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12. November
Ich sagte schon, daß ich von Monsieur Xavier sprechen würde. Die Erinnerung an diesen Bengel verfolgt mich manchmal und macht mich ganz dumm. Er ist eines von jenen vielen Gesichtern, an die ich am häufigsten denken muß. Zeitweise überkommt mich die Lust ihn wiederzusehen, aber meist denke ich voll Wut an ihn. Er war ebenso komisch wie verdorben, dieser Monsieur Xavier, mit seinem hübschen frechen Gesicht. Oh, diese kleine Kanaille! Wahrlich, von ihm ließ sich sagen, daß er ein Produkt seiner Zeit war.
Eines Tages wurde ich zu einer Madame de Tarves in der Rue de Varennes engagiert. Fabelhaftes Haus, großartige Bezahlung, toller Betrieb. Hundert Francs auf die Hand, Kost und Quartier, Wein und alles Dazugehörige in Hülle und Fülle. Als ich dort morgens sehr vergnügt ankam, wurde ich sogleich in Madames Ankleidezimmer gerufen. Ein phantastisches Boudoir mit allen Schikanen, ganz mit cremefarbener Seide ausgeschlagen und mitten darin eine große, stark geschminkte Frau mit allzu weißer Haut, auffallend viel Haar, viel zu blond, und zuviel Lippenrot. Aber immer noch hübsch, mit viel Schwung und Chic. Vor allem verstand sie es, etwas aus sich zu machen. Also da gab es wirklich nichts auszusetzen.
Damals hatte ich schon einen ziemlich geschulten Blick. Ich konnte auf Anhieb ein Pariser Milieu abschätzen, ein Gang durch die Wohnung genügte, und ich wußte Bescheid über Sitten und Angewohnheiten ihrer Bewohner. Auch Möbel können lügen wie Gesichter, aber ich irrte mich nur selten. Dieses Appartement machte zunächst einen gepflegten und geschmackvollen Eindruck, doch ich witterte sofort die laxe Lebensführung dieser Familie, ihre Hast, ihre Probleme, etwas wie Lebensangst und heimliche, sehr heimliche Laster, jedoch nicht so versteckt, daß ich sie nicht an ihren typischen Merkmalen hätte erkennen können. Beim ersten Beschnuppern der alten und der neuen Hausangestellten tauchen spontane aufschlußreiche Signale auf und man ist augenblicklich über die Atmosphäre der neuen Stelle im Bilde. Auch unter den Domestiken herrscht Eifersüchtelei, und die Eingesessenen sind immer entschlossen, sich gegen jeden Eindringling zu wehren. Auch ich, die ich doch ausgesprochen verträglich bin, habe Eifersucht und Haß erfahren müssen, aber hauptsächlich von den weiblichen Angestellten, die es nicht ertragen konnten, daß ich den Männern gefiel. Hingegen – und das muß ich gerechterweise zugeben – kam ich natürlich mit dem männlichen Personal immer gut aus.
In den Blicken des Kammerdieners, der mir bei den Tarves die Tür öffnete, konnte ich sogleich lesen: Das hier ist eine komische Bude, nicht besonders seriös, allerhand los, aber man kommt auf seine Rechnung. Komm nur näher, Kleine ...
Als ich ins Ankleidezimmer schlüpfte, war ich also bereits auf Extravaganzen gefaßt. Aber was mich hier wirklich erwartete, hätte ich nicht einmal ahnen können.
Madame saß vor ihrem kleinen Sekretär, ein Juwel als Möbelstück, und schrieb. Auf dem Boden war ein Teppich aus weißen Persianerfellen ausgebreitet. An den mit cremefarbener Seide bespannten Wänden bemerkte ich zu meiner Verblüffung neben antiken Heiligenbildern recht pikante Stiche aus dem achtzehnten Jahrhundert, fast unanständig zu nennende Darstellungen. In einer Vitrine eine Anhäufung wertvoller kleiner Schmuckstücke, alte Bijouterien, Elfenbeinschnitzereien, Tabaksdosen mit Miniaturen, Meißener Porzellan, und auf einem graziösen Tischlein sehr kostbare Toilettengegenstände aus Gold und Silber. Ein kleiner havannabrauner Hund – eine seidenweiche Wollkugel – schlief auf der Chaiselongue zwischen zwei veilchenfarbenen Daunenkissen.
Madame sagte zu mir: »Célestine, nicht wahr? Ach, diesen Namen mag ich gar nicht. Ich werde Sie Mary nennen. Kennen Sie den englischen Namen Mary? Werden Sie ihn behalten? Mary scheint mir passender.«
Nun, das gehört schon dazu. Unsereins hat kein Recht auf einen eigenen Namen, denn es gibt fast in allen Häusern Töchter, Cousinen, Hündinnen oder Papageienweibchen, die ebenso heißen wie wir.
»Selbstverständlich«, antwortete ich meiner neuen Herrin.
»Sprechen Sie englisch, Mary?«
»Nein, Madame.«
»Schade! Drehen Sie sich ein wenig, damit ich Sie besser begutachten kann.«
Sie musterte mich von allen Seiten, von vorn, von hinten, im Profil, wobei sie von Zeit zu Zeit murmelte: »Nicht schlecht – ganz hübsch – recht ordentlich ...«, und plötzlich fragte sie:
»Sagen Sie, Mary, sind Sie gut gewachsen? Ich meine damit, ob Sie einen hübschen Körper haben, einen tadellosen Wuchs.«
Diese Frage überraschte und störte mich. Welch einen Zusammenhang gab es zwischen meinem Dienst als Zofe und meinen Körperproportionen? Aber ohne meine Antwort abzuwarten, sagte Madame, nachdem sie mich mit ihrer Lorgnette von Kopf bis Fuß geprüft hatte, wie zu sich selbst:
»O ja, sie scheint wirklich sehr gut gewachsen – kein bißchen unproportioniert ...«
Dann wandte sie sich direkt an mich und erklärte mir, zufrieden lächelnd:
»Sehen Sie, Mary, ich habe immer nur gutgewachsene Frauen um mich. Ich finde es passender.«
Aber das war noch nicht das Ende meiner Überraschungen. Als sie mich lange genug examiniert hatte, rief sie plötzlich:
»Und dann Ihr Haar! Ich möchte, daß Sie sich anders frisieren, so wie Sie es tragen, wirkt es nicht elegant. Sie haben schönes Haar. Sie müssen es lockerer arrangieren, die Frisur ist ungemein wichtig. Warten Sie – etwa in dieser Art ...«
Und sie stupste mir meine Haartolle in die Stirn und wiederholte: »So ungefähr, sehen Sie? Das steht Ihnen reizend, Mary, es paßt Ihnen gut.«
Und während sie mein Haar immer mehr lockerte und daran herumzupfte, fragte ich mich, ob die Dame vielleicht ein bißchen verrückt oder am Ende gar widernatürlich veranlagt sei. Meiner Treu! Das hätte mir gerade noch gefehlt!
Als sie mit ihrem Herumgezupfe fertig war und die Frisur zufrieden betrachtete, fragte sie mich:
»Sagen Sie, ist das Ihr bestes Kleid?«
»Ja, Madame.«
»Ihr bestes Kleid ist nicht hinreißend, ich werde Ihnen einige Roben von mir schenken, die Sie für sich ändern können. Und Ihre Wäsche? Wie steht es damit?«
Sie hob meinen Rock hoch und musterte ihn flüchtig.
