht noch die ganze Welt kaputt! Sie gottverdammter Aufspieler!«
Xaver schob in heller Wut den Block in die Tasche und schleuderte den Bleistift über die Felsen in die Tiefe. »Sie sind doch hier nur geduldet, Sie Laie, wissen Sie das nicht? Was verstehn Sie denn von diesen Dingen, Sie blutiger Laie?«
»Wir werden gleich sehn, wer hier der Laie ist!« schrie Glenn dazwischen.
»Die nächsten Leute hier hängen nicht an meinem Seil wie Sie, merken Sie sich das gefälligst! Das werden Leute sein, die's auf eigene Rechnung machen! Die kann ich nicht kaputt gehn lassen wegen Ihrer!«
»Alle sollen sie kaputt gehen!«
»O nein, wegen Ihrer nicht! Die gehn nicht kaputt, weil Sie Ihre Nerven verlieren! Das könnte Ihnen so passen mit Ihren Bamberger Proletennerven!«
»Sie verlieren Ihre Nerven!« schrie Glenn mit überkippender Stimme. »Was fällt Ihnen denn eigentlich ein, Sie Aufspieler mit dem falschen Geltungstrieb?«
»Wissen Sie, was jetzt das beste wäre?« zischte Xaver.
»Na? Bitte?«
»Ich zeig Ihnen, wer sich hier aufspielt. Ich schneid das Seil durch und laß Sie allein weitergehn.«
»Los«, sagte Glenn und begann den Knoten des Seilendes, an dem er festgemacht war, aufzulösen. Er tat es so, wie man das Todesurteil von einem verhaßten und verachteten Tyrannen hinnimmt.
Xaver packte ihn mit einem festen Griff bei der Hand. »Machen Sie keinen Blödsinn! Nehmen Sie zurück, daß ich einen falschen Geltungstrieb hab! Sofort!«
»Fällt mir nicht ein.«
Xaver preßte ihm die Hand zusammen. »Sie nehmen augenblicklich zurück, was Sie gesagt haben! Ich bin kein Aufspieler! Auf der Stelle nehmen Sie's zurück, Herr Glenn! Wird's bald?«
»Ich nehm nichts zurück, Herr Doktor«, sagte Glenn mit auffallend klarer Stimme.
Xaver ließ seine Hand los und lehnte sich an die Wand der Nische zurück, ohne den andern aus dem Auge zu lassen.
Glenn ließ die Losknoterei von selber sein. Mit hängenden Armen stand er da und stierte auf seine Füße. Wie ein grimmiger Affe in einem engen Käfig stand er da.
Sie schwiegen eine lange Zeit. Es war der Koller. Wenn der Fels nicht zu Ende ging, wenn die Sonne tobte und die Luft dünner wurde, kam der Koller. Den gefürchteten Quergang hatten sie sich erspart, aber das Seilmanöver, das lange Bedenken zuvor, die Unsicherheit dieser Variante, es hatte ihre Nerven zerrissen. Vielleicht wär's besser gewesen, sie hatten den schwierigen Katzengang dort droben gemacht, statt sich an diesem zweifelhaften Abenteuer das Herz zu brechen?
Xaver kam zuerst wieder zu sich. »Also los, weiter«, sagte er mit ruhiger Stimme und begann das Seil zu ordnen.
»Nein«, sagte Glenn. Er hatte den Kopf jetzt aufgerichtet und starrte wie gebannt auf die graue Seitenwand der Nische, an Xaver vorbei.
»Was nein?«
»Ich geh nicht weiter.«
»Glenn!« rief Xaver und langte nach seiner Hand.
Der andere schlug ihm die Hand herunter. »Keinen Schritt geh ich weiter«, sagte er mit ganz sanfter Stimme.
»Mensch, Glenn, nimm dich zusammen, wir haben einen Hitzschlag, alle beide, das ist die Geschichte von der Tante und der Nichte.«
»Was für eine Geschichte?« fragte Glenn und sah ihm zum erstenmal wieder in die Augen, aber es war ein gehässiger tierischer Blick.
»Von der Tante und der Nichte«, sagte Xaver und versuchte zu lachen. »Los, erst mal in den Schatten, das ist jetzt das wichtigste.«
»Sie nehmen es erst zurück«, sagte Glenn. »Oder ich geh keinen Schritt weiter.«
»Also gut«, sagte Xaver, der jetzt wieder ganz bei Besinnung war. »Was soll ich denn zurücknehmen?«
»Daß ich ein Aufspieler bin«, hauchte Glenn und sah wieder auf seine Füße herab.
»Was?« Xaver schaute besorgt auf ihn.
