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Mein Pferd stolperte, streckte die beiden Vorderbeine lang aus und glitt sacht den lehmigen Abhang hinab, als ob es Schlitten führe. Es tat dies aber keineswegs zu seinem Vergnügen. Als es jetzt gegen einen Stein aufstieß, rutschte der ganze Körper nach, die vier Hufe schlugen gegeneinander und es kam zu Falle. Barnavaux schritt vor mir her, er führte klugerweise sein Pferd am Zügel – aber er hatte so lange Beine, daß ich zum reiten gezwungen war, wenn ich gleichen Schritt mit ihm halten wollte. Meinen Unfall bemerkend, eilte er zu mir und half mir aus dem Sattel. Dann hob er das an allen Gliedern zitternde Pferd auf und sagte in verweisendem Tone: »Sie haben Ihr Pferd nicht kurz genug im Zügel gehalten. Sie haben nicht vor sich gesehen. Auf Wegen wie dieser heißt es die Augen aufmachen. Woran denken Sie?«
»An gar nichts,« antwortete ich.
Er zuckte die Achsel mit gerechter Geringschätzung. Ich konnte ihm doch unmöglich gestehen, daß ich an eine Stelle von Ruskin gedacht hatte. Dieser Schriftsteller ist ihm völlig unbekannt, und in seinen Gedanken ist überhaupt kein Raum für derartige Dinge. Ruskin beschreibt irgendwo eine kleine Lichtung, die er im Jura, in der Nähe des Forts Youx gesehen hat: »Ringsum dunkle Fichten, ein jäh aufsteigender stolzer pathetisch aussehender Felsen und darüber schwebt, dem Lichte zustrebend, ein einsamer Adler.«
Er fügt hinzu: »Wenn ich nicht gewußt hätte, daß Menschen in meiner Nähe wären, daß kaum hundert Fuß von dieser Wildnis entfernt ein Bauer mit dem Pflug Furchen durch das Feld führt, glauben Sie, daß ich diese wilde Landschaft zu würdigen verstanden hätte? Ich bin überzeugt, daß ich mir dann nur ihres Schreckens bewußt worden wäre!« – Ach, wie recht er hatte, dieser alte angelsächsische Poet! Wir befanden uns auf einem Fußpfade, der so schmal war, daß er nicht Raum für zwei nebeneinander gehende Menschen bot und der auf den Gipfel einer steil abfallenden Felsenklippe führte, von der ein unserm Auge unsichtbarer Gießbach geräuschvoll zu Tag stürzte. Ein feiner Regen, jener fatale Regen, der im Norden Tonkins den ganzen Winter über herabrieselt, erkältete uns bis auf die Knochen. Wenn er zufällig mal aufhörte, durchdrang ein häßlich nasser Nebel das Laub, die Erde, die armen Menschen und die armen Tiere mit einer Feuchtigkeit, die fast noch empfindlicher war, wie die des Regens. Manchmal nur in seltenen und kurzen Zwischenräumen zerriß ein jäher Windstoß die den Himmel umdüsternden Wolken. Dann enthüllte sich unserm staunenden Auge ein Anblick von überwältigender und erschreckender Pracht. Große Tropfsteingebilde hingen über unsern Häuptern, als ob sie den Geologen zum Beweise dienen wollten, daß sie einst nichts anderes gewesen, als die Wände einer gigantischen, nun längst zerstörten Grotte. Auf den höchsten Spitzen der Felsen, in schwindelnder Höhe ragte hier und dort eine einsame Fächerpalme empor, die wie aus einem ganz kleinen felsigen Balkon stehend mich an die Geraniumtöpfe erinnerte, die man zuweilen in Paris an den Fenstern der fünften Etage sieht. Darüber aber in der nebelerfüllten Luft zogen große schwarze Geier ihre Kreise. Aber ich verfluchte all diese Dinge; sie überwältigen mich und machten mich zittern. Die Leute, die in ihrem schönen Wagen und auf guten Wegen zu ihrem Vergnügen eine wilde Gegend aufsuchen, um sich am Anblick der Gletscher, der Felsenwildnis oder der Wüste zu ergötzen, sind wie Kinder, die Bangesein spielen, aber es ist nicht nötig, daß dies Spiel zur Wahrheit wird.
Barnavaux wunderte sich über mein Schweigen und glaubte, daß er mich beleidigt habe. Um das Gesprächsthema auf etwas anderes zu bringen, sagte er:
»Wir sind übrigens nicht die ersten, die auf diesem schmutzigen Wege herum patschen. Es sind vor ganz kurzem Menschen hierher gegangen und zwar viele Menschen. Es sind Eingeborene gewesen, man erkennt es an der Spur ihrer nackten Füße … Aber auch Weiße – Soldaten waren dabei, sehen Sie nur hier den Eindruck ihrer Schuhe. Auch ein Reiter war mit ihnen … vielleicht ein Offizier.«
Barnavaux ist kein Trapper und die Kunst, Spuren zu deuten, gehört nicht zu seinen Spezialitäten. Aber daß hier eine von einem Reiter geführte Truppe vorübergezogen war, war so deutlich, daß selbst ein Wärter des Bois de Boulogne es erkannt haben würde. Wir hatten nun den höchsten Punkt dieses Felsenberges erreicht und suchten den auf der andern Seite herabführenden Fußpfad zu gewinnen, als plötzlich einer jener jähen Windstöße, von denen ich schon gesprochen, die um uns wogenden Nebel zerriß. Mein Pferd blieb stehen, sein Fell sträubte sich, als ob es sich plötzlich am Rande eines Abgrundes befunden hätte.
