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Heute ist ein mürrischer Tag. Aber ich ertrage ihn fast leicht, denn ich sage mir, daß ich nur noch zwei Tage hier zuzubringen habe. Auch ist der berühmte Maler Guillaume Barnez zu Besuch zu mir gekommen. Seine anspruchsvolle Nichtigkeit, seine maßlose Eitelkeit bereitet mir immer neues Vergnügen.
Ihm ist folgendes Abenteuer widerfahren. Es wird gut sein, wenn es später in seiner Biographie Platz findet.
Gegend Abend hatte Madame Barnez einen letzten Krampfanfall; sie stieß ein letztes Röcheln aus und starb ... Und vor der fahlen Leiche, die auskühlte, stand der berühmte Maler vernichtet, mit irren Augen; er begriff nicht, er konnte nicht glauben, daß der Tod so rasch gekommen sei, um ihm sein Weib zu rauben ... In drei Tagen ward sie hinweggerafft! ... In drei Tagen! ... Sie, so schön, von so triumphirendem Fleische, von so korrekter Zeichnung, so ganz und gar Renaissance! ... In drei Tagen, sie, die mit so wunderbaren, mit so akademischen Bewegungen zu Kaiserinnen, Buhlerinnen, Nymphen, Märtyrerinnen Modell stand ... Sie, die ihm eine Ehrenmedaille für seinen » Tod der Agrippina« eingetragen hat. In drei Tagen! Vor kaum einer Woche noch lag sie da auf dem Modelltische, inmitten von gelben Seidenstoffen und von scharlachrothen Kissen, als Modell zu einer Cleopatra, mit welcher er sicherlich einen Sitz im Institut gewonnen hätte! Und Barnez sah die Starrheit der niederhängenden, mit Goldreifen geschmückten Arme wieder, die reiche Fülle des aufgelösten Haares, den strahlenden Bauch, die blendenden Brüste, das wunderbare Vorspringen der Hüften, die sammtweichen Beine ... In drei Tagen war all' dies erloschen, verloren, verschwunden! Das war entsetzlich, unmöglich!
– Mathilde! ... meine kleine Mathilde! stöhnte der Unglückliche, – sprich zu mir ... Es ist nicht wahr, daß Du todt bist. Du posirst eine Ophelia, eine Julia, nicht wahr? ... Aber Du bist nicht todt, Du lebst ... Ach, sprich zu mir ...
Doch er fühlte an seinen Lippen die Kälte der todten Lippen, eine Kälte, die ihn brannte wie glühendes Eisen. Da sank er denn auf das Bett hin, vergrub seinen Kopf in den Kissen und rief schluchzend:
– Mein Gott! mein Gott! Sie posirt nicht.
Die Todtenwache bei der Leiche seiner Frau wollte er Niemandem anvertrauen und er verschloß seine Thür den ungebetenen Tröstern. Er allein besorgte die Todten-Toilette; er allein streute Blumen auf das Bett, duftende Büschel weißen Flieders, weißer Rosen, große weiße Lilien, Schneebälle. In ein weißes Kleid gehüllt und auf diesem weißen Lager ruhend, schien Mathilde zu schlafen.
Ein Jahr früher hatte Barnez ein Kind verloren, seinen einzigen Sohn, einen pausbäckigen, rosigen, herrlichen Knaben, der wie ein Erwachsener Modell stand, für Engel und für Liebesgötter. Und jetzt nahm man ihm seine Frau. Fortan hatte er Niemanden, den er lieben konnte; er war allein, so allein, daß der Gedanke an den Tod ihm einen Augenblick tröstlich war. Was sollte ihm das Leben? Und für wen sollte er leben? Mein Gott, für wen? Alles brach zusammen ... Alles, selbst die egoistischen Freuden der Kunst, selbst das köstliche Martyrium des Schaffens, selbst das göttliche Entzücken, der erhabene Wahnsinn, welche aus einem Fleischeston, aus einem Stoffreflex, aus einem Sonnenstrahl auf dem Meere, aus einer nebelverlorenen Ferne die Dichtungen des ewigen Traumes erstehen und erzittern lassen ... die Medaillen, die Bestellungen des Staates, die hohen Preise ... Einige Minuten hatte er den Gedanken, einen Doppelsarg anfertigen zu lassen, in welchem auch er sich an der Seite seines theueren Weibes würde ausstrecken können ... Sein theures Weib, seine Cleopatra, seine Agrippina, seine Niobe, seine Königin von Saba! ... Mein Gott! mein Gott! ... Und er, sein kleiner Georges, der nackt, blondgelockt, mit einer Rose im Schnabel, mit einem umgehängten Pfeilköcher, so köstlich aus einem Berge von farbenblühenden Bändern aufstieg, oder mit blauen Flügeln unter einem ockergelben Himmel dahinflog ... Mein Gott! ... mein Gott!