»Der falsche Geltungstrieb ist der schlimmste Trieb, den's gibt«, murmelte Glenn vor sich hin, »ich laß mir's nicht gefallen, o nein, ich hab keinen falschen Geltungstrieb, ich bin mir selber genug, ich laß mich keinen Aufspieler nennen, ich heiße Philipp Glenn, ich bitte, sich das gefälligst merken zu wollen –«
Xaver fing ihn gerade noch auf, als er zu taumeln begann. Im Grund der Nische, in der kleinen schattigen Höhle bettete er ihn. Er zerrte ihn mit sich, indem er ihn unter den Armen festhielt, und schleifte ihn über eine ebene Stufe ins Kühle.
Wenn man sich einzwängte, konnte man hier zu zweit sein. Die Füße hingen über die Stufe, aber der Oberkörper lag gut. Er zog Glenns Kopf, der schlaff nach der Seite gesunken war, in seinen Schoß. »Glenn, Glenn«, rief er ihn ein paarmal an, aber es war vergebens.
Er zog vorsichtig den Rucksack nach und nahm die Thermosflasche heraus. Doch der Kaffee war noch kochend heiß – war's das richtige, ihm Kaffee auf die Stirn zu gießen? Gewiß nicht. Er trank selbst einen schnellen Schluck hinunter, verschloß die Flasche wieder und öffnete mit dem Konservenbüchsenöffner die Ananasdose.
Ein Bild von einem kalifornischen Zaubergarten war darauf, äußerst bunt. Mitten im Offnen hielt er inne und stierte mehrere Minuten lang auf dieses Bild. Dann riß er sich zusammen, klappte den Deckel zurück und goß die kühle Ananasbrühe über Glenns Kopf.
Der blinzelte ein wenig und schlug mit einem leeren Blick die Augen auf. Dann schloß er sie schnell wieder und begann zu schlecken. Die Soße rann ihm übers Gesicht, er schleckte sich die Mundwinkel aus.
Xaver lachte. »Ananas, gut, was?« Er steckte ihm eine von den saftigen Scheiben in den Mund. Glenn brummte einen Wohllaut. »Was ist denn los?« fragte er, während er auf der Frucht herumbiß.
»Nichts«, sagte Xaver und strich ihm über den Bart. Alles war naß, vom Schweiß, von der Obstbrühe. »Wir rasten ein wenig, dann ist's vorbei. Wir sind sowieso drei Stunden früher dran als im vorigen Jahr, nach meinen Aufzeichnungen. Bald ist's geschafft.«
»So? Danke«, sagte Glenn und wollte ihm die Hand geben. Aber der Händedruck wurde nicht angenommen. Xaver nahm nur die Hand und legte sie aufs Gestein zurück. Er behauptete, das alles wäre seine eigene Schuld gewesen. Als alter Expeditionsesel hätte er den Sonnenkoller kommen sehn müssen. Es wäre unentschuldbar, daß er's nicht anders pariert hätte. Er steckte jetzt tief bei Glenn in der Tinte.
»Blödsinn«, murmelte Glenn und glitt im Schoß des Freundes in wohligen Halbschlaf hinein.
Seltsam roch's in dieser kleinen Höhle. Nach altem abgestandenem Wasser? Nein, es war kein Wasser da. Aber nach irgend etwas Altem roch's, außer nach den zwei Männern und dem Hanf des Seils und der Ananasgeschichte. Die kleine Höhle hatte ihr eigenes Parfüm, das war sicher. Was war's?
»Liegen Sie doch still«, sagte Xaver, »warum schnüffeln Sie denn so?«
»Nach was riecht's denn hier?« fragte Glenn leise. »Was ist denn das für ein Gestein?«
Xaver drehte den Kopf und musterte die Wand der kleinen Höhle. »Kann sein, daß die Erze riechen. Es ist reiner Wettersteinkalk, aber ziemlich erzreich, wie's scheint. Jeder Fels hat ja seinen eigenen Geruch.«
»So? Danke.« Er war beruhigt. Jeder Fels hatte seinen eigenen Geruch? Diesen hier wollte er nicht mehr vergessen. Er besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Gerüche. Die erste Erinnerung seines Lebens war auch ein Geruch. Ein Bamberger Geruch. Auf einer abschüssigen Wiese mit Bäumen. Oder waren's Weinreben gewesen? Jedenfalls war's ein Herbst gewesen, denn es war viel Gelb da. Seine Schwester rief: »Da kommt der schwarze Mann«, und lachte. Er wackelte auf seinen armseligen Krummbeinchen zu ihr zurück und versteckte sich unter ihrem Rock. Sie schlug den Rock ganz um ihn, nur wenig Licht drang durch die Maschen des Gewebes herein. Das war seine frühste Erinnerung, der schwarze Mann, das Dunkel unterm Rock der älteren Schwester, dabei ein Geruch, äußerst fremd, doch sehr beruhigend zugleich. Ein mütterlicher Geruch. Indessen dies hier, der Fels mit den alten Erzen, das war ein väterlicher Geruch. Viel väterlicher als der Geruch seines wirklichen Vaters. Das war ja nur Fuseldunst gewesen, dazu vielleicht ein wenig Leinenduft von der blauen Küfermontur.
