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Links von dem alten Binnenhafen von Toulon, an der andern Seite der Gefängnisse, in der man in vergangenen Zeiten die Galeerensklaven unterbrachte, da ist der Platz, wo heute die Torpedojäger vor Anker gehen. An alte, in die Erde gerammte Kanonen befestigt, liegen sie friedlich nebeneinander. Sie erheben sich nur wenig über das Niveau des Wassers und mit ihren kurzen Kaminen, ihrem unbedeutenden Takelwerk und den dünnen Tauen haben sie das Aussehen großer kranker Fische, denen ein unartiges Kind Spulen zum Abhaspeln und Nähnadeln mit langen Fäden in den Rücken gebohrt hat. Morgens kommen die Matrosen rottenweise daraus hervor. Sie suchen gewisse, auf dem Kai befindliche Dinge auf, die wie Tränken aussehen und die in der Tat auch voll süßen Wassers sind. Dann ziehen sie ihre Trikotjacken aus und, nackt bis zum Gürtel, waschen und reiben sie den wohlgenährten Oberkörper, frottieren den Rücken, auf dem die Muskeln, ihren Bewegungen folgend, sich in großen Wellen bewegen. Die Sonne scheint grell und ihre jungen Augen leuchten unter den blinzelnden Lidern.
Um das zu sehen – und es ist schöner wie alles andre in Toulon, weil es ein so überaus lebensvoller Anblick ist – muß man zuerst um den Binnenhafen herumgehen und seinen Weg hinter einem Komplex von Gebäuden her suchen, die fast alle zerstört sind und die in früheren Zeiten, ich weiß nicht, zu welchen Zwecken gedient haben. Auf diesem Pfade gibt es aber weder Pflaster noch Asphalt, der Boden ist ganz mit Wasserpfützen, Kot, ausgebrannten Kohlen, Glasscherben und allerlei Unrat bedeckt. Die Luft riecht nach frischgefangenen Fischen, nach allerlei faulenden Ueberresten, nach dem frischen Salzgeruch des Meeres und nach alter Pökelbrühe und dann plötzlich erscheint sie wie mit Blumenduft erfüllt, denn es gibt in diesem Lande so viel Blumen, daß ihr Duft alles durchdringt. Ganz nahe bei dem Hafendamm, der den Binnenhafen von der Reede trennt, liegt ein stark beschädigtes armseliges Haus, mit einem großen, tief herabhängenden Dach und nur wenigen Fenstern; was ihm einen noch heruntergekommeneren, veralteten und lächerlichen Anblick verleiht, das ist die auf seinen angedunkelten Mauern mit großen schwarzen Buchstaben gemalte Inschrift: »Fanfare der Boeren, gesellschaftlicher Sammelplatz.« Daneben liest man noch eine andre, in kleineren Buchstaben geschriebene Inschrift: »Keller der Boeren,« was, wie ich annehme, ein Hinweis darauf ist, daß »die Fanfare« trinkt.
Als ich an diesem seltsamen Wirtshause vorüberkam und mich fragte, was für Sterbliche wohl den Mut haben könnten, hier ihren Durst zu stillen, kam gerade ein Mann daraus hervor, der sich den Mund wischte. Es war ein Soldat der Kolonial-Infanterie. Er trug rotpassepoilierte Hosen, gelbe Epauletten und eine festgegürtete Tunika. Seine Knöpfe waren sehr blank geputzt, sein Bart hell und die Augen blickten lebhaft, aber an dem abgemagerten Gesicht, das grau wie aus Papiermache gemacht ausschaute, erkannte ich sofort in ihm einen jener Männer, die wir da draußen » crevards« nennen, weil sie sich so ziemlich jede Krankheit geleistet haben, die der Mensch haben kann: Gelbsucht, gefährliche Anfälle, Cholera, fünf- und vierzehntägiges Fieber usw. Aber, obwohl sie infolgedessen oft ganz zerschlagen und elend dreinschauen, darum doch nichts vom Sterben wissen wollen.
Es war Barnavaux.
Er erkannte mich auch sofort und rief mir zu:
»Nun, grüßt man mich nicht mehr? Ist's vielleicht, weil man Kaiser von Deutschland geworden oder sonstige hohe Würden erlangt hat, was?«
Ich habe schon erklärt, daß man sich, wo immer es auch sein möge, niemals darüber wundern muß, plötzlich Barnavaux zu begegnen. Er ist eben da, wenn er da sein muß. Mir blieb nichts übrig, als mich zu entschuldigen, und so entschuldigte ich mich. Und es war nur, um zu plaudern, und weil sich die Frage nicht gut umgehen ließ, daß ich sagte:
»Nun, was machen Sie denn hier?«
Barnavaux blinzelte nach der Stadt hin und antwortete dann sehr gleichmütig, aber mit stark ausgesprochenem Akzent:
»Ich warte hier auf den Gang der Ereignisse.«
Nun hat Barnavaux wirklich nicht die Berechtigung, den hiesigen Dialekt zu sprechen. Er ist nicht aus dem Süden und selbst nicht aus Paris – was ihn nicht wenig verdrießt. Ich habe entdeckt, daß er aus Choisy-le-Roi kommt. Aber er verstellt sich gern. Von dem Augenblick an, wo er den Dialekt nachäffte, wußte ich, daß keinerlei Sympathie zwischen ihm und der Stadt bestand; er sagt aber niemals das, was er sagen will. Ich murmelte:
»Die Arbeiter des Arsenals?«
Wieder öffnete er das eine Auge weit, während er das andre schloß. Darauf machte er die Bewegung eines Mannes, der zuschlägt.
Man muß ein für allemal wissen, daß angesichts der Krisen, die unser unglückliches Land zerreißen, ich mich durchaus der anarchistischen Meinung der Regierung angeschlossen habe, die es mir gestattet, der Ansicht keines andern beizustimmen. So frug ich denn auch Barnavaux jetzt in vorwurfsvollem Tone, was ihm denn die Arbeiter des Arsenals getan hätten. Er antwortete nur:
»Sie … tun nichts.«
Worauf ich ihm entrüstet erwiderte:
»Und Sie?«
Barnavaux ist nicht wie ich; er ist durchaus ehrlich in der Unterhaltung. Er dachte einen Augenblick nach und sagte dann:
»Ich tue natürlich auch nichts.«
Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, fuhr er fort:
»Niemand arbeitet hier in Toulon – ausgenommen die Fischer, die ziehen allerdings zweimal in der Woche aus, um zu fischen; das genügt ihnen dann aber auch. Es ist die Luft, die das mit sich bringt. Sie geht gar so süß ein, die Luft in Toulon! Die Admiräle, die gehen nach Paris; die Offiziere gehen zum Ball, in die Opiumstuben, nach Paris; und alle Welt geht in das Kaffeehaus. Nur daß man sich nachher einschifft, und wenn man erst wieder auf dem Schiffe ist, dann tut man seinen Dienst. Es sind nur die Arbeiter des Arsenals, die sich nicht einschiffen. Sie haben jahraus, jahrein die Erlaubnis, nichts zu tun. Und das ist ungerecht.«
Dann war es, als ob ein neuer Gedanke ihm durch den Sinn führe. Er legte die Stirn in ernste Falten und erklärte:
»Und dann klafft zwischen ihnen und uns der unüberbrückbare Abstand des Korpsgeistes.«
»Ich möchte wohl,« sagte ich, »daß Sie mir eine Definition dessen geben, was Sie unter diesem Worte verstehen.«
»Gut,« sagte er, »obwohl Sie es ohnehin schon genau wissen. Korpsgeist besteht darin, alle andern Korps zu verachten.«
Er war sich offenbar bewußt, daß die Tiefe seines Gedankens mir eine tiefe Bewunderung einflößen müsse, denn er fuhr fort:
»Es gibt Dinge, über die man keine bestimmte Theorie aufstellen kann, sie sind … wie Religionen! Eine dieser von den Soldaten der Marine-Infanterie und den Matrosen anerkannte Religion lehrt, daß man alle Landratten verachten soll. Hauptsächlich aber die Gendarmen.«
»Warum denn gerade die Gendarmen?« frug ich erstaunt.
