Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nachdem der Schnee die Natur einige Tage hindurch mit endlosen weißen Laken und großen Daunenanhäufungen recht warm zugedeckt gehalten hatte, war dieselbe plötzlich, ähnlich einem Fieberkranken nach einer Krisis, in heftigen Schweiß gerathen, wozu die vom blauen Himmel freundlich niederstrahlende Sonne nicht wenig beitrug, und zwar in einen solchen Schweiß, daß Alles förmlich triefte und nicht übel Lust zu haben schien, mit dem schmelzenden Schnee davon zu schwimmen.
So trieften also die Wiesen und die Wälder, so trieften die Gärten und vor allen Dingen die Dächer der Häuser, auf welchen der Schnee beim Niedersinken sicherlich glaubte, eine geschützte Raststätte gefunden zu haben, und so triefte endlich die Villa des alten Braun, in welcher sich kaum ein bewohnbares Gemach befand, in welchem nicht ein lustig flackerndes Kaminfeuer eine angenehme Wärme bereitet hätte.
Uebermäßig kalt war es draußen zwar nicht, es wehte sogar eine milde Frühlingsluft vom mexikanischen Golf herauf; wenn man aber durch die Fenster auf die von der Sonne beleuchteten Schneeflächen hinausschaute, dann empfand man schon bei dem bloßen Anblick leises Frösteln. Doppelt freundlich erklang daher in den Kaminen das Explodiren der ästigen Nußbaumkloben und das geheimnißvolle Poltern, Murmeln und Erzählen der empor lodernden Flammen, doppelt behaglich das Plätschern in den hohl tönenden Dachrinnen, welche alles Wasser in einen einzigen, sinnig angelegten Kanal zusammenführten, so daß man in den sauber gefegten Wegen des Vorgartens bequem einhergehen konnte, ohne sich mehr, als eben die Schuhsohlen zu befeuchten.
Der Thauwind hatte schon am vorhergehenden Abende sein Werk begonnen; da nun die Sonne in aller Frühe zu seinem Beistande herbeieilte, so schafften sie mit vereinigten Kräften, trotz des merkwürdig hoch geheiligten amerikanischen Sonntages, bis zum Einbruch der Nacht doch ein hübsches Stückchen Arbeit fertig, gerade, als hätten sie es in Accord übernommen gehabt, bis zum Beginn der neuen Woche, oder vielmehr der neuen Arbeitszeit, den Leuten den sie etwa noch hindernden Schnee aus dem Wege zu räumen.
Außer dem Thauwinde, dem Sonnenschein, einigen Omnibusfahrern und den sich furchtbar ereifernden Kanzelrednern, hatte also Alles in der Stadt sich der feierlichen Sonntagsruhe hingegeben, und sich, je nachdem sich die Neigungen für Dieses oder Jenes entschieden, entweder mit Bibellesen, Whiskytrinken oder sonstigen harmlosen Sonntagsvergnügungen beschäftigt. In einzelnen Häusern waren auch Bekannte und Verwandte zusammengeströmt, um in traulicher Unterhaltung die Zeit genußreich verrinnen zu lassen.
So auch in der bekannten Villa, und zwar nicht nur in den Hintergebäuden, wo sich »junges farbiges Volk« um »altes farbiges und sehr weises Volk« schaarte, sondern auch in dem Hauptgebäude, wo die Lieblingsgemächer des alten Braun dem geselligen Verkehr eingeräumt worden waren.
Braun selbst befand sich in seinem Arbeitszimmer das letzte Tageslicht dazu benutzend, einige ihm von Redsteel übersendete Briefschaften, welche sich auf Familienverhältnisse bezogen – andernfalls hätten die Angelegenheiten im Comptoir erledigt werden müssen – zu prüfen und gelegentlich kurze Bemerkungen zwischen die Zeilen hineinzuschreiben oder auch ganze Sätze fortzustreichen.
Er war sehr, sehr ernst gestimmt, so ernst, wie nur ein Mann gestimmt sein kann, der sein Haus bestellt, seine letzten Anordnungen über diesen oder jenen Gegenstand zu Gunsten dieser oder jener Person trifft, um sich von dem Tode nicht unvorbereitet überraschen zu lassen.