Es war jedoch kein Abgrund, der sich vor uns auftat, sondern wir hatten ganz von ungefähr ein Werk von Menschenhand erreicht, ein grandioses, barbarisches Werk, die sogenannte Treppe des Mandarinenwegs. Um einen in das Tal führenden Weg zu bauen, hatten die Ingenieure der alten chinesischen Sieger sich nicht den Kopf darüber zerbrochen, Abgründe zu umgehen, um eine in Windungen den Berg hinabführende bequeme Straße herzustellen. Wozu das? Die Minister, die hohen Beamten und Würdenträger, so wie die militärischen Führer des Kaiserreiches hielten es für unter ihrer Würde, den Rücken eines Maultieres zu besteigen oder sich in einen Wagen zu setzen. In ihren prunkvollen Palankins ruhend, begleiteten sie ihr Heer, umgeben von Sklaven und Sänftenträgern. Wozu Zeit damit verlieren, zu erforschen, wie der herabsteigende Weg am besten herzustellen sei? Man hatte einfach in strikt gerader Linie dreitausend in das Tal herabführende Stufen in den harten Stein gehauen.
Mir war, als sähe ich sie vor mir diese zugleich gierigen, faulen und geduldigen Länderräuber, wie sie sich lang ausgestreckt auf den weichen Matrazen ihrer üppigen Tragsessel dahintragen lassen: ein verächtliches Lächeln umspielt ihre dünnen Lippen, ein unsäglicher Hochmut, eine Art Bauernstolz spricht sich in ihrem ganzen Wesen aus; sie alle aber haben ihre hohe Stellung nur ihrer schönen Handschrift zu verdanken. Ich höre, wie sie mit trockner Stimme den mit gelben Tuniken bekleideten Herolden ihre Befehle erteilen, ich sehe die Soldaten mit ihren Hellebarden, ihren rotbemalten Bogen; sehe, wie die Bewohner der Dörfer, arme Leibeigene, sich tief verneigen, den Kopf bis zwischen die Knie senken – sehe, wie der Sieger von dieser schrecklichen, wie vom Himmel sich herabsenkenden Treppe in das Tal herniedersteigt. –
Wie eine Verwirklichung meiner Halluzination erblickten wir einen ziemlich langen Zug von Männern, der die letzten steilen Stufen der Treppe hinabschritt und dann in der Ebene ankam. Barnavaux, der sehr scharfe Augen hatte, sagte:
»Es ist ein Offizier der Waffe,« – er meinte damit der Kolonial-Infanterie – »sie sind von Soldaten der Miliz begleitet … und … von Kulis, glaube ich. Die Eingeborenen tragen irgend etwas auf dem Rücken.«
Die Karawane, die uns ebenfalls bemerkt hatte, machte Halt, um uns zu erwarten. Wir kamen langsam genug voran, denn wir waren genötigt worden, wieder von unseren Pferden herabzusteigen und sie vorsichtig am Zügel zu führen, da die Tiere vor den steil abfallenden glatten Stufen der Felsentreppe scheuten. Als wir etwas nähergekommen waren, bemerkte Barnavaux:
»Es sind keine Kulis und es ist auch keine Last, die sie tragen; es ist der Schandpfahl … Es sind Gefangene.«
Der den Zug befehligende Offizier kam uns entgegen.
»Kapitän Gillmann,« sagte er sich vorstellend, »vom Klub der Yen-Minh.«
Ich nannte meinen Namen. Er drückte mir die Hand. Indessen konnte ich meine Augen nicht von den Gefangenen wenden. Stellen Sie sich vor, daß ein Mann den Hals zwischen den beiden Querleisten einer Leiter stecken hat, die so enge bei einander stehen, daß er ihn nicht herausziehen kann: das ist der sogenannte tragbare Schandpfahl. Er ist aus Bambusrohr gemacht und wird mit einem Hängeschloß abgeschlossen und es ist unmöglich, sich seiner zu entledigen, ohne die Hilfe dessen, der den Schlüssel zu dem Schlosse hat. Mit diesem Schandpfahl auf den Schultern ist der Gefangene sicherer bewacht wie der an eine Kanonenkugel geschmiedete Galeerensträfling. Unmöglich zu fliehen mit dieser Last auf den Schultern, einer Last, die in den Aesten hängen bleibt und den Eingang der Türen versperrt. Ein guter Schandpfahl ist mehr wert wie zwei Gefangenwächter.