Von Ermüdung und von den Aufregungen gebrochen, schlief er in der Nacht ein ... Als er wieder erwachte, ergoß der Sonnenschein in das Sterbezimmer helle vibrirende Lichter. Barnez fühlte Reue darüber, daß er sich durch den Schlaf habe übermannen lassen. Er beschuldigte sich sogar:
– Und ich habe geschlafen! ... während sie ... Ach, vergib, meine Vielgeliebte! Ist es denn wirklich wahr, daß sie todt ist ... Was wird aus mir werden? Ich habe nichts ... nichts mehr. Die Malerei?
Er machte eine zornige, drohende Geberde.
– Die Malerei ... Ach ja, die Malerei! ... Ihr habe ich die Liebe meiner Frau, meines Sohnes geopfert. Wenn ich, anstatt Maler zu sein, Advokat, Buchhalter, Schneider oder gleichviel was wäre, würden diese beiden geliebten Wesen, die ich verloren habe, die ich getödtet habe – denn ich habe sie getödtet – noch leben ... Nein, nichts mehr von der Malerei. Ich zerbreche meine Palette ...
Mit langen, schmerzlichen Blicken betrachtete er seine Frau.
– Ein Elender! ... Ich bin ein Elender! ... Ich habe sie ... nicht ... lieben können! schluchzte er.
Aber allmälig verloren seine Augen ihren schmerzlichen Ausdruck und der Blick, eben noch angsterfüllt und feucht, hatte jene Konzentration, jene Anspannung der Sehkräfte, welche das Auge des Malers in einem gewaltsamen Zwinkern zusammenziehen, wenn er sich vor einem Schauspiel befindet, das ihn interessirt. Und er rief:
– Welcher Ton! ... Ach, Sacristi, welcher Ton!
Indem er dann mit dem Finger langsam einen isolirenden Kreis beschrieb, welcher die Stirne, die Wange und einen Theil des Kissens umfaßte, sagte er sich Folgendes:
– Wie schön das ist! ... Und wie seltsam das ist! ... Diese Feinheit, diese Zartheit und diese Modernheit! Es ist ein Manet ... ohne Widerspruch!
Er berührte die Nase, deren eingefallene Nasenflügel nur mehr zwei kleine violette Flecke waren.
– Welcher Ton! ... Unerhört!
Er wies auf den Schatten unter dem Kinn, einen durchsichtigen Schatten von unendlich zarter, bläulich schimmernder Rosafarbe.
– Und das? Ha, alle Wetter! Ist das fein? ... Eine Wolke! ...
Sein Finger kehrte zur Stirne, zu den Haaren, zum Kissen zurück.
– Und die Übereinstimmung von all' dem! ... Und die Anordnung von all' dem! ... Nein, das ist erstaunlich!
Mit einer breiten Rundbewegung führte er die Hand über das Kleid, über das mit Blumen bestreute Betttuch.
– Und das Weiß von all' dem? Himmelelement! ... Es ist herrlich! Und wie modern! Das wäre ein Erfolg im Salon! ...
Eine Blume war vom Betttuch auf den Teppich geglitten. Barnez hob sie auf, legte sie wieder an ihren Platz und ordnete auch die anderen Blumen von neuem ... Dann trat er einige Schritte zurück, zwinkerte mit den Augen, maß mit beiden Händen den Raum ab, welchen das Motiv auf der Leinwand einnehmen würde und sagte:
– Eine Leinwand von dreißig Centimeter Breite ... das würde passen wie ein Handschuh ... wie ein Handschuh ...
Sein Fuß schlug den Takt; sein Kopf, von rechts nach links gewiegt, markirte den Rhythmus eines Gassenhauers und er summte dazu:
– Wie ein Handschuh! ... wie ein Handschuh ... Carolus Duran ...
Er stellte eine Staffelei in dem Zimmer auf und begann mit Feuereifer zu arbeiten. In der Nähe der Leiche, die, unter Blumen gebettet, immer fahler, immer grüner wurde, hörte man den ganzen Tag nichts als das Klopfen der Bürste auf der Leinwand und von Zeit zu Zeit das Summen eines Atelierliedchens, das Barnez bei der Arbeit zu trällern pflegte:
Herr Bonnat sagt Herrn Gérôme
Tralala! tralala!