»Oh,« meinte Barnavaux, »weil … nun weil sie weder der Marine noch der Landarmee angehören. Sie werden von dem Ministerium des Innern ernannt, wie, wie …«
Er suchte nach einem Ausdruck, der seine ganze Verachtung kennzeichnen sollte, und meinte endlich:
»Wie Journalisten.«
»Barnavaux,« sagte ich in ernstem Tone, »versündigen Sie sich nicht an der Literatur. Was haben Ihnen die Gendarmen getan?«
»Nichts,« sagte Barnavaux sehr stolz. »Im Gegenteil, ich habe einen Gendarmen besiegt und zwar in einer Seeschlacht! Es ist einer der glorreichsten Siege, die die Marine-Infanterie je erfochten hat.«
Ich kannte meine Pflicht. Ich bestellte im Keller der Boeren zwei Flaschen weißen Landweins, den man auf diesen Hügeln keltert, Cassis (ein aus schwarzen Johannisbeeren bereiteter Likör), ein Brot und Wurst. Daraus ließen wir uns behaglich auf dem Hafendamm nieder.
Vor uns lag die Reede, die das Aussehen eines Sees hatte; sie ist von hohen Ufern umgeben, von Hügeln, die denen ähneln, die sich über der Stadt erheben und die manchmal mit dunkelm Gehölz und Myrten bewachsen sind, manchmal aber auch ein sehr kahles, ödes Aussehen haben, alte, sehr alte Hügel, die von der Sonne ausgedörrt, vom Regen zerbröckelt sind. Ganz in der Mitte, nach Süden und Westen hin streckten sich große dunkle Massen aus: Panzerschiffe und Kreuzer, die dicht aneinandergedrängt dort vor Anker lagen. Ihre Stahltürme und kriegerischen Mastkörbe täuschten dem Auge das Bild einer befestigten Burg vor, einer phantastischen starken Burg, die von den Bergen herab in das Meer geglitten. Sie schienen fast zu groß zu sein für den begrenzten Raum, in dem sie ganz still lagen, ohne sich zu bewegen. Unaufhörlich jedoch lösten kleine weiße Flecke sich von ihnen ab, die mit unglaublicher Geschwindigkeit hin- und herschossen, es waren kleine Motor- und flinke Segelboote; und große Bojen, von denen man nur die Oberfläche sah, die rot gestrichen war und wie der Deckel eines großen Kochtopfes aussah, bezeichneten den geraden Weg auf dieser großen blauen Wasserfläche.
»Blicken Sie dort hin,« sagte Barnavaux, »da ist der Schauplatz meines Sieges! … Es ist bei Gelegenheit des russischen Besuches gewesen. Ich hatte mein Bündel gepackt, die Hängematte geschnürt und alles schon an Bord des Admiral-Charner gebracht, der am andern Morgen nach Kreta abgehen sollte; aber man hatte uns für die Nacht alle beurlaubt, um unsre Freunde und Verbündeten feiern zu helfen. Ach! Wir können alle Flotten Eduards, die des Königs von Italien und selbst die Deutschlands empfangen – denn alle kommen in dies hündische Land – aber nie, niemals, das schwöre ich bei meiner Ehre als Marineinfanterist, wird man sich so betrinken, wie dies unvermeidlich ist, wenn man mit den Russen zusammen ist! Die ganze Zeit über küssen sie uns auf den Mund und die ganze Zeit über trinken sie: es ist wirklich etwas ganz Uebernatürliches.