»Sie sehen diese armen Teufel an,« sagte Kapitän Gillmann. »Ich geleite sie nur bis zur nächsten Station und von dort wird man sie weiterführen, von einer Etappe zur andern, hundert Meilen weit, bis nach Haiphong, wo ihr Urteil gesprochen wird. Ach, ist das ein Geschäft, ein trauriges Geschäft für einen Offizier! Sich als Polizeipräfekt nützlich zu machen, geht noch einigermaßen, aber den Gefangenwärter von Galeerensklaven abgeben zu müssen! …«
Er sprach viel und sehr laut, wie das die Art von Leuten ist, die Perioden des Schweigens durchlebt, die lang genug sind, um darunter zu leiden und zu kurz, um den Geschmack am Sprechen zu verlieren. Er war ein Elsässer aus Weißenburg. Seine Stirn war viereckig, sein Kinn spitz, sein schwarzes Haar trocken und hart wie das einer Mähne. Seine Augen schimmerten in braunen oder grünen Tönen, je nachdem das Licht darauf fiel, sie waren nicht sehr groß, aber sie sahen alles. Er war muskulös, dabei so elastisch und leicht gebaut, daß man die Empfindung hatte, er müsse, wenn er von irgendeiner Höhe herabfiele, wieder emporschnellen wie ein Gummiball. Während wir miteinander sprachen, hatte ein Soldat der Miliz die Furt des Stromes sondiert. Er war zwar ziemlich reißend, aber man konnte dennoch den Uebergang riskieren. Und in der Tat kam ich mit meinem Pferde hinüber, ohne mir mehr als wie meine Stiefel naß zu machen. Barnavaux machte es ebenso. Von den Bürgersoldaten umringt, durchschritten dann die Gefangenen den Strom. Das Wasser ging ihnen bis zur Achselhöhle, der Schandpfahl drückte sie und behinderte ihre Bewegung, angstvoll klammerten sie sich einer an den andern. Einer dieser armen Kerle jedoch strauchelte, geriet außerhalb der Reihe, verlor das Gleichgewicht und fiel in den Strom, der ihn wie einen Balken mit sich fortriß, ohne daß es ihm gelang, wieder festen Fuß zu fassen. Die Strömung führte ihn schnell mit sich, er war schon ziemlich weit von uns. Gillmann machte dasselbe unzufriedene Gesicht, das er zeigte, wenn etwa ein schlechtgepacktes Maultier ein Stück seiner Last verloren hatte.
»Welch schmutziges Handwerk,« knurrte er, »welch schmutziges Handwerk!«
Dann ritt er in raschem Galopp stromabwärts, trieb sein Pferd mitten in den Strom, fischte den Mann am Arm heraus, gab ihm einen seiner Zügel in die Hand, um sich daran festzuhalten und kam dann zu uns zurück – genau so wie er gegangen, das heißt, nicht stolz auf seine Tat, aber lebendig, geschwätzig und etwas brummig.
»Der arme Teufel!« sagte er. »Wahrhaftig, für ihn wäre es besser, wenn er ertrunken wäre, anstatt daß er nun vor den Gerichtshof treten muß, um auf alle Fälle verurteilt zu werden.«
Es ist seit einigen Jahren schon Vorschrift, daß die Vorstehenden der Kreise die ihnen Untergebenen höchstens bis zu einigen Tagen Gefängnis verurteilen können. Alle Verbrechen und ernsteren Vergehungen jedoch werden von einem in Haiphong befindlichen regelrechten Gerichtshöfe abgeurteilt. Stellen Sie sich die Unzufriedenheit eines Herrn des Mittelalters vor, dem man nur das Recht belasten, über kleine Delikte abzuurteilen, während man ihn des Vorrechtes, über Strang und Henker zu verfügen, beraubt hätte. Aehnliche Gefühle waren es, die die Vorstehenden der Provinzen dem Gerichtshöfe mit seinen roten oder schwarzen Roben gegenüber empfanden. Da ich der Meinung bin, daß sie dies zu unrecht sind, versuchte ich es, Kapitän Gillmann diese Ueberzeugung aufzudrängen. Er aber antwortete in rauhem Tone:
»Ach was, das verstehen Sie nicht. Dieser arme Kerl dort ist ein Dieb: nach dem alten System würde er seine Schuld durch eine tüchtige Tracht Prügel mit dem spanischen Rohre abgebüßt haben, während er dort unten, wo sie behaupten, menschlicher zu sein, zum Tode verurteilt wird. Er muß sterben, ich sage es Ihnen. Sehen Sie, ich habe selbst einmal einen Mörder, namens Bang, festgenommen. Nun, nachdem ich erfahren, wie man mit dem umgegangen ist, habe ich mich oft gefragt, ob ich recht damit gehandelt.«
Die traurige Karawane hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Obgleich wir nur langsam ritten, hatten wir sie bald überholt. Ohne seine kurze Pfeife aus dem Munde zu lassen, fuhr Kapitän Gillmann in seiner Erzählung fort:
»Es ist wahr, daß Bang den Tod eines Menschen auf dem Gewissen hatte, aber wenn ich an ihn denke, dann fällt mir dieser ganze Gerichtshof immer wieder auf die Nerven. Ich bin Ursache seines Unglücks.
