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Nun sind bereits acht Monate vergangen, seit ich das letztemal etwas in mein Tagebuch geschrieben habe. Ich hatte inzwischen anderes zu denken, anderes zu tun. Joseph und ich haben Prieuré vor drei Monaten verlassen und das kleine Café unweit vom Hafen in Cherbourg bezogen. Wir haben geheiratet, die Geschäfte gehen ausgezeichnet, die Arbeit macht mir Freude, ich bin glücklich. An der Küste geboren, bin ich jetzt wieder ans Meer zurückgekehrt. Das Meer ist mein eigentliches Zuhause. Es hat mir eine Zeitlang nicht gefehlt, aber jetzt macht es mir große Freude, wieder an einer Küste zu leben. Nicht mehr die trostlose Einsamkeit von Audierne, nicht mehr die traurige Unendlichkeit und die Monotonie der dortigen Dünen sehen zu müssen! Das alles habe ich gegen etwas Besseres eingetauscht. Hier in Cherbourg hat alles einen fröhlichen Anstrich, alles wirkt heiter, und das Leben der Hafenstadt ist abwechslungsreich.
Jetzt muß ich ganz schnell die Ereignisse schildern, die unserem Abschied in Prieuré vorausgingen.
Man wird sich erinnern, daß Joseph in Prieuré in einer Mansarde über der Sattelkammer schlief. Sommer und Winter stand er um fünf Uhr auf, ausgenommen am 24. Dezember. Genau einen Tag nach seiner Rückkehr aus Cherbourg, als er von oben herunterkam, fand er morgens die Küchentür weit offen.
Gleichzeitig bemerkte er, daß man aus der Verglasung direkt oberhalb des Schlosses mit einem Diamanten ein Viereck herausgeschnitten hatte, groß genug, um mit dem Arm hineingreifen und das Schloß mit einigermaßen geübten Fingern aufsperren zu können. Verstreut auf dem Steinboden lagen Holzspäne, Eisenteilchen und Glassplitter. Das Unglaublichste entdeckte er erst später: sämtliche Türen im Hausinneren, die gewöhnlich am Abend von Madame persönlich verriegelt wurden, waren ebenfalls aufgebrochen. Man spürte sofort, daß etwas Schreckliches geschehen war. Joseph ging aufgeregt durch die Küche in den Gang, auf dem zur rechten Seite die Türen der Obstkammer, des Badezimmers und des Vorzimmers liegen, links das Anrichtezimmer, das Speisezimmer und der große und kleine Salon. Ich gebe hier einen Bericht wieder, den Joseph dem Magistratsbeamten zu Protokoll gab. Im Eßzimmer bot sich zunächst seinen Blicken der Eindruck einer veritablen Plünderung. Einzelne Möbel waren umgestoßen, das Büffet bis auf den Boden durchwühlt, der Inhalt der Schubladen lag zu Haufen auf dem Teppich, und auf dem Tisch flackerte zwischen ausgeleerten Schachteln und einer Menge wertloser Kleinigkeiten eine ausgehende Kerze. Den ärgsten Anblick bot unzweifelhaft die Verwüstung im Anrichtezimmer. Dort – ich glaube es schon erwähnt zu haben – gab es einen sehr tiefen Wandschrank, dessen Inhalt durch ein besonders kunstvolles Schloß jedem fremden Zugriff entzogen war, denn nur Madame allein verstand mit dem Mechanismus dieses Schlosses umzugehen. Dort ruhte unser herrliches Tafelsilber in drei massiven metallbeschlagenen Kassetten, die auf dem Schrankboden festgeschraubt und mit soliden Eisenhaken in der Wand verankert waren. Jetzt aber gähnten die drei Kassetten leer in der Zimmermitte, auf brutale Weise ihrem geheimen und unverletzlichen Tabernakel entrissen. Erst bei diesem Anblick gab Joseph Alarm! Er schrie aus Leibeskräften ins Stiegenhaus:
»Madame! Monsieur! Schnell, schnell. Kommen Sie bitte herunter. Sie wurden bestohlen – bestohlen!«
»Was gibt es denn? Was ist denn Schreckliches geschehen?
»Man hat gestohlen! Sie wurden beraubt!«
»Gestohlen? Was denn? Was hat man denn gestohlen?«
Im Speisezimmer ächzte Madame:
»Mein Gott! Mein Gott!«
Aber Monsieur heulte mit verkrampften Lippen:
»Gestohlen hat man? Was denn? Was denn?«
Madame, von Joseph geführt, betrat inzwischen das Anrichtezimmer und stieß beim Anblick der drei herausgerissenen, aufgebrochenen Kassetten mit großer Geste einen Theaterschrei aus:
»Mein Silber! Mein Gott! Ist es die Möglichkeit? Mein Silber!«
Als sie dann die leeren Schubladen umgestürzt und alle geplünderten Fächer untersucht hatte, brach sie halb ohnmächtig auf dem Parkett zusammen. Sie hatte nur noch die Kraft, mit weinerlicher Kinderstimme zu stammeln:
»Sie haben alles genommen – alles haben sie genommen. Alles, alles, alles! Selbst das Louis-XVI-Ölkännchen!«
Merkwürdigerweise kam sie überraschend schnell wieder zu sich und starrte die geplünderten Kassetten an, wie sie vielleicht ein totes Kind angestarrt hätte. Monsieur kratzte sich den Nacken, er rollte wie ein Irrer die Augen und schluchzte mit überschnappender Stimme:
»Himmelkreuz! Himmelkreuz! Herrgott noch einmal! O Gott, o Gott, o Gott!«
Und Joseph schrie mit grimmigem Gesicht:
»Das Ölkännchen von Louis XVI! Oh, diese Banditen! Das Ölkännchen von Louis XVI!«
Schließlich herrschte eine Minute tragische Stille, es war die Ruhe der Erschöpfung. Es hatte Ähnlichkeit mit der Erstarrung nach einem Donnerschlag, niemand war imstande, sich zu rühren. Nur die Laterne in Josephs Händen schwankte hin und her und warf auf die totenähnlichen Gesichter und die ausgeweideten Kassetten einen rötlichen unheimlichen Schein.