Kurz zuvor hatte er ein Zwiegespräch mit Eberhard gehabt, in welchem er denselben zu überreden suchte, nach Europa zu reisen und so lange dort zu bleiben, bis er selbst in Anna's Begleitung ihn abholen oder solche Einrichtungen treffen würde, daß er mit Leichtigkeit in der Nähe seiner Eltern eine auskömmliche Lebensstellung finde. Allen diesen gütigen Rathschlägen hatte Eberhard eine entschiedene Weigerung entgegengestellt, darauf fußend, daß er sich vorher in ganz andere Verhältnisse hineingearbeitet haben müsse.
Unter dem Eindruck der durch diese Unterredung wach gerufenen Empfindungen hatte Braun den Wunsch zu erkennen gegeben, in der nächsten Zeit allein und ungestört zu bleiben, und sich in die Durchsicht des Entwurfes zu seinem Testamente vertieft. Anna, Johannes, Magnolia und Eberhard, saßen in einem andern Zimmer in traulichem Gespräch bei einander und hatten namentlich Eberhards Lage zum Gegenstande ihrer eingehenderen Erörterungen gewählt.
»Ich besitze zwar kein anderes Recht, meine Ueberredungsgabe an Ihnen zu versuchen,« bemerkte Johannes im Laufe der Unterhaltung freundlich, »als solches, welches mir eben durch die innigste Hochachtung und Freundschaft für Ihre Eltern eingeräumt wird, allein in diesem Falle kann ich nicht anders, ich muß Sie bitten, den Rathschlägen Ihres würdigen und wohlmeinenden Onkels Folge zu geben und sich nicht durch Ihre eigenen Ansichten allein leiten zu lassen. Was sollen die guten Leute von Ihnen und noch mehr, von Ihrem Onkel, in dessen Nähe Sie weilen, denken, wenn Sie fortfahren, sich durch Andere bei ihnen gleichsam vertreten zu lassen? Warum wollen Sie nicht selbst einige Worte an sie richten? Und wenn Anna und ich unsere Beredsamkeit verdoppelten, so vermöchten wir durch die umständlichsten Schilderungen doch nicht, Ihren Eltern auch nur annähernd die Freude zu bereiten, welche ein einziges, von Ihnen geschriebenes Wort ihnen brächte.«
In diesem Augenblick trat ein Mulatte, eine brennende Lampe tragend, in das Vorzimmer. Ihm nach folgte Arthur, der Braun zu sprechen wünschte, auf die Nachricht aber, daß derselbe binnen kurzer Frist zu seiner Verfügung stehe, den Diener gebeten hatte, die Gesellschaft nicht zu stören, sondern ihn unangemeldet zu lassen.
Das Geräusch, mit welchem der Diener aus dem Vorzimmer zu den jungen Leuten eintrat, die Lampe vor sie auf den Tisch stellte und die Fenstervorhänge schloß, übertäubte Arthurs Bewegungen. Derselbe setzte sich nämlich im Hintergrunde des Vorzimmers so nieder, daß Eberhard, Johannes und die beiden jungen Mädchen sich in seinem Gesichtskreise befanden, während er selbst, nachdem auch bei ihm die Vorhänge zugezogen worden waren, durch die ihn streifenden Schatten vollständig verborgen wurde.
Die Absicht zu lauschen, lag ihm fern, dagegen erfüllte ihn eine unüberwindliche Scheu, sich denjenigen zuzugesellen, von welchen er glaubte, daß seine Stimmung nicht zu der ihrigen passe. Auch rechnete er darauf, bald die Weisung zu erhalten, sich zu dem Besitzer der Villa zu verfügen.
Im Kreise der jungen Leute war durch das Erscheinen des Dieners ein plötzliches Schweigen hervorgerufen worden, doch äußerte sich bei Allen noch deutlich die Wirkung von Johannes' freundlich dringenden Worten.
