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VII.

6. Oktober

Es ist Herbst geworden. Der erste Nachtfrost, den wir nicht so früh erwartet haben, versengte die letzten Blumen im Garten. Die armen Dahlien, Zeugen der schüchternen Verliebtheit von Monsieur, sind erfroren, erfroren auch die großen Sonnenblumen, die vor dem Kücheneingang Schildwache standen. Geblieben sind nur auf den verwelkten Beeten ein paar einzelne Geranien und ein paar Büschel zähe Astern, die ihre müden Blumenköpfe traurig senken, denn auch sie sind längst dem Verfaulen geweiht. Auch in den Beeten des Hauptmanns Mauger, dessen Kopf ich vor einer Weile jenseits der Hecke erblickte, sieht es nicht weniger traurig aus, auch dort statt blühender Sommerpracht bräunliche Verwesung.

Im ganzen Land beginnen die Bäume sich zu verfärben, sie werfen ihre welken Blätter ab, und auch der Himmel ist schlecht gelaunt und düster. In den letzten vergangenen Tagen herrschte nur noch Nebel, dichter nach Ruß stinkender Nebel, der sich auch am Nachmittag nicht zerteilte. Jetzt regnet es, und ein widerlicher Nordwestwind jagt eisige Schauer vor sich her.

Bei diesem Wetter habe ich nichts zu lachen. In meinem Zimmer herrscht Bärenkälte, der Wind pfeift durch die Ritzen, von undichten Dachstellen tropft es, und besonders naß ist es in der Nähe der beiden Dachluken, die in diesem häßlichen Winkel spärliches Licht verbreiten. Heftige Böen erschüttern den Dachstuhl, lockere Ziegel scheppern, Balken stöhnen, Scharniere knirschen – was für eine Musik! Obwohl es höchste Zeit war, dringende Reparaturen auszuführen, konnte ich Madame nur mit Mühe bewegen, für morgen früh den Spengler zu bestellen. Die Bitte um einen Ofen wagte ich nicht auszusprechen, obwohl ich ahne, daß ich erfrorenes Huhn in diesem dunklen Kämmerchen den Winter nicht überstehen werde. Und heute abend habe ich mit ein paar alten Unterröcken die Fensterrahmen gegen Regen und Wind abgedichtet. Direkt über meinem Bett kreischt die alte rostige Wetterfahne im Wind. Manchmal keift sie so durchdringend in die Nacht, daß man unwillkürlich an Madames Stimme erinnert wird, wenn sie in voller Fahrt ist und nach einer Szene mit Monsieur übellaunig durch die Korridore wütet.

Meine ersten Proteste haben sich gelegt, das monotone Leben in diesem Haus geht weiter, und ganz langsam gewöhne ich mich an diesen Trott, sogar ohne besondere seelische Qualen. Besucher kommen nie zu uns. Man könnte glauben, ein Fluch laste auf dem Haus. Außer den üblichen häuslichen Ereignissen, die ich bereits geschildert habe, tut sich absolut nichts. Ein Tag ist wie der andere, immer die gleiche Arbeit, die gleichen Gesichter. Hier kann man vor Langeweile sterben. Ich habe mich an diese Monotonie gewöhnt, als gäbe es gar nichts anderes mehr für mich, man stumpft ab. Selbst der Verzicht auf Liebe drückt mich nicht mehr, ich vertrage ohne Zwangsvorstellungen die Enthaltsamkeit, zu der ich verurteilt bin, besser gesagt, zu der ich mich selbst entschlossen habe, weil ich mit Monsieur nichts anfangen will. Dieser Mann langweilt mich, und ich nehme es ihm übel, daß er mich aus purer Feigheit auf so gemeine Weise vor Madame heruntergesetzt hat. Was nun sein Benehmen betrifft, so hat sich das im Gegensatz zu seinen beleidigenden Äußerungen seiner Frau gegenüber nicht im geringsten geändert. Er hört nicht auf, mir nachzustellen, er schleicht um mich herum, macht hungrige Augen, und wenn er mich nur ansieht, wässert ihm der Mund. Um einen Spruch zu benützen, den ich vermutlich einmal in irgendeinem Roman gelesen habe: »Und immer wieder treibt er die Schweine seiner Begierde zu meiner Tränke …«

Jetzt, wo die Tage abnehmen, sucht Monsieur vor dem Abendessen stets sein Arbeitszimmer auf, wo er sich mit Gott weiß was für einer Arbeit beschäftigt. Sehr oft kramt er, ohne etwas zu suchen, in seinen alten Papieren, dann wieder zeichnet er Kreuzchen in Getreidekataloge und Apothekerreklamen, meist aber blättert er geistesabwesend in alten Jagdbüchern. Wenn ich abends sein Zimmer betrete, um die Portieren zu schließen und nach dem Kaminfeuer zu sehen, steht er ostentativ auf, niest, räuspert sich, eckt an Möbel an, stößt das Tintenfaß um und versucht auf jede läppische Weise meine Aufmerksamkeit zu erregen. Man könnte sich schieflachen! Ich tue so, als merkte ich von seinen lächerlichen Bemühungen nichts, als verstünde ich gar nicht, was er beabsichtigt, und verlasse still und unnahbar den Raum, als wäre der Tolpatsch gar nicht vorhanden. Gestern abend aber wechselten wir einige Worte:

»Célestine!«

»Was wünscht Monsieur?«

»Célestine! Sie sind sehr häßlich zu mir. Warum sind Sie mir eigentlich böse?«

»Aber Monsieur ist doch überzeugt, daß ich ein Flittchen bin.«

»Aber – aber Célestine ...«

»Eine dreckige Dirne ...«

»Hören Sie – hören Sie ...«

»Eine, die ansteckende Krankheiten hat ...«

»Aber, verflucht nochmal, Célestine! In Dreiteufels Namen. Hören Sie mich doch an, Célestine – hören Sie ...«

»Scheiße ...«

Verzeihung! Das ist mir so herausgerutscht! Ich habe es satt, seine kindischen Annäherungsversuche zu belohnen.

Nichts macht mir hier Spaß. Überhaupt nichts mehr. Aber am schlimmsten ist es, daß ich mich nicht einmal mehr so richtig langweilen kann. Macht das die Landluft, die einsame Gegend oder die derbe Kost? Jedenfalls befinde ich mich in einem Stadium von Benommenheit, das auf die Dauer nicht ohne Reiz ist. Dieses Benommensein legt sich auf meine Sensibilität und dringt sogar bis zu meinen Träumen. Selbst die Launenhaftigkeit von Madame und ihr dauerndes Gekeife ertrage ich jetzt leichter! Und das Neueste? Ich sitze jetzt abends stundenlang mit Marianne und Joseph in der Küche, wir plaudern, und Joseph, dieser schrullige Kerl, geht fast gar nicht mehr aus. Er scheint recht zufrieden mit unserer Gesellschaft. Und der Gedanke, Joseph könnte vielleicht in mich verliebt sein, schmeichelt mir. Mein Gott, weit ist es mit mir gekommen! Und nachher lese ich viel. Romane und immer wieder Romane. Auch die Werke von Paul Bourget habe ich wieder vorgenommen, aber sie interessieren mich nicht mehr so wie früher. Sie langweilen mich sogar, und ich finde sie plötzlich unecht und kitschig. Sie sind Produkte einer geistigen Verfassung, die ich selbst nur zu gut kenne, da ich ähnlich empfand, als ich hingerissen und fasziniert zum erstenmal in meinem Leben mit reichen Leuten und dem Luxus in Berührung kam. Heute macht das keinen Eindruck mehr auf mich. Vielleicht steht Paul Bourget immer noch in ihrem Bann. Ach, heute wäre ich nicht mehr so kindisch, ihn um psychologische Erklärungen zu bitten. Ich weiß vielleicht besser als er, was sich hinter einer Salontür und einem Spitzenkleid verbirgt.

Nur an eines kann ich mich nicht gewöhnen: daß ich überhaupt keine Post aus Paris bekomme. Immer wenn der Briefträger morgens kommt, gibt es mir einen kleinen Stich ins Herz, weil ich mich von aller Welt verlassen und vergessen wähne. Gerade daran kann ich die Größe meiner Einsamkeit ermessen. Haben mich denn wirklich alle meine Freundinnen und auch Monsieur Jean vergessen? Warum geben sie keine Antwort auf meine verzweifelten Briefe? Habe ich sie wirklich ganz vergeblich angefleht, mich aus dieser Hölle herauszuholen und mir in Paris irgendeine, wenn auch noch so bescheidene Stelle zu verschaffen? Niemand hat mir geantwortet. Niemand. Nie hätte ich an so viel Gleichgültigkeit und Vergeßlichkeit geglaubt!

So werde ich gezwungen, mich an die Erinnerungen zu klammern, an die Vergangenheit, die für mich etwas Unverlierbares bleibt. Solche Erinnerungen lassen die Hoffnung wiederaufleben, daß für mich noch nicht alles verloren ist und daß ein zufälliger Ausrutscher noch kein unvermeidlicher Absturz sein muß. Abends in meinem Zimmer, während mir Mariannes Schnarchen im Nachbarzimmer das Hoffnungslose meiner jetzigen Lage unheimlich vor Augen führt, versuche ich das triviale Geräusch von nebenan mit dem Glanz meines früheren Glückes zuzudecken. Ich vertiefe mich so in diese Erinnerungen, daß ich das Gefühl habe, aus den einzelnen Lichtpunkten die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu nähren.