Ich selbst war gleichzeitig mit der Herrschaft heruntergekommen, aufgescheucht durch Josephs Alarmruf. Die Bestohlenen flößten mir Mitleid ein, trotz ihrer unwiderstehlich komischen Gesichter. Ich hatte sogar ein paar Herzschläge lang das Gefühl, zu dieser heimgesuchten Familie zu gehören, ich war ihnen durch ihr Unglück auf einmal ganz nahe. Ich hätte gerne ein paar tröstende Worte zu Madame gesagt, denn sie tat mir in ihrer Verzweiflung wirklich leid. Aber dieses plötzliche Gefühl verflüchtigte sich im Nu.
Ein Verbrechen hat etwas Elementares, Pompöses, Rächendes, um nicht zu sagen beinahe etwas Religiöses, das mich erschütterte und bei mir eine seltsame Bewunderung hinterließ. Falsch, keine Bewunderung, eine Bewunderung ist eine unwillkürlich moralische Reaktion, eine geistige Erregung, doch ich reagierte darauf nicht geistig, sondern meine Empfindung war eine rein körperliche. Eine schmerzhafte und zugleich köstliche Erschütterung des Fleisches. Es ist komisch, es ist aber auch sehr merkwürdig und vielleicht sogar schrecklich, daß ein Verbrechen bei mir so wollüstige Empfindungen auslöst. Mir scheint, als habe jedes Verbrechen, insbesondere wenn es sich um einen Gewaltakt handelt, eine mysteriöse Verwandtschaft zur Liebe, und – ich will es offen gestehen – ein großartiges Verbrechen wirkt auf mich ebenso berauschend wie ein schöner starker Mann.
Nicht unerwähnt darf bleiben, daß mein spontanes Mitleid mit den Bestohlenen durch das erregende Erlebnis des Verbrechens sich schlagartig ins Gegenteil verwandelte und mir eine kindlich grausame Schadenfreude einflößte. Ich dachte:
Hier haben wir also zwei Geschöpfe, die wie Larven oder wie Maulwürfe leben. Wie freiwillige Gefangene in den Zellen eines Gefängnisses, ihres eigenen ungastlichen Hauses. Jedes Lächeln, jede lebensfrohe Regung unterdrücken sie. Was ihren Reichtum sinnvoll machen könnte, ihr Vorhandensein auf Erden entschuldigen könnte, das meiden sie wie die Gefahr einer ansteckenden Krankheit. Von ihrer knauserigen Tafel fällt kein Brosamen herab, nie denken sie daran, den Hunger eines Armen zu stillen, nie verspüren sie in ihren vertrockneten Herzen eine mitleidige Regung für die Unglücklichen und Darbenden. Sie geizen sogar mit ihrem eigenen Glück. Und ich war im Begriff, diese Sorte Menschen zu bedauern? Wie dumm! Was ihnen zustößt, ist nur gerecht. Als man ihnen die verborgenen Schätze stahl, hat man ihnen nur einen Teil ihres Vermögens abgenommen, die tüchtigen Diebe haben bloß das Gleichgewicht ein wenig hergestellt. Zu bedauern wäre höchstens, daß die Einbrecher diese beiden Unmenschen nicht bis auf die Haut geplündert haben, dann hätten sie wenigstens Ähnlichkeit bekommen mit jenen Kranken und Elenden, die sie drei Schritte vom Überfluß und von verborgenen Schätzen auf der Straße krepieren lassen.
Ich stellte mir meine Herrschaft gänzlich ruiniert vor: aller Mittel entblößt, von Haus und Hof vertrieben, mit einem Bettelsack am Buckel und bloßen, blutenden Füßen die Straße dahinziehend, an der Schwelle der Reichen die bittende Hand ausstreckend und von dort brutal zurückgewiesen, so wie sie früher die Unglücklichen von ihrer Tür verjagten und verrecken ließen.
Meine ausgelassene Fröhlichkeit steigerte sich noch bei Madames desolatem Anblick. Für diese Frau war der Verlust des Silbers ärger als der Tod, denn sie hatte bisher nichts anderes geliebt als das Geld. Nun starrte sie die geleerten Kassetten an. Vermögen war für sie der Ersatz aller menschlichen Dinge, die mit Geld nicht aufzutreiben sind, wie unsere Vergnügungen, unsere Launen, unser Mitleid und unsere Liebe. Das alles zusammen macht den göttlichen Inhalt, den Luxus der Seele.
Unbeschreibliche Genugtuung überkam mich. Endlich fühlte ich mich für alle Demütigungen und Schikanen, die ich in diesem Hause hatte hinnehmen müssen, gerächt, jeder verächtliche Blick, jedes gemeine Wort von Madame wurde ihr heute heimgezahlt.
In meinem Freudentaumel hätte ich ihr am liebsten zugerufen:
»Recht geschieht euch – euch beiden geschieht recht!«
Wie gerne hätte ich die famosen Diebe kennengelernt, um ihnen um den Hals zu fallen und im Namen aller Unterdrückten zu danken. Ich hätte sie wie Brüder umarmt und geküßt. Oh, ihr braven Strolche, teure Abgesandte der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit, wie köstlich habt ihr mich heute erregt, welch wunderbare Gefühle habt ihr in mir erweckt.
Madame hatte sich schnell gefaßt, ihre aggressive Natur war plötzlich wieder mit aller Heftigkeit erwacht.