Herr Gérôme sagt Herrn Bonnat
Tralalalala!
Am anderen Morgen, kaum daß es hell geworden, nahm er seine Arbeit wieder auf; er beeilte sich fieberhaft und murrte gegen das Kinn Mathildens, dessen »Werth er nicht festhalten konnte«:
– Aber womit ist denn dieses vertrackte Kinn gemacht? Und dann: es verflüchtigt sich Alles. Gestern war es lila, heute ist es pomeranzengelb ... Die Übereinstimmung ist nicht mehr vorhanden ... Jetzt ist es gar grün ... Ach, arme Mathilde! Du posirst nicht mehr wie ehedem! ... Armes Schätzchen! Deine linke Wange will sich nicht drehen und die Konturen werden steif! Kreuzelement! das ist aber ärgerlich! ... Solche Dinge müssen in einer Sitzung fertig gemacht werden ... Schön, das ist nicht übel! ... Ich habe kein Cadmium mehr ...
Und während er wüthend in seinem Farbenkasten suchte, brummte er:
Herr Bonnat sagt Herrn Gérôme
Tralala tralala!
Barnez wurde durch den plötzlichen Eintritt seines Dieners unterbrochen.
– Was gibt's? Ich habe Dir verboten mich zu stören.
Der Diener erwiderte in ernstem Tone:
– Gnädiger Herr! Es sind die Leute von der Leichenbestattung.
Barnez fuhr auf:
– Die Leute von der Leichenbestattung? Welche Leichenbestattung?
– Aber, der gnädige Herr weiß ja ...
– Ach ja, richtig ... Schicke sie zum Teufel!
– Aber, gnädiger Herr! ... wandte der Diener ein, es ist wegen der gnädigen Frau.
– Nun, was? ... Wegen der gnädigen Frau! ... Ich bin eben nicht fertig. Ich brauche noch zwei Stunden ... Beschäftige die Leute von der Leichenbestattung ... Gib ihnen zu trinken. Zeige ihnen das Atelier ... Oder lieber nicht ... höre ...
Er winkte seinem Diener näher zu treten und in heiterem Tone, mit einer übermüthigen Grimasse, in welcher der Zigeuner, der er ehemals gewesen, sich voll und ganz wiederfand, empfahl er ihm:
– Du wirst den Leuten von der Leichenbestattung sagen, daß sie sich in dem Hause geirrt haben, daß es in der benachbarten Straße ist ...
Und er machte sich wieder an seine Arbeit.
Am Abend vom Leichenbegängnisse heimgekehrt, schloß sich Barnez in seinem Zimmer ein. Und mit düsteren Blicken, gerunzelter Stirne, den Kopf in die Hände vergraben, verharrte er vor der Leinwand, die nunmehr Alles war, was ihm von seiner theuren Mathilde geblieben. Nach einer Stunde, als die Nacht hereingebrochen war, erhob er sich.
– Ich sehe wohl, was da noch zu thun wäre! seufzte er. Das ist nicht das Richtige. Aber was kann ich machen? Ich müßte nach der Natur malen! ...
Seit jener Zeit ist Guillaume Barnez sehr traurig. Er vertraut mir seine Entmuthigung.
– Ich kann nicht mehr arbeiten, sagte er. Und hätte ich nicht ältere Bilder in meinem Atelier, so weiß ich wahrhaftig nicht, wie ich leben würde. Du erinnerst Dich doch wohl meines Gemäldes »Gastmahl des Nero«? Ja ... Nun denn: ehe ich hieher kam, habe ich jenes Bild der Herz-Jesukirche von Montmartre als »Hochzeit von Canae« verkauft. Und dann ... was willst Du? ... Die Kunst ist heutzutage verloren. Es ist nur noch für die Manet, für die Renoir, für die Cézanne Arbeit da ... Das ist eine Schmach! ... Meine arme Mathilde hat wohl gethan zu sterben ...
Ich versuchte ihn zu trösten:
– Du beklagst Dich? Und Du bist doch noch immer der berühmte Maler Barnez. Und Du bist zum Mitgliede des Institut gewählt worden!