Heute, am 6. Oktober, durchlebe ich abermals einen Tag voll kostbarer Erinnerungen. Das Drama, das ich erzählen will, liegt schon fünf Jahre zurück, aber dennoch sind alle Details in mir unheimlich lebendig. In diesem Drama kommt ein Toter vor, ein armer junger Toter, ein sanftes, schönes Wesen, dem ich mit zuviel Zärtlichkeit und Liebkosungen zuviel Leben eingeflößt und das ich schließlich vollkommen zerstört habe. Das erstemal in den sechs Jahren, die er durch meine Schuld nicht mehr erleben durfte, werde ich nicht wie gewöhnlich zu seinem Grab gehen können, um ihm Blumen zu bringen. Aber statt Blumen, die ich an diesem Todestag nicht auf sein Grab legen kann, will ich aus den Erinnerungen, die mich mit ihm verbinden, einen immergrünen Strauß winden, und dieser wird länger duften als alle Friedhofsblumen, die ich sonst dem geliebten Toten auf das Fleckchen Erde streuen durfte, unter dem er schläft. Denn die Blumen aus meinem neuen Bukett werde ich eine wie die andere aus dem Garten meines Herzens holen, wo nicht nur die sterblichen Blumen der Wollust und des Bösen wachsen, sondern auch die großen reinen Lilien der Liebe ...

Es war ein Samstag, ich erinnere mich noch gut: Ich kam ins Stellenvermittlungsbüro in der Rue du Colisée, wo ich täglich morgens vorsprach, um einen Platz zu finden, und man stellte mich an diesem Tag einer alten Dame in Trauer vor. Noch nie hatte ich ein sympathischeres Gesicht, sanftere Augen und ein selbstverständlicheres Benehmen erblickt, nie zuvor freundlichere Worte vernommen. Sie kam mir mit so großer Höflichkeit entgegen, daß mir richtig warm ums Herz wurde.

»Mein Kind«, sagte sie, »Madame Paulhat-Durand (das war die Stellenvermittlerin) hat mir Ihre Person sehr eingehend geschildert. Ich glaube, daß Sie dieses Lob verdienen, denn Sie scheinen mir intelligent, offen und fröhlich zu sein, was mir sehr gefällt. Ich suche eine Vertrauensperson, jemanden, der ergeben sein kann. Sehr ergeben und zuverlässig. Ja, ja, ich weiß, daß das eine heikle Sache ist, denn Sie kennen mich kaum und haben keinen Grund, mir Opferbereitschaft zu versprechen ... Nun, ich will Ihnen erklären, in welch schwieriger Situation ich mich befinde. Aber bleiben Sie doch nicht die ganze Zeit stehen, mein Kind, kommen Sie näher, setzen Sie sich zu mir!«

Es genügt, daß man sanft zu mir spricht, daß man mich nicht wie ein Geschöpf behandelt, das ein Zwischending zwischen Hund und Papagei ist, sofort werde ich vor so einem Menschen zum Kind, ich werde weich und bin zu allem Guten fähig. Mein Groll, mein Haß, meine gefährliche Aufsässigkeit verschwinden wie durch ein Wunder, und ich empfinde für Personen, die menschlich und nicht grob wie zu einem untergeordneten Wesen zu mir sprechen, augenblicklich Zuneigung und Aufopferungsbereitschaft. Auch weiß ich aus Erfahrung, daß nur Unglückliche für die Leiden der Niedrigergestellten Verständnis aufzubringen vermögen, denn die Gutmütigkeit der Glücklichen hat oft einen beleidigenden Beigeschmack und erlaubt keine Annäherung.

Als ich neben dieser noblen, verehrungswürdigen Dame in Trauer Platz genommen hatte, begann mein Herz sofort für sie zu schlagen, es war eine Liebe auf den ersten Blick.

Sie seufzte:

»Es ist kein fröhlicher Dienst, den ich Ihnen da anbiete, mein Kind ...«

Ich protestierte mit einem gewissen Enthusiasmus, als ich ihr ernst versicherte:

»Das macht gar nichts, Madame, ich werde alles, was Sie von mir verlangen, freudig tun.«

Und ich fühlte mich wirklich, ohne Übertreibung, zu jedem Opfer fähig.

Sie dankte mir mit einem gütigen Blick und fuhr fort:

»Nun gut, hören Sie also zu: Das Leben hat mich auf eine harte Probe gestellt. Ich mußte alle meine Lieben verlieren, alle, bis auf einen Enkel, aber auch dieses teure Wesen ist vom Schicksal gezeichnet. Er leidet an derselben furchtbaren Krankheit, an der die anderen gestorben sind.«

Den Namen der furchtbaren Krankheit sprach sie nicht aus. Aber sie legte ihre alte, im Handschuh steckende schwarze Hand bedeutungsvoll auf ihre Brust und sagte mit schmerzlicher Miene:

»Mein armer Junge! Er ist ein reizendes, liebenswürdiges Kind, ein sanftes Wesen. Auf ihm ruhen meine letzten Hoffnungen, denn wenn er stürbe, bliebe ich ganz allein zurück. Und was sollte ich dann noch auf dieser Erde?«

Tränen verdunkelten ihre guten Augen, sie tupfte die kleinen Tropfen mit ihrem Taschentuch fort.

»Die Ärzte versicherten mir, er wäre zu retten, wenn er sich einer Kur unterzöge, von der man sich zur Zeit viel verspricht. Er soll jeden Nachmittag ein kurzes Bad im Meerwasser nehmen, aber nur im Beisein einer Begleitung. Dann muß er kräftig mit einem rauhen Waschhandschuh frottiert werden, um den Blutkreislauf anzuregen. Dann soll oder darf er ein Glas alten Portwein trinken, anschließend daran muß er eine Stunde lang in einem vorgewärmten Bett ruhen. Von Ihnen, mein Kind, erhoffe ich mir vor allem die Überwachung dieser Kur, aber, verstehen Sie, er braucht auch Jugend, er braucht Heiterkeit, Wärme, pulsierendes Leben. Gerade das fehlt ihm bei mir. Ich habe zwei sehr ergebene Diener, aber auch sie sind alt, traurig und schon ein wenig wunderlich. Georges kann sie nicht leiden. Ich fühlte oft deutlich, daß selbst ich ihn mit meinem weißen Haar und meiner ewigen Trauerkleidung bedrücke. Und das schlimmste ist, ich kann ihm meine Besorgnis kaum verbergen. Ach, ich weiß, daß es eigentlich nicht schicklich ist, einem so jungen Kranken eine junge Pflegerin zu geben. Georges ist erst neunzehn Jahre alt! Fast noch ein halbes Kind. Sicher wird man überall darüber sprechen, aber die Leute interessieren mich nicht, ich kümmere mich nur um meinen kleinen Kranken. Ich habe Vertrauen zu Ihnen. Sie sind ein ehrenhaftes Mädchen, nicht wahr, und Sie möchten mir helfen?«

»Wahrhaftig, Madame«, rief ich, »ich meine es gut«, sogleich überzeugt, eine Art Heilige zu sein, die diese unglückliche Großmutter für die Rettung ihres Enkels suchte.

»Und er, der arme Kleine ... Mein Gott, in seinem Zustand! Und bei seiner Jugend! Sehen Sie, die Meerbäder allein sind es nicht, ich fühle nur zu gut, er braucht vielleicht noch viel dringender ein hübsches Gesicht, dessen ständige Gegenwart ihn aufheitert, er braucht ein frohes, junges Lachen, das ihm die Gedanken an den Tod verscheucht und neuen Lebenswillen einflößt. Nun? Wollen Sie?«

»Gern, sehr gern, Madame«, sagte ich, »und Madame darf versichert sein, daß ich Monsieur Georges gut pflegen will!«

Wir kamen also überein, daß ich noch am selben Tag meine Stellung antreten sollte und daß wir übermorgen nach Houlgate reisen würden, wo Madame eine schöne Villa am Strand gemietet hatte.

Die Großmutter hatte nichts beschönigt. Monsieur Georges war in der Tat ein liebenswürdiges, reizendes Kind. Sein bartloses Gesicht wirkte wie das Antlitz einer schönen Frau, weibisch waren auch seine weichen Bewegungen und die feinen, schmalen Hände, auf deren Haut die bläulichen Adern durchschimmerten. Und wie leuchtend waren seine Augen! Unter den dünnen bläulichen Lidern brannte ein dunkler, glühender Blick. Seine Gedanken, seine Leidenschaften, seine Intelligenz und seine Phantasie zeichneten sich durch eine beängstigende Intensität aus. Schon blühten die roten Todesblumen auf seinen Wangen, aber ich hatte das Gefühl, als werde er nicht an seiner Krankheit sterben, sondern an einem flackernden Lebensfieber, das in seinem Organismus wütete und sein Fleisch verbrannte. Wie schön und traurig war es, dieses Schauspiel mit anzusehen! Er lag auf einer Chaiselongue, als mich die Großmutter zu ihm führte, und er hielt in seiner zarten, weißen Hand eine duftlose Rose. Er begrüßte mich nicht wie eine Angestellte, eher wie eine Freundin, die er erwartet hatte.

Von diesem ersten Augenblick an hing ich an ihm mit allen Kräften meiner Seele.