Dieser Bang war ein Häuptling der Meos. Sie kennen den Stamm: er bevölkert die felsigen Gebiete Dongcuangs, dieses merkwürdigen Landes, in dem es kaum vier Stellen gibt, die flach genug sind, um sich darauf niederzulassen, ohne fürchten zu müssen, gleich dreihundert Fuß herabzugleiten. Es gibt dort ja allerdings auch ein Hochplateau, aber man friert darauf und es ist mit Millionen kleiner Steinspitzen bedeckt, die so fest sind, daß man, als man einen Weg herstellen wollte, Minen legen mußte, um sie zu sprengen. Was aber das allermerkwürdigste ist, auf diesem Plateau, den Bergen, den Felsen, überall wird Mais gezogen. Es sind die Meos, die diese Kultur betreiben. In der ersten Zeit meines Hierseins, als ich die für Maultiere bestimmten Wege in meinem Bezirke anlegte, habe ich oft genug herzlich über sie gelacht. Meine annamitischen Tirailleurs und Wegearbeiter warfen zuerst eine ganze leichte Kieselschicht über den abgesteckten Pfad und auf diese warfen sie dann Erde, die sie von den Seiten der Straße gewonnen und die sie mit der Kieselschicht vermengten. Die Meos nun, Männer, Weiber und Kinder folgten den Arbeitern mit einer Kiepe voller Maiskörner. Sie mausten eine Handvoll Erde wie Sperlinge, die eine Aehre stehlen, liefen dann schnell davon und kletterten die Felsen hinauf, die oft so steil waren, daß kaum eine Eidechse den Weg hinauffand. Oben angelangt suchten sie irgendeine Höhlung, füllten ihre Handvoll Erde da hinein, senkten ein paar Maiskörner in die Erde, und husch, waren sie schon wieder unten, um das Spiel von neuem zu beginnen. Das ist ihre Art, den felsigen Boden mit Mais zu bebauen, um einen kleinen Vorteil daraus zu ziehen. Das drolligste ist, daß die Töchter des Meosstammes eine ganz eigentümliche Vorliebe für die jungen Leute haben, die auf den höchsten unerreichbarsten, am weitesten von Flüssen und Quellen entferntesten Orten wohnen. Sie sind es, denen, wenn sie verheiratet sind, die Pflicht obliegt, oft drei oder vier Kilometer weit das Wasser herbeizuschleppen; und da sie auf steilen, unwegsamen Höhen hausen, gebrauchen sie oft drei Stunden und mehr zu diesem Gange – und während all dieser Zeit können ihre Männer sie nicht prügeln. Im Gehen sind sie niemals müßig, sie spinnen Flachs, aus dem Stoff gewebt wird, den sie zu gefälteten Röcken und zu mit vier weißen Streifen garnierten Seemannskragen verwenden. Es ist dies die von den Frauen der Meos bevorzugte Tracht, die aber kleidsam ist und in der sie gut aussehen. Sie sind dem Gelde durchaus nicht abgeneigt und sie sind sehr umgänglich und liebenswürdig.
Die Männer sind geldgierige, fleißige Arbeiter wie die Auvergnaten. Saufen können sie wie Legionäre, rachsüchtig sind sie wie die Korsen und hinter den Weibern her sind sie – wie alle Welt.
Ich erzähle Ihnen dies alles, um Ihnen den Fall Bangs klar zu machen. Er gehörte zu den Häuptlingen des Stammes und leitete seine Herkunft von einem alten Könige ab. Denn vor sechzig Jahren noch waren die Meos ein großes Volk. Ihr König war ein roher Patron, der die Köpfe zu hunderten abhieb, die Dörfer verbrannte und der sich ein starkes Schloß hatte bauen lassen, dessen Mauern sechs Meter dick waren. Die Chinesen haben die Meos dann später besiegt und ein wildes Volk aus ihnen gemacht.
Der Bruder dieses Bang hatte einen seiner Freunde getötet, den er dabei überraschte, wie er in einem Maisfelde seine Frau vergewaltigte. Nicht wahr, derartige Geschichten sind ja im Grunde Familienangelegenheiten, in die sich kein andrer mischen sollte. Unglücklicherweise aber gilt ein Todschlag als Verbrechen, folglich als Angelegenheit der Verwaltung, die einen Bericht darüber schreiben mußte.
Ein dazu beauftragter Sergeant suchte Bang auf und sagte:
›Unterzeichne dieses Papier und bestätige dadurch, daß es dein Bruder war, der A-Phin ermordet hat.‹
›Fällt mir nicht ein, ich unterzeichne gar nicht,‹ sagte Bang, ›das ist gegen die Sitte des Landes. Es wäre vernünftiger von dir, wenn du mit mir frühstücken wolltest.‹
Sie frühstückten im besten Einvernehmen miteinander, und Bang führte dann den Sergeanten, der nur von einem Dolmetscher begleitet war, zurück, ging mit ihm bis Halbwegs der Festung, wo eine kleine Hütte lag. Da sagt der Sergeant mit einemmal zu Bang:
›Habe ich recht verstanden, daß du nichts unterzeichnen willst?‹
›Absolut nichts,‹ antwortete der Häuptling, ›tut mir unendlich leid, nicht damit dienen zu können.‹
›So nimm dein Turbantuch‹, schrie der Sergeant seinem Dolmetscher zu, ›und binde diesen Mann.‹
Aber er hatte kaum diesen Befehl gegeben, als plötzlich hinter den Felsen her Flintenschüsse ertönten; als man die Leiche des armen Burschen einige Stunden später aufnahm, zählte man siebenunddreißig Wunden. Bang hatte sich von seinen Freunden bewachen lassen, sie waren ungesehen hinter den Felsen her mitgeschlichen. Nachdem dieser Streich gelungen, kehrte Bang nach Hause zurück, belud den Rücken seiner Frau mit seinen Waffen und Patronen, mit seinen Kupferpfannen, den Schreibtäfelchen seiner Vorfahren und den zur Ausübung seines Handwerkes, er war Weber, notwendigsten Utensilien. Das ganze Gepäck wog kaum mehr als fünfzig Kilo, und was bedeutet das für den Rücken einer Frau aus dem Stamme der Meos?
Dann grub er seine ersparten Piaster aus ihrem Verstecke, band sie in einen Zipfel seines Keao und machte sich auf den Weg nach China. Wie ein Wolf ging er immer geradeaus über Höhen und Abgründe weg, während wir, die Herren des Landes, deren Aufgabe es war, ihn einzufangen, ihm auf gebahnten Pfaden auflauerten.