– Berühmt? ... Gewiß, ich bin berühmt ... Ich bin berühmter als je ... Aber, wenn zufällig eines meiner Bilder zur Versteigerung kommt, wird es mit dem Rahmen für siebzehn Francs zugeschlagen. Ich sage Dir: die Kunst ist verloren ... verloren ... verloren ...
Nach dieser traurigen Prophezeiung verläßt er mich ...
Unwillkürlich ergriffen durch die Situation des Guillaume Barnez, die ich ehedem so glänzend gesehen, ging ich einige Minuten später hinauf, um mich zum Diner anzukleiden. Jemand rief hinter mir, auf der Treppe, meinen Namen:
– Herr Georges! ... Ach, Herr Georges! Ich bitte Sie.
Ich wandte mich um. Es war Herr Tarte. Herr Tarte in Person, im Reitanzug, frisch und fröhlich, ein Liedchen summend, eine Arnica-Blume im Knopfloche. Er kehrte eben von einem Ausfluge nach dem Hafen von Vénasque zurück.
– Guter Abend, grüßte er. Sehr erfreut Sie zu sehen, Herr Georges. Sehr erfreut, wahrhaftig ...
Und indem er in seinen mit Hundsleder beschuhten Händen meine Hand zum Zermalmen drückte, wiederholte er lächelnd:
– Sehr erfreut ... sehr erfreut ... Ach, Sie können sich nicht vorstellen, wie sympathisch Sie mir sind, Herr Georges! ... Sie sind mir ein Freund, ein wirklicher Freund. Übrigens liebe ich heute alle Welt ... Sie hören wohl? Ich liebe alle Welt ...
Diese Herzensergüsse des Herrn Tarte versetzten mich in großes Erstaunen. Es lag nicht in seinen Gewohnheiten, sich so mitzutheilen; im Gegentheil.
Es war ein hageres Männchen, nervös, mit Manien behaftet, mit fieberhaften Geberden, unverschämter Stimme, jeden Augenblick und über jede Kleinigkeit gereizt. Er war sozusagen der Albdruck des Gasthofes. Keine Mahlzeit ging vorüber, ohne durch Zänkereien, durch seine fortwährenden Klagen gestört zu werden. Nichts fand er gut; er klagte über das Brod, über den Wein, über das Beefsteak, über die Kellner, über seine Nachbarn. Seine bissigen Forderungen erstreckten sich sogar auf das System der Waterclosets, welches er nicht vollkommen genug fand. Er war uns Allen eine tägliche Marter. Und nun zeigte er sich plötzlich in einer leutseligen, überschwänglichen Heiterkeit und sein sonst stets zorniges Gesicht strahlte vor Wonne wie das eines Verliebten oder eines Erben ...
Was war ihm geschehen? Wirken etwa die Ausflüge in das schwarze, von Schluchten zerrissene Gebirge besänftigend auf die Sitten? Es interessirte mich, die Ursache dieser plötzlichen Umwandlung zu erfahren.
– Also war es ein lustiger Ausflug, Herr Tarte? fragte ich.
– Ausgezeichnet, Herr Georges ... Ausgezeichnet ...
Und da wir in diesem Augenblicke vor seinem Zimmer standen, sagte mir Herr Tarte:
– Wollen Sie mir ein großes Vergnügen bereiten? Treten Sie einen Augenblick bei mir ein. Nur einen Augenblick, lieber Herr Georges ... Ich muß Ihnen meinen Ausflug erzählen ... Ich muß Jemandem meinen Ausflug erzählen, Jemandem, den ich liebe, wie Sie, Herr Georges.
Ich liebe die Originale, die extravaganten, unvorhergesehenen Menschen. Solche, die von den Physiologen »Entartete« genannt werden. Diese haben wenigstens die Kapitaltugend, nicht so zu sein, wie alle Welt. Ein Narr zum Beispiel? Aber ich meine einen freien Narren, wie wir deren zuweilen, ach, nur zu selten im Leben begegnen ... Das ist eine Oase in der düsteren, flachen Wüste, die das bürgerliche Leben ist. Oh, die lieben, bewunderungswürdigen Narren, diese Wesen des Trostes und des Luxus; wir sollten ihnen einen glühenden Kultus widmen! Denn in unserer knechtischen Gesellschaft sind sie es allein, die die Überlieferungen der geistigen Freiheit, der schöpferischen Freude hochhalten. Sie allein wissen derzeit, was die göttliche Phantasie ist ...
Sie können sich denken, daß ich das Anerbieten des Herrn Tarte annahm.