»Geht's schon?« fragte Xaver, mit dem Kopf dicht über ihm.
»Natürlich!« Er stützte sich hoch und probte seine Knochen.
Es war vorüber. Sie konnten wieder ans Werk gehn. Der Kamin war in seinem oberen Teil schattig und griffig. In einer zweiten Höhle, kurz vor dem Ausstieg zu einer kleinen Schutt-Terrasse – Xavers vorjährigem Biwakplatz –, entdeckten sie sogar ein wenig Wasser.
Es war Schmelzwasser vom Winter, keine eigene Quelle. Nur ein winziges Rinnsal. Man konnte es nicht abfangen, aber man konnte den nassen Boden der Höhle belecken. Das war Gold wert.
Doch der Ausstieg aus dem Kamin war überhängend, drei Meter Großkampf wiederum, nach Xavers Erinnerung die letzte besondere Stelle. Es mußte noch einmal das Letzte hergegeben werden. Aber Glenn, dessen Gelenke nicht mehr sicher waren, konnte mit einem humanen Ruck hinaufbefördert werden.
Sie saßen in der Schutt-Terrasse. Ja, es war wieder eine Steinbrechblüte da, dicht am Ausstieg aus dem Kamin, am gleichen Platz wie im vorigen Jahr. Ein zierliches hellgrünes Hungerblümchen, welches das Leben liebte. Aus dem Wurzelrest, den Xaver zurückgelassen hatte, war's wieder auferstanden.
Sollte man's noch einmal spalten und ausgraben? Für Terese? Für Barbi und Lois? Aber die hatten schon eins, im Herbarium. Und nichts im Leben sollte wiederholt werden.
Andrerseits war's schade, es stehnzulassen. Wenn man's spaltete, wenn man freundlich dabei verfuhr, konnte nichts passieren. Es würden an diesem Platz immer wieder neue Steinbrechblüten kommen, ein Vorrat ohne Ende. Er tat's und gab's Glenn.
Der aber, faul neben ihm hingestreckt, verstand's nicht, bedankte sich zerstreut und steckte das seltene Ding wie einen ordinären Sauerklee in den Mund. Ein paar Minuten behielt er's zwischen den Lippen und kaute drauf herum, dann spuckte er's aus.
Es handelte sich jetzt aber darum, ob man hier biwakieren sollte, oder ob man's wagen konnte, noch drei Stunden weiterzuklettern. Es kamen keine bösen Stellen mehr, die Wand trat jetzt zurück wie die fliehende Stirn in einem Höhlenmenschengesicht, aber es kam auch kein Nachtplatz mehr bis zum Gipfel. Gleich unterhalb vom Gipfel dagegen, auf der sanften Südseite drüben, war eine herrliche Höhle. Dort hatte Xaver damals seine zweite Nacht zugebracht, nachdem er stundenlang auf dem Gipfel gehockt war, in großer Einsamkeit. Ging's noch bis dorthin? Jene Höhle hatte Xaver, wie er behauptete, für zweitausend Jahre vom Verschönerungsverein Ladiz gepachtet, es kostete kein Entree und war ein Lustschlößchen von Gottes Gnaden, ganz eben der Boden, und windgeschützt.
Ging's? Es kam drauf an, wie Glenn sich fühlte. Xaver war schon wieder frisch und freute sich bereits auf die leichte Kletterei im kühlen Abendwind. Drei Stunden war noch Tag, sie mußten sich noch einmal zusammenreißen, wenn sie's riskierten. Denn so griffig die Schroffen waren, die zum Grat führten: wenn man stürzte, stürzte man die ganze Wand aus, über die Schroffen auf das schwarze Dach, das die Schlucht abschloß, und dann die Bahn Luzifers bis ins Kar, bis zum Mittelpunkt der Erde.
Doch es ging. Zur Dämmerung standen sie auf dem kleinen Gipfelplateau. Für die Aussicht hatten sie keinen Blick mehr. Sich zu freun, waren sie zu erschöpft. Sich an die Verzauberung der Felsen, die unter ihnen lagen, zu erinnern, war jetzt nicht die Zeit. Das kam später, viel später, in zwanzig, dreißig Jahren vielleicht. »Herzlich willkommen«, das war das einzige, was Xaver noch herausbrachte, als sie vor der Höhle standen, und: »Bitte nach Ihnen«, sagte Glenn mit ausgedörrter Stimme, »ich bin hier zu Haus.«