Sie müssen aber wissen, daß ich einen Geheimpolizisten habe, einen tapfern und ziemlich schlauen Gesellen, dem ich für jeden Arbeitstag einen viertel Piaster zahle und außerdem noch das Essen für ihn, seinen Boy und seine »congaye« bewillige. Er gibt sich als Salzhändler und Schmuggler aus. Nun ereignete es sich, daß die Großmutter des Ly-truong, eine Würde, die bei den Eingeborenen ungefähr der eines unsrer Unterpräfekten gleichkommt, eines schönen Tages infolge eines schweren Anfalls von Rheumatismus starb und daß sein Enkel diese Gelegenheit benutzte, um ein großes Fest zu geben, wodurch er durchaus dem Wunsche und der Sitte der Einwohner entsprach. Ich habe niemals, selbst auf einer richtigen Kirmes nicht, etwas Drolligeres gesehen. Da gab es Reitbahnen mit hölzernen Pferden, aber auch Turniere, die von, wie Ritter aus der Zeit Gengis-Khans gekleideten, auf wirklichen Pferden sitzenden Burschen mit aus Bambusrohr verfertigten Lanzen ausgefochten wurden. Die den Sarg tragenden Klageweiber waren in einen großen Schleier von gebleichtem Flachs gehüllt, Bänder von Leinwand hingen von ihren Ohren herab und der Kopf steckte unter einer Perücke von ausgezupftem Flachs. Vor, hinter, ja sogar unter dem Sarge her hüpften und tanzten Männer, die wie toll vor- und rückwärts sprangen und Grimassen schnitten, als ob sie besessen wären. Das ganze Gefolge aber wurde auf Kosten des betrübten Enkels, der von einem so schweren Schlage getroffen worden, in opulenter Weise mit Schweinefleisch und Branntwein bewirtet.
»Mein Geheimpolizist amüsierte sich mit den andern, als ihm zufällig einer seiner in China wohnenden Freunde begegnete, der sich hier in der Sommerfrische befand.
›Nun, geht es dir gut?‹ frug ihn der chinesische Freund, ›und was machst du hier?‹
›Du siehst es ja,‹ meinte mein Detektiv, ›ich bin Salzhändler.‹
›Ja, ja, und nebenbei übernimmst du kleine Aufträge für die Regierung.‹ meinte der Chinese, ihm mit dem Auge zuwinkend. ›Wen suchst du augenblicklich? Bang? Ich weiß, wo er sich aufhält, er hat allerdings China schon erreicht, aber er ist noch ganz nahe an der Grenze, kaum vier Meilen von hier.‹
So kam es, daß dieser arme Teufel erwischt wurde. Im Handumdrehen hatten diese Kerls einen Plan ausgeheckt. Der Chinese lud den ahnungslosen Bang zu einem großen Mittagessen ein. Nun gilt es für einen Meo als Pflicht der Höflichkeit, die er seinem Wirte schuldig ist, bei solcher Gelegenheit zu trinken, bis er unter dem Tische liegt, und Bang wußte, was sich gehört, und erfüllte diese Pflicht voll und ganz. So geschah es, daß er mit gebundenen Händen und Füßen über die Grenze zurückbefördert wurde, ohne selbst eine Ahnung davon zu haben, denn er schnarchte wie ein Maulwurf. Er erwachte erst, als er den Händen meiner Leute ausgeliefert wurde, die ihn auf unserm Gebiete in Empfang nahmen. Da erst begriff er, was mit ihm vorgegangen war, und er rief in verzweifeltem Tone:
›Tötet mich! Ich bitte euch, tötet mich gleich! Die Franzosen werden mich in das Delta schicken.‹
Und es ist wahr, daß die Ansicht, in das Delta, das heißt nach Hanoi oder Haïphong geschickt zu werden, allen Meos gleich widerwärtig ist. Selbst wenn sie nicht als Angeklagte, sondern als Zeugen dorthin gebracht werden, bedeutet es in den meisten Fällen für sie so viel wie den sichern Tod. Denn diese Leute können nur auf den Bergen, in der frischen Luft, in der Kälte leben. Es ist dies keine Uebertreibung. Außerdem können sie selbst in ihrem eignen Lande den Mangel an Bewegung nicht ertragen. Es ist so, als ob man eine Gemse in einen Käfig sperren wollte.