Eberhard hatte, wie von unendlich schweren Zweifeln heimgesucht, die Augen gesenkt. Nur verstohlen wagte er zuweilen, zu Magnolia aufzuschauen, deren durch die langen schwarzen Wimpern halb verschleierte Blicke mit unverkennbarer innerer Angst auf ihm hafteten und Arthur von der Wahrheit dessen überzeugten, was ihm vor wenigen Tagen erst von Sans-Bois mitgetheilt worden war.
Doch er beobachtete auch Anna wie dieselbe, als Johannes von den guten Kärrnersleuten sprach, ihm mit einem dankbaren Lächeln die Hand drückte und ihn dabei so zutraulich ansah, als ob nur er und er ganz allein in ihrer Seele zu lesen vermocht hätte.
Sobald indessen der Diener sich entfernt, wendete Anna sich Eberhard zu, und glühend vor Eifer und Erregung sprach sie Worte, wie sie nur aus einem treuen, liebevollen Herzen hervorgehen können. Indem sie aber ihren Gefühlen Ausdruck verlieh, schien ihr Muth zu wachsen; ihr schönes, kindlich frommes Antlitz färbte sich tiefer, eine heilige Ueberzeugung strahlte aus ihren Augen, klang aus dem Tone ihrer süßen Stimme, und wie getragen von unsichtbaren Genien, erreichten ihre Gedanken die Herzen Aller, die bewundernd zu ihr aufschauten und sich unbewußt der gewaltigen Kraft einer reinen, vertrauenden Unschuld unterwarfen.
»Lieber Eberhard,« begann sie schüchtern, »Sie haben in den vielen, langen Jahren vergessen, was es heißt, von treuen Mutterarmen zärtlich umfangen zu werden, was es heißt, von einem rechtschaffenen Vater bewacht und beobachtet zu sein. Meine Eltern schieden längst von mir, aber wenige Monate nur sind es her, da legte sich mit zärtlichem Druck eine liebe, treue Hand auf mein Haupt, und treue, väterliche Augen schauten mir bis in die Seele hinein, und sagten mir durch ihren freundlichen Glanz, daß ich nicht mehr vaterlos sein solle. Monate sind es erst her, als mich eine edelgesinnte, innig geliebte Frau schmerzlich bewegt an ihre Brust zog und mich Tochter nannte, wie um sich zu trösten, zu entschädigen, daß sie zu ihrem eigenen, verlorenen Kinde nicht mehr so sprechen konnte. Und jene Menschen, errathen Sie nicht, wer sie waren? Der Mann mit der Hünengestalt und dem sanften, menschenfreundlichen Herzen, und die Frau, in deren Armen ich ruhte und deren Thränen mein Angesicht benetzten? Der Kärrner Braun und seine Gattin waren es; Ihre Eltern, Herr Eberhard, Ihre lieben, lieben Eltern, welche nur die eine Aufgabe kannten, sich gegenseitig über den Verlust ihres theuersten Kleinods zu trösten und noch mehr: jede Gelegenheit sorgfältig zu vermeiden, durch welche der Andere in schmerzliche Erinnerungen versenkt werden konnte, während ihm selbst das Herz vor Jammer und Wehe brechen wollte! O, hätten Sie dies gesehen, wie ich es wohl hundertmal gesehen, dann würden Sie alle andern Rücksichten und Einwände vergessen, keine Stunde verlieren, dahin aufzubrechen, wo Ihr Erscheinen unsägliches Glück bereitete und Ihre armen, tief bekümmerten Eltern endlich ihre volle Seelenruhe wiederfänden!«
Hier zögerte Anna eine Weile, um die Wirkung ihrer Worte zu beobachten, bevor sie, als habe ein heiliger Drang sie beseelt, ihre Vorstellungen fortsetzte. –
Eberhard hatte seine Stellung nicht verändert; noch immer starrte er vor sich nieder, aber sein Gesicht war todtenbleich, während es in seiner Brust wogte und arbeitete, als hätte es ihm das Herz zermalmen wollen. Magnolia in ihrer wachsenden Angst und wie in Vorahnung eines drohenden Unheils hatte sich näher zu ihm hingeneigt; wunderbar rahmten die schwarzen Locken das fast durchsichtig weiße Antlitz ein, in welchem bange Scheu und eine alle Schranken überfliegende, heiße hingebende Liebe gleichsam im Kampfe mit einander lagen.