Sie wandte sich an Monsieur und sagte wütend und verächtlich zugleich:
»Was suchst du hier? Steh nicht so blöde herum! Was bist du doch für eine lächerliche Figur mit deinem heraushängenden Hemdzipfel und deinem dämlichen Gesicht! Bildest du dir ein, daß wir auf diese Weise unser Silber wiederbekommen? Vorwärts, raff dich auf, reiß dich zusammen, versuche wenigstens zu begreifen. Geh und hole die Gendarmen herbei, und laufe schleunigst zum Friedensrichter. Sollten die Männer nicht schon längst hier sein? Herrgott, was bist du für ein jämmerlicher Tropf!«
Monsieur machte sich also bereit zu gehen, er krümmte den Rücken und schlich hinaus. Aber sie rief ihn zurück:
»Moment! Wie konnte es geschehen, daß du überhaupt nichts gehört hast? Man raubt uns aus, man sprengt die Türen und Schlösser, man schlitzt Laden und Kassetten auf – und du hörst nichts? Du bist wirklich zu rein nichts zu gebrauchen, du fetter Tölpel!«
Monsieur wagte zu entgegnen:
»Aber du, Liebling, hast ja auch nichts gehört.«
»Ich? Das ist etwas ganz anderes. Auf Diebe aufzupassen ist Männersache! Und was tust du? Du machst mich krank! Verschwinde endlich!«
Während Monsieur die Treppe hinaufkrabbelte, um sich anzuziehen, wendete sich Madame wütend an uns.
»Und ihr! Gehört sich das, mich anzuglotzen wie zwei Rüffel? Es ist euch ja anscheinend egal, ob eure Herrschaft ausgeraubt wird oder nicht! Ihr habt natürlich auch nichts gehört? Welch ein Zufall und wie reizend, solche Dienerschaft zu haben! Nichts im Schädel als Schlafen und Essen! Idioten!«
Nach diesem Wutausbruch wandte sie sich direkt an Joseph:
»Warum haben sogar die Hunde nicht gebellt? Erklären Sie mir das, warum?«
Diese Frage schien Joseph zu verwirren, aber nur für eine Sekunde. Dann antwortete er unbefangen:
»Das weiß ich wirklich nicht, Madame, aber Sie haben recht, die Hunde haben nicht gebellt. Das ist tatsächlich sehr merkwürdig!«
»Hatten Sie sie freigelassen?«
»Selbstverständlich, ich lasse sie abends immer frei. Seltsam, sehr seltsam, fast könnte man meinen, daß die Diebe das Haus kennen – oder auch die Hunde.«
»Ich verstehe das alles nicht, Joseph, Sie sind doch sonst wirklich zuverlässig und genau, wieso haben Sie denn nichts gehört?«
»Ja, das stimmt, ich habe wirklich nichts gehört. Und das macht mich stutzig, da stimmt etwas nicht. Ich habe nämlich einen leichten Schlaf. Ich höre sonst alles, selbst wenn eine Katze durch den Garten schleicht, meiner Treu, das macht mich stutzig. Da stimmt etwas nicht. Und diese verfluchten Hunde – nein, nein, da stimmt etwas nicht.«
Madame unterbrach Joseph.
»Hören Sie schon auf mit diesem Gequatsche. Ihr seid alle beide Idioten. Und Marianne? Wo ist Marianne? Warum ist sie nicht hier? Die schläft wieder einmal wie ein Klotz!«
Sie stolperte aus dem Anrichtezimmer und schrie im Treppenhaus:
»Marianne! ... Marianne!«
Ich beobachtete Joseph, der die Kassetten nachdenklich betrachtete. Sein Gesicht war ernst, und in seinen Augen verbarg sich ein Geheimnis.
Ich habe nicht die Absicht, die einander überstürzenden Ereignisse und den Trubel jenes Tages zu beschreiben. Der telegraphisch herbeigerufene republikanische Bevollmächtigte traf nachmittags in Prieuré ein und begann sofort mit der Untersuchung des Falles. Joseph, Marianne und ich wurden der Reihe nach vernommen, die beiden ersten nur der Form halber, ich aber mit einer mißtrauischen Gründlichkeit, die mich äußerst beunruhigte. Man durchsuchte mein Zimmer, man durchwühlte meine Koffer und meine Kommode. Auch meine Korrespondenz wurde peinlichst durchgesehen. Dank einem Zufall, den ich noch heute segne, entging mein Tagebuch den Nachforschungen der Polizeibeamten. Einige Tage vor dem Raub habe ich es an Cléclé geschickt, von der ich ein herzliches Schreiben bekommen hatte. Hätten die Beamten das Tagebuch gefunden, hätten sie sicherlich in meinen Aufzeichnungen auch die Stellen entdeckt, wo ich meinen Verdacht bezüglich Josephs erwähnt hatte. Selbst heute zittere ich noch bei dem Gedanken an diese Möglichkeit. Natürlich hatte man auch den Garten einer gewissenhaften Prüfung unterzogen, sämtlichen Mauern und Hecken und Beeten, aber besonders dem kleinen Hof, der auf das Gäßchen entlang der Einfriedungsmauer führt, widmete man viel Aufmerksamkeit, um eventuelle Spuren der Täter zu entdecken. Doch die Erde war zu hart und trocken, es war einfach unmöglich, irgendwelche Hinweise auf den Einbruchsdiebstahl zu erlangen. Gitter, Mauern, Hecken hüteten eifersüchtig ihr Geheimnis. Die Leute aus der Umgebung eilten herbei, um genau wie seinerzeit bei dem Mord etwas zu Protokoll zu geben. Einer hatte einen blonden Mann gesehen, der ihm verdächtig erschienen war, einem anderen war kurz vor der Tat ein dunkelhaariger über den Weg gelaufen, der reichlich sonderbar ausgesehen hatte. Kurz: weder Fährten noch Hinweise ...