»Ich dachte mir schon, damit ist auch nicht viel los. Und Ihre Höschen und Hemden, sind die wenigstens passend?«
Mir ging ihre gewaltsame Inspektion langsam auf die Nerven, darum sagte ich ziemlich abrupt:
»Ich weiß nicht, was Madame unter passend versteht.«
»Zeigen Sie mir Ihre Wäsche, holen Sie sie. Aber zuvor gehen Sie einige Schritte im Zimmer auf und ab – ja, gut so – und noch ein paar Schritte. Drehen Sie sich um – noch einmal. Sie hat einen hübschen Gang – die Kleine hat Chic ...«
Als sie meine Wäsche sah, schnitt sie eine Grimasse: »Puh, welch ein Stoff! Diese Hemden! Diese Strümpfe! Einfach schrecklich! Und dieses Korsett! Nein, nein, so können Sie bei mir nicht herumgehen, solche Dinge dürfen Sie bei mir im Haus nicht tragen. Kommen Sie, Mary, helfen Sie mir!«
Sie öffnete einen rosa Lackschrank, zog eine große Schublade heraus und leerte deren Inhalt, einen Berg duftiger Wäsche, einfach auf den Teppich.
»Sehen Sie, Mary, das ist alles für Sie. Greifen Sie einfach in das Kunterbunt hinein. Holen Sie sich daraus hervor, was Sie brauchen können, denn das eine oder andere wird zwar kleine Ausbesserungen oder Änderungen verlangen, aber es dürfte Ihnen doch eine passende Ausstattung verschaffen. Los! Nehmen Sie!«
Wirklich, da war alles vorhanden. Brokatkorsette, hauchdünne Strümpfe, Hemdchen aus Batist oder Crêpe de Chine, putzige Höschen, entzückende Büstenhalter und traumhafte Unterröcke aus raschelndem Taft – das alles durchtränkt mit dem starken Geruch von Peau d'Espagne, nach gepflegtem Frauenkörper und Liebesspielen. Ein Haufen verführerischer farbenfroher Dinge, die, wie Gartenblumen aus einem Korb geleert, in ihrer Fülle betörende Duftwolken ausströmten. Ihre Farben leuchteten auf dem Teppich. Ich war ganz benommen, ich stand wie erstarrt da, wußte nicht, was ich tun oder sagen sollte, stumm, glücklich, aber auch verlegen vor diesem bunten Reichtum, indes Madame eifrig darin wühlte, einige reizende, kaum getragene Dessous zwischen einem Gespinst von Bändern und Spitzen hervorzog, sie als ihre liebsten Wäschestücke bezeichnete und überhaupt rührend bemüht war, mich gut zu beraten.
»Ich habe es so gern, wenn meine Dienerinnen elegant, kokett und vor allem sehr gepflegt wirken. Sie sollen nach Frische und Parfums duften. Sie sind brünett, Mary, Ihnen wird dieses korallenrosa Unterröckchen entzückend stehen. Alles wird Sie reizend kleiden. Nehmen Sie den ganzen Haufen – alles ...«
Ich war wirklich ratlos und überwältigt von so viel Güte. Ich fand noch immer keine Worte, konnte nur mechanisch wiederholen:
»Danke, Madame. Wie gütig sind Madame – danke, danke.«
Zum Nachdenken ließ sie mir nicht Zeit. Madame redete ununterbrochen, einmal schamlos, einmal mütterlich, einmal zunehmend familiär und dazwischen auch ein wenig kupplerisch. Überhaupt recht merkwürdig! Direkt befremdlich!
»Das geht mir wie mit der Sauberkeit, Mary, Körperpflege, intime Körperpflege, das ist bei einer Frau das wichtigste. In diesem Kapitel bin ich anspruchsvoll bis zur Manie.«
Das merkte ich! Sie wiederholte ununterbrochen das Wort passend und verweilte selbst bei Dingen, die meinem Gefühl nach mit passend oder unpassend nicht viel zu tun hatten. Als wir mit dem Sortieren der Unterwäsche fertig waren, sagte sie zu mir:
»Eine Frau, ganz gleich, was für eine Frau, muß unbedingt gepflegt sein. Übrigens. Sie werden es bald genauso halten, wie ich selbst, Mary, Körperpflege ist sehr wichtig. Morgen sollen Sie unter meiner Anleitung ein Bad nehmen.«
Dann ging sie mit mir in ihre Zimmer, sie zeigte mir ihre Schubladen und Schränke. Vor allem orientierte sie mich, wo alles seinen Platz hatte, und führte mich in die Details meiner Aufgaben ein. Dabei machte sie Bemerkungen, die mir recht komisch und unnatürlich vorkamen.
»Nun gut«, sagte sie, »jetzt wollen wir zu Monsieur Xavier hinübergehen. Sie sollen nämlich auch Monsieur Xavier bedienen. Er ist mein Sohn, Mary.«
»Sehr wohl, Madame.«
Das Zimmer von Monsieur Xavier lag am anderen Ende des großen Appartements. Ein ausgesprochen hübsches Zimmer, mit blauem Tuch austapeziert, darauf Verzierungen in leuchtendgelber Posamentierarbeit, an den Wänden einige englische bunte Stiche mit Jagd- und Pferdemotiven. Ein Spazierstockständer mit einem Jagdhorn in der Mitte stand in einer Ecke, dazu eine wahre Sammlung von Spazierstöcken, darüber zwei gekreuzte Trompeten. Ich sah auch ein paar Landschaftsbilder mit Schlössern. Über dem Kamin zwischen Nippes, Zigarrenetuis und Pfeifen die Photographie eines hübschen Mannes, noch sehr jung, bartlos, dazu das frühreife Lächeln eines knabenhaften Lebemannes, kurz eine Erscheinung von etwas zweifelhafter femininer Grazie. Aber er gefiel mir.
»Das ist Monsieur Xavier«, stellte Madame vor.
Ich konnte einen vielleicht zu übertriebenen Begeisterungsausruf nicht unterdrücken:
»Oh, was für ein schöner Junge!«
»Na, na, Mary ...« lachte Madame.
Aber meine Begeisterung hatte sie nicht verärgert, im Gegenteil, sie lächelte geschmeichelt.
»Monsieur Xavier ist wie fast alle Jungen heute«, erklärte sie mir. »Von Ordnung keine Spur. Sie müssen also hier immer alles tadellos in Ordnung halten, ich wünsche, daß das Zimmer täglich aufgeräumt wird. Pünktlich jeden Morgen um neun Uhr bekommt er seinen Tee. Sie servieren ihn ihm. Um neun Uhr, nicht vergessen, Mary. Hie und da kommt Monsieur Xavier spät nach Hause, da wird er Sie wahrscheinlich sehr unliebenswürdig empfangen, aber das schadet nicht. Ein junger Mann muß um neun Uhr aufwachen.«
Dann zeigte mir Madame, wohin seine Wäsche, seine Schuhe und seine Krawatten zu legen seien. Immer wieder betonte sie:
»Mein Sohn ist ein wenig lebhaft, aber er ist ein reizendes Kind!«
Oder sie fragte:
»Können Sie mit Männerhosen umgehen? Sie sorgfältig zusammenlegen? Monsieur Xavier ist vor allem in bezug auf seine Hosen sehr heikel!«
Mit den Hüten brauchte ich mich nicht abzugeben, denn diese Ehre kam dem Kammerdiener zu. Er mußte sie jeden Morgen auf Glanz bügeln.
Ja, ich fand es letzten Endes sehr seltsam, daß in einem Haus, wo es einen Kammerdiener gab, Madame ausgerechnet mich mit der Bedienung von Monsieur Xavier betraute.
»Es ist wirklich komisch – und sicher nicht sehr passend!« sagte ich mir. »Passend, passend!« wiederholte ich in parodistischem Ton den Ausdruck, den meine Herrin bei jeder Gelegenheit gebrauchte.
Passend hin, passend her, tatsächlich schien mir in diesem Hause einiges nicht ganz stubenrein zu sein.
Abends im Dienerzimmer brachte ich allerhand in Erfahrung.
»Eine komische Bude«, sagte man mir. »Zuerst ist man schockiert, aber allmählich gewöhnt man sich daran. Manchmal ist kein Sou im Haus. Dann wird Madame sehr agil, sie geht und kommt, sie läuft treppauf, treppab, ist kribbelig, erschöpft und flucht wie ein Droschkenkutscher. Monsieur hängt den ganzen Tag am Telephon, er schreit, er droht, er fleht, agiert wie ein Sprungfederteufel in der Schachtel. Und die Gerichtsvollzieher! Auf einmal sind sie da. Wie oft muß der Hausverwalter aus eigener Tasche die erbosten Lieferanten bezahlen, die Drohungen ausstoßen und nichts mehr liefern wollen. Es wird gepfändet. Einmal sperrte man Gas und Strom ab. Und das ausgerechnet an einem Empfangstag. Und dann – unter uns gesagt, regnet es Geld –, dann scheffeln sie geradezu Gold. Woher es kommt? Ah, das weiß man natürlich nicht. Das Hauspersonal wartet oft monatelang auf seinen Lohn, aber am Ende renkt sich alles wieder ein, man bekommt immer alles bezahlt. Selbstverständlich nach schrecklichen Szenen und Streitereien, nach einem Geschimpfe! Es ist kaum zu glauben.«
Also da haben wir es! Das ist die Kehrseite, die ich gewittert hatte. Immer steckt etwas dahinter, wenn einem so hohe Bezahlung versprochen wird.
»Monsieur Xavier ist heute nacht nicht nach Hause gekommen«, meldete der Kammerdiener.
»Ach«, sagte die Köchin mit einem Seitenblick auf mich, »das ist keine Seltenheit. Aber vielleicht kommt er in Zukunft wieder öfter nach Hause.« Abermals sah sie mich durchdringend an.
Und weiter erzählte der Kammerdiener, daß heute früh ein Gläubiger von Herrn Xavier aufgetaucht sei und ordentlich Krach geschlagen habe. Das muß bei Madame hübsch eingeschlagen haben, denn Monsieur Xavier versuchte so schnell wie möglich zu verduften. Er stand mit einer ganz hübschen Summe in der Kreide, mindestens 4000 Franc Schulden, die sollte der Herr sogleich bezahlen.
»Wie der Herr in Wut geriet, kann man sich vorstellen. Ich hörte, wie er zu Madame sagte: ›So kann das nicht weitergehen. Er wird uns in Schande und Unglück stürzen!‹«
Die Köchin, anscheinend eine geborene Philosophin, zuckte mit den Achseln und sagte grinsend:
»Schande und Unglück? Die sprechen von entehren? Sie pfeifen doch auf den guten Ruf. Sie wollen bloß nicht bezahlen!«
Dieses Gespräch war mir peinlich. Plötzlich verstand ich, daß zwischen der geschenkten Wäsche von Madame und den dazu gemachten Bemerkungen irgendein Zusammenhang zu Monsieur Xavier bestehen mußte. Irgendeiner? Aber welcher?
»Es paßt ihnen nicht, daß sie zahlen sollen.«
Dieses Nichtbezahlenwollen ging mir die ganze Zeit im Kopf herum. Ich schlief sehr schlecht in dieser ersten Nacht, verfolgt von merkwürdigen Träumen, ungeduldig, Monsieur Xavier näher kennenzulernen.
Der Kammerdiener hatte nicht gelogen. Wirklich eine komische Bude! Monsieur hatte Undefinierbares zu tun, angeblich war er leitender Funktionär der Pilgerfahrten. Er suchte Pilger zusammen, gleichgültig wo er sie gerade fand, bei Juden, Protestanten oder Vagabunden, sogar bei Katholiken, und einmal im Jahr führte er diese Leute nach Rom, Lourdes oder nach Paray-le-Monial, nicht ohne Profit, versteht sich, und nicht ohne Tamtam. Monsieur genoß die Protektion und die Zustimmung des Papstes, denn diese Pilgerzüge dienten ja der Religion. Monsieur befaßte sich auch mit anderen Wohltätigkeitsorganisationen, und auch in die Politik steckte er seine Finger. »Liga gegen die Laienschulen«, »Gesellschaft der christlichen Leihbüchereien«, »Liga gegen Schund und Schmutz«, und nur Gott allein weiß, wogegen sonst noch. Nicht zuletzt befaßte er sich mit der Kongregation der christlichen Säuglingsbefürsorgung im Proletariat. Er war Präsident der Waisenhäuser, Stellenvermittlungsbüros, der Alumnaten – wahrhaftig, er präsidierte rein alles. Ich möchte wissen, wo er nicht im Präsidium war.
Er war ein kleiner, rundlicher, betriebsamer Mann, immer gepflegt und glattrasiert. Seine milde und zugleich zynische Art erinnerte an gewisse laue humorvolle Priester. Manchmal beschäftigten sich die Zeitungen mit ihm und seinen Wohltätigkeitsvereinen. Natürlich gab es sehr widersprechende Urteile über ihn. Einerseits pries man seine männlichen Tugenden und seine Menschenliebe, manche nannten ihn sogar einen Apostel, andere wieder behaupteten steif und fest, er sei ein ganz gerissener Schuft und eine alte Kanaille. In der Küche hatten wir immer großes Vergnügen an den Artikeln, die sich mit ihm befaßten. Aber es schmeichelte uns trotzdem, bei Herrschaften angestellt zu sein, deren Namen die Zeitungen immer wieder beschäftigte.
Einmal wöchentlich gab Monsieur einen großen Empfang, zu dem alle möglichen Berühmtheiten geladen waren: Mitglieder der Akademie, reaktionäre Senatoren, katholische Deputierte, protestierende Priester, intrigante Mönche und natürlich auch Erzbischöfe. Darunter gab es einen recht betagten Assumptionisten, einen scheinheiligen, boshaften Zwerg, der mit frommem Augenaufschlag die gemeinsten Bosheiten sagte, aber gerade ihn umsorgte man wie einen Säugling. Und überall, in jedem Zimmer, hingen Porträts des Papstes. Ach, in diesem Haus wurde dem Heiligen Vater Unglaubliches zugemutet. Armer Heiliger Vater!
Mir war Monsieur irgendwie unheimlich. Er war mir zu betriebsam, unmöglich zu übersehen, daß er überall die Finger drin hatte. Er riß sich zu sehr um Leute, und man konnte wirklich nicht übersehen, was nicht zu übersehen war, aber vieles entzog sich selbstverständlich meiner Beobachtung. Bestimmt war er ein alter, nicht unwitziger Komödiant.