In Johannes' Augen perlten Thränen; sie schienen die dunkle Gluth dämpfen zu wollen, welche auf seinen Wangen brannte. Unmännlichkeit war es nicht, was ihn so weich stimmte; ebenso wenig räumte er dem Gefühl einer bitteren Entsagung, eine ihn überwältigende Herrschaft über sich ein; aber indem seine bewundernden Blicke auf der geliebten Jugendgespielin ruhten, indem er vernahm, wie deren süße Stimme vor heiligem Eifer bebte, während sie immer neue Gründe hervorsuchte, um durch dieselben entscheidend auf den Sohn ihrer Freunde in der Heimath einzuwirken, zog eine tiefe Rührung in seine Brust ein, wie es wohl geschieht, wenn unerwartet erhabene, friedlich schöne Naturscenen sich vor den erstaunten Blicken eines empfänglichen Menschen ausdehnen und ihn zur andächtigen Verehrung einer Alles umfassenden Kraft auffordern.
Arthur, der in dem dunkeln Vorzimmer jedes Wort verstand und den Eindruck zu beobachten vermochte, welchen es auf alle Zuhörer ausübte, saß regungslos da.
Wie einst auf dem Revenger, als Anna ihre Erklärungen an ihn selbst richtete, hatte er auch jetzt wieder seinen Oberkörper, von tödtlicher Spannung erfüllt, ihr zugeneigt. Sehnte er aber kurz vorher noch den Diener herbei, um ohne erhebliches Aufsehen zu erregen aus seiner seltsamen Lage befreit zu werden, so fürchtete er jetzt dessen Erscheinen. Es hielt ihn wie mit Zaubergewalt. Was Johannes so tief rührte, was Eberhard sichtbar erschütterte und Magnolia's Furcht wachrief, dieselbe Stimme mit dem ernsten, überzeugenden Ausdruck und dem treuen Gedächtniß an die ferne Heimath, schien alle ihm inne wohnenden Leidenschaften wild entflammt zu haben. Sein Athem stockte, heftig hämmerte der Pulsschlag des Blutes in seinen Schläfen, mit seltsamer Gluth funkelten seine Augen auf Anna's liebliche Gestalt, wogegen er die Hände krampfhaft ineinander verschränkte, als hätte er sich mit Gewalt verhindern wollen, unbedachtsam emporzuspringen und seine Anwesenheit zu verrathen.
Da nahm Anna wieder das Wort, und noch wärmer, inniger ertönte ihre Stimme durch die stillen Räume, während ihre großen redlichen Augen sich vor den sie fast überwältigenden Gefühlen umflorten:
»Am Abend, bevor ich das Dach der theuern Freunde verließ, legte Ihr Vater seine Hand segnend auf mein Haupt. Er sprach nicht, aber in seinen lieben Augen glänzten Thränen; ihm fehlten die Worte, das auszudrücken, was er empfand und ihn so tief bewegte. Frau Kathrin dagegen, Ihre Mutter, als wir uns in das Gemach zurückgezogen hatten, welches Sie selbst einst bewohnten, neigte sich über mich hin, zärtlich, als sei ich ihre Tochter gewesen, und dann sprach sie zu mir folgende, unvergeßlichen Worte:
»Es ist vielleicht Thorheit, noch an ein Wiedersehen in diesem Leben zu glauben, allein es wäre doch möglich, daß Du ihm begegnetest. Solltest Du ihn also sehen, dann erzähle ihm von uns; schildere ihm den Kummer, welcher an den gebrochenen Herzen seiner Eltern nagte, seit er von uns ging und der uns vor der Zeit zur Grube führen wird. Sage ihm, daß wir nicht laut über ihn klagten oder ihm gar zürnten, aber daß wir heimlich, ganz heimlich und still um ihn trauerten, ihm vergeben hätten all' den Gram und das Herzeleid, welchem wir seinetwegen unterworfen gewesen. Sage ihm, er möge zurückkehren zu seinen armen Eltern, gleichviel, ob reich oder arm, er möge seinen Stolz vergessen und das, was ihn einst kränkte, sich nicht scheuen vor dem ersten Wiedersehen, denn auch wir wären ja nur ganz einfache Leute. Sage ihm, wenn er heimkehrte, elend und mit nicht mehr Glücksgütern, als er einst besaß, da er mir zum ersten Male entgegen weinte, so wollte ich doch die Stunde tausendfach segnen, in welcher ich ihn wieder in meine Arme schlöße; ja, das sage ihm,« wiederholte Frau Kathrin, und in ihren schönen, blauen Augen lag eine ganze Welt voll Schmerz, »vielleicht daß es Dir gelingt, seinen Stolz zu mildern –«
Weiter kam Anna nicht. Eberhard war geräuschvoll aufgesprungen; bleich und schwankend stand er da.