»Wir müssen abwarten«, erklärte der Prokurator, als er uns abends verließ. »Vielleicht kann uns die Pariser Polizei auf die richtige Spur bringen.«
An diesem so bewegten und strapaziösen Tag fand ich keine Zeit, über die Konsequenzen dieses Dramas nachzugrübeln, das unser so zum Sterben langweiliges Prieuré völlig auf den Kopf gestellt hatte. Madame speziell ließ uns keine Minute Ruhe, sie hetzte uns dahin und dorthin, alles ohne jeden triftigen Grund, sie hatte einfach den Kopf verloren. Nur Marianne schien das Ereignis überhaupt nicht zur Kenntnis genommen zu haben, sie tat so, als wäre überhaupt nichts passiert, als hätten wir nicht etwas Umwerfendes erlebt. Wie die bedauernswerte Eugénie lebte sie ausschließlich ihren eigenen Vorstellungen, und damit war ihre Gedankenwelt von der unseren weit entfernt. Erschien Monsieur zufällig in der Küche, dann kam es wie ein Rausch über sie, und sie umhüllte ihn mit ekstatischen Blicken ...
»Oh! Dein großes Mondgesicht! Deine großen Hände! Deine großen Augen!«
Das Abendessen verlief unter Schweigen, dabei konnte ich endlich nachdenken. Gleich morgens war mir die Idee gekommen, Joseph könnte mit diesem Einbruch etwas zu tun haben, und dieser Eindruck verstärkte sich jetzt noch in mir, ja er steigerte sich sogar zu der Hoffnung, daß seine Reise nach Cherbourg mit der Vorbereitung dieser kühnen Tat etwas zu tun haben könnte, ich glaubte, eine untrügliche Beziehung zwischen diesem und jenem zu sehen. Und ich erinnerte mich einer Antwort, die er mir am Vorabend seiner Abreise gegeben hatte:
»Das hängt von einer sehr wichtigen Angelegenheit ab.«
Obwohl er sich den Anschein gab, als sei nichts Besonderes vorgefallen, konnte ich in seiner Haltung, selbst in seiner Ruhe eine Unruhe wahrnehmen, die meinen scharfen Augen nicht entging.
Diese seltsame Ahnung ließ sich nicht unterdrücken, ich versuchte es auch nicht, denn mein Argwohn befriedigte mich sonderbarerweise sehr.
Als uns Marianne einen Moment lang allein in der Küche ließ, ging ich schnell auf Joseph zu und – von einer unerklärlichen Bewegung gepackt, fragte ich plötzlich behutsam, zärtlich, schmeichlerisch:
»Sagen Sie, Joseph, daß Sie es waren, der die kleine Claire im Wald vergewaltigte, und sagen Sie mir, daß Sie Madame das Silber gestohlen haben! So war es doch, nicht wahr?«
Überrascht, betroffen sah mich Joseph an. Er zögerte mit der Antwort ... dann, mit einem Mal zog er mich an sich, drückte mir auf meinen Nacken einen Kuß, der mich wie ein elektrischer Schlag durchzuckte. Dann sagte er:
»Sprich nicht davon, du kommst doch zu mir in das kleine Café. Wir sind vom selben Stamm, Célestine – wir beide, wir haben verwandte Seelen!«
Da erinnerte ich mich an eine Skulptur, die ich im kleinen Salon der Comtesse Fardin gesehen habe: die Gestalt einer indischen Gottheit. Mörderisch schön und mörderisch erschreckend. Joseph ähnelte damals dieser Skulptur.
Tage, Wochen vergingen, Monate wurden daraus. Natürlich hatten die Justizbeamten nichts entdecken können, und so ließen sie den Fall definitiv einschlafen. Ihrer Meinung nach war der Raub von gerissenen Pariser Einbrechern verübt worden, und Paris hat einen großen Bauch. Versucht doch, dort etwas zu entdecken!
Diese Ergebnislosigkeit aller Nachforschungen ärgerte Madame sehr. Sie verfluchte die unfähigen Beamten, die ihr das Silber nicht wieder herbeischaffen konnten, aber sie gab keinesfalls die Hoffnung auf, »das Ölkännchen von Louis XVI«, wie Joseph es nannte, wiederzubekommen. Fast jeden Tag kam sie auf eine neue närrische Idee, die sie den Beamten unterbreitete, aber die langweilten ihre Hirngespinste schon derart, daß sie ihr weder zuhörten noch antworteten. Durch diesen negativen Verlauf der Untersuchungen wurde ich auch der Sorge um Josephs Täterschaft enthoben, nachdem ich fortwährend eine Katastrophe für ihn befürchtet hatte.
Von nun an war er wieder der schweigsame und treue Diener, der er immer gewesen war, eine seltene Perle. Die Seele des Hauses. Selbst heute könnte ich noch laut auflachen in der Erinnerung an ein Gespräch, das ich einige Tage nach dem Diebstahl hinter der Salontür belauschen konnte. Madame unterhielt sich mit dem Bevollmächtigten der Republik, einem kleinen trockenen Männchen mit schmalen Lippen, galligem Teint und messerscharfem Profil.
Er fragte Madame:
»Verdächtigen Sie niemanden Ihres Personals? Den Kutscher vielleicht?«
»Joseph!« schrie Madame empört, »dieser brave und so ergebene Mensch. Seit mehr als fünfzehn Jahren dient er in unserem Hause. Die Rechtschaffenheit in Person, Monsieur! Eine Perle! Er würde für uns durchs Feuer gehen!«
Sie runzelte die Stirn und dachte nach.
»Da bliebe bloß dieses Mädchen, die Kammerzofe. Ich kenne sie kaum. Vielleicht unterhält sie sehr zweifelhafte Beziehungen zu Paris. Sie schreibt oft nach Paris. Öfters habe ich sie zum Beispiel dabei überrascht, wenn sie von unserem Tischwein trank und unsere Pflaumen aß! Wenn man heimlich den Wein von der Herrschaft trinkt, ist man vermutlich zu allem fähig.«
Und abschließend murmelte sie:
»Ach, man sollte wirklich niemals sein Personal aus Paris beziehen, das Mädchen ist tatsächlich recht merkwürdig.«
Also was sagt man zu dieser Xanthippe?