Reise und Übersiedlung nach Houlgate vollzogen sich ohne Zwischenfall. Alles war vorbereitet als wir eintrafen, wir brauchten nur von dem Haus Besitz zu ergreifen, von diesem schönen hellen Heim, das vom Strand nur durch eine Terrasse mit Rohrfauteuils und bunten Schattenspendern getrennt war. Zum Meer führte eine in den Damm eingebaute Steintreppe hinab, deren Stufen bei Flut von den Wellen umspült wurden. Monsieur Georges' Zimmer lag im Erdgeschoß, seine großen Fenster gaben einen herrlichen Ausblick auf die Bucht frei. Auf der anderen Seite des Flures lag mein Wohnraum, ein Herrschaftszimmer, ganz mit hellem Kreton tapeziert, und direkt gegenüber dem Eingang zu Monsieur Georges' Zimmer. Ich hatte die Aussicht auf ein Gärtchen, in dem einige schüttere Farne und ein paar magere Rosenstöcke blühten. Ich hätte mit Worten meine Freude, meine Rührung, meinen Stolz nicht ausdrücken können, so sehr berauschte mich das Glück, wie eine Dame behandelt und untergebracht zu werden, zu Reichtum, Luxus und Wohlleben dazuzugehören, im Kreis einer Familie aufgenommen zu sein. Nie hatte ich das Gefühl von Nestwärme gekannt. Ich kann mir einfach nicht erklären, daß, wie durch Berührung mit einem Zauberstab einer gütigen Fee, plötzlich alle erlittenen Demütigungen und traurigen Erfahrungen wie fortgewischt waren. Die Zauberin Güte hatte mein Leben verklärt, ich durfte endlich ein Mensch sein, gleichgestellt den Menschen, mit denen ich lebte. Bald sagte mir mein Spiegel, daß ich nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich eine andere geworden war, ich kam mir mit einemmal schöner vor, und mein Herz sagte mir, daß mir wirklich eine wunderbare Verwandlung zuteil geworden sei. In mir sprudelten jetzt unversiegbare Quellen, ich lernte plötzlich das Gefühl der Opferbereitschaft kennen und zitterte vor Ergebenheit. Ich hatte nur noch einen Wunsch, Monsieur Georges mit meiner Pflege, Besorgnis und einer magischen Selbstlosigkeit dem Tode zu entreißen, die wunderbaren Quellen sprudelten, sprudelten ohne Unterlaß. Aufmerksam, treu und selbstlos wollte ich meine Aufgabe erfüllen.

Ich glaubte unerschütterlich an die Kraft meiner Therapie und versicherte der armen Großmutter immer von neuem, wenn sie stundenlang verzweifelt im Nachbarzimmer weinte:

»Weinen Sie nicht, Madame – wir werden ihn retten ... Ich schwöre Ihnen, daß er gerettet werden wird!«

Und wahrhaftig, schon nach vierzehn Tagen fühlte sich Monsieur Georges bedeutend besser. Eine wunderbare Veränderung war in seinem Befinden eingetreten. Die krampfhaften Hustenanfälle ließen nach, Schlaf und Appetit normalisierten sich. Die schrecklichen nächtlichen Schweißausbrüche, die ihn bis zur völligen Erschöpfung quälten, wurden seltener. Seine Kräfte kehrten zurück, so daß wir lange Wagenfahrten unternehmen konnten, zuweilen auch kleinere Spaziergänge zu Fuß. Er schien davon nicht im geringsten überanstrengt. Diese plötzliche Genesung machte den Eindruck einer Auferstehung.

Das Wetter blieb herrlich, die Luft ziemlich warm, aber durch die leichte Brise immer temperiert. An Tagen, da wir nicht ausgingen oder mit dem Wagen durch die Gegend fuhren, verbrachten wir die längste Zeit auf der Terrasse unter der Markise, bis zur Stunde für das tägliche Bad, das Georges »Tauchfest im Meer« nannte. Fast nie sprach er von seiner Krankheit, er schien heiter, und ich glaube fest, daß er damals auch nicht an den Tod gedacht hat. Mein Geplauder machte ihm viel Spaß, immer wieder forderte er mich auf zu schwatzen, und ich, angeregt von seinen bettelnden Blicken, ermuntert durch seine Liebenswürdigkeit, plauderte von allem, was mir gerade durch den Kopf ging, Späße, närrische Einfälle, oder ich sang Lieder, die ihm gefielen. Ich sprach offen zu ihm von meinen Träumen, von meinen traurigen Erfahrungen, von meinen Wünschen, ich beschönigte nichts, schilderte ihm meine früheren Stellungen, bei widerlichen oder bei komischen Leuten, ich beichtete ihm alles, wie es wirklich gewesen war, und er, mit dem Ahnungsvermögen der unheilbar Kranken, brachte Verständnis dafür auf, er, der noch so jung, so unerfahren war und die Welt der Gesunden überhaupt nicht kannte.

Eine seltsame, aber echte Freundschaft bahnte sich zwischen uns an, die von seiner Einsamkeit und Veranlagung begünstigt und durch die Intimität der Pflege und meine ständige Anwesenheit ohne unser Dazutun von selbst immer inniger wurde. Dieser dauernde Kontakt mit seinem aufgeschlossenen Geist verfeinerte mein Wesen und erweckte in mir den Wunsch, mich ihm anzupassen, und erhöhte meine Aufmerksamkeit für andere Dinge. Unsere Beziehung machte mich sehr glücklich, sie entfachte in mir eine wahre Leidenschaft, dem Todkranken bis zur Selbstentäußerung zu dienen.

Monsieur Georges liebte Gedichte. Er betete die Werke der Lyriker an. Tagsüber auf der Terrasse beim rastlosen Rauschen des Meeres oder abends in seinem Zimmer bat er mich, ihm vorzulesen. Victor Hugo, Baudelaire, Verlaine, Maeterlinck. Zuweilen schloß er die Augen und lag vollkommen still, die Hände auf der Brust gekreuzt, und ich meinte, er sei eingeschlafen und hörte mit dem Lesen auf. Er aber bat lächelnd:

»Lies weiter, Kleine – ich schlafe nicht. Aber so höre ich dir besser zu. Du hast eine angenehme Stimme ...«

Manchmal war er es, der mich unterbrach. Nachdem er sich ein bißchen erholt hatte, fing er an, langsam und sehr ausdrucksvoll jene Verse aus dem Gedächtnis vorzutragen, die ihn am meisten begeistert hatten. Und er versuchte – oh! wie liebte ich ihn dafür – mir die Schönheit der Gedichte verständlicher zu machen.

Eines Tages sagte er etwas zu mir, das ich für alle Zeiten wie eine Reliquie in meinem Gedächtnis bewahrte:

»Weißt du, was an der Dichtung so herrlich ist? Um einen Dichter zu verstehen, braucht man kein Gelehrter zu sein. Im Gegenteil ... Die Mehrzahl der Gelehrten verstehen sie gar nicht, einfach weil sie selbst viel zu eingebildet sind. Sie sehen verächtlich darauf herab. Um Gedichte zu lieben, braucht man nur eine Seele zu haben – eine kleine, unberührte Seele, wie eine Blume ... Dichter sprechen zu den Seelen, vor allem zu den Seelen der Einfachen, der Armen, der Traurigen, der Kranken ... Und darum sind sie unsterblich ... Du mußt wissen, mein Kind, daß ein sensibler Mensch gleichzeitig auch ein bißchen Dichter ist. Und du selbst, meine kleine Célestine, hast öfters Dinge zu mir gesagt, die schön waren wie die Verse eines Gedichtes ...«

»Oh! ... Monsieur Georges ... Sie scherzen ...«

»Durchaus nicht! Nur weißt du selbst nicht einmal, daß du mir schöne Dinge gesagt hast. Das ist ja gerade das Köstliche!«

Das wurden für mich unvergleichliche Stunden. Was immer auch mir im Leben geschehen mag, sie werden mein Herz verzaubern, solange ich atme. Ich erlebte die seltsamste und erregendste Verwandlung an mir selbst: ein neuer Mensch zu werden, zuzusehen, wie Stück für Stück von etwas Unbekanntem in mir auferstand, und daß dieses veränderte Geschöpf ich war. Auch heute, nach allen Erniedrigungen, nach allem Bösen, das wieder Böses in mir erweckte und mich beherrschte, bewahre ich mir die Liebe zur Dichtkunst und die Sehnsucht nach einem Aufstieg aus meinem niederen Milieu. Nur dieses Vertrauen zum besseren Teil meines Ichs hat mich ermutigt, dieses Tagebuch zu schreiben, und das alles ist ein Werk von Monsieur Georges.

Ach ja! ... Ich war glücklich – glücklich, daß mein kleiner Patient nach und nach zu gesunden schien, vor allem aber war ich dankbar und glücklich, weil er, wie mit neuem Leben erfüllt, an Gewicht zunahm und seine Wangen in gesunder Farbe blühten. Glücklich auch über die Freude und die Hoffnung, die diese überraschende Besserung im ganzen Haus hervorrief. Mir, der kleinen Königin und Fee dieser liebenswerten Familie, meiner Fröhlichkeit, meiner Jugend, meiner sorgsamen Pflege und meinem unbeschreiblichen Einfluß auf den Kranken schrieb man dieses Wunder zu. Und die arme Großmutter? Sie überhäufte mich mit Dankbarkeit, Segnungen und Geschenken. Manchmal behandelte sie mich wie eine gesunde Amme, der man ein beinahe totes Kind anvertraut und die mit ihrer Milch und ihrer Kraft die kranken Organe geheilt, ihm das Lächeln und das Leben wiedergeschenkt hat.

Zuweilen vergaß diese noble Frau ihren Rang, dann nahm sie meine Hände, streichelte sie und küßte sie und versicherte mir unter Tränen:

»Ich wußte es ja, ich wußte es – gleich damals, als ich Sie zum erstenmal sah, wußte ich es!«

Und schon wurden Pläne geschmiedet ... Reisen nach dem Süden ... Zur ewigen Sonne, wo immer Rosen blühen ...

»Sie dürfen uns niemals verlassen, mein Kind, niemals!«

Ihre Überschwenglichkeit war mir manchmal peinlich, aber schließlich glaubte ich selbst, daß ich diesen Enthusiasmus verdiente. Falls ich, wie viele andere an meiner Stelle es vielleicht getan hätten, ihre Großmut ausgenützt hätte ... Oh! Das hätte ich mir bestimmt nie verziehen!

Aber an einem Tag geschah, was geschehen mußte.

Wir hatten es sehr heiß und schwül, typische Gewitterluft. Über dem glatten, unheimlich grauen Meer ballte der Himmel dicke Wolken zusammen, schwarze Wolken mit rotgelben Rändern, doch das Unwetter kam nicht zum Ausbruch. Monsieur Georges wollte nicht ausgehen, nicht einmal auf die Terrasse, und so waren wir in seinem Zimmer geblieben. Die spannungsgeladene Atmosphäre lastete auf ihm, er war nervöser als sonst, und als ich ihm anbot, Gedichte vorzulesen, sagte er zu mir:

»Das würde mich heute ermüden. Überdies fühle ich, daß du heute bestimmt schlecht lesen würdest.«

Er ging in den Salon hinüber, wo er ein wenig auf dem Klavier präludierte. Aber auch das Klavier machte ihn heute nervös, und er kam sofort wieder ins Zimmer zurück und glaubte, der Ausblick auf das Meer würde ihn zerstreuen. Tatsächlich sah man in der Ferne Fischerboote, die sich vor dem drohenden Sturm in Sicherheit bringen wollten, er nahm Bleistift und Papier und versuchte an meiner Seite die Umrisse einiger Frauen, die auf dem Kai zu sehen waren, zu skizzieren. Aber bald darauf schob er Papier und Bleistift beiseite und sagte mißgelaunt:

»Ich kann nicht ich bin nicht in der Stimmung. Meine Hand zittert. Ich weiß nicht, was das ist ...«

Schließlich ging er zu seiner Chaiselongue, die unter dem großen Fenster stand, dort streckte er sich aus und starrte in die endlose Weite. Es war ihm also nicht verborgen geblieben, daß auch ich sehr unruhig war. Ich ging von einem Platz zum anderen und zermarterte mein Hirn, um eine Ablenkung für ihn zu finden. In meiner Nervosität fiel mir nichts Gescheiteres ein, als ihn zu fragen:

»Wären Sie nicht auch lieber draußen bei den kleinen Segelschiffen? Mir würde es Spaß machen.«

Er runzelte die Brauen:

»Du sprichst heute nur, um irgend etwas zu sagen. Wozu? Setz dich lieber still zu mir.«

Da ging ich zu ihm ans Fenster, aber kaum war ich dort, wurde ihm der Ausblick auf das Meer unerträglich, ich mußte die Vorhänge zuziehen.

»Dieses Zwielicht macht mich ganz kribbelig. Das Meer ist heute schrecklich. Ich will es nicht mehr sehen. Alles ist heute schrecklich. Ich will das Meer, ich will überhaupt nichts mehr sehen, nur dich – dich will ich sehen ...«

Unwillkürlich wies ich ihn ein bißchen zurecht:

»Monsieur Georges, Sie sind heute nicht brav – es schadet Ihnen. Wenn Ihre Großmutter Sie so sähe – in diesem Zustand ... Sie würde weinen.«

Er richtete sich in seinen Kissen auf.

»Warum nennst du mich eigentlich dauernd Monsieur Georges? Du weißt ganz gut, daß mir das nicht gefällt.«

»Ich kann Sie unmöglich Monsieur Gaston nennen.«

»Warum sagst du nicht einfach Georges zu mir – du Schlimme!«

»Das könnte ich niemals – niemals brächte ich das fertig.«

Da seufzte er:

»Komisch! Du willst also immer eine arme kleine Sklavin bleiben?«

Dann schwieg er. Den Rest des Tages verbrachten wir beide schweigend, was unsere Nervosität nur noch erhöhte. Erst nach dem Abendessen ging das Gewitter nieder. Endlich! Der Sturm hatte sich erhoben, und das Meer rollte in dumpfen Schlägen gegen das Ufer. Monsieur Georges wollte sich nicht hinlegen. Er fühlte, daß er während des Gewitters nicht schlafen würde, und fürchtete sich vor der langen Nacht. Er suchte wieder die Chaiselongue auf, und ich saß beim Schein einer sanften rosigen Lampe bei Tisch. Das Licht im Zimmer war weich und verführerisch. Wir sprachen nicht. Obgleich seine Augen an diesem Abend intensiver leuchteten, schien mir Monsieur Georges ruhiger. Der Widerschein des rosigen Lampenschirmes belebte sein feines, reizendes Gesicht. Ich war mit einer Näherei beschäftigt.

Mit einemmal sagte er:

»Laß doch deine Arbeit endlich ruhen, Célestine, und setz dich zu mir.«

Meist nahm ich Rücksicht auf seine Launen und Ideen. Wenn er mich plötzlich so freundschaftlich zu sich rief, wollte er mir sicher spontan auf irgendeine Weise seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Ich gehorchte, wie so oft schon.

»Komm näher – noch näher, bitte«, bat er, und dann: »Gib mir deine Hand!«

Ich überließ sie ihm ohne Argwohn. Er begann sie zu streicheln.

»Wie hübsch sind deine Hände! Wie schön sind deine Augen! Überhaupt, es ist alles so hübsch an dir – alles alles …«

Noch nie hatte er so zu mir gesprochen, keinesfalls von meinem Aussehen, immer lobte er nur meine Güte. Betroffen und geschmeichelt wich ich unwillkürlich etwas zurück.

»Nein, nein, geh nicht fort. Bleib bei mir, nahe, ganz nahe. Du ahnst ja nicht, wie wohl es mir tut, wenn ich dich dicht bei mir fühle, Wie deine Nähe mich erwärmt. Siehst du, jetzt bin ich nicht mehr nervös, nicht mehr unruhig ... Und nicht mehr krank. Ich bin zufrieden … Ich bin glücklich – sehr, sehr glücklich.«

Behutsam umfaßte er meine Taille und zog mich dicht zu sich auf die Chaiselongue. Er fragte:

»Sitzt du gut so?«

Ich fühlte mich nicht behaglich.

In seinen Augen brannte ein Feuer, und seine Stimme – seine Stimme zitterte ... Du lieber Gott, wie ich dieses Zittern einer Männerstimme kenne! Es ist die brennende Begierde nach der Frau ... Ich geriet ganz durcheinander, alles drehte sich um mich. Ich wurde schwach, sehr schwach sogar. Dennoch hatte ich noch die feste Absicht, mich gegen Monsieur Georges zu wehren, und vor allem wollte ich ihn auch gegen sich selbst schützen. Darum antwortete ich ganz oberflächlich, fast scherzhaft:

»Nein, Monsieur Georges, an diesem Platz fühle ich mich gar nicht wohl in meiner Haut. Bitte, lassen Sie mich aufstehen!«

Seine Arme umschlossen mich nur noch fester.

»Nein, bitte bleibe, sei doch lieb zu mir!«

Und mit einer Stimme, deren Schmeichelton ich nicht wiedergeben könnte, fügte er hinzu:

»Oh, hast du vielleicht Angst? Wovor hast du Angst?«

Mit diesen Worten näherte er sein Gesicht dem meinen, sein Atem wehte mich an. Plötzlich umhüllte mich Todeshauch und ein Duft wie Weihrauch. Da packte mich eine wahnwitzige Angst, und ich rief entsetzt:

»Monsieur Georges! Lassen Sie mich los. Diese Aufregung wird Sie wieder krank machen! Ich flehe Sie an, lassen Sie mich los ...«

Rücksicht nehmend auf seine Schwäche, wagte ich nicht, mich energisch zu wehren, nur ganz vorsichtig versuchte ich seine Hand zurückzuschieben, die kindlich unsicher, aber fieberhaft ungeduldig an meiner Bluse herumtastete, um meine Brüste freizulegen. Ich flehte:

»Um Gottes willen lassen Sie mich, Monsieur Georges! Was Sie da tun, gehört sich nicht – es ist schlecht für Sie.«

Seine Versuche, mich an sich zu drücken, hatten ihn schon ermüdet. Die Umklammerung seiner Arme lockerte sich. Er kämpfte mit Atemnot. Dann erschütterte ein trockener Hustenanfall seine Brust.

»Ach, ich habe Sie gewarnt«, sagte ich mütterlich-vorwurfsvoll, »aber Sie hörten nicht! Sie machen sich wieder krank, alles war umsonst. Jetzt müssen wir wieder von vorne beginnen, und Sie hatten schon so schöne Fortschritte gemacht. Bitte, seien Sie doch vernünftig! Und wenn Sie sehr lieb wären, dann würden Sie jetzt gleich zu Bett gehen.«

Er zog seine Hand zurück, streckte sich gehorsam auf die Chaiselongue aus. Ich ordnete die verrutschten Kissen, und während ich sie unter seinen Kopf schob, sagte er traurig:

»Du hast vielleicht recht. Bitte, verzeih mir.«

»Sie brauchen mich nicht um Verzeihung zu bitten, Monsieur Georges, aber Sie müssen sich ruhig verhalten.«

»Ja«, sagte er und blickte zum Plafond hinauf, wo der Lampenschirm in der Zugluft einen runden, schwingenden Schatten malte, »ich war verrückt, auch nur einen Moment zu glauben, du könntest mich lieben – mich, der noch niemals geliebt hat, der niemals anderes kennen wird als Schmerzen. Warum solltest du mich lieben? Und doch fühlte ich mich bereits gesünder, als ich anfing, dich liebzuhaben. Seit du da bist – seit ich dich und deine Jugendfrische begehre. Ach, du, mit deinen schönen Augen, deinen kleinen, weichen Händen, deren Berührung wie ein süßes Streicheln ist! Seit du bei mir bist, träume ich nur von dir. Das machte mich gesünder. Du wecktest in meiner Seele und in meinem Körper neue Kräfte – ein unbekanntes, wunderbares Leben pulste mit einemmal in mir. Das heißt, bis vorhin. Aber jetzt nicht mehr. Was willst du? Ich war verrückt. Und du – du hast ja so recht ...«

Ich war sehr verwirrt und wußte darauf nichts zu erwidern, nichts zu tun. Die widersprechendsten Gefühle durchtobten mich. Ein wunderbarer seelischer Schwung trieb mich in seine Arme, aber eine heilige Scheu hielt mich auch wieder davor zurück. Da ich in diesem Widerstreit von Pflicht und Gefühl kopflos geworden war und in einem solchen Kampf ungleicher Kräfte kaum bestehen konnte, stotterte ich:

»Georges, Georges, seien Sie artig – denken Sie nicht an so schlimme Sachen. Es wird Ihnen schaden. Seien Sie doch vernünftig, Georges!«

Aber er wiederholte:

»Warum solltest du mich lieben? ... Du hast recht, mich nicht zu lieben ... Du glaubst, ich sei krank ... Du meinst, dein Mund könnte durch meinen vergifteten Atem verseucht werden ... Du fürchtest dich, durch einen einzigen Kuß meine Todeskrankheit in dich aufzunehmen … Und du hast recht.«

Seine Worte waren grausam und ungerecht und trafen mich tief ins Herz.

»Das sollten Sie nicht sagen, Monsieur Georges«, rief ich gequält, »es ist grausam und böse, was Sie da sagen, und Sie tun mir damit sehr, sehr weh – zu sehr weh ...«

Ich nahm seine Hände. Sie waren feucht und brennend heiß. Ich neigte mich über ihn. Sein Atem war glühender Hauch.

»Das war abscheulich – abscheulich!« sagte ich vorwurfsvoll.

Er fuhr fort:

»Ein Kuß von dir – das wäre für mich die Auferstehung ... Mein Wiederanschluß an das Leben. Ach! Hast du denn ernstlich an die Wirkung der Bäder, an das Glas Portwein und an deinen Frottierhandschuh geglaubt? Arme Kleine! In der Liebe zu dir habe ich gebadet, den Wein der Liebe habe ich getrunken, die Liebe zu dir, deine Nähe brachte mein müdes Blut unter meiner Haut in Wallung. Diesen einzigen Kuß von dir habe ich so sehnlichst erwartet, dieser Wunsch und diese Hoffnung haben mich neu belebt. Ich bin wieder stark – aber ich bin dir nicht gram, wenn du mir diesen Kuß verweigerst. Du hast recht, daß du ihn mir verweigerst. Das alles verstehe ich recht gut ... Du bist eine kleine ängstliche Seele – ein feiges, scheues Vögelchen, das einmal da, einmal dort auf einem Zweiglein singt und beim geringsten Geräusch flieht!«

Ich wiederholte:

»Was Sie da sagen, klingt abscheulich, wirklich abscheulich.«

Aber er sprach weiter, obwohl ich verzweifelt die Hände gefaltet hatte:

»Warum abscheulich? Es ist durchaus nicht abscheulich – es ist wahr. Du hältst mich für krank – du hältst meine Liebe für eine Krankheit. Du weißt noch nicht, daß Liebe Leben bedeuten kann – ewiges Leben ... Ja, ja, ich verstehe dich so gut: du glaubst, ein Kuß, der für mich das Leben wäre, bedeutete für dich den Tod ... Reden wir nicht mehr darüber ...«

Ich hatte genug, ich wollte, ich konnte es nicht länger mit anhören. War es bloß Mitleid oder die Wirkung seiner anklagenden Worte, die mich jetzt herausforderten, oder einfach spontan aufflammende Zuneigung? Vielleicht war es alles in einem, egal. Der Effekt: ich ließ mich jählings zu ihm auf die Chaiselongue sinken, umfaßte mit meinen Händen das liebe Haupt dieses schönen Kindes und rief:

»Da, da hast du meine Angst. Ich schenke sie dir ...«

Und dann küßte ich ihn mit solcher Heftigkeit, daß unsere Zähne aneinanderstießen. Ich hätte mit meiner Zunge bis in die Tiefe seiner Brust vordringen wollen, um alles Vergiftete, alles Tödliche herauszuholen. Seine Arme öffneten sich und umschlossen mich.

Und was geschehen mußte, geschah.

Oder doch nicht? Je öfter ich darüber nachdenke, desto gewisser bin ich, daß das, was mich so vehement in seine Arme trieb und meine Lippen so wild auf die seinen preßte, zugleich Protest gegen seine – vielleicht sogar berechneten – Anschuldigungen war, die er meiner Motivierung, warum ich ihn nicht küssen wollte, unterschoben hatte, aber auch der selbstlose Wunsch, ihm zu beweisen:

»Ich glaube nicht an deine Krankheit, nein, du bist nicht krank. Ich zögere nicht länger, deinen Atem mit meinem zu mischen, ihn einzusaugen, ihn zu trinken, denn, täte ich das, wenn er wirklich tödlich wäre und mein Fleisch verpestete? Ach, ich will nicht, daß dich diese absurde Idee verfolgt, ich fürchtete mich, angesteckt zu werden und zu sterben ...«

Ich hatte dabei nicht überlegt, was als natürliche Reaktion auf meinen Kuß folgen mußte. Ich hätte aus Erfahrung wissen müssen, daß ich nicht die Kraft hatte, mich aus den Armen eines Geliebten zu befreien, meine Lippen von den seinen loszureißen. So bin ich eben geschaffen. So und nicht anders. Wenn mich ein Mann in den Armen hält, beginnt meine Haut zu brennen, und mein Kopf dreht sich ... Ich werde wie trunken. Ich werde verrückt. Ich werde wild. Ich habe keinen anderen Willen mehr als die Befriedigung meiner Gier. Ich sehe nur noch sie, denke nur noch an sie und lasse mich von ihr treiben, von ihr beherrschen, hilflos, demütig, hemmungslos treiben – bis zum Verbrechen.

Ach, dieser erste Kuß von Monsieur Georges! Diese süßen, ungeschickten Liebkosungen, diese kindliche Leidenschaft seiner Umarmungen. Wie dankbar seine Augen leuchteten, als ich ihm das Geheimnis der Liebe und des Weibes entschleierte. Mit diesem ersten Kuß gab ich mich ihm ganz, mit jener Selbstvergessenheit, die nichts von Berechnung weiß, mit jener erfinderischen weiblichen Wollust, die aus den stärksten Männern Sklaven macht, die um Gnade betteln. Aber als ich aus diesem Taumel erwachte und den zarten, mühsam atmenden Jungen halb leblos in meinen Armen erblickte, empfand ich namenlosen Schrecken, ich kam mir plötzlich wie eine Mörderin vor, und mein Herz schlug dumpf vor Reue und Entsetzen.

»Monsieur Georges – Monsieur Georges! Was habe ich Ihnen getan. Ach, armer Kleiner!«

Aber er schmiegte sich wie eine anmutige kleine Katze voll Vertrauen und Dankbarkeit wieder in meine Arme. Als suchte er bei mir Schutz. Und mit verklärten Augen gestand er mir:

»Ich bin glücklich – jetzt kann ich sterben.«

Als ich meine Schwäche verfluchte, wiederholte er immer wieder, wie glücklich er sei:

»Bleib heute nacht bei mir! Verlaß mich nicht! Allein könnte ich mein großes, berauschendes Glück kaum ertragen …«

Während ich ihm beim Zubettgehen half, kam ein Hustenanfall. Glücklicherweise dauerte er nur kurz, aber mir schnitt er ins Herz. War das wirklich unvermeidlich gewesen? Durfte ich, nachdem ich seinen Gesundheitszustand durch meine Pflege verbessert hatte, durfte ich ihn jetzt mit meiner Liebe töten? Ich konnte kaum meine Tränen zurückhalten. Ich haßte mich und meine Schwäche.

»Oh, es ist nichts – nichts«, sagte er lächelnd, »warum bist du verzweifelt, wenn ich glücklich bin? Übrigens bin ich ja gar nicht mehr krank, und bald wirst du sehen, wie gut ich in deinen Armen schlafen werde, als wäre ich dein kleines Kind, meinen Kopf zwischen deinen Brüsten ...«

»Und wenn Ihre Großmutter heute nacht nach mir klingelt, Monsieur Georges?«

»Aber nein – aber nein ... Großmutter wird nicht läuten. Laß mich bei dir schlafen, bitte!«

Es ist merkwürdig, Kranke haben einen oft mehr in der Gewalt als andere Menschen, stärker als Gesunde. Von ihnen geht, und das macht ihre Krankheit so geheimnisvoll, eine unerklärliche erotische Ausstrahlung aus. Vielleicht macht das die Todesnähe an ihren luxuriösen Betten, sie schafft da eine Atmosphäre, die verzaubernd wirkt. Dieser unvergeßlichen tragischen Nacht folgten vierzehn Tage, die wir in einem pausenlosen Rausch verlebten, der unsere Körper und unsere Herzen wie in einer ewigen Umarmung vereinigte. Als wollten wir wie gehetzt verlorene Zeit einholen, ohne Pause diese Liebe ausschöpfen, da wir sie vom unabwendbaren Tod bedroht wußten.