Bang beschwor die Witwe A-Phins, die Frau jenes Mannes, den sein Bruder erschlagen, sie möge sich an ihm rächen und ihm ein Messer in die Brust stoßen. Diese liebenswürdige Dame hatte auch große Lust dazu, aber ich fühlte mich veranlaßt, ihr dieses Vergnügen zu versagen. Ich wußte wohl, daß es die einfachste und beste Lösung gewesen wäre, aber sie war nicht gesetzmäßig. Bang mußte in Haïphong abgeurteilt werden und der Weg bis dahin nahm zweiundzwanzig Tagereisen in Anspruch. Ich schrieb meinen Bericht und bis ich Antwort erhielt, wurde mein Gefangener in eine Zelle gesperrt. Ich hatte ihn zuerst in Ketten gelegt. Aber man meldete mir sehr bald: ›Der Gefangene nimmt ab.‹ Da ließ ich ihm die Ketten abnehmen. Aber er erholte sich nicht. Jeden Morgen meldete man mir: ›Der Gefangene nimmt immer mehr ab, er wird täglich schwächer, der Gefangene.‹ Ich stellte ihm die Schüsseln meines eigenen Tisches zur Verfügung, ich ließ ihm Brot reichen, das er als eine ganz besondere Delikatesse ansah, ich schenkte ihm Zigaretten und vor allem Branntwein. Er sah mich mit zärtlichen Augen an, dankte herzlich, meinte aber dann:
›Oh, warum pflegst du mich so gut, da ich doch sterben muß.‹
»Ich pflegte ihn, weil ich ein Telegramm nach dem andern erhielt des Inhalts: ›Vor allem ist dafür Sorge zu tragen, daß er lebend hier ankommt, er muß vor Gericht gestellt werden.‹
»Als er endlich in Haïphong angekommen war, gebrauchte man zweiundsechzig Tage, um seinen Fall zu untersuchen. Dabei wurde er immer schwächer und hinfälliger. Dieser Mann, der sich noch vor kurzem einer Hünengestalt erfreut hatte, war jetzt in ein schreckliches Skelett verwandelt. Er hatte Fieber, er aß nicht mehr. Man entschloß sich, das Dach seines Gefängnisses zu erhöhen, um ihm mehr Luft zu gewähren. Er war unfähig, der Hitze des Klimas zu widerstehen. Die Untersuchung wurde in einer sehr drolligen Weise geführt. Man legte ihm Fragen vor, die ein annamitischer Dolmetscher übersetzte und er antwortete in der Meossprache aus dem guten Grunde, weil er keine andre Sprache verstand; die Meossprache aber ist etwas ganz Seltsames, kein Fremder wird sich je darin ausfinden, weil sie gepfiffen und nicht gesprochen wird. Man hatte Bang ein Bambusbett gegeben, er verkroch sich ganze Tage darunter, nach Art geängstigter Hunde.
Endlich führte man ihn vor den Gerichtshof und die Komödie der Verhöre begann. Man legte ihm Fragen in annamitischer Sprache vor. Bang öffnete den Mund und erklärte wahrscheinlich in seinem lächerlichen Kauderwelsch, daß er kein Wort verstehe. Der Dolmetscher erklärte auch, daß er den Angeklagten nicht verstehen könne. Die ausgezeichnetsten Sprachforscher gaben ihr Urteil dahin ab, daß keiner den Angeklagten verstehen könne. Darauf beschloß der Gerichtshof, daß dessenungeachtet dem Gesetze Genüge geleistet werde und die Schuldfrage gestellt werden müsse; und man stellte sie. Während all dieser Zeit rang Bang in seltsamer Weise die Hände, weil er im Sterben lag.
Es gelang, ihn aufzurichten, um stehend den Beschluß des Gerichtshofes anzuhören, er wurde zum Tode verurteilt. Indessen machte das aus zwei sehr gewichtigen Gründen nicht den geringsten Eindruck auf ihn. Erstens verstand er überhaupt keine Silbe von dem, was ihm gesagt wurde und dann war er auch nicht mehr imstande, seine eigne Sprache zu verstehen. Er glitt ganz sanft auf seine Bank zurück und starb darauf.
Ich glaube, daß der Gerichtshof es immerhin wie eine große Genugtuung empfand, daß Bang seines Verbrechens überführt und von Rechts wegen zum Tode verurteilt worden war, obgleich vom menschlichen Willen unabhängige Umstände es verhindert hatten, daß dieses Urteil vollstreckt wurde. Aber ich bedauere, oh, ich bedauere es heute noch schmerzlich, damals der Witwe A-Phins verboten zu haben, ihr Messer in Bangs Herz zu stoßen. Finden Sie denn nicht, daß es richtiger sein würde, einen Modus auszufinden, nach dem eingeborene Verbrecher den Gesetzen ihres eigenen Landes gemäß verurteilt und bestraft würden?«
»Das ist wohl möglich,« sagte ich nachdenklich, »indessen dann würde man diesen armen Teufeln Holzstücke unter die Nägel treiben, man würde sie pfählen und in Stücke schneiden – alles Dinge, die mit unsern Sitten nicht vereinbar sind.«
»Aber all dies würde viel weniger grausam sein,« sagte Kapitän Gillmann sehr ernst.
»Ich glaube,« meinte Barnavaux nachdenklich, »wenn man diese Leute durch aus Europa gekommene Richter aburteilen läßt, daß die armen Teufel absolut nicht verstehen, weshalb man sie straft oder freispricht. Ich erinnere mich, daß ich einmal, es war in Madagaskar, einen Ombiasy, einen Zauberer, der einen Europäer ermordet hatte, vor dem Schwurgericht erscheinen sah. Es war ein ganz infamer Lump, und ich fand es durchaus gerechtfertigt, daß man ihm ein paar Tage später ein Dutzend Kugeln durch den Leib jagte. Aber ich schwöre Ihnen, daß er keine einzige der Zeremonien des Gerichtshofes verstanden hat.