So ergeht es den Mißtrauischen! Sie mißtrauen jedem, nur dem nicht, der sie wahrhaftig bestohlen hat. Nun wurde ich von Tag zu Tag mehr davon überzeugt, daß Joseph der Täter war. Ich hatte ihn schon länger aufmerksam beobachtet, nicht aus Feindseligkeit, das kann sich wohl jeder denken, sondern einfach aus Interesse. Und dabei wurde es für mich zur Gewißheit, daß dieser treue, ergebene Diener, diese einzigartige Perle klaute, wo er nur konnte. Wo nur etwas abzuzweigen war, wanderte es in seine Tasche. Er stahl Hafer, Kohlen, Eier und eine ansehnliche Menge jener Kleinigkeiten, die man wieder verkaufen konnte, ohne daß ihre Herkunft auffiel. Und sein Freund, der Ministrant, der Kirchendiener, kam abends nicht nur in die Sattelkammer, um Instruktionen entgegenzunehmen und über die Chancen des Antisemitismus zu diskutieren, nein, der geduldige, vorsichtige und methodisch handelnde Joseph wußte recht gut, daß seine laufenden Unterschlagungen mit der Zeit ein nettes Sümmchen ausmachten. Er brauchte jemanden, der ihn beim Absatz unterstützte. Auf diese Weise verdoppelte er nicht nur seinen Lohn, sondern er verdreifachte oder vervierfachte ihn vermutlich. Und solche Chancen sind selbstverständlich nicht zu verachten. Freilich besteht ein ziemlicher Unterschied zwischen so kleinen Glücksspielen und einem so kühnen unverschämten Raub, wie die Plünderung in der Weihnachtsnacht. Für mich ist das ein Beweis, daß Joseph Sinn für große Coups hat. Vielleicht arbeitete er schon längst mit einer routinierten Bande? Ach, wie gerne würde ich das alles wissen, am liebsten noch heute!
Seit jenem Abend, wo mir sein Kuß wie das Eingeständnis seiner Verbrechen erschien und sein Vertrauen zu mir inbrünstig geworden war, leugnet Joseph. Ich kann ihm noch so schmeicheln, ihm Fallen stellen und ihn belauern, es gelang mir bisher nicht, ihn zu ertappen, kein unvorsichtiges Wort entschlüpfte seinem Mund. Vielmehr gefiel er sich darin, Madame in ihren verrückten Ideen zu bestärken, ja sogar sie nachzuahmen, denn auch er entwarf Pläne, konstruierte die Details des Diebstahls, und er schlug die Hunde, zur Strafe, weil sie damals nicht gebellt hatten, oder drohte mit der Faust den unbekannten Dieben, diesen schemenhaften Dieben, die sich am Horizont verflüchtigten. Damals wußte ich einfach nicht mehr, was ich von diesem Kerl halten sollte. Einmal glaubte ich an seine Schuld, ein anderes Mal war ich wieder von seiner Unschuld überzeugt. Und langsam fand ich den zwiespältigen Zustand unerträglich.
Im Frühjahr trafen wir uns dann eines Abends in der Sattelkammer:
»Nun, Joseph?«
»Ach, Sie sind's, Célestine!«
»Warum sprechen Sie nicht mehr mit mir? Sie machen den Eindruck, als wichen Sie mir aus ...«
»Ihnen ausweichen? Ich? Du lieber Gott!«
»Jawohl, seit jenem denkwürdigen Morgen ...«
»Sprechen Sie nicht davon, Célestine, Sie denken schon wieder nur das Schlechteste von mir.«
Und er schüttelte traurig den Kopf.
»Hören Sie, Joseph, Sie wissen ganz genau, daß ich nur Spaß mache. Könnte ich Sie lieben, wenn Sie sich bei einem solchen Verbrechen beteiligt hätten? Mein kleiner Joseph ...«
»Ja, ja, Sie sind eine verflixte Komödiantin. Das ist nicht recht.«
»Und wann brechen wir endlich auf? Ich halte es hier nicht mehr lange aus.«
»Nicht sogleich – man muß noch ein wenig warten.«
»Warten? Warum denn?«
»Weil, weil – es geht eben jetzt noch nicht.«
Ich tat ein wenig beleidigt und sagte spitz:
»Das ist nicht lieb von Ihnen! Sie haben es anscheinend gar nicht eilig, mich zu bekommen.«
»Ich?« schrie er mit verzweifelter Grimasse. »Herrgott noch einmal! Merken Sie denn nicht, wie ich glühe, wie ich koche!«
»Zum Kuckuck, wann soll es denn endlich losgehen?«
Aber er blieb obstinat, ohne mir einen triftigen Grund anzugeben.
»Nein, nein. Es kann einfach noch nicht sein.«
In Gedanken gab ich ihm natürlich recht. Wenn er tatsächlich das Silber gestohlen hat, kann er weder jetzt von hier weggehen noch sich anderswo niederlassen. Man würde Verdacht schöpfen. Man muß ein wenig Zeit verstreichen lassen, bis über die ganze mysteriöse Geschichte etwas Gras gewachsen ist.
Und an einem anderen Abend machte ich den Vorschlag:
»Hören Sie mir gut zu, mein kleiner Joseph, ich glaube, es gäbe ein Mittel, von hier raschestens aufzubrechen. Man müßte einen Streit mit Madame herbeiführen, der sie zwingen würde, uns alle beide zu expedieren. Das wäre ein prompter Hinausschmiß.«
Aber er protestierte lebhaft:
»Nein, nein«, erklärte er, »nichts dergleichen, Célestine, nein, nein, das würde ich mir nie erlauben. Schließlich hänge ich doch an meiner Herrschaft, ich liebe sie. Es sind gute Leute, und wir müssen uns einen guten Abgang machen. Wie brave Angestellte, wie es sich für anständige Dienstboten gehört. Die Herrschaft soll über meine Kündigung tief betrübt sein. Sie sollen weinen, wenn wir von hier fortgehen!«
Mit großem Ernst, ohne leiseste Ironie, versicherte er:
»Ich, für meinen Teil, wissen Sie, werde es aufrichtig bedauern, von hier fortzugehen. Seit fünfzehn Jahren bin ich hier im Haus. Man attachiert sich, ob man will oder nicht. Und Sie, Célestine? Ihnen würde es nichts ausmachen, von hier wegzugehen?«
»Keine Spur!« versicherte ich ihm lachend.