Tags darauf, als ich ihm gerade in seinen Mantel schlüpfen half, sagte er zu mir:
»Sind Sie vielleicht Mitglied meiner Gesellschaft der Dienerinnen Jesu?«
»Nein, Monsieur.«
»Oh, Sie müssen beitreten – unbedingt. Ich werde Sie einschreiben lassen.«
»Danke schön, Monsieur. Darf ich fragen, was der Name dieser Gesellschaft bedeutet?«
»Oh, das ist eine wunderbare Gesellschaft, die ledige Mütter christlich erzieht.«
»Aber, Monsieur, ich bin keine ledige Mutter!«
»Macht nichts, sie ist auch für Frauen geschaffen, die aus dem Gefängnis kommen, auch reuige Prostituierte nehmen wir auf. Wir haben von allem ein bißchen. Ich werde Sie einschreiben lassen.«
Und er entnahm seiner Tasche einige peinlich genau gefaltete Zeitungsblätter und hielt sie mir hin.
»Verstecken Sie es, und lesen Sie es nur, wenn Sie allein sind. Sie finden darin sehr interessante Beiträge ...«
Dann faßte er mich am Kinn und sagte mit einem leisen Zungenschnalzer:
»Oho! Sehe ich recht? Die Kleine ist ja recht appetitlich. Meiner Treu, sogar sehr appetitlich – direkt goldig!«
Als er gegangen war, warf ich schnell einen Blick in die Zeitungen, die er mir zugesteckt hatte, es waren Fin de Siècle, Rigolo und Petites Femmes de Paris. Na, nichts wie Schund und Schweinereien.
Oh, diese Bürger! Welch ewige Komödie! Langsam habe ich genug! Sie ähneln einander alle.
Da habe ich einmal bei einem republikanischen Abgeordneten gedient. Er verbrachte den Hauptteil seiner Zeit damit, auf die Priester zu schimpfen. Ein toller Angeber! Er wollte von der Religion, vom Papst und von den Nonnen nichts wissen. Wenn man ihm so zuhörte, schien er entschlossen, alle Kirchen niederzureißen, alle Klöster in die Luft zu sprengen. Und sonntags? Sonntags eilte der saubere Republikaner heimlich in die entferntesten Kirchspiele, beim geringsten Wehweh rief er nach dem Priester, und alle seine Kinder wurden bei den Jesuiten erzogen. Nie ließ er sich dazu herbei, seinen Bruder, der sich geweigert hatte, sich kirchlich trauen zu lassen, zu empfangen. Alle sind sie Heuchler, falsch, ekelhaft jeder in seiner Art.
Auch Madame de Tarves hatte ihre Aufgaben, auch sie war Vorstandsmitglied von religiösen Komitees, auch sie betätigte sich in wohltätigen Vereinen oder organisierte eine Versteigerung für wohltätige Zwecke. Kurz gesagt, sie war nie zu Hause, und im Haushalt ging es dementsprechend zu. Sehr oft kam sie verspätet nach Hause, weiß der Kuckuck woher, zerrauft und aufgelöst, die Unterwäsche verrutscht und mit einem Geruch, der nicht der ihrige war. Na, solches Nachhausekommen kannte ich, da wußte ich Bescheid. Sofort sagte ich mir, für welch fromme Zwecke Madame sich aufopferte, und ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie es in ihren diversen Komitees zuging. Aber zu mir war sie immer sehr nett. Niemals ein ungutes Wort, niemals ein Vorwurf. Im Gegenteil, sie behandelte mich familiär, und manchmal vergaßen wir unsere soziale Distanz, dann erzählten wir uns Witze und anstößige Anekdötchen. Sie beriet mich kameradschaftlich in meinen personellen Belangen und schürte meine Eitelkeit. Sie besprühte mich mit Parfumwolken, massierte mir die Arme mit Coldcreme und bestäubte mich mit Toilettenpuder. Während solcher Operationen sagte sie zu mir immer wieder:
»Sehen Sie, Mary, eine Frau muß gepflegt sein. Ihre Haut muß weich und weiß sein. Sie haben ein hübsches Gesichtchen, Sie müssen daraus etwas machen. Sie haben einen schönen Busen, Ihre Beine sind wunderbar, aber Sie müssen sie mehr herzeigen. Das ist wichtig und durchaus passend.«
Das hörte ich gern. Dennoch mißtraute ich ihr, immer war ich irgendwie unruhig, denn ich konnte die unsauberen Geschichten nie vergessen, die ich im Dienstbotenzimmer gehört hatte, und sooft ich Madame vor den anderen Angestellten ihrer Freundlichkeit wegen lobte, sagte pünktlich die Köchin:
»Warten Sie ab, noch ist nicht aller Tage Abend. Die legt es doch nur darauf an, daß Sie mit ihrem Sohn schlafen, damit er früher nach Hause kommt und weniger Geld kostet! Alles andere hat sie schon versucht, ihre eigenen Freundinnen hat sie für den Herrn Sohn eingespannt, verheiratete Frauen – junge Mädchen. Ja, sie schreckt vor nichts zurück, diese Schlampe! Nur Monsieur Xavier macht dabei nicht mit, ihm sind die Kokotten lieber, diesem herzigen Kind, er beißt bei Mamas Köder nicht an. Oh, Sie werden schon sehen. Sie werden es sehen! Alles Schmäh!«
Und mit gehässigem Bedauern fügte sie hinzu:
»Ich an Ihrer Stelle, ich würde die ganze Gesellschaft hereinlegen, die müßten blechen! Das würde mich nicht genieren.«
Diese temperamentvolle Rede war mir vor den anderen Kameradinnen peinlich. Aber zu meiner Beruhigung sagte ich mir, daß die Köchin wahrscheinlich eifersüchtig sei, weil mich Madame so bevorzugte.
Jeden Morgen um neun Uhr ging ich in Monsieur Xaviers Zimmer, um die Vorhänge zurückzuziehen und ihm den Tee ans Bett zu bringen. Seltsamerweise begab ich mich immer mit einem gewissen Herzklopfen zu ihm. Meistens beachtete er mich gar nicht. Ich ging dahin und dorthin, bereitete seine Sachen vor und gab mir große Mühe, mich so anmutig wie möglich zu bewegen. Meist sprach er überhaupt nicht mit mir, oder nur, um sich unausgeschlafen oder verdrossen zu beklagen, daß er zu früh geweckt worden sei. Seine Gleichgültigkeit mir gegenüber kränkte mich, ich verdoppelte meine Anstrengungen, ihm zu gefallen, vor allem ihn auf mich aufmerksam zu machen. Jeden Tag erwartete ich etwas Besonderes, aber niemals traf es ein. Die stumme Wurstigkeit Monsieurs mir gegenüber irritierte mich unglaublich. Was hätte ich getan, wie hätte ich mich verhalten, wenn das von mir Ersehnte tatsächlich eingetroffen wäre? Ich arbeitete also weiter, bis etwas geschah ...