Man hatte ihm einen Advokaten gegeben, der zu seinen Gunsten sprach, nachdem der Staatsanwalt die Anklagerede gehalten. Dieser Advokat war sehr beredt. Er tat sein Bestes, rief die Richter, den Angeklagten selbst mit schallender Stimme als Zeugen an. Die Geschworenen zogen sich zurück und kehrten schon nach fünf Minuten wieder, um das Urteil zu verkünden, es war das Todesurteil. Man übersetzte dem Neger den Spruch des Gerichtes, er schien nicht im geringsten davon überrascht zu sein. Indessen wandte er sich an den madagassischen Soldaten, der ihn bewachte, mit der Frage:
›Warum nur haben zwei Leute gegen mich reden müssen? Einer genügte doch.‹
Er glaubte, daß der Advokat ebenfalls seinen Tod gefordert habe. Er glaubte, daß das der Sinn seiner Gesten und seiner Rede gewesen sei.«
»Aber,« sagte ich, »das Wichtigste ist doch, daß der Advokat ihn gut verteidigt hat.«
»Nein,« sagte Barnavaux einfach. »Wichtig würde es gewesen sein, wenn der Verurteilte begriffen hätte, daß das vom Gerichtshöfe gefällte Urteil ein Akt der Gerechtigkeit und nicht der Rache sei. Aber er hat die ganze Verhandlung bis zum kleinsten Detail völlig mißverstanden.
Ich habe, ehe ich mit Ihnen in den Norden Tonkins reiste, einer Sitzung des Kriminalgerichtes in Hanoï beigewohnt. Man hatte mir erzählt, daß zur Zeit des Thets, dem Feste, das den Anfang des neuen Jahres der Annamiten bezeichnet, die Richter alle Arten von Gesetzesüberschreitungen der Eingeborenen vor ihren Richterstuhl zogen und daß man zu dieser Zeit Gelegenheit habe, sich über die Handhabung der Gerechtigkeit zu belehren. Denn zur Zeit des Thets, stehle der Annamite, was er bekommen könne, um Mittel zur Festesfeier zu bekommen. Er würde sogar die Blumen vor dem Altar seiner Ahnen mausen, wenn er nur jemand fände, der dumm genug wäre, sie ihm abzukaufen. Ich sagte mir: das kann ja interessant werden.
Aber ich hatte mich doch verrechnet. Vor allem hatte ich den Dolmetscher vergessen. Der Gerichtshof versteht, ließt, schreibt und spricht nur Französisch. Und da der Annamite kein Wort Französisch versteht, muß daher ein Dolmetscher zwischen ihm und dem Gerichtshof vermitteln. Ich gestehe, daß ich ganz bereit war, die Sprachkenntnisse des vereideten Dolmetschers zu bewundern, der in meiner Gegenwart die Verständigung zwischen den beiden Parteien herbeizuführen unternommen hatte. Der Präsident des Gerichtshofes sagte ihm:
›Fragen Sie den Angeklagten, warum, da doch fünfunddreißig Uhren in dem Laden des Klägers gewesen, der Schmuckhändler ist, er nur vierunddreißig davon gestohlen habe?‹
Der Dolmetscher übersetzte diese Frage und der Angeklagte antwortete in musikalischster und höchstwahrscheinlich auch in beredtester Weise.
In sehr musikalischer Art, weil die Sprache der Annamiten überhaupt mehr gesungen wie gesprochen wird. Wenn man a in der Moll-Tonart singt, so bedeutet es weiß – wenn man es in Dur wiederholt aber schwarz und wenn man eine Tonleiter heruntersingt, so bedeutet es alles Mögliche, fern und naheliegende Dinge.
Ich fügte hinzu, daß der des Diebstahls Angeklagte wahrscheinlich auch in sehr beredter Weise geantwortet habe, weil er so lange auf den Dolmetscher einsprach. Als er endlich fertig war, lautete die Uebersetzung seiner langen Rede ebenso kurz wie überraschend:
›Der Angeklagte sagt, daß er siebzehn Jahre alt sei.‹
»Wenn dieser Dolmetscher gut bezahlt wurde, hätte ich wohl an seiner Stelle sein mögen,« fuhr Barnavaux fort. »Ich hatte bis dahin immer geglaubt, daß es viel schwerer sein müsse, Dolmetscher zu sein.«
Wir lachten, er aber erzählte weiter:
»Warten Sie, das ist noch nicht alles. Danach kam noch ein andrer Fall zur Verhandlung: Ein Annamite wurde beschuldigt, beim ba-kouan-Spiele – eine Art Ballspiel, bei dem jedoch die sonst üblichen Steinkügelchen durch Geldstücke ersetzt werden, seinen Nachbar um sein aus hundert Piaster bestehendes Vermögen betrogen zu haben. Ich konnte jedoch von der ganzen Verhandlung nichts verstehen. Es war ein fortwährendes Flüstern hin und her. Ein Flüstern mit dem Bestohlenen, den Richtern, dem Diebe. Ich habe einmal durch Zufall in Paris einem Examen beigewohnt, das sehr gut gekleidete junge Leute abzulegen hatten: das war etwas ganz ähnliches, man flüsterte hin und her und das ist sehr unangenehm für diejenigen, die gekommen sind, um sich zu belehren.