»Das ist nicht recht, das ist nicht recht. Man soll seine Herrschaft lieben. Herrschaft bleibt immer Herrschaft. Und wissen Sie, was am besten wäre? Seien Sie nett, seien Sie sanft, seien Sie gefällig, arbeiten Sie ordentlich. Ohne Widerspruch. Kurz und gut, Célestine, wir wollen uns im guten von hier trennen, vor allem von Madame.«
Ich beherzigte seinen Rat. Ich folgte Joseph. Wir blieben noch drei Monate, und ich wurde allmählich auf Prieuré eine perfekte, beispielhafte Kammerzofe, ich gab mir Mühe, ebenfalls eine Perle zu sein. Madame lernte mich von meiner besten Seite kennen: intelligent, aufmerksam, eine Kammerjungfer voll Takt und Verständnis. Madame wurde langsam ganz menschlich zu mir, zum Schluß herrschte zwischen uns ein fast freundschaftliches Einvernehmen. Allerdings glaube ich nicht, daß das Betragen von Madame sich allein durch mein Entgegenkommen geändert hatte. Madame war in ihrem Stolz und ihrem Ehrgeiz tief getroffen worden, und ihre Sanftmut war eine Art von Trauer, als hätte sie ein über alles geliebtes Wesen verloren und besäße nicht mehr die Kraft zu kämpfen, sondern sie erwartete von ihrer Umgebung nur noch Trost, Mitleid und Nachsicht. Die Hölle von Prieuré verwandelte sich, wir lebten von nun an in einem veritablen Paradies.
In diese Idylle, in diese Eintracht platzte dann eines schönen Tages die Bombe. Ich kündigte. Für Madame hatte ich eine romantische Ausrede vorbereitet: ich müßte in mein Heimatdorf zurückkehren, um einen braven Jungen zu heiraten, der seit langem auf mich wartete. Mit rührenden Worten drückte ich mein Bedauern darüber aus, Madame verlassen zu müssen. Sie war wie zu Boden geschmettert. Sie versuchte mich zurückzuhalten, teils weil sie meinen Fortgang wirklich bedauerte, teils aus Egoismus. Sie bot mir eine Lohnerhöhung an, sie wollte mir ein schönes Zimmer im zweiten Stock des Hauses geben, aber vor meiner Entscheidung mußte sie schließlich resignieren.
»Ich hatte mich schon so an Sie gewöhnt!« seufzte sie. »Ach, mich verfolgt wirklich das Pech!«
Acht Tage später, als Joseph kam und erklärte, er könne absolut nicht mehr weiterarbeiten, war die Katastrophe vollständig. Er versicherte ihr, er sei schon zu alt und zu müde, er könne beim besten Willen seinen Dienst nicht mehr ausüben, er brauche eben auf seine alten Tage etwas Ruhe.
»Auch Sie, Joseph?« rief Madame, »auch Sie wollen uns verlassen! Das ist doch nicht möglich. Alle wollen mich verlassen, alle lassen mich im Stich.«
Madame weinte. Joseph weinte. Monsieur weinte, Marianne heulte ...
»Nehmen Sie auf Ihren Weg unser lebhaftes Bedauern mit, Joseph!«
Ach, Joseph nahm nicht nur ihr Bedauern, er nahm auch ihr Silber mit.
Als wir erst einmal draußen waren, mußte ich staunen, denn ich verspürte nicht die geringsten Skrupel, mich an Josephs Geld, dem gestohlenen Geld – welches Geld ist überhaupt nicht gestohlen? – zu freuen. In der ersten Zeit fürchtete ich, meine Beziehung zu Joseph bestehe nur aus flüchtiger Neugierde. Joseph übte auf mein Wesen, auf meinen Leib und meine Seele eine Macht aus, die am Ende nicht von Dauer war. Vielleicht reagierte mein Wesen auf diesen Mann auf Grund einer bloß vorübergehenden Perversion? Manchmal hatte ich Augenblicke, in denen ich mir die Frage vorlegte, ob meine Einbildungskraft mir nicht einen Streich spielte und ob ich diesen merkwürdigen Menschen, der vermutlich doch nur ein simpler, brutaler Bauer war, zu sehr idealisierte? War er denn wirklich einer Vergewaltigung oder eines anderen großartigen Verbrechens fähig? Manchmal machte mir mein gefaßter Entschluß, mit ihm zu leben, geradezu Angst. Und dann – wahr, aber unbegreiflich – tut mir der Gedanke weh, daß ich nie mehr bei anderen Leuten dienen sollte. Früher einmal hatte ich mir eingebildet, daß ich die endlich gewonnene Freiheit schrankenlos genießen würde. Doch dem war nicht so! Anscheinend habe ich das Dienen im Blut. Würde ich die Atmosphäre des bürgerlichen Luxus bitter entbehren? Ich stellte mir mein zukünftiges kleines Heim kalt und ungemütlich wie eine Arbeiterwohnung vor, ich malte mir aus, wie uns bei einem mittelmäßigen Leben die vielen hübschen Dinge abgehen würden, an die ich gewöhnt war, die schönen farbigen Stoffe, die so schmeichelnd durch die Hände gleiten, die Kunst des Servierens, die ich so gerne ausübte, die köstlich möblierten Räume, deren Duft ich mit Wonne atmete, kurz alles, in dem ich planschte wie in einem parfümierten Bad. Aber nun gab es kein Zurück mehr. Wer hätte mir voraussagen können, als ich an einem trüben Regentag in Prieuré ankam, daß ich mit dem brummigen Sonderling Joseph, der mich fast mit Verachtung begrüßt hatte, mein Leben beschließen würde?
Nun führen wir also unser kleines Café. Joseph hat sich verjüngt. Er ist weder gebeugt noch schwerfällig. Seine früher so bedrohlichen Schultern haben etwas Väterliches angenommen, sein erschreckendes Genick wirkt gelöst und ruhig. Schwungvoll eilt er zwischen den Tischen hin und her, elastisch geht er von einem Saal in den anderen. Immer frisch rasiert, mit blanker, mahagonibrauner Haut und einer Mütze auf dem Kopf und dazu den sauberen blauen Kittel, hat er etwas von einem früheren Seemann, einem alten Seebären, der alle Meere durchkreuzt und in fremden Ländern die wunderlichsten Dinge erlebt und gesehen hat. Am meisten bewundere ich an ihm seinen unerschütterlichen Gleichmut. Aus seinen Blicken strahlt ein ruhiges Gewissen. Niemals flackert in der Tiefe seiner Augen eine befremdende Unsicherheit. Sein ganzes Verhalten verrät die solide Grundlage seines Lebens. Gewaltiger als je zuvor kämpft er für die Familie, für die Religion, für Marine, Armee und Vaterland. Mich erstaunt dieser Mann von Tag zu Tag mehr.
Anläßlich unserer Hochzeit ließ mir Joseph zehntausend Franc überschreiben. Vor kurzem bot ihm die Marinepolizei einen Haufen Strandgut für vierzehntausend Franc zum Kauf an, die er bar auf den Tisch legen mußte, und das er mit großem Gewinn weiterverkaufen konnte. Er macht auch kleine Bankgeschäfte, das will heißen, daß er den Fischern Geld leiht. Und jetzt schon denkt er daran, unser Unternehmen zu vergrößern und das Nachbarhaus dazuzukaufen. Dort ließe sich vielleicht ein Konzertcafé einrichten.
Woher hat er wohl das viele Geld? Auf welche Weise kam er zu diesem Reichtum? Ich habe nicht die blasseste Ahnung, doch er leidet es nicht, wenn ich meine quälenden Gedanken ausspreche und meine Neugierde mich dazu treibt, ihn auszufragen. Ebensowenig gefällt es ihm, wenn ich von der Zeit spreche, als wir noch in Stellung waren. Fast könnte man glauben, er habe alles, was bisher geschah, vergessen, und sein Leben habe erst richtig mit der Zeit in unserem kleinen Café begonnen. Wenn ich doch hin und wieder solche Fragen stelle, weil sie mich quälen, benimmt er sich so, als verstünde er nicht, was ich sage, und in seinen Blick kommt plötzlich wieder jenes beunruhigende Funkeln, das mich dann so erschreckt wie früher einmal. Nie werde ich aus Joseph irgend etwas herausbekommen, niemals das Geheimnis seines Lebens kennenlernen. Aber vielleicht ist es gerade das, was mich so unlöslich an ihn fesselt.
Joseph hat die Zügel unserer Wirtschaft fest in Händen, und alles läuft wie am Schnürchen. Wir haben drei Kellner für unsere Gäste, ein Mädchen für alles, für die Küche und den Haushalt, und ich kann nur sagen, alles funktioniert prachtvoll. Allerdings haben wir in drei Monaten viermal das Mädchen wechseln müssen. Ach. diese Dienstmädchen von Cherbourg sind aber auch zu anmaßend und anspruchsvoll! Es ist wirklich unglaublich, es ist ekelhaft.
Hinter der Theke an der Kasse throne ich inmitten eines Waldes von glänzenden bunten Flaschen. Ich bin dazu ausersehen, die Gäste zu unterhalten und unseren Laden richtig zu präsentieren. Joseph hat es gern, wenn ich zurechtgemacht bin, niemals lehnt er mir irgendeinen Wunsch, mich durch etwas Hübsches zu verschönern, ab. Er verlangt sogar von mir, daß mein Dekolleté ein wenig aufreizend und verlockend wirkt. Man muß den Gästen ein bißchen einheizen, man muß sie ständig bei guter Laune halten, das gehört dazu. Ich habe mir schon einige Verehrer angelacht, zwei oder drei dicke Quartiermeister, einige recht tüchtige Mechaniker, die mir abwechselnd die Cour machen. Sie alle miteinander geben eine Menge aus, nur um mir zu gefallen. Joseph behandelt diese Männer äußerst zuvorkommend, denn es sind entsetzliche Säufer. Wir haben aber auch vier Pensionäre im Haus. Sie essen mit uns, sie sind splendid und geben am Abend stets einige Runden Wein oder Likör für alle aus. Zu mir sind sie sehr galant, und ich kokettiere mit ihnen, was das Zeug hält. Trotzdem bleibt es nur bei vielversprechendem Augengeklapper und frivolem Lächeln. An mehr denke ich nicht. Joseph genügt mir vollkommen, und ich glaube, selbst wenn ich ihn mit einem Admiral betröge, könnte es sich nur um einen schlechten Tausch handeln. Donnerwetter! Was ist er doch für ein verfluchter Kerl! Viel jüngere Männer sind kaum imstande, eine Frau wie mich so zu befriedigen, wie Joseph es tut. Merkwürdig! Obwohl er eigentlich alt und häßlich ist, finde ich keinen anderen so schön wie meinen Joseph. Ich bin diesem Ungeheuer mit Haut und Haar verfallen, es liegt mir im Blut. Joseph kennt alle Spielarten der Liebe, und er erfindet noch neue dazu. Woher er das hat? Dabei ist er nie aus der Provinz herausgekommen. Wo hat er alle diese Finessen gelernt?
Den größten Erfolg erntet Joseph in der Politik. Dank seiner Verwegenheit ist unser kleines Café mit dem Schild Zur französischen Armee zum Treffpunkt aller Antisemiten und fanatischen Patrioten geworden. Wenn es Abend wird, überstrahlen die Goldlettern unseres Lokales das ganze Viertel, und alle strömen sie zu uns, um mit den Unteroffizieren der Armee und der Marine zu fraternisieren. Leider kam es bereits zu blutigen Auseinandersetzungen, wenn die Unteroffiziere irgendeinen harmlosen Gast als Verräter verdächtigten und mit gezogenem Säbel auf ihn losgingen, um ihn niederzuschlagen. Am Abend, als Dreyfus in Frankreich landete, dachte ich, unser kleines Café würde unter dem dröhnenden Geschrei: »Es lebe die Armee, Tod den Juden« zusammenstürzen. An diesem Abend feierte Joseph – längst eine populäre Figur in der Stadt – seinen größten Triumph, als er auf einen Tisch stieg und von dort herab rief:
»Ist der Verräter schuldig, soll man ihn erschießen! Ist er unschuldig, soll er des Landes verwiesen werden!«
Ohrenbetäubendes Geschrei antwortete ihm:
»Ja, ja! Erschießen – erschießen! Es lebe die Armee!«
Dieser Vorschlag steigerte die Wut der Menge bis zum Paroxysmus. Säbelklirren und Faustschläge, die auf die Marmortischplatten niedersausten, mischten sich in das Geheul der tobenden Leute. Irgendeiner, der etwas vorbringen wollte, wurde niedergezischt, verhöhnt, und Joseph stürzte sich auf ihn, schlug ihm die Faust ins Gesicht, spaltete ihm die Lippen und zerschmetterte ihm fünf Zähne. Von flachen Säbelhieben traktiert, von Fäusten malträtiert, aus zahllosen Wunden blutend, wurde der Unglückliche aus dem Saal gezerrt und von ununterbrochenem Geschrei, »Es lebe die Armee – Tod den Juden!« begleitet, auf die Straße geworfen.
Manchmal bekomme ich es mit der Angst in dieser exaltierten Atmosphäre. Ich zittere vor diesen verzerrten, bestialischen Gesichtern ringsum, ich zittere vor diesen von Alkohol und Mordgier besessenen Männern. Aber Joseph versichert mir: »Alles halb so schlimm! Aber gut fürs Geschäft. Es blüht!«
Gestern kam er vom Markt zurück und sagte dann, sich die Hände reibend, zu mir:
»Schlechte Nachrichten, man spricht von einem Krieg mit England!«
»Um Gottes willen«, rief ich entsetzt, »wird Cherbourg bombardiert?«
»Aber, aber!« sagte er lachend, richtig erfreut, »das nicht gerade – doch ich habe eine Idee, eine tolle Idee, ganz große Sache!«
Mich überlief es plötzlich. Hat er wieder einmal eine ganz große, ganz gemeine Schufterei im Sinn?
»Je länger ich dich nämlich betrachte«, sagte er sinnend, »desto mehr wird mir klar, daß du gar nicht wie eine Bretonin aussiehst. Nein, du hast keine Spur von Ähnlichkeit mit einer Bretonin. Viel eher könnte man dich für eine Elsässerin halten. Na, was sagst du jetzt? Das wäre doch ein phantastisches Bild, du als Elsässerin hinter der Theke!«
Damit allerdings bereitete er mir eine große Enttäuschung. Ich hatte schon geglaubt, er würde mich zu einer wilden Sache heranziehen. Ich war schon stolz, daß er mich in seinen Plan einweihen wollte. Immer, wenn Joseph nachdenklich wird, werden meine Gedanken aufs höchste erregt. Meine Phantasie beginnt zu kochen. Dann sehe ich die größten Tragödien herankommen, nächtliche Überfälle, das Ersteigen von Mauern, Plünderungen, gezogene Messer. Ich höre Menschen auf dunklem Waldboden verröcheln. Statt solcher Sensationen spricht er zu mir von einem ganz vulgären Reklametrick.
Hände in den Hosentaschen, Mütze etwas schief auf dem Kopf, latscht er komisch vor mir hin und her und sagt:
»Du verstehst mich doch, nicht wahr? Das wäre bei Kriegsausbruch ein Schlager! Eine hübsche, kostümierte Elsässerin, die die Herzen entflammt und patriotische Gefühle erregt. Ich sage dir, nichts macht die Leute so besoffen wie der Patriotismus. Nun, Madame? Was halten Sie davon? Ich würde dein Bild in die Zeitungen bringen und vielleicht sogar auf ein Reklameplakat.«
»Danke«, sagte ich trocken, »ich bleibe lieber, wo ich bin.«
Darauf gerieten wir in Streit, und zum erstenmal kam es zu Beschimpfungen.
Joseph schrie:
»Als du noch mit jedem Kerl schlafen gingst, hast du nicht solche Geschichten gemacht!«
»Und du? Als du noch – ach was, laß mich lieber in Ruhe, sonst könnte ich zuviel auspacken.«
»Hure!«
»Dieb!«
Ein Gast kam herein. Wir verstummten sofort. Und abends versöhnten wir uns unter zahllosen Küssen.
Ich werde mir eine hübsche Elsässerinnentracht schneidern lassen, aus Seide und mit Samt garniert. Offen gesagt, ich bin gegen Josephs Einfluß und Willen machtlos. Trotz einiger geringfügiger Revolten. Joseph beherrscht mich wie ein Dämon, und ich bin glücklich, ihm zu gehören. Ich ahne, daß ich immer hingehen werde, wo er mich haben will, ich weiß sogar, daß ich immer ausführen werde, was er mir befiehlt – und sei es ein Verbrechen.