Monsieur Xavier war unleugbar ein hübscher Junge, noch viel hübscher als auf der Photographie. Ein leichter blonder Schnurrbart zierte seinen hübschen roten Mund, der wie zum Küssen geschaffen schien, seine hellblauen Augen waren seltsamerweise goldgelb gesprenkelt, was ihnen einen besonderen Reiz verlieh. Er hatte die lässigen weichen Bewegungen eines Mädchens oder eines jungen Raubtieres. Er war groß, sehr schlank, feingliedrig und hochelegant. Daß er für zynisch und verdorben galt, machte ihn für mich nur noch anziehender. Ach, er hatte mir bereits am ersten Tag gefallen, aber seine Ablehnung und seine Verachtung meiner Person bewirkten schließlich, daß ich ihn haben wollte, aber nicht nur das, ich bildete mir sogar ein, ihn zu lieben.
Eines Morgens, als ich zu ihm kam, war er bereits wach und saß mit nackten Beinen auf dem Bettrand. Soweit ich mich erinnere, trug er damals ein weißes Seidenhemd mit blauen Tupfen. Ich wollte mich diskret zurückziehen, da rief er mich:
»Was hast du denn? Komm doch herein. Mache ich dir Angst? Noch nie einen Mann gesehen, Püppchen?«
Er bedeckte sein nacktes Knie mit einem Hemdzipfel, spreizte darüber seine Hände, starrte mich frech an und wiegte dazu seinen Oberkörper, während ich leicht errötend mit katzenhaft lässigen Bewegungen näher kam und das Frühstückstablett auf ein Tischchen beim Kamin stellte. Und da er mich bisher noch nie eines Blickes gewürdigt hatte, sagte er überrascht:
»Du bist ja ein ganz reizendes Mädchen. Seit wann bist du denn im Hause?«
»Seit drei Wochen, Monsieur.«
»Aber das ist ja phantastisch!«
»Was ist phantastisch, Monsieur?«
»Daß ich noch nie bemerkt habe, welch hübsches Kind du bist.«
Er streckte seine übergeschlagenen Beine aus, stemmte sie leicht gegen den Teppich, klatschte sich auf die runden, weißen, femininen Schenkel.
»Komm her zu mir!«
Ich gehorchte zögernd. Da packte er mich wortlos um die Taille, zog mich an sich und schnupperte an mir. Dann zog er mich neben sich auf den Bettrand.
»Nein, Monsieur Xavier«, sagte ich und sträubte mich ohne besonderen Widerstand, »das geht nicht. Was würden Ihre Eltern dazu sagen!«
Er lachte schallend.
»Meine Eltern? Ach, weißt du, meine Eltern, die habe ich gefressen.«
Gefressen war eines seiner Lieblingsworte. Wenn man ihn irgend etwas fragte, antwortete er »das habe ich gefressen«. Anscheinend hatte er fast alles gefressen. Um seine Attacke ein wenig hinauszuschieben, sagte ich:
»Es gibt etwas, was mich sehr beunruhigt, Monsieur Xavier. Warum sieht man Sie eigentlich nie bei den Diners von Madame?«
»Deine Frage ist köstlich, mein Schatz! Also gut: die Diners von Madame kotzen mich an.«
Er nestelte ungeduldig an meiner Bluse, da sagte ich ablenkend:
»Und warum hängt eigentlich in Ihrem Zimmer kein Porträt des Papstes?«
Diese Frage schien ihm geschmeichelt zu haben, denn er antwortete:
»Ich will dir etwas sagen, Schätzchen, ich bin nämlich Anarchist. Religion, Jesuiten, Pfaffen, die habe ich gefressen. Eine Gesellschaft, die aus Leuten wie Mama und Papa besteht? Davon habe ich die Nase voll. Das fehlte mir gerade noch.«
Mit einemmal fühlte ich mich wie zu Hause bei Monsieur Xavier. Bei ihm fand ich die Laster und den lässigen Tonfall der Pariser Herumtreiber. Er war mir plötzlich vertraut, als kannte ich ihn schon seit Jahren. Jetzt war es an ihm, mich auszufragen:
»Sag einmal – klappt es mit dir und Papa?«
»Ihr Vater ...« rief ich so entrüstet wie möglich, »aber Monsieur Xavier, ein so frommer Mann!«
Er platzte beinahe vor Lachen und rief laut:
»Mein Papa? Oh! Mein Papa! Der schläft doch mit allen Kammerzofen! Mein Papa! Der hat es auf die Dienstboten scharf! Du warst also noch nicht an der Reihe? Das überrascht mich.«
Sein Lachen steckte mich an. »Nein«, antwortete ich, »noch nicht. Er hat mir bloß Lektüre zugesteckt: Fin de Siècle, Rigolo und Petites Femmes de Paris ...«
Das entlockte ihm wieder eine Lachsalve:
»Papa ...« platzte er heraus, »also so etwas! Mein Papa ist wirklich überwältigend!«
Er geriet immer mehr in Stimmung und fing an, auf recht komische Weise auszupacken:
»Weißt du, Mama ist von der gleichen Sorte. Gestern hat sie mir wieder einmal eine Szene gemacht. Ich entehrte sie und Papa, Religion und Gesellschaft und überhaupt alles! Hast du Worte? Man könnte sich totlachen. Na, da hab' ich ihr erklärt: ›Einverstanden, geliebte kleine Mama. Ich werde mich zusammennehmen und brav werden, von dem Tag an, wo du deine Liebhaber zum Teufel schickst.‹ Das hat hingehaut, sag' ich dir, da wurde sie zahm. Unter uns, Kleine, ich habe meine Erzeuger gefressen. Die sind wirklich zum Auswachsen. Dank ihren diversen Geschichten! Apropos kennst du vielleicht Fumeau?«
»Nein, Monsieur Xavier.«
»Aber ja, aber ja. Anthime Fumeau?«
»Ich kenne ihn bestimmt nicht.«
»Doch, doch, so ein Dicker, ganz jung, hochgerötetes Gesicht, hochelegant, Besitzer des schönsten Pferdegespannes von ganz Paris? Fumeau, du weißt doch, Fumeau mit seinen drei Millionen Rente. Denk nach, du mußt ihn doch kennen!«
»Und doch kenne ich ihn bestimmt nicht.«
»Also das ist erstaunlich, alle Welt kennt ihn, den Fumeau! Den schlechten Spieler! Denk nach! Vor drei Monaten hat er einen großen Prozeß gehabt! Fällt noch immer nicht der Groschen?«
»Keineswegs, Monsieur Xavier, ich schwöre es Ihnen!«
»Ist mir auch egal, kleine Pute! Also mit diesem Anthime Fumeau habe ich im vorigen Jahr einen tollen Coup gelandet. Rate einmal – oder errätst du es nicht?«
»Wie kann ich raten, wenn ich den Mann nicht kenne?«
»Dann paß jetzt gut auf, mein Baby, ich habe Mama mit diesem Erzschelm zusammengebracht – kapiert? Phantastisch, nicht wahr? Ehrenwort, das war eine tolle Sache. Und das Drolligste an der ganzen Geschichte ist, daß Mama den Burschen in zwei Monaten um dreihunderttausend Moneten erleichtert hat. Und Papa, der hat ihn auch ganz hübsch gewürzt! Für seine wohltätigen Werke, natürlich! Oh! Die verstehen es! Alles aus Nächstenliebe. Die kennen sich aus! Die wissen, wie man ein solches Ding dreht, denn sonst – sonst wäre uns allen hier schon längst die Luft ausgegangen. Wir waren knapp vor dem Ruin. Nichts wie Schulden. Sogar die Pfaffen, sogar die, wollten nichts mehr davon hören. Was sagst du dazu?«
»Ich sage, Monsieur Xavier, daß ihr ein merkwürdiges Familienleben führt.«
»Was willst du? Ich bin Anarchist, Schätzchen, die Familie habe ich gefressen.«
Während dieses Gespräches hatte er meine Bluse aufgeknöpft, eine ehemalige Lieblingsbluse von Madame, die mir entzückend stand.