Als ich einsah, daß man nichts verstehen konnte, machte ich einen Spaziergang an dem Ufer des kleinen Sees. Sie wissen wie hübsch der kleine See ist. Es gibt ja jetzt Leute, die dafür stimmen, ihn zuzuwerfen, weil sie behaupten, daß er ein Brutplatz der Moskitos sei. Aber das würde wirklich sehr schade sein. Es war zur Zeit des Sonnenunterganges, als ich an jenem Abend meinen Spaziergang antrat. Hinter der mir gegenüberliegenden Seite des Sees, die man mit in Wasser wurzelnden Bäumen, mit Bambus, allerlei Gesträuch und den mit purpurnen Blüten bedeckten Ibiscusbäumen bepflanzt hat, versank der leuchtende Sonnenball. Indessen ist es nicht so leicht zu beschreiben, welche Farben der Sonnenuntergang in diesen Ländern annimmt. Rosa, glühendes, mattes Rosa? Das ist rasch gesagt und sagt doch nichts. Vielleicht geben gewisse aus China kommende rosa Seidenstoffe bei Licht betrachtet einen ungefähren Eindruck jener wunderbaren Farbenpracht. Mitten in dem See liegt ein Inselchen auf dem in einem Nest grünen Gesträuchs halb verborgen eine Pagode steht. Ihre blauen und roten Säulen spiegeln sich im Wasser, das nicht ganz durchsichtig ist, das aber doch wie ganz feines Porzellan vom Lichte durchdrungen wird; die am westlichen Ufer gelegenen Häuser, ganz bescheidene, vielleicht sogar ärmliche Häuser sehen wie vergoldet aus und sie scheinen größer geworden zu sein und haben ein königliches Aussehen gewonnen. Oh! es liegt etwas Großes, etwas Friedvolles und Edles in der Art wie der Tag in diesen Ländern Lebewohl sagt. Und es regt die Phantasie an.
Ich hatte mich ganz in den herrlichen Anblick vertieft, als ein Annamite sich mir näherte, mit übereinander geschlagenen Armen sich tief vor mir verneigte, dann mit gebeugten Rücken demütig stehenblieb und offenbar darauf wartete, daß ich ihm Gehör schenke. Ich erkannte ihn bald! Es war der Mann, der wegen der beim ba-kouan gestohlenen Piaster vor Gericht gestanden hatte. Da ich aus seiner Anwesenheit zu schließen glaubte, daß er nicht verurteilt worden, gratulierte ich ihm. Er antwortete mir in sehr schlechtem, gebrochenem Französisch, dessen er sich vor dem Gerichtshöfe nicht zu bedienen gewagt hatte:
›Ich nicht kenne Adresse Missieu Berenger. Wollen kennen!‹
Ich begriff sofort, daß er Nutzen von der bedingten aufgeschobenen Strafvollstreckung gezogen, diesem humanen Gesetze, das wir dem Senator Berenger verdanken. Ich glaubte, daß er die Adresse dieses Herren zu haben wünschte, um ihm persönlich seinen Dank auszusprechen. Ich irrte mich. Der Fall war viel komplizierter. Er bemühte sich, ihn mir klar zu machen. Zuerst gestand er ganz treuherzig zu, daß er seinem Nachbar Pou-Seng, der ein Chinese war, die hundertfünfzig Piaster wirklich gestohlen habe. Das war, nach seinem Begriffe ganz ohne Wichtigkeit. Erst ganz allmählich gelang es mir, hinter das Geheimnis seines Falles zu kommen, das ich allein und ohne seine Hilfe ganz gewiß niemals ergründet haben würde.«
›Ich genommen die Piaster. Das gut. Aber A-Pik – Chinese – er sehen … Saô, Annamite auch sehen. Das schlimm: zwei Zeugen! Dann ich was machen? Ich zeichne Papier A-Pik, zeichnen Papier Saô …‹
›Aber zu welchem Zwecke,‹ frug ich ihn ganz erstaunt.
›Um zu versprechen zehn Piaster dem einen, zehn Piaster dem andern. Und sie versprechen Zeugen für mich viel gut.‹
›Zeugen für mich viel gut‹ – bedeutete offenbar ein falsches Zeugnis ablegen. Mein interessanter entlassener Sträfling fuhr fort:
›A-Pik, er, zeugen viel gut. Sagen ich nichts nehmen. Aber andrer schmutziger Dieb, behalten die zehn Piaster und sagen ich schuldig. Dann Missieu Staatsanwalt – ich ihm nichts gegeben – sprechen gegen mich viel schlecht. Zuletzt Missieu Richter sprechen, um Urteil zu machen und er sagen, ich schuldig, aber ich nicht in Gefängnis kommen, weil nicht bestraft, vorher gar nicht bestraft, weil Missieu Berenger haben gebittet das für mich. Nun ich will wissen Haus von Missieu Berenger, um ihm zu schicken zehn Piaster. Kennen Adresse?‹
›Gewiß,‹ sagte ich zu ihm. Und dann riet ich ihm, an den Senat in Paris zu schreiben.«
»Was,« rief ich aus, »Barnavaux, das hast du getan?«
»Nun ja,« antwortete er, »weil dieser Mensch es sich nun doch mal in den Kopf gesetzt hatte. Uebrigens glaube ich kaum, daß Herr Berenger eventuell einen in chinesischer Sprache geschriebenen Brief verstanden haben wird. Aber ich bedauere das wirklich, denn der Annamite beabsichtigte ihm einen Vorschlag zu machen, der ihn sicher überrascht hätte. Er erklärte mir sein Anliegen:
›Ich danken Missieu Berenger, ihm schicken zehn Piaster und versprechen Missieu Berenger noch zehn Piaster, wenn mir verhelfen zu all mein Geld.‹
›Welches Geld?‹
Meine Gedanken verwirrten sich. Und ich bin ganz sicher, daß auch Sie niemals erraten würden, was der Annamite eigentlich wollte! Dennoch dachte er ganz logisch. In dem Augenblicke, als das ›Troubinal ‹, wie er den Gerichtshof nannte, ihn zwar schuldig erklