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Nürtingen, den 5. November 1829
Nachts 9 Uhr

Wenn Du über mein Ausbleiben unzufrieden bist, Herzenskind, so hast Du eher mit dem Himmel und mit meiner Mutter zu rechten, als mit mir; denn jener regnete heut unmäßig, und diese wollte mich schlechterdings nicht ziehen lassen, weil ich mich gegenwärtig mit meiner dummen Disposition zu Kopfweh und dergleichen der Nässe nicht aussetzen dürfe. Ich werde nun morgen bei Zeit nach Plattenhardt zurückfahren, muß aber, wie der Fuhrmann behauptet, darauf verzichten, den Weg über Grötzingen zu nehmen. Das ist mir bitter und leid genug; ich kanns kaum niederschlucken, so ohne Deinen Segen in meine Einsamkeit einrücken zu müssen, – mir ist, als wäre eine Lücke zwischen uns, als hätten wir das schöne Zusammenleben in Plattenhardt nicht vollständig abgeschlossen durch ein letztes beruhigendes Wort, womit wir die Summe dieser glücklichen und entscheidungsvollen Zeit noch einmal hätten ziehen sollen. Geht Dirs nicht ebenso? ist Dein Gefühl befriedigt? Ich meine, wir hätten uns noch manches ins geheimere Ohr zu sagen gehabt, ich hätte Dir noch einmal recht tief auf den Grund Deiner Augen sehen und Alles das noch zuletzt mit einem Blick ergreifen sollen, was diese fünf Monate, die bedeutungsvollsten meines Lebens, in sich faßten. So ein sonderbares Bedürfnis ists mir, die Epochen meines Daseins immer zu registrieren und durchs Bewußtsein abzurunden, ehe ich eine neue antrete.

Im letzteren Fall bin ich auch wirklich. Doch betracht ich diese fünf Monate am füglichsten als Ouvertüre zu einer neuen Zeit. Das glänzende Finale einer alten sind sie gewiß nicht. Ich weiß nicht, welch ein Geist des Widerspruchs mich am Tage Eures Abzugs zwang, die wehmütige Stimme nicht zum Wort kommen zu lassen, die aus dem Hintergrunde meines Innersten hervorklagte. Aber Ihr Lieben, die Ihr Euch gleich durch willige Tränen helfen könnet, solltet nur sehen, wie unsereiner nachher, wenn er allein ist und keinen Gegenstand zur Reibung hat, so bitterlich für die unnatürliche Verleugnung eines solchen Gefühles büßen muß – Laß gut sein; – kennst Du mich doch! Nun möcht ich aber gar zu gern wissen, wie Ihr Euch zurecht findet – die liebe Mutter – Schwesterchen Friederike (ich kann sie schon nicht anders schreiben)? möchte das Eckchen, das warme Plätzchen kennen, wo Ihr Euch abends zusammentut – ob Euch der Ofen, die Wände bald vertraulich anlugen? usw. Das Alles soll mir vorläufig ein Briefchen von Dir sagen, das »die getreue Haushälterin« vielleicht nächstens bei Gelegenheit abholt. Ich für meine Person werde mir im Pfarrhaus zu Plattenhardt selber nicht anders als wie ein Abgeschiedener erscheinen, aber oft genug will ich die lieblichen Gespenster des Hauses um mich versammeln und mit ihnen tun, als wärs noch das Alte. Das Erste, was ich Jungfer Magdalis frage, ist, ob sie nicht spinnen kann? Dies sollte mir eine gar behagliche, heimliche Empfindung an den langen, langen Abenden geben, und ich will mir dann zur einförmigen Spindelmelodie unsre Vergangenheit wie ein süßes Märchen hundertmal vorsingen. Diese Herrlichkeit wird über vierzehn Tage währen, denn, wie ich höre, soll Herr Scholl bald an Ort und Stelle ziehen müssen. – Über meine Zukunft frag ich vergeblich »der Vögel Zug und das Eingeweide der Tiere« – auch denke ich sie außer den Göttern niemanden zu empfehlen. Herr Konsistorialrat Flatt könnte sich mit mir auf eine ähnliche Art wie mit jenem Unglücklichen vergessen und mich mit Sack und Pack vor das Pfarrhaus in Grötzingen schicken, wo kein Mensch einen Vikar braucht, als jemand, der eben keinen zu halten befugt ist. –

Bei meinem guten Mütterlein hab ich nun doch einmal wieder ein paar recht gute Tage zugebracht.

Den heutigen Abend bei der Professorin Krehl, meiner ehrlichen Patronin, wo ich im Geist die liebe Rike – sags ihr – recht lebhaft zu einem Glas Bier zu Gaste bat.

Klärchen läßt Dich insbesondre grüßen. Sie hat gegenwärtig eine artige junge Katze, mit der sie ganz menschlich konversiert, und von der sie heut in allem Ernst versicherte, »sie hätte Vernunft und Verstand und freien Willen«. – Louis grüßt bestens.

Der lieben Mutter sage doch, in meiner Abwesenheit sei nichts Amtliches vorgefallen, wie mir heute die Botin rapportierte. –

(A propos, heute Nacht jagte mich der Traum in einen entsetzlichen Amtseifer. Ich hielt Kinderlehre in der – völlig verwandelten – Kirche zu Plattenhardt; ein mir auch ganz fremder junger Provisor spielte dazwischen pour son plaisir ganz lustig die Orgel, was mich so aufbrachte, daß ich ihn jählings von der Höhe herunterspringen ließ.)

Der neue Herr Pfarrer soll früher als ein sehr angenehmer und ungemein launiger, witziger Mann bekannt gewesen sein. Onkel Neuffer, der ihn jedoch nicht näher kannte, traf ihn noch als Repetent in Tübingen. Er ist ein Verwandter unseres hiesigen Hausherrn, der deswegen nächstens einige Vorkehrungen in Plattenhardt treffen und zugleich meine Mutter mitnehmen will.

Für Zucker, Kaffee und dergl. ist gesorgt. Nun schließ ich. Küsse die beste Mama, grüße Alles und sei Du, mein Teuerstes! tausendmal geküßt von mir.

Gute Nacht, Du mein Tag- und Nachtgedanke! Liebe mich,

Deinen treuen Eduard

Dir Alleine

Was ich dich noch besonders bitten will, ist: laß Dich den bewußten Gegenstand unseres Gesprächs im Garten (heute vor acht Tagen) nicht allzusehr anfechten; es ist mir nicht wohl, wenn ich Dich über etwas unvergnügt weiß. Halte Dich, Du weißt wohl, woran. –

Fritz verbot mir, den Hauptinhalt seines Briefs, der im Grunde darauf hinausläuft, daß er völlig in Lotten R. verliebt ist, jemandem mitzuteilen; doch Du wirst ihn diesfalls schonen. Im Ganzen glaub ich, wird diese kleine Herzensrevolution ihm nicht schaden. Die Schweizerluft kann auch ein bißchen anfrischen.

Er sagt von so manchen Zwistigkeiten, die bei den Beiden vorkommen, was freilich kein gutes Zeichen wäre. –


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