»Mehr – noch mehr – mehr ...«

Ich war nicht mehr dieselbe. Ich war ausgetauscht, total verändert. Ich empfand weder Reue noch Gewissensbisse. Wenn die Kräfte den armen Jungen verließen, erfand ich immer neue, raffiniertere Liebkosungen, um sie wieder zu beleben, und so verglühte sein Leben unaufhaltsam, aber für ihn ohne spürbaren Verfall, im Brennspiegel meiner Küsse.

»Noch – noch – noch mehr!«

Meine Küsse brachten ihm Tod und Verderben. Er verfiel. Seine Hustenanfälle wurden häufiger. Meine Liebe zu Georges grenzte jetzt ans Verbrecherische. Ich wußte, daß ich ihn tötete, aber ich war auch selbst entschlossen zu sterben Sein Glück war das meine, sein Tod mein Ende. Ich trank den Tod, den ich ihm gab, von seinen Lippen. Ich wollte mich vernichten, wie ich ihn vernichtete. Er hustete Blut, ich küßte die roten Spuren von seinem Mund ...

»Gib – gib – gib ...«

Meine mörderische Gier stillte ich an blutigen Lippen. Georges magerte ab. Sein zartes Knochengerippe wurde täglich sichtbarer. Sein Fleisch wurde transparent. Die Anfälle mit blutigem Auswurf wurden bedrohlicher, oft hing er ohnmächtig in meinen Armen, einmal lag er wie ein Toter eine Weile in seinen Kissen. Und das Glück, die Freude, die ich ins Haus gebracht hatte, zerstob. Alles verwandelte sich wieder in Trauer, Trostlosigkeit breitete sich über alles aus. Die Großmutter verbrachte wieder Stunden um Stunden im Salon, sie weinte, betete und horchte ängstlich auf jedes Geräusch aus dem Nebenzimmer. Sie preßte das Ohr an die Tür, die sie von ihrem Enkelkind trennte, und lebte in ständiger Angst, im nächsten Augenblick könnte der Todesschrei ertönen und damit das Ende dessen bringen, was ihr auf Erden verblieben war. Sobald ich aus dem Zimmer kam, folgte sie mir seufzend und schluchzend auf Schritt und Tritt durchs Haus.

»Mein Gott, warum? Warum? Und was ist denn eigentlich geschehen?«

Aber sie sorgte sich zugleich um mich und meinte:

»Aber auch Sie sind in Gefahr, arme Kleine, Sie richten sich zugrunde, Sie können einfach nicht Nacht für Nacht bei Georges wachen. Ich werde eine Schwester herkommen lassen, die Sie unterstützt.«

Aber ich lehnte ab. Ich brauchte keine Ablösung. Da verdoppelte sie ihre Sorge um mich, ich wurde verwöhnt, ich wußte wohl, man glaubte, ich könne nach dem ersten Wunder auch noch ein zweites vollbringen. War das nicht schrecklich? Gerade ich war ihre letzte Hoffnung.

Man rief Ärzte aus Paris, die sich absolut nicht erklären konnten, wieso diese Krankheit einen derart rapiden Verlauf nahm. Nicht einen Moment lang dachten sie oder sonst jemand an die wahren Gründe des beschleunigten Verfalls. Ihre Behandlung erschöpfte sich darin, beruhigende Mittel zu verschreiben.

Alle waren ratlos und niedergeschlagen, einzig und allein Monsieur Georges blieb fröhlich und behauptete, glücklich zu sein. Er sprach eigentlich nur, wenn er mir seine Freude und seine Dankbarkeit für das empfangene Glück bezeugen wollte. Er beklagte sich nie. Sogar nach den schwersten Anfällen versicherte er mir, wenn wir abends allein in seinem Zimmer waren:

»Ich bin glücklich. Warum verbohrst du dich in eine solche Verzweiflung? Deine Tränen, und nur sie, beeinträchtigen mein Glück. Ist der Tod der Preis für die Seligkeit, die du mir gegeben hast? Ich versichere dir, ich war verloren, schon als du kamst, nichts hätte mich retten können. Nur du – du hast mein Leben verschönt, und darum schenkst du mir ein glückliches Ende. Bitte, weine nicht, kleiner Liebling, weine nicht ... Ich bete dich an – und ich danke dir für alles.«

Der Rausch war verflogen. Ich geriet in einen unsäglichen Ekel vor mir selbst. Mein Verbrechen erfüllte mich mit Abscheu. Mir blieb nur die Hoffnung, mich angesteckt zu haben und mit ihm zu sterben, zur selben Zeit. Mein Abscheu vor mir selbst nahm in einem Maße zu, daß ich fürchtete, in den Abgrund des Irrsinns zu stürzen, wenn Monsieur Georges mich mit todesmatten Armen an sich zog, um unaufhörlich das zu verlangen, was zu versagen ich weder den Mut noch das Recht besaß, wollte ich nicht ein ärgeres Verbrechen auf mich laden.

»Noch einmal deinen Mund ... Noch einmal deine Augen ... Noch einmal deine Lust!«

Aber er hatte nicht mehr die Kraft, die Erregung der Umarmungen zu ertragen. Meist wurde er in meinen Armen ohnmächtig.

Und was geschehen mußte, geschah.

Wir befanden uns im Monat Oktober, genau am 6. Oktober sollte es geschehen. Wir hatten in diesem Jahr einen milden, warmen Herbst. Daher rieten die Ärzte, den Aufenthalt des Kranken am Meer zu verlängern, bis man wagen durfte, ihn in den Süden zu transportieren. An diesem 6. Oktober war Monsieur Georges viel ruhiger als sonst in der letzten Zeit. Ich hatte das große Fenster weit geöffnet und schob die Chaiselongue dicht heran. Er ruhte auf ihr, in warme Decken gehüllt, und atmete mit sichtlichem Behagen die jodhaltigen Emanationen des Meeres ein, er genoß die sanfte Brise, die zu uns ins Zimmer wehte, und der Ausblick auf den einsamen Strand, wo nur in der Ferne die Silhouetten der Muschelfischer zu sehen waren, belebte ihn. Er wirkte an diesem Morgen merkwürdig gelöst, nie hatte ich ihn heiterer gesehen. Aber wie quälend war der Gegensatz zwischen diesem kindlichen Übermut und seinem verfallenen Gesicht! Wie angespannte Seide lag die Haut auf den Knochen, als müsse sie im nächsten Augenblick zerreißen. Von Woche zu Woche wurde Georges schmächtiger und weniger. An diesem Morgen konnte ich den jammervollen Anblick kaum noch ertragen, ich mußte mehrmals aus dem Zimmer gehen, um endlich hemmungslos zu weinen. Er wollte nicht, daß ich ihm vorläse. Als ich den Gedichtband aufschlug, sagte er:

»Nein, du bist mein liebstes Gedicht. Du bist schöner als alle meine Gedichte.«

Er sollte kaum mehr sprechen. Die kleinsten Gespräche strengten ihn an und führten unweigerlich zu Hustenanfällen. Eigentlich hatte er gar nicht mehr die Kraft zu sprechen. Was noch an Lebenskraft verblieben war, konzentrierte sich in seinem Blick, der Empfinden und Gedanken mit übernatürlicher Intensität ausstrahlte. Am Abend jenes Oktobertages schien er überhaupt nicht zu leiden, ach, ich sehe ihn noch heute deutlich vor mir, hochgelagert in seinem Bett, mit seinen langen dünnen Fingern in den Fransen des blauen Vorhanges spielend, friedlich lächelnd, mit seinen Augen mein Kommen und Gehen verfolgend. Sie leuchteten aus dem Dämmerlicht des Bettes wie brennende Lampen.

Man hatte in seinem Zimmer ein kleines Notbett für mich aufstellen lassen und – welche Ironie! – um sein und mein Schamgefühl nicht zu verletzen, noch einen Paravent, hinter dem ich mich ungesehen an- und ausziehen konnte. Aber ich schlief ja kaum auf diesem Lager, denn Monsieur Georges wollte mich dauernd bei sich haben, nur wenn er mich dicht neben sich fühlte, meine nackte Haut an seinem nackten Körper, dessen Abgezehrtheit mich erschauern ließ, war er glücklich, war er zufrieden, wunderbar ruhig.

Nach zwei Stunden Schlaf wachte er gegen Mitternacht auf. Er fieberte ein wenig und die Haut über seinen Backenknochen war leicht gerötet. Ais er mich, mit tränennassen Wangen an seinem Kopfende sitzen sah, sagte er mit sanftem Flüstern:

»Du weinst ja wieder! Willst du mich traurig machen? Warum bleibst du nicht liegen? Komm, leg dich zu mir!«

Ich gehorchte, ich wußte ja, daß der kleinste Widerspruch gefährlich werden konnte. Er wußte, daß ich ihm deshalb immer zu Willen war, und nützte meine Schwäche aus. Kaum war ich bei ihm im Bett, da streichelte mich seine Hand. Sein Mund suchte den meinen. Schüchtern und willenlos bat ich ihn:

»Heute nicht, ich bitte Sie, Monsieur Georges. Seien Sie an diesem Abend vernünftig!«

Er aber wollte nicht hören. Mit vor Begierde und Ohnmacht zitternder Stimme antwortete er:

»Heute nicht! Immer wieder sagst du dasselbe! Heute nicht! Habe ich Zeit zu warten?«

Da rief ich unter Schluchzen:

»Ach, Monsieur Georges, wollen Sie denn, daß ich Sie töte? Wollen Sie denn, daß ich mein Leben lang solche Schuld mit mir herumtrage?«

Mein Leben lang! Ich hatte inzwischen vergessen, daß ich mit ihm sterben wollte. Mit ihm sterben, wie er sterben sollte.