Zuerst also genehmigten wir uns einige Schnäpschen in der Bar des ›Schwans und der Galeere‹, die auf dem Wege nach Mourillon liegt, wo es ganz wie in der großen Welt zugeht und wo ein blinder Musiker Klavier spielt. Na, der Blinde hat an dem Abend so viel getrunken, daß er in sein Klavier hineinweinte und daß er den Cakewalk spielte im Glauben, daß es Bojë Tsara Krani sei. Aber die Russen fanden das sehr schön. Nachher ging's zur ›Perle des Mittelmeeres‹; darauf in das Restaurant des ›Nordpols‹, und in das Kaliforniens. In der großen Bar ›Pacific‹ haben wir uns mit Norwegern gerauft, warum, das weiß ich nicht mehr, in der ›Königin der Rascassen‹, einem sehr distinguierten Hause, haben wir etwas gegessen; nachher sind wir wieder in die Bar des ›Schwans und der Galeere‹ zurückgekehrt. Was weiter geschah, dessen erinnere ich mich nicht mehr. Wir sind überall gewesen und ganz sicher ist, daß wir endlich im ›Liebestempel‹ landeten.
Ach! Waren das Nächte! Wie es da zuging! In der Straße liefen Männer in Frauenkleidern umher, und Frauen, die überhaupt nicht bekleidet waren. Mechanische Klaviere standen umher, die nicht mehr spielten, weil man Fußbäder darin nahm, russische Seeleute, gigantische Kerle, schleppten junge Mädchen unter dem Arme mit fort, wohin, das wußten sie selbst nicht. Sie raubten sie, wie Gorillas. Und während all dieser Zeit hörten sie nicht auf, uns fortwährend auf den Mund zu küssen.
Man zerbrach die Marmortischchen, man schlug die Türen ein. Dann kam ein Mann mit roten Luftballons für kleine Kinder. Ein französischer Matrose kaufte sie alle miteinander für vierzig Franken: es waren mehr als hundert. Und dann befestigte er einen Schwefelfaden an dieses große fliegende Bündel und ließ es los, um die schöne Flamme zu sehen, die sich in der Luft entzünden würde. Und da geschah es, daß die Ballons gegen ein Dach flogen, das sofort Feuer fing und es entstand auch wirklich eine sehr schöne Flamme und die Feuerwehr kam mit ihren Pumpen, um sie zu löschen, ja – und dann mußten die Männer der Feuerwehr auch trinken, bis sie alle kanonenvoll waren. Das war schön!
Der Mann, der den Witz mit dem Ballon ausführte, hieß Plévech und er war sehr stolz darauf. Er sagte mir, daß Plévech ein bretonischer Name sei und »der Behaarte« bedeute, und er renommierte mächtig und meinte, daß er noch viele andre herrliche Streiche ausführen würde, seines Namens, seiner Kraft und des vielen Geldes wegen, das er hätte. Um das zu sehen, ging ich mit ihm.
Als wir nun so miteinander auf den Boulevard Sainte-Helène kamen, entdeckten wir einen kleinen Wagen, wie die Maurer sie mit sich führen; es waren Ziegelsteine darauf, ein Sack mit Zement, ein Trog, ein Eimer und eine Maurerkelle. Zuerst amüsierten wir uns nur damit, den Wagen weiter zu schieben, es kam uns nämlich so vor, als ob er gern den Platz verändert hätte. Etwas später aber meinte Plévech, es müsse durchaus etwas für die Verbesserung der Volksmoral geschehen; die Leute in Toulon wären so schrecklich verdorben. Er hielte es deshalb für unsre Pflicht, die Ziegelsteine dazu zu benutzen, die Tür der Frau Angela zuzumauern, weil diese Person bar aller Tugend sei. Aber ehe wir das Haus der Frau Angela erreichten, kamen wir an dem des Kommissars, Herrn Poulard, vorbei. Dieser leidet an einer ganz drolligen Krankheit; jedesmal wenn er viele Menschen sieht, oder wenn er einen Platz überschreiten will, schwindelt ihm der Kopf und er glaubt ohnmächtig zu werden. Er muß allein sein um sich ganz zufrieden zu fühlen. Man nennt das …«
»Platzangst,« fiel ich ein.
»Ja, ja. Nun, da dachte ich denn, das beste sei, Herrn Poulards Türe zu vermauern, um ihm die Versuchung zu nehmen, sich ihrer zu bedienen. Plévech fand diesen Gedanken gerecht und barmherzig.