»Nicht weiter, nicht weiter!« rief er mit fast erstickter Stimme aus, seine Hand, wie abwehrend Anna entgegenstreckend. Auch Arthur, seiner Erregung nicht mehr Herr, hatte sich erhoben, doch das Geräusch, welches er dadurch erzeugte, erstarb ungehört, unbeachtet in der durch Eberhards heftiges Wesen hervorgerufenen Verwirrung.
»Verzeihen Sie, liebes Fräulein,« hob dieser an, als Anna, nunmehr ihres Sieges gewiß, ihre Bitten und Vorstellungen erneuern wollte, »verzeihen Sie mein Ungestüm, allein Sie ahnen nicht, wie tief Ihre Worte meine Seele erschütterten!«
Da fielen seine Blicke auf Magnolia, die sich unter der doppelten Wirkung ihrer leidenschaftlichen Liebe zu ihm und dem Bestreben, das zwischen ihr und dem Geliebten bestehende Verhältniß zu verheimlichen, kaum noch aufrecht zu erhalten vermochte, und auch seine Kraft erlahmte.
Einige Sekunden schwankte er, wohin er sich wenden solle; einen Blick des Entsetzens warf er in Aller Augen, die bange auf ihn gerichtet waren, und wie gegen eine Ohnmacht kämpfend, trat er hinter dem Tische hervor.
»Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig,« sprach er flüsternd und seine Augen schienen zu erstarren, »eine Erklärung,« wiederholte er entschiedener, »doch nicht jetzt und nicht hier; werden soll sie Ihnen aber binnen kurzer Frist, denn mit den Gefühlen unglücklicher Eltern darf kein freventliches Spiel getrieben werden. Wann ich zurückkehre, weiß ich nicht – aber Magnolia,« wendete er sich an diese, welche die deutsche Sprache nur unvollkommen verstand, und er betonte deshalb seine Worte langsamer, »Du zweifle nicht an mir, sondern laß das alte bewährte Vertrauen zwischen uns walten!«
Dann, als habe das Bewußtsein, seine Beziehung zu Magnolia der Oeffentlichkeit preisgegeben zu haben, ohne zugleich dem armen, geängstigten Mädchen ein Wort des Trostes und der Beruhigung spenden zu können, ihn an den Rand der Verzweiflung getrieben, stürzte er durch das dunkele Vorzimmer auf den Flurgang und von dort zum Hause und auf die Straße hinaus.
Sprachlos vor Schreck und Erstaunen blickten Johannes und Anna sich gegenseitig in die Augen, dann wendeten sie ihre Aufmerksamkeit Magnolia zu, die, als hätte sie Eberhard zurückhalten wollen, aufgesprungen, plötzlich aber stehen geblieben war.
»Er hat mir Entsetzliches verheimlicht!« sprach sie mit erbleichenden Lippen, und, wie der Sehkraft beraubt, starrten die sonst so strahlenden Augen in's Leere.
Da legte ein weicher Arm sich sanft um ihre Schultern, warme Lippen berührten die ihrigen im schwesterlichen Kuß, während ihre schlaff niederhängenden Arme von treuen Männerhänden gehalten wurden.