»Oh! Monsieur, Monsieur Xavier – das dürfen Sie doch nicht. Sie sind wirklich eine kleine Kanaille.«
Ich versuchte mich anstandshalber zu verteidigen. Da legte er mir die Hand auf den Mund und sagte:
»Kusch, mein Liebling!«
Dann warf er mich auf das Bett und flüsterte:
»Oh, wie riechst du gut! Du kleines Flittchen riechst genauso wie Mama!«
Am anderen Morgen behandelte mich Madame außergewöhnlich nett, sie sagte zu mir:
»Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen, Mary, ich erhöhe Ihr Gehalt um zehn Franc.«
Wenn ich, so dachte ich mir, jedesmal zehn Franc dafür bekomme – jedesmal zehn Franc mehr –, dann mache ich ein ganz gutes Geschäft, ein passendes sogar ...
Wenn ich heute so darüber nachdenke, so habe ich dieses Leben »gefressen«.
Monsieur Xaviers Leidenschaft oder, besser gesagt, sein Appetit auf mich hielt nicht lange an. Bald hatte er mich »gefressen«. Übrigens habe ich ihn keine Minute ans Haus fesseln können. Wenn ich morgens in sein Zimmer ging, fand ich sein Bett unberührt. Monsieur Xavier hatte nicht zu Hause geschlafen. Die Köchin hatte es mir richtig prophezeit:
»Das liebe Kind fliegt mehr auf die Professionellen. Die Kokotten sind sein Schwarm!«
Er war also zu seinen früheren Gewohnheiten, seinen früheren Vergnügungen und Liebeleien zurückgekehrt.
An diesem Morgen schmerzte mich mein Herz, und den ganzen Tag über war ich traurig, sehr traurig!
Das Malheur an der ganzen Geschichte ist, daß Monsieur Xavier weder Gefühl noch Herz hat. Er war nicht poetisch veranlagt wie Monsieur Georges. Wenn es geschehen war. hatte er genug und interessierte sich nicht mehr für mich, er sagte brutal »schau daß du weiterkommst …« Er schenkte mir nicht mehr die geringste Aufmerksamkeit. Nie sagte er ein liebes Wort zu mir wie andere Liebhaber, wie es zum Beispiel im Theater vorkommt. Auch hielt er nichts von den Dingen, die ich liebte, zum Beispiel Blumen. Höchstens die großen Nelken, von denen er sich gern eine in sein Knopfloch steckte. Wie süß ist es doch, einander Liebesworte zuzuflüstern, zarte Küsse auszutauschen, einander in die Augen zu schauen. Aber die meisten Männer sind tolpatschig und gemein. Für reine Freuden haben sie gar nichts übrig. Romantik finden sie dumm. Und ich finde das höchst bedauerlich. Monsieur Xavier findet nur an Laster und Ausschweifung Vergnügen. Eine Liebe ohne Laster und Ausschweifung langweilt ihn.
»Also so etwas, nein – Romantik habe ich gefressen. Poesie – zum Kotzen! Das findest du bei Papa ...«
Oft demütigte er mich so, daß er mich, sobald er befriedigt war, wie eine vollkommen gleichgültige Person behandelte, als den Dienstboten, dem er Befehle gab und über den er sich in zynischer Lausbubenhaftigkeit lustig machte. Manchmal sagte er mit hämischem Lachen zu mir:
»Papa? Du hast noch immer nicht mit Papa geschlafen? Das überrascht mich.«
Ein andermal, ich konnte kaum mehr meine Tränen zurückhalten, sagte er boshaft:
»Also das ist doch die Höhe – du heulst. Das fehlte mir noch. Tränen und Szenen? Wenn du ohne das nicht sein kannst, Häschen, dann fort mit dir, gute Nacht. Solches Getue habe ich gefressen!«
Und dann gab er mir einen brutalen Stoß und zündete sich eine Zigarette an.
Während ich noch unter den letzten Schauern der Umarmung erzittere, möchte ich den lieben Jungen, der mich glücklich gemacht hat, eine Weile in meinen Armen behalten, denn nach der sinnlichen Erschütterung verlangt es mich nach einer wohltuenden Entspannung, nach einer reinen Umarmung ohne wilde Sinnenbegierde, nach dem Taumel sehne ich mich nach seelischer Zärtlichkeit. Es gibt aus der Hölle der Liebe eine Himmelfahrt zu höherem Entzücken. Monsieur Xavier kennt diese Ekstase nicht, er sagt, er habe sie gefressen. So wie der Akt vollzogen und der Höhepunkt vorbei ist, reißt er sich aus meinen Armen, ein Kuß nach dem Geschlechtsakt ist ihm widerlich. Es scheint wirklich, daß außer unserem Geschlecht keine andere Vereinigung stattfindet, nichts von unseren Seelen bleibt nachher zurück, als wären sie nicht einen Augenblick lang im selben Schrei, im selben Vergessen und im selben herrlichen Ersterben verschmolzen gewesen. Wenn ich ihn einmal an meiner Brust zurückhalten wollte, wurde er grob, löste sich mit einem brutalen Stoß von mir, sprang aus dem Bett:
»O nein, nein – weißt du, das ist mir verhaßt.«
Nichts war mir schmerzlicher als zu sehen, daß ich in seinem Herzen nicht die kleinste Spur von Liebe und von Zärtlichkeit hinterlassen hatte, obwohl ich mich all seinen unzüchtigen Launen unterworfen und oft selbst seinen unglaublichsten Einfällen zuvorgekommen war. Gott weiß, welch abscheuliche Sachen er sich ausdenken konnte, Gott weiß, wie erniedrigend und fürchterlich vieles für mich gewesen war! Wie verderbt war dieser Grünschnabel! Schlimmer als ein Alter, erfinderischer, unzüchtiger und grausamer als ein seniler Lebegreis oder ein teuflischer Priester.
Dennoch, glaube ich, hätte ich diese kleine Kanaille trotz allem lieben können, ich hätte mich ihm unterworfen, wie ein Tier, ich hätte mich ergeben. Selbst heute denke ich oft noch voll Bedauern an sein hübsches, freches, böses Gesichtchen, an seine parfümierte Haut, an alles, was seine Verderbtheit sich für mich ausgedacht hat, oft spüre ich noch auf meinen Lippen, die seither so viele berührt haben, den bitteren Geschmack seiner brennenden Küsse. Ach, Monsieur Xavier, Monsieur Xavier!
Als er eines Abends vor dem Diner nach Hause gekommen war, um sich umzuziehen – Gott war der Bengel reizend im Frack! –, und ich gerade dabei war, seine Sachen sorgfältig herzurichten, fragte er mich ohne zu zögern und ohne Verlegenheit, als verlange er warmes Wasser:
»Hast du zufällig fünf Louis bei dir? Ich brauche heute abend unbedingt fünf Louis. Ich gebe sie dir morgen zurück.«
Wußte er vielleicht, daß Madame mich heute morgen ausgezahlt hatte?