Wir machten uns gleich daran und in unserm ganzen Leben haben wir nicht so gearbeitet. Plévech rührte den Zement an und trug mir die Ziegelsteine zu, die ich einen auf den andern setzte, ganz wie es sich gehört: eine Lage Zement und eine Lage Ziegelsteine und dabei erbaten wir den Beistand der Madonna, damit unsre Mauer am andern Morgen hübsch fest sei.
Wie wir mitten in der Arbeit sind, wirft Plévech, der immer noch Zement anrührte, plötzlich seinen Eimer weg und ruft mir zu:
»Laß alles stehen und liegen. Ein Gendarm!«
Und damit gab er Fersengeld und machte sich davon, so schnell, wie er nur konnte. Meine Maurerkelle und einen Ziegelstein in meinen verschmutzten Händen haltend, drehe ich mich erschrocken um: es war zu spät! Der Gendarm legt die Hand auf meine Schulter und sagt:
»Was machen Sie da?«
»Oeffentliche Arbeiten,« antworte ich.
»Ich werde Sie lehren, öffentliche Arbeiten zu machen,« knurrt dieser unausstehliche Mensch.
Dann, nachdem er eine Weile nachgedacht, fuhr er fort:
»Wie sollte es der in diesem Hause wohnende Herr wohl anfangen, wenn er morgen ausgehen wollte?«
Das war wahr. Aber ich antwortete:
»Der geht niemals aus.«
Der Gendarm sah überrascht aus. Aber dann fragte er weiter:
»Und wenn nun zufällig dieser Herr überhaupt noch nicht nach Hause gekommen wäre?«
Daran hatte ich nicht gedacht. Während ich noch über eine Antwort nachsann, deutete der Gendarm auf den Wagen, den Trog, die Maurerkelle und die Ziegelsteine und fragte:
»Woher haben Sie das genommen?«
Ich sagte:
»Oh, das ist eine Erbschaft. Das stammt von meiner Mutter her.«
Darauf forderte er mich sehr ernst auf, meinen Fall nicht durch faule Witze zu verschlimmern. Und er gab mir den Befehl, ihm sofort zu folgen.
Als wir den Kai erreicht hatten, wandte er sich dem Belle-Poule genannten, alten Gebäude zu, nämlich dem provisorischen Gefängnis, in das man die in der Stadt aufgelesenen Matrosen einzusperren pflegt, wenn sie nicht brav gewesen sind. Ich protestierte lebhaft dagegen, dahin geführt zu werden und erklärte feierlich, daß ich kein Matrose, sondern ein ruhmbedeckter Krieger sei, daß außerdem mein Gepäck sich an Bord des Admiral-Charner befände, der um sechs Uhr die Anker lichten würde und daß das Interesse der französischen Republik es dringend fordre, daß ich dahin zurückkehre. Ich glaubte schon, daß er sich hätte rühren lassen, aber nein: er rief einen Bootsführer herbei. Ich habe wirklich nie einen solchen Starrkopf gesehen wie diesen Gendarm! –
Ich hatte die größte Lust ihn mit der Spitze meines Bajonetts durch den Bauch zu stechen. Von einem Mitglied der Armee verhaftet zu werden, das macht so viel nicht aus, ich hatte dann acht Tage Kasernenarrest bekommen. Aber von einem Gendarm eingebracht zu werden … ich wußte, was das heißt, an Bord eines Kriegsschiffes bedeutet das dreißig Tage strengen Arrest.«
»Warum,« fragte ich.
»Warum? Natürlich wegen der Schande! Ich habe Ihnen ja schon erklärt, was Korpsgeist bedeutet. Ein Soldat der Marine-Infanterie darf sich auf keinen Fall von einem Gendarm verhaften lassen.
Seufzend und mein trauriges Schicksal verwünschend bestieg ich das Boot. Da glitt plötzlich ein Schatten an mir vorbei, berührte die Schulter des Bootsmanns und auf mich zeigend, sagte er:
›Marius.‹
Es war Plévech, der gute Plévech! Marius nickte mit dem Kopfe, zum Zeichen, daß er verstanden habe. Zwei Seeleute gegen einen Gendarm sind sich stets einig. Der Bootsführer ergriff die Ruder. Wir fuhren links an der Mauer der Belle-Poule, dann an den Gefängnissen der Galeerensträflinge und an den Vorsprüngen des Hafendammes vorbei … Jetzt hatten wir die Reede erreicht. Der Tag brach an. Die Sonne ging strahlend hinter den Palmbäumen von Mourillon auf.