– Aber ja, Herr Tarte! ... Ich bin entzückt, Herr Tarte!
Und ich trat mit ihm in sein Zimmer.
Mit eifriger Höflichkeit wies er mir einen Sessel an; er selbst versenkte sich in einen Fauteuil.
– Ach, Herr Georges! Lieber Herr Georges! rief er, indem er sich wollüstig ausstreckte ... Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich glücklich bin ... glücklich ... glücklich! Jetzt kann ich aufathmen ... Ich habe eine Last weniger auf dem Gehirn, auf dem Herzen, auf dem Gewissen ... Und welche Last! Die Maladetta! – sehr geehrter und geschätzter Herr Georges? Ja, ich habe die Last der Maladetta und der ganzen Kette der »Verwunschenen Berge« nicht mehr auf dem Schädel. Ich bin endlich frei, leicht, flügge, unwägbar, wenn ich so sagen darf ... Mir ist, als ob ich aus einem bangen, beklemmenden, höllischen Traum erwachte und als ob rings um mich her, über mir, in mir Licht würde ... Licht ... Licht ... Endlich habe ich das Licht wieder, wieder erworben.
– Und was ist Ihnen denn so Außerordentliches geschehen? Welches wunderbare Ereigniß?
Mit glückstrahlendem Gesichte, die Arme außerhalb der Sessellehne weichlich wiegend, sich wie eine Katze in köstlicher Abspannung all' seiner Organe reckend, antwortete Herr Tarte:
– Theurer Herr Georges ... Ach, theurer Herr Georges! ich habe einen Menschen getödtet!
Und auf seinem Antlitz und in seiner Stimme lag ein Ausdruck von Erleichterung, von Befreiung, der Rausch einer vom Zauber erlösten Seele.
– Ich habe einen Menschen getödtet ... ich habe einen Menschen getödtet! ...
Und als ich eine Bewegung der Überraschung nicht unterdrücken konnte, gebot mir Herr Tarte mit einer Bewegung seiner Hand Stillschweigen.
– Keine Entrüstung! Keine Unterbrechung! sagte er. Lassen Sie mich Ihnen die erlösende Freude schildern, die mir heute zutheil geworden, daß ich einen Menschen tödten durfte!
Und in kurzen, abgerissenen, stoßweise vorgebrachten Sätzen sagte er Folgendes:
– Mein lieber Herr Georges, ich leide an chronischer Pharyngitis ... Meine Krankheit hat bisher allen Behandlungen widerstanden ... Dieses Jahr hat mein Arzt mir eine Einathmungskur in X. empfohlen. Sie wissen, was das ist? Es scheint wunderthätig zu sein ... Kurz, ich bin wegen der Einathmungskur hierhergekommen. Das erstemal, als ich in den Einathmungssaal eintrat, war der mir vorgeschriebene Apparat schon besetzt ... Besetzt von einem Herrn. Nase, Mund und Kinn in der Mündung des Schlauches versenkt, sog er überzeugungsvoll ein. Ich sah ihn nur unvollständig. Ich sah von ihm nur die ungeheure, kahle, hoch ansteigende Stirne, die einem mit gelbem Sand bestreuten Wege zwischen zwei Böschungen von rothen Haaren glich. So wie ich ihn sah, schien er mir von Ekel erregender Gewöhnlichkeit. Ich mußte drei Viertelstunden warten.