»Ich habe leider nur neunzig Franc«, sagte ich verlegen, verlegen weil er mich fragte, und verlegen vor allem, glaube ich, weil ich nicht die ganze Summe, die er verlangte, zur Verfügung hatte.
»Das macht nichts ...« sagte er, »geh sie holen, deine neunzig Franc. Du bekommst sie morgen zurück.«
Er nahm das Geld mit einem trockenen »Es ist gut« an sich. Sein Ton traf mich ins Herz. Dann streckte er mir mit einer herrischen Bewegung seinen Fuß entgegen und sagte brutal:
»Binde mir die Schuhriemen zu, aber schnell, ich habe es eilig!«
Ich blickte ihn traurig an und seufzte: »Kommen Sie bald wieder?«
»Nein, ich esse in der Stadt. Beeil dich doch ...«
Ich verknotete seine Schuhbänder und sagte bedrückt:
»Dann schlafen Sie also wieder mit schmutzigen Weibern? Sie kommen nachts nicht nach Hause? Und ich, ich werde die ganze Nacht weinen. Sie sind gar nicht nett, Monsieur Xavier.«
Da aber wurde seine Stimme schneidend und hart:
»Wenn dir nichts Gescheiteres einfällt, als mich anzuwimmern, dann kannst du dir deine neunzig Franc wieder nehmen. Ich verzichte darauf, da hast du, nimm sie!«
»Nein, nein ...« ich hatte Mühe, die Tränen zu unterdrücken. »Sie wissen recht gut, daß es nicht so gemeint war.«
»Na schön, dann laß mich in Ruhe und verschwinde!«
Er zog sich hastig fertig an und verließ das Zimmer, ohne eine Umarmung, ohne ein Wort.
Am nächsten Morgen war von meinem Geld nicht mehr die Rede, ich selbst wollte ihn nicht daran erinnern, ja, es war mir sogar lieb, daß er etwas von mir besaß. Damals verstand ich die Frauen, die sich nachts auf der Straße an Passanten verkaufen, schuften und stehlen und alle erdenklichen Verbrechen begehen, nur um ein wenig Geld nach Hause zu bringen, um ihren geliebten Bengel damit zu verwöhnen. Auch ich wäre dazu imstande, vielleicht – ich weiß es nicht. Aber es gibt Momente, wo ich in den Händen eines Mannes so schwach werde, so weich, daß ich jeden Willen und jede Courage verliere und böse werden könnte, zu jeder Gemeinheit fähig.
Angesichts des so baldigen Rückfalls von Monsieur Xavier änderte sich Madames Benehmen mir gegenüber sehr schnell. So freundlich sie bis jetzt zu mir gewesen war, so bissig und anspruchsvoll wurde sie nun. Nichts machte ich ihr recht, zu nichts war ich zu gebrauchen, ich war ungezogen, schmutzig, diebisch, vergeßlich, und ihre bisher so freundliche Stimme war auf einmal scharf wie Essig. Sie gab mir ihre Anordnungen in einem erniedrigenden schroffen Ton. Vorbei war es mit den guten Ratschlägen, den intimen Konfidenzen, vorbei mit den Dessous, den Coldcremeeinreibungen, dem Reispuder, kurz mit allem, was mich zu Anfang so irritiert hatte, daß mir sogar der Gedanke gekommen war, ob Madame nicht ein wenig abwegig veranlagt sei. Aus war es mit der falschen Kameradschaft, keine Spur von Güte kannte diese Person, aus war es mit meinem Respekt vor dieser Herrin, die mich zur Lasterhaftigkeit angetrieben hatte. Ich traute ihr alles zu, für mich waren die Schleier gefallen. Ich hielt mich nicht länger zurück. Schließlich gerieten wir in Streit, wir zankten uns wie Fischweiber und warfen einander die gemeinsten Dinge an den Kopf.
»Wofür halten Sie mein Haus?« schrie sie. »Wir sind kein Bordell, merken Sie sich das, Sie Schickse!«
Nein, diese Frechheit!
»Das nenne ich mir ein feines Haus, ein schönes Haus«, schrie ich zurück, »darauf können Sie sich etwas einbilden. Und Sie selbst? Wenn Sie es genau hören wollen, Sie sind auch ein nettes Früchtchen. Und Monsieur? Der ist erst ein Gauner! O là là, ihr seid ja bekannt in ganz Paris – nicht nur hier im Viertel. Wissen Sie, was man zu hören bekommt, wenn man in Paris über Sie spricht? Da sagt jeder sofort, ach, dieses Haus, in dem Sie dienen, das ist das reinste Bordell! Und dazu kann man bloß sagen, es gibt Bordelle, wo es bedeutend anständiger zugeht als in Ihrem Haus ...«
Die Streitereien arteten häufig in wilde Beschimpfungen und gefährliche Drohungen aus, wahrhaftig, es ging zu wie unter den Weibern in den öffentlichen Häusern.
Dann wurde eines Tages das Klima wieder friedlich. Es genügte, daß Monsieur Xavier wieder einmal an mir Geschmack fand. Die Zeit der familiären Gespräche, der falschen Freundlichkeiten, der Geschenke, der Lohnerhöhungen kehrte flugs zurück. Abermals wurde ich mit Creme Simon gesalbt, mit Parfüms besprüht. Natürlich erteilte man mir Unterricht in der Kunst des Verführens und intime Ratschläge für das Raffinement der Wollust. Automatisch spiegelte sich Madames Verhalten in dem Verhalten ihres Sohnes. Den Umarmungen des einen folgte regelmäßig die Gnade der anderen. Ich war das Opfer, hin und her geworfen von den enervierenden Launen eines verwöhnten grausamen Knaben, der wirkliche Liebe nicht kannte, weil er kein Herz besaß. Wurde Madame unverschämt zu mir, dann konnte ich von ihrem Benehmen ablesen, daß Xavier wieder einmal mich »gefressen« hatte. Das spielte sich mit solcher Perfektion ab, daß man meinen konnte, Madame belausche an der Tür ihres Sohnes die verschiedenen Phasen unseres Beisammenseins. Aber sie tat es nicht. Sie erriet einfach die Lage, und ihr Instinkt betrog sie ebensowenig wie den Jagdhund seine Witterung für die Beute.
Was nun Monsieur betraf, so tummelte sich das drollige Männchen munter zwischen den Ereignissen umher, trotz aller heimlichen Dramen und Grotesken behielt er seinen Humor und gab dazu zynische oder komische Kommentare. Morgens verschwand er mit seinem frisch rasierten roten Faunsgesicht, unter den Armen die von obszönen Zeitschriften und erbaulichen Büchern überquellenden Aktenmappen. Abends tauchte er dann wieder auf, strahlend vor Biederkeit und christlichem Sozialismus, vielleicht eine Idee langsamer, ein wenig müder als morgens, vermutlich hatten ihn die tagsüber vollbrachten Werke der Nächstenliebe doch ziemlich erschöpft. Regelmäßig freitags früh wiederholte sich dieselbe spaßige Szene:
»Was ist da drin?« fragte er mich, indem er eine der Mappen hochhielt.
»Schweinereien«, antwortete ich prompt.