Es waren Anna, Johannes und der alte Braun, die sie mit liebevoller Besorgniß umgaben, um sie zu trösten, sie ihrer sichtbaren Angst und Verzweiflung zu entreißen.
Geräuschvoll fiel draußen das Gitterthor in's Schloß; Niemand beachtete es. Ebenso unbeachtet wurde die Thür des Vorzimmers abermals geöffnet und wieder geschlossen; Arthur aber war unbemerkt auf die Straße entkommen, wo er nur mit genauer Noth in der Ferne zwischen andern Fußgängern Eberhards Gestalt unterschied, wie derselbe mit unverminderter Hast seinen Weg in die Stadt hinein verfolgte.
Unverzüglich schlug er dieselbe Richtung ein.
Anfangs beabsichtigte er, Jenen einzuholen und sich persönlich mit ihm in Verbindung zu setzen; sobald er ihm aber nahe genug war, um ihn anrufen zu können, änderte er plötzlich seinen Entschluß. Er entdeckte nämlich, daß Eberhards nächstes Ziel nicht seine Wohnung, wo er hoffen durfte, ihn ohne Zeugen zu sprechen, sondern derjenige Stadttheil war, in welchem Redsteels Bureau lag.
Arthur selbst hatte während seines Aufenthaltes in St. Louis mehrfach Veranlassung gehabt, im Interesse Sans-Bois' und seiner Jagdgefährten bei Redsteel vorzusprechen; er kannte daher nicht nur die Lage seiner Wohnung, sondern auch die innere Einrichtung derselben hinlänglich, um sich ohne fremde Hülfe in derselben zurecht zu finden. Hierauf fußend, bildete sich in ihm das gleichsam krankhafte Verlangen, Eberhard in seinem Verkehr mit Redsteel zu belauschen und auf diese Weise Kenntniß von den geheimnißvollen Umständen zu erhalten, welche den jungen Mann an den wenig gewissenhaften Geschäftsführer des alten Braun ketteten.
Etwa zwanzig Minuten waren seit seinem Aufbruch von der Villa verstrichen, als Eberhard Arthurs Vermuthung dadurch bestätigte, daß er in die Straße einbog, in welcher Redsteel wohnte. Dieselbe schien durch ihr düsteres Aeußere schon darauf hinzuweisen, daß nicht alle in den unabgeputzten, ziegelfarbigen Häusern ausgeführten Geschäfte furchtlos vor die Oeffentlichkeit treten durften.
Schmale Thüren führten zu beiden Seiten in die großen vier- und fünfstöckigen Gebäude hinein; schmale und der Raumersparniß wegen steile Treppen verbanden die einzelnen Stockwerke mit einander, in welchen vorzugsweise Agenten, wenig gelehrte, dafür aber um so gewandtere Aerzte und Notare – wie die zahlreichen Thürschilder bekundeten – ihre Wohnungen, in manchen Fällen aber auch nur ihre Bureaus eingerichtet hatten. Wo so viele verschiedene Elemente unter einem Dache beisammen wohnten, konnte es kaum überraschen, daß die Hausthüren den größten Theil der Nacht hindurch unverschlossen blieben, so auch des Sonntags Abends, obwohl dies den anglikanischen Begriffen von der Heiligung des Feiertages widersprach.
Als Arthur die Ecke der düstern Geschäftsstraße erreichte, blieb er stehen, um nicht von dem etwa rückwärts schauenden Eberhard entdeckt zu werden. Dieser dagegen hatte auf dem ganzen Wege an nichts weniger gedacht, als verfolgt und beobachtet zu werden. Auch jetzt nahm er sich kaum die Mühe, sich durch einen flüchtigen Blick auf die lange Reihe der über einander befestigten Schilder zu überzeugen, daß er nicht fehlgegangen sei.