Ich verlor darüber die Geduld und faßte den Vorsatz, am nächsten Tage früher zu kommen. Als ich am nächsten Tage kam, war der Herr schon da. Am folgenden Tage kam ich noch früher ... Der Herr war schon da ... »Ach, das ist zu stark!« rief ich. »Verläßt er denn den Schlauch gar nicht mehr?« Und ich empfand gegen diesen Menschen einen heftigen, furchtbaren Haß ... Sie können sich nicht vorstellen. Dieser Haß wuchs und verschärfte sich von Tag zu Tag; denn an fünfundzwanzig Tagen fand ich den Apparat nicht ein einzigesmal frei ... Das Erste, was ich beim Eintritt in den Saal bemerkte, war diese Stirne ... Und diese Stirne schien mich zu necken, sich über mich lustig zu machen ... Ja, in der That, sie machte sich lustig über mich ... Niemals hätte ich geglaubt, daß die Stirne eines kahlen Menschen in so wenigen Haaren so viele Herausforderungen enthalten könne. Diese Stirne hielt mich in ihrem Banne, ich sah überall nur sie. Wiederholt mußte ich mir Vernunft zureden und mich zurückhalten, um nicht mit einem Hammer oder einer Keule auf diese beharrlich ironische und höhnische Stirne niederzufahren ... Mein Leben ward unerträglich. Ach, theurer Herr Georges! Ich habe während dieser fünfundzwanzig Tage die seltsame und schmerzliche Marter kennen gelernt, nur an die Tödtung dieses Menschen zu denken und nicht den Muth dazu zu finden. Der Mord war in mir ... im Stadium einer unbestimmten Begierde, aber nicht im Stadium eines entschlossenen Aktes ... Das ist ein furchtbares Leiden. In dieser Seelenverfassung und um – wenn auch nur für einige Stunden – dieser zum Wahnsinn treibenden Mordgier zu entrinnen, beschloß ich, den Ausflug nach dem Hafen von Vénasque zu machen. Ich brach heute Morgens auf. Ich hatte einen guten Führer, ein gutes Pferd ... der Himmel war ein wenig umwölkt. Je höher ich stieg, desto freier ward der Himmel ... nachgerade strahlend, blendend. Aber das Gebirge ist furchtbar. Es erweckt nur Gedanken an Verzweiflung und Tod ... Weit entfernt, mich meine beklemmenden Gedanken vergessen zu machen, vermehrte es noch deren verhängnißvolle Gewalt ... An einem bestimmten Punkte kam mir – wie von der Vorsehung eingegeben – der Gedanke, den bekannten Weg, den Touristenweg zu verlassen und einen Gipfel zu erreichen, wo der Schnee in der Sonne glänzte ... Ich überließ mein Pferd der Obhut des Führers und betrat allein, wüthend, eine Art Saumpfad im Felsen, welcher steil, am Rande eines Abgrundes in die Höhe führte. Es war ein schwerer Aufstieg ... Zwanzigmal glaubte ich in den Abgrund zu stürzen ... Doch ich harrte aus ... als ich mich plötzlich Gesicht an Gesicht, Brust an Brust einem Manne gegenüber sah, der den schmalen Saumpfad herabstieg ... Ha, Sonne Gottes! Es war mein Mann! ... der Mann am Schlauche ... All' mein Blut empörte sich in meinen Adern ... An dem Punkte unserer Begegnung war der Pfad so schmal, daß es zwei Menschen unmöglich war, an einander vorüberzukommen, ohne sich gegenseitig – und zwar mit größter Vorsicht – zu stützen. »Geben Sie mir Ihre Hand,« sagte ich dem Manne, »und haben Sie Acht, denn der Ort ist gefährlich und der Abgrund tief; man kommt von dort nicht wieder herauf.« Und als er – der dreifache Tölpel! – mir die Hand reichte, ließ ich durch einen Ruck ihn das Gleichgewicht verlieren. »Ach, mein Gott!« rief er. »Gute Nacht! gute Nacht!« antwortete ich. Ich sah ihn hinabrollen, von einem Felsen auf den andern fallen ... Und er verschwand in dem Abgrunde. Man hat doch Recht, wenn man sagt, daß die Landschaften nichts weiter seien als die Stimmungen unseres eigenen Geistes ... Denn sogleich erschien mir das Gebirge strahlend in unbekannten Schönheiten ... Ach, welch' ein berauschender Tag! ... Welche Beruhigung! ... Welche Heiterkeit! ... Und welche übermenschlich köstliche Musik steigt aus dem Abgrunde auf!
Herr Tarte erhob sich.
– Wie einfach und sauber ist diese ganze Sache, sagte er nach einer Weile. Ich habe kein Blut an den Fingern, kein Hirn an meinen Kleidern ... Und der Abgrund ist verschwiegen; der wird diese kleinen Geschichten nicht aller Welt erzählen. Ich bin glücklich ... glücklich ... ich athme auf. Uff!
Dann blickte er auf seine Uhr und schloß:
– Es ist spät ... Gehen Sie sich ankleiden, denn ich will heute fröhlich sein ... sehr fröhlich ... Ja, lieber Herr Georges, heute Abend soll der Champagner in Strömen fließen ... und Dämchen soll es geben ... Juchhe!
– Und morgen? fragte ich.
– Morgen? ... Nun wohl, morgen werde ich diese Stirne nicht mehr sehen und werde mit Ruhe die Heilung einathmen. Auf Wiedersehen! ...
Mit mildem Lächeln gab der wackere Mann mir das Geleit bis zur Thür.