»Aber nein – sehr erbauliche Geschichten.«
Dabei nickte er mir zwinkernd zu, streichelte mein Kinn und sagte schmatzend:
»Sapristi, was für ein appetitlicher süßer Käfer.«
Nachmittags saß ich einmal allein in der Lingerie über eine Arbeit gebeugt, da erschien ganz überraschend Monsieur im Eingang. Ich war ziemlich deprimiert an diesem Tag, denn ich hatte vormittags eine scheußliche Szene mit Monsieur Xavier gehabt, die immer noch in mir nachwirkte. Monsieur schloß lautlos die Tür, stellte seine Aktenmappe auf den großen Tisch neben einen Haufen Leintücher und als er sich mir genähert hatte, ergriff er meine Hände und begann sie zu tätscheln. Ich sah seine Lider flattern. Er verdrehte die Augen wie ein altes Huhn in der Sonne. Es war zum Totlachen.
»Célestine ...« begann er, »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie Célestine nenne. Mir gefällt das besser.«
»Aber nein, Monsieur«, hauchte ich, mein Lachen mühsam zurückhaltend.
»Es ist nämlich so, Célestine. Ja, ich finde Sie so reizend – das ist es!«
»Wirklich, Monsieur?«
»Du bist bezaubernd, Püppchen, einfach bezaubernd, entzückend.«
»Oh, Monsieur!«
Seine Finger hatten meine Hand verlassen, sie wanderten lüstern über meine Bluse zu meinem Nacken, sie betasteten meinen Hals, kleine kurze dicke Finger, die auf mir herumklimperten.
»Anbetungswürdig – anbetungswürdig ...« flüsterte er.
Er wollte mich umarmen. Ich lehnte mich zurück, um seinem Kuß auszuweichen:
»Bleiben Sie, Célestine – ich flehe Sie an. Sei lieb, mein Kind! Es stört dich doch nicht, wenn ich du zu dir sage?«
»Nein, Monsieur, aber es wundert mich.«
»Es wundert dich – du kleine Kokette. Es wundert dich? Oh! Du kennst mich ja noch gar nicht ...!«
Seine Lippen wurden feucht, in seinen Mundwinkeln begann es zu speicheln.
»Hör zu, Célestine, nächste Woche habe ich in Lourdes zu tun, ich muß einen Pilgerzug hinführen. Willst du mich nach Lourdes begleiten? Ich hätte eine Möglichkeit, dich mitzunehmen. Willst du? Niemand würde dich sehen. Du kannst im Hotel bleiben. Du kannst spazierengehen – kannst dich amüsieren, wie du willst, und abends, abends – oh, da komme ich in dein Zimmer – in dein Zimmer – in dein Bett, kleine Schelmin! Oh! Du kennst mich noch nicht, hast keine Ahnung, wessen ich fähig bin. In meiner Person vereinen sich die Erfahrungen eines Alten mit der Glut eines Jungen. Ja, du wirst ja sehen. Du wirst ja sehen. Oh, du süßer Fratz, du mit deinen großen kecken Augen!«
Was mich an diesem Vorschlag wunderte – irgendwie hatte ich ihn ja erwartet –, das war die aparte Fasson, in der er vorgetragen wurde. Monsieur war ein Original. Dennoch bewahrte ich meine Kaltblütigkeit, ich steigerte sie sogar. Ich wollte diesem alten Wüstling zeigen, daß ich seine und Madames schmutzige Rechnung längst durchschaut hatte, und schleuderte ihm meine Meinung ins Gesicht:
»Und Monsieur Xavier? Sagen Sie einmal, es scheint, Sie haben Monsieur Xavier vollkommen vergessen? Was wird denn aus ihm, wenn wir zwei uns in Lourdes auf Kosten der Caritas amüsieren?«
Peinliche Überraschung, finstere Scham, glitzerte im Dunkel seiner Augen. Er stammelte:
»Monsieur Xavier?«
»Genau er!«
»Warum sprechen Sie plötzlich von Monsieur Xavier? Es handelt sich doch nicht um Monsieur Xavier. Xavier hat nichts damit zu tun.«
Ich verdoppelte meine Unverschämtheit:
»Auf Ehrenwort? Keine Ausreden, wenn ich bitten darf! Wurde ich engagiert, um mit Monsieur Xavier zu schlafen, ja oder nein? Ja, nicht wahr? Also, ich schlafe mit ihm – ich tue also meine Pflicht. Aber Sie? Mit Ihnen? Das wäre gegen die Vereinbarung. Und dann, wissen Sie, Alterchen, Sie sind nicht mein Typ!«
Und dann platzte ihm mein Lachen ins Gesicht.
Er wurde purpurrot, seine Augen flammten vor Wut. Aber er zog es anscheinend vor, sich nicht auf eine Auseinandersetzung mit mir einzulassen, bei der ich bis zum Äußersten gegangen wäre. Er hätte wohl den kürzeren gezogen. Überstürzt hob er seine Tasche auf und trollte sich, verfolgt von meinem Gelächter.
Am nächsten Morgen beleidigte mich Monsieur in sehr grober Weise wegen nichts und wieder nichts. Er brachte mich in Rage, Madame kreuzte plötzlich auf. Ich wurde rasend vor Wut. Die Szene, die sich dann abspielte, war so entsetzlich, so gemein, daß ich sie lieber nicht niederschreiben möchte. Ich warf ihnen in Worten, die nicht wiederzugeben sind, alle ihre Schweinereien und infamen Intrigen ins Gesicht, und ich verlangte das Geld zurück, welches ich Monsieur Xavier geliehen hatte. Sie schäumten vor Entrüstung. Schließlich warf ich, außer mir geraten, Monsieur ein Kissen an den Kopf.
»Hinaus! Verschwinden Sie auf der Stelle«, heulte Madame und stürzte sich auf mich, um mir mit ihren Fingernägeln das Gesicht zu zerkratzen.
»Sie werden aus meiner Gesellschaft gestrichen! Sie gehören ab heute nicht mehr dazu, Sie verworfenes Geschöpf – Prostituierte!« brüllte Monsieur und bearbeitete mit Faustschlägen seine Aktenmappe.
Schließlich befahl mir Madame, allen geschenkten Plunder zurückzugeben, sie zog mir acht Tage vom Gehalt ab und weigerte sich, die Monsieur Xavier geliehenen neunzig Franc zu zahlen.
»Ihr seid alle Diebe, Räuber und Zuhälter!«
Und dann ging ich, nicht ohne ihnen mit der Polizei und dem Friedensrichter gedroht zu haben.
»Ihr wollt also Aufsehen und Skandal? Gut, den könnt ihr haben, ihr Gauner!«
Es kam anders, leider! Der Polizeikommissar behauptete, das Ganze gehe ihn nichts an, der Friedensrichter riet mir, die Sache einschlafen zu lassen. Er erklärte:
»Zunächst einmal, Mademoiselle, würde man Ihnen kaum glauben, und das ist auch richtig, verstehen Sie. Was würde denn aus der Gesellschaft werden, wenn jedes Dienstmädchen sich gegen die Herrschaft auflehnen dürfte? Dann gäbe es bald keine Gesellschaft mehr, liebes Kind, wir hätten die Anarchie ...«
Ich zog einen Notar zu Rate, aber der verlangte vor allem zweihundert Franc Vorschuß. Ich schrieb an Monsieur Xavier: er antwortete nicht. Dann zählte ich meinen armseligen Besitz. Mir blieben zum Schluß genau 35 Franc – und die Straße.