Nachdem er eingetreten war, wartete Arthur einige Minuten; dann aber begab er sich mit dem zuversichtlichen Wesen eines Mannes, der sich vollständig zu Hause fühlt, ebenfalls auf den schmalen Flurgang, der von einer trüben Gasflamme nothdürftig erhellt wurde. Hier nun, wo er sich außerhalb des Gesichtskreises der auf der Straße noch ab- und zugehenden Leute befand, wurde er vorsichtiger in seinen Bewegungen, und fast geräuschlos begann er die Treppe zu ersteigen.
Im ersten Stockwerk, wo ein anderer Gang die Bureaus von einander schied, blieb er eine Weile lauschend stehen. Nichts rührte sich im ganzen Hause; nur von Redsteels Wohnung her, die eine Treppe höher gerade vor ihm lag, vernahm er die Stimmen mehrerer Männer, welche sich laut unterhielten und offenbar im Begriff standen, sich von einander zu trennen; plötzlich öffnete sich die Thüre von Redsteels Bureau, und allein dem Umstande, daß die heraustretenden Leute mit den innerhalb desselben befindlichen angelegentlich sprachen, verdankte es Arthur, daß er nicht sogleich bemerkt wurde.
Ein Schritt seitwärts brachte ihn schnell aus der Gefahr des Entdecktwerdens, worauf er hinter eine halb offene Thüre trat, die zum Zweck der Reinigung der Schornsteine daselbst angebracht worden war.
»Also auf Wiedersehen!« rief Redsteel den beiden scheidenden Männern nach, »ich hoffe, daß Ihr binnen vierundzwanzig Stunden der Angelegenheit eine Wendung gebt, welche eine baldige Erledigung erwarten läßt!«
»Ohne Zweifel, ohne Zweifel!« hieß es zurück; dann schloß sich die Thür hinter Redsteel. Die beiden Männer dagegen brachen während des Niedersteigens fast gleichzeitig in ein leises Lachen aus, zwischen welchem Arthur nur die Worte: »schlauer Deutscher,« »geriebener Hund« und andere, Redsteels Rechtschaffenheit nicht in's günstigste Licht stellende Bemerkungen heraushörte.
Mit ihm in gleiche Höhe gelangt, blieben die geheimnißvollen Männer plötzlich stehen, und indem der eine sich an dem andern vorbeidrängte, stieß er unversehens gegen die Schornsteinthüre, daß diese zuschlug, Arthur also eingesperrt wurde.
»Das war der Bursche?« drang die eine Stimme gedämpft und kaum verständlich in Arthur's Versteck.
»Natürlich,« antwortete die andere, »redete er ihn doch laut genug mit »Eberhard Braun« an.«
»Er scheint nicht viel werth zu sein,« hieß es in bedenklichem Tone weiter.
»Nun, wenn er seinen Zweck erfüllt, kommt's darauf nicht an. Möchte indessen wohl wissen, was ihn gerade heute so unerwartet hierher führte; und daß Redsteel eher des Teufels Großmutter erwartete, als ihn, stand so deutlich auf seinem Gesicht geschrieben, daß ein Kind es hätte lesen können.«
»Aber auch der Bursche schaute nicht sehr behaglich darein; ein Umstand von großer Wichtigkeit schien ihm auf der Seele zu brennen.«
»Ich möchte hinaufschleichen und an der Thüre horchen; auf andere Weise werden wir schwerlich einen Einblick in des alten Fuchses Karten gewinnen.«
»Verdammt! Ich hätte ebenfalls Lust, allein der Teufel hat oft sein Spiel, und überhaupt, wir müssen uns beeilen, wollen wir die Flagge des Andern ausmachen, bevor er heimkehrt.«
Eine zustimmende Antwort folgte auf diese Bemerkung, dann stiegen die beiden Männer behutsam die Treppe hinab und gleich darauf hörte Arthur sie auf die Straße hinaustreten.
Auf wen sich die zuletzt vernommene Aeußerung bezog, suchte er nicht zu ergründen; wie mit unwiderstehlicher Gewalt drängte es ihn nach oben, wo er Aufschluß über die unstreitig verderblichen Geheimnisse zu erhalten hoffte, welche sich von allen Seiten drohender um die Bewohner der Villa zusammenzogen.