›Zum Admiral-Charner?‹ fragte Marius.
›Zum Admiral-Charner,‹ sagte der Gendarm.
Dann zog er sein Notizbuch heraus und schrieb seinen Rapport.
Marius neigte sich plötzlich tief herab und machte eine Bewegung, deren Sinn ich nicht verstand, dann ruderte er weiter. Und dabei sah er mich an, sah mich immer mit einem seltsam vielsagenden Blicke an. Ich gab ihm den Blick zurück, ohne jedoch zu erraten, was er damit sagen wollte, und zerbrach mir den Kopf darüber, wie er es anstellen würde, dem Freund Plévechs aus der Klemme zu helfen.
Ganz plötzlich rief er dann laut:
›Was ist das? Um Gottes willen …‹
›Was denn,‹ sagte der Gendarm, den Kopf erhebend.
›Das Boot zieht Wasser!‹
Und so war es in der Tat. Es drang Wasser in das Boot, das sehr schnell stieg. Man sah kleine Wellen, die die auf dem Boden des Bootes liegenden Dinge, Stücke Bindfaden, eine tote Krabbe, ein altes Tabakpriemchen usw. aufhoben und in rasche, wirbelnde Bewegung setzten. Der Bootsführer sagte dann in sehr ernstem Tone zu dem Gendarm:
›Können Sie schwimmen?‹
Nein, er konnte nicht schwimmen. Nie in meinem Leben habe ich einen so bleichen Gendarm gesehen! Er rief:
»Ans Land! Sofort ans Land zurückkehren!«
»Wir würden längst ertrunken sein, ehe wir das Land erreichten … Können Sie wenigstens steuern?«
Steuern konnte der Gendarm auch nicht, aber er konnte ein wenig rudern. Er ergriff das zweite Ruderpaar und ich setzte mich ans Steuer.
»Nach welcher Richtung hin?« frug ich.
»Auf die Boje, die nächste Boje zu, dorthin! Tod und Teufel, wir werden sie nicht erreichen …«
Der Gendarm beugte sich tief über seine Ruder und bewegte sie so angestrengt, daß ihm große Schweißtropfen vor die Stirn traten. Indessen stieg das Wasser und drang schon von oben in seine Stiefel. Er zog sie aus.
»Da ist die Boje; Leg an! Leg an!« rief Marius. Zur ewigen Schande seines achtungswerten Standes muß ich sagen, daß der Gendarm sich um keinen von uns beiden kümmerte. Mit einer übermenschlichen Anstrengung schwang er sich aus dem Boot und sprang auf die Boje, wo er ausglitt und auf seine Knie fiel. Er richtete sich aber bald wieder auf und stand nun da, ganz allein, kerzengrad und leichenblaß, von den schäumenden Wogen umgeben, auf seinem Sockel: die Statue des die Welt erleuchtenden Gendarmen!
»Und nun rasch, rasch nach rechts steuern.«
Ich gehorchte und wir entfernten uns langsam, während das Boot sich immer mehr mit Wasser füllte und daher kaum zu regieren war.
»Laß das Steuer los,« rief mir Marius zu, »wir müssen ausschöpfen und dann werde ich schnell den Zapfen wieder in das Spundloch setzen.«
Er hatte das Spundloch seines Bootes geöffnet und das war der Grund, weshalb es Wasser zog. Der brave Marius! Der brave Plévech!
Wir tranken das letzte Glas unsres Weines aus.
»Sehen Sie, das ist Korpsgeist,« schloß Barnavaux sehr einfach. »Und wenn es gilt, die Arbeiter des Arsenals durchzuprügeln …«
»Aber der Gendarm?« frug ich.
»Ach,« sagte Barnavaux zerstreut, »der? Na, ich denke doch, daß der Präfekt ihn hat abholen lassen. Im Wagen vielleicht!«