»Monsieur Georges, Monsieur Georges ... Haben Sie Erbarmen mit mir, ich flehe Sie an!«

Aber seine Lippen preßten sich auf meinen Mund.

»Schweig!« sagte er keuchend. »Nie hab ich dich so geliebt wie heute ...«

In einer auf makabre Weise erweckten Gier brach mein Widerstand zusammen, wir wurden eins, ich fühlte seinen überzarten Körper kaum auf dem meinen, aber plötzlich lockerten sich seine schmächtigen, mich wie in einem Krampf umklammernden Arme, sie sanken auf das Bett, sein Mund löste sich von meinen Lippen mit einem herzzerreißenden Schrei. Und dann ergoß sich ein warmer Blutstrom auf mein Gesicht. Entsetzen packte mich. Auf und heraus aus dem Bett!

In einem Spiegel erblickte ich mein blutiges Gesicht. Ich verlor die Herrschaft über mich, ich stürzte zur Tür, wollte um Hilfe schreien. Aber der Instinkt der Verantwortung und die Furcht vor der Entdeckung meines Verbrechens verschloß mir den Mund – vielleicht war es auch feige Berechnung, ich wurde mir plötzlich bewußt, daß ich nackt war und daß ein fremder, hier eintretender Mensch sofort erkannt hätte, in welcher Situation wir uns befunden hatten. Haarscharf erkannte ich, daß auf keinen Fall jetzt jemand hereinkommen durfte.

Welch elendes Wesen ist doch ein Mensch! Gab es vielleicht etwas Spontaneres als meinen Schmerz, gab es wirklich etwas Mächtigeres als mein Entsetzen? Bestand ich wirklich zum Teil nur aus Vorsicht und Berechnung? Ja, selbst in diesem grauenhaften Moment besaß ich so viel Geistesgegenwart, die Salontür zu öffnen und zu horchen, dann die Tür zum Vorzimmer ... Nichts regte sich im Haus. Alles schlief. Dann ging ich zurück ins Zimmer. Ich hob den federleichten Körper von Monsieur Georges auf, hob seinen Kopf, stützte ihn in meiner Hand. Immer noch liefen dunkle Blutfäden von leisem Glucksen begleitet aus seinem Mund, das Leben lief aus ihm heraus, wie aus einer Flasche, die man leert ... Seine sterbenden Augen, deren Pupillen sich vergrößerten, waren blutunterlaufen.

»Georges! ... Georges! ... Georges ...«

Aber Georges antwortete nicht, er hörte mich nicht. Er hörte weder meinen Schrei noch irgendeinen Ruf dieser Erde:

»Georges! ... Georges! ... Georges ...«

Ich ließ ihn aus meinen Händen, sein Körper sank in sich zusammen. Sein Kopf fiel schwer auf die Kissen zurück. Ich legte meine Hand auf sein Herz ... Es schlug nicht mehr ...

»Georges!«

Das gleichbleibende Schweigen war fürchterlich. Die leblosen Lippen, der reglose blutbefleckte Leichnam. Grauen vor mir selbst erfaßte mich. Das alles zusammen war zuviel, ohnmächtig schlug ich auf den Teppich …

Ich weiß nicht, wie lange ich so gelegen hatte, Minuten? Als ich wieder zu mir kam, beherrschte mich nur ein Gedanke: Ich mußte sofort alle Spuren, die einen Verdacht auf mich hätten lenken können, beseitigen. Ich wusch mir das Gesicht, ich zog mich an und, wahrhaftig, ich verfügte über Mut – über unheimlichen Mut, denn ich brachte das zerwühlte Bett des Toten in Ordnung, und erst als ich mit allem fertig war, weckte ich das Haus und schrie die Schreckensnachricht durch die Gänge.

Und der Wind braust durch die Bäume des Gartens, während ich diese Geschichte niederschreibe, und dieses Brausen unter meinem Fenster erinnert mich an das Rauschen des Meeres am Strand des verfluchten Ortes Houlgate ...

Nach dem Leichenbegängnis von Monsieur Georges in Paris flehte mich die arme Großmutter an, in ihrem Dienste zu bleiben. Aber ich hatte es eilig, aus diesem Hause fortzukommen, ich konnte nicht länger den Anblick ihrer Tränen ertragen. Auch wollte ich vor allem den unaufhörlichen Versicherungen ihrer Dankbarkeit entrinnen. Ihr war es anscheinend ein heftiges Bedürfnis, mich ihre Tochter zu nennen, mich zu umarmen, mich mit Zärtlichkeiten zu überschütten und mich für meine aufopferungsvolle Tätigkeit bei ihrem Enkel ihre geliebte kleine Enkelin zu nennen. Vierzehn Tage blieb ich noch in ihrem Haus, und ich hatte oft brennende Lust ihr zu beichten, mich anzuklagen, mir alles von der Seele zu schreien, was mich so schrecklich bedrückte. Ich wollte schreien, um nicht zu ersticken. Aber wozu? Hätte mein Geständnis ihr Herz irgendwie erleichtert?

Nein. Ich hätte ihren Schmerz nur vermehrt, und zu alledem hätte sie auch noch die Vorstellung gequält, daß ihr geliebtes Kind, ohne meine Pflege, vielleicht gar nicht gestorben wäre. Und wenn ich ehrlich bin, muß ich gestehen, ich hätte zu einem derartigen Geständnis gar nicht den Mut aufgebracht. Und so verließ ich sie mit meinem traurigen Geheimnis, verehrt von ihr wie eine Heilige, und mit zahllosen Beweisen ihrer Zuneigung und Dankbarkeit überschüttet.

Als ich eben von der Stellenvermittlerin Madame Paulhat-Durand fortging – das war am selben Tag –, traf ich auf den Champs-Elysées einen ehemaligen Kameraden, einen Kammerdiener, mit dem ich sechs Monate im selben Haus gedient hatte. Ich war ihm seit zwei Jahren nicht mehr begegnet. Schon nach den ersten Worten wußte ich, daß auch er auf Stellungssuche war. Aber da er etwas gespart hatte, war für ihn die Sache nicht so eilig, und deshalb ließ er sich's zwischendurch einmal gutgehen.

»Da schau her, das ist ja die verflixte Célestine«, rief er in bester Laune, »immer noch ein charmantes Frauenzimmer!«

Er war ein netter Bursche, lustig, immer zu Späßen aufgelegt und zur Liebe. Er schlug vor:

»Wie wär's mit einem gemeinsamen Abendessen?«

Oh, ich hatte Abwechslung dringend nötig, um die düsteren Bilder und die beklemmenden Gedanken zu verjagen. Ich sagte also zu.

»Du bist tipptopp! Gehen wir!« sagte er.

Er packte mich am Arm und ging mit mir zu einem Weinhändler in der Rue Cambon. Seine laute Fröhlichkeit, seine groben Späße und seine ordinäre Galanterie wirkten auf mich wie ein Lebenselixier. Seine zotigen Witze störten mich nicht. Im Gegenteil. Ich nahm sein vulgäres Wesen in mich auf, und mit einer Art lasterhafter Freude nahm auch ich meine alten Umgangsformen wieder an, die Wandlung gab mir Sicherheit, sie war mir vertraut, ich erkannte mich selbst wieder, erkannte mich im Gesicht meines Kollegen wieder, nur zu gut kannte ich die undurchdringliche, glatte Miene, das verlogene Lächeln, das auch mir in meinem Zofenleben eigen war. Das Vergnügen an dreckigen Gesprächen, das haben sowohl Diener als auch Schauspieler und Richter gemeinsam.

Nach dem Diner flanierten wir ein wenig auf den Boulevards, und dann lud er mich zum Besuch eines Kinos ein. Ich war ein wenig beschwipst von dem gutem Saumur. In der Dunkelheit des Saales beklatschte das Publikum die auf der Leinwand vorbeidefilierende Armee, und schon faßte mich mein Begleiter um die Taille und küßte mich so ungestüm auf den Nacken, daß meine Frisur ziemlich in Unordnung geriet.

»Du bist ein tolles Kind«, flüsterte er, »verflucht nochmal, du riechst zum Fressen gut!«

Er begleitete mich zu meinem Hotel garni. Eine Weile standen wir unschlüssig und betreten vor dem Haus herum. Er klopfte mit dem Spazierstock auf seine Fußspitzen, ich, gesenkten Kopfes, mit den Händen in meinem Muff, zertrat umständlich eine Orangenschale.

»Also, auf Wiedersehen!« sagte ich unentschlossen.

»Ach, laß mich doch ein bißchen zu dir hinaufkommen, Célestine!«

Ich wehrte mich schwach, nur der Form halber.

»Was hast du denn? Was gibt es denn? Liebeskummer? Das wäre gerade der rechte Moment!«

Also folgte er mir. In diesem Hotel garni achtete man nicht besonders darauf, wer abends kam und wer ging. Das Treppenhaus war eng und düster, das Geländer rutschig vor Dreck, und auch die Gerüche waren dementsprechend. Ein richtiges Hotel garni. Ein Absteigequartier – Absteigequartier und zugleich Räuberhöhle –, wo bestimmt schon mancher mit durchschnittener Kehle liegengeblieben war. Mein Begleiter hüstelte, um sich ein wenig Haltung zu geben, und ich dachte mit kummervoller Seele: Verflucht! das kann sich mit den Villen in Houlgate oder mit den gemütlichen, hellen Wohnhäusern in der Rue Lincoln freilich nicht vergleichen.

Doch kaum war ich in meinem Zimmer und hatte meine Tür verriegelt, stürzte sich der Bursche auf mich, warf mich brutal aufs Bett und zerrte an meinen Röcken.

Manchmal ist man wirklich gemein. Es ist schon ein Elend!

Da war ich also wieder im alten Trott gelandet, das Leben mit seinen Höhen und Tiefen hatte wieder begonnen, mit immer neuen Liebschaften und mit dem jähen Milieuwechsel von den üppigen Salons auf die Straße ... Immer und ewig dasselbe. Es gab nichts anderes.

Seltsam! Ich hatte doch vor gar nicht langer Zeit den heftigen, ehrlichen Wunsch zu sterben, ich wollte mich doch für meine Liebe opfern. Und doch begann ich jetzt auf einmal Angst zu haben, daß die Küsse von Monsieur Georges mich vielleicht angesteckt haben könnten. Die geringste Indisposition, der unmerklichste Schmerz versetzten mich in panischen Schrecken. Ich träumte wie von einem Alp verfolgt, und wenn ich erwachte, klebte das nasse Hemd an meinem Körper. Ich beklopfte meine Brust, glaubte stechende Schmerzen zu verspüren und horchte ängstlich auf meine Atemzüge. Wenn ich hustete und ausspucken mußte, glaubte ich Blut gespuckt zu haben, und meine Pulsschläge zählte ich so lange, bis ich überzeugt war, Fieber zu haben. Wenn ich in den Spiegel blickte, so fand ich meine Augen merkwürdig tief in den Höhlen liegend, und auf meinen Wangen erschienen manchmal dieselben unheilverkündenden Flecken, die Rosen des Lungenkranken, wie bei Monsieur Georges. Einmal besuchte ich einen öffentlichen Ball und erkältete mich auf dem Heimweg. Ich hustete eine Woche lang, und ich dachte schon, jetzt käme das Ende. Und doch war es bloß ein Schnupfen. Ich legte mir Pflaster auf, schluckte die unmöglichsten Arzneien, ja, ich steckte sogar dem heiligen Antonius von Padua eine Spende in die Büchse. Dann, als schließlich meine Gesundheit genauso kräftig blieb wie bisher und ich erkannte, daß ich Beruf und Vergnügen mit gewohnter Ausdauer ertrug, ging diese krankhafte Angst vorbei. Alles geht vorüber.

 

Im verflossenen Jahr ging ich am 6. Oktober wie immer an diesem melancholischen Tag auf den Friedhof, um Blumen auf den Grabhügel von Monsieur Georges zu legen. Seine letzte Ruhestätte befand sich in der großen Allee des Friedhofs Montmartre, und plötzlich erkannte ich, einige Schritte von mir entfernt, die arme Großmutter. Ach, wie war sie alt geworden! Und mit ihr gingen die beiden alten, nicht weniger gebeugten Diener, auf die sie sich stützte. Ein Dienstmann folgte ihnen mit einem großen Kranz weißer und roter Rosen ... Ich verlangsamte meine Schritte, ich wollte nicht an ihnen vorbeigehen und hatte Angst vor einem Wiedersehen. Hinter einem großen Grabmonument blieb ich stehen und versteckte mich, bis die arme alte Frau ihren Kranz niedergelegt hatte, bis sie Gebete gemurmelt und am Grab ihres unglücklichen Enkels geweint hatte. Tief gebeugt und schwankend kam die traurige Menschengruppe zur kleinen Allee zurück, ganz nahe am Grabstein vorbei, hinter dem ich mich versteckt hatte. Ich duckte mich, machte mich ganz klein, um auf keinen Fall entdeckt zu werden. Es schien, als gingen die Gespenster meines schlechten Gewissens an mir vorüber. Hätte mich die Großmutter erkannt? Ach, ich glaube kaum. Alle drei Menschen schlichen dahin, als könnten sie überhaupt nicht mehr wahrnehmen, was um sie vorging. Ihre Blicke waren starr zu Boden gerichtet wie die Augen Blinder, ihre Lippen bewegten sich unaufhörlich, ohne wirklich zu sprechen. Drei tote Seelen, verloren im Irrgarten eines Friedhofes, auf der Suche nach ihren Gräbern. Und plötzlich stand die Erinnerung jener tragischen Nacht unheimlich deutlich vor meinen Augen, ich sah mein von Georges' Blut überströmtes Gesicht im Spiegel – ich sah das Blut aus seinem Munde rieseln. Ich fröstelte vor Entsetzen, eisige Kälte zog mein Herz zusammen.

Endlich verschwanden sie.

Wo mögen sie heute sein, diese drei untröstlichen Schatten? Vermutlich sind sie dem Grab wieder ein Stück näher, vielleicht sind sie sogar schon tot? Vielleicht haben sie nach zahllosen quälenden Tagen und trostlosen Nächten die Stille und die ewige Ruhe gefunden, nach der sie sich sehnten.

Egal! Jedenfalls war es eine komische Idee der unglücklichen Großmutter, gerade mich als Pflegerin zu suchen, eine hübsche, junge Pflegerin für einen ebenso hübschen Jungen wie Monsieur Georges! Und tatsächlich, wenn ich das so überlege, dann kommt es mir noch erstaunlicher vor, daß sie niemals Verdacht geschöpft, nie etwas bemerkt und nie geahnt hat, was zwischen uns beiden wirklich vorging. Ach, man könnte sagen, sie waren eben nicht sehr schlau, die alte Frau und ihre Diener. Ihr Vertrauen zu mir war geradezu sträflich!

 

Unlängst habe ich den Hauptmann Mauger wieder einmal über die Hecke hin beobachten können. Er hockte auf einem frisch umgegrabenen Beet und verteilte Stiefmütterchen- und Radieschenpflanzen. Als er meine Anwesenheit bemerkte, verließ er sofort seine Arbeit und kam an die Hecke, um mit mir zu plaudern. Er ist mir also seines Frettchens wegen gar nicht mehr böse. Gutgelaunt und unter immerwährendem Gelächter beichtete er mir, daß er heute morgen die weiße Katze der Lanlaires erwischt habe. Anscheinend macht die Katze den Frettchenmord wieder gut.

»Das war also die zehnte, die ich diesem Gesindel umbringe«, schrie er, von Gelächter geschüttelt und sich dabei immer auf die Schenkel klatschend und seine erdigen Hände reibend.

»Jetzt kann sie nicht mehr die Blumenerde in meinen Mistbeeten zerkratzen, dieses Schwein! Und heute hat sie zum letztenmal meine Saat zerscharrt! Wenn ich doch den Lanlaires auch an den Kragen könnte! Ihn, das Mistvieh, und sein Weibchen müßte man um die Ecke bringen! Oh, diese Schweine! Oh! Oh! Das wäre ein Streich!«

Diese Idee ließ ihn plötzlich verstummen. Mit einemmal fragte er mich, die Augen zusammengekniffen und mit einem häßlichen Grinsen:

»Warum streuen Sie ihnen nicht Juckpulver ins Bett? Diese Schmutzfinken würden es verdienen! Wenn Sie wollen, besorge ich Ihnen ein Päckchen! Was sagen Sie dazu?«

Und dann:

»Apropos, erinnern Sie sich noch an Kléber? Mein Frettchen?«

»Ja. Und was weiter?«

»Nun, ich habe es gegessen! Hahahaha!«

»War es gut?«

»Pfui Teufel, es schmeckte wie schlechtes Kaninchenfleisch.«

Das war seine ganze Leichenrede für das arme Tierchen.

Und weiter berichtete der Hauptmann, daß er vorige Woche einen jungen Igel unter einem Reisigbuschen entdeckt habe. Er ist jetzt dabei, das Tierchen zu zähmen. Er nennt es Bourbaki. Es muß sich um einen ungewöhnlich intelligenten Igel handeln, ein kleiner Witzbold anscheinend. Und er frißt einfach alles!

»Meiner Treu«, rief Mauger entzückt, »am selben Tag hat dieses Igeltier ein Beefsteak, Hammelfleisch mit grünen Bohnen, Räucherspeck, Schweizer Käse und Marmelade geschmaust. Er ist fabelhaft! Geradezu aufregend! Man kann nicht genug des Guten in ihn hineinstopfen. Er ist wie ich: er frißt alles.«

Eben ging der kleine Hausbursche mit einem Schubkarren voll Steinen, Sardinenbüchsen und sonstigem Abfall vorbei.

»Komm her!« befahl ihm der Hauptmann.

Seiner Frage zuvorkommend, sagte ich, daß Madame in der Stadt, Monsieur auf die Jagd gegangen sei und Joseph Einkäufe zu machen habe. Da hob Mauger einen Stein nach dem anderen aus dem Schubkarren und schleuderte ihn in hohem Bogen über die Gartenhecke, und dabei schrie er aus Leibeskräften:

»Da hast du, du Schwein – du Schuft!«

Steine und Sardinenbüchsen, was er aus dem Abfall greifen konnte, sausten auf ein frisch gejätetes Beet, wo Joseph vor kurzem Erbsen gesetzt hatte.

»Da habt ihr es ... du und sie, da habt ihr es!«

Das Beet war binnen kurzem mit Müll und Plunder bedeckt. Der Triumph Maugers drückte sich in wilden Gesten und einem veritablen Kriegsgeheul aus. Dann strich er seinen grauen Schnauzbart und sagte mit Eroberermiene:

»Mademoiselle Célestine, Sie sind ein verdammt hübsches Kind! Sie sollten mich besuchen ... Natürlich, wenn Rose nicht zu Hause ist, wie? Ist das nicht eine famose Idee, was?«

Wahrhaftig, der ist wirklich ein ahnungsloser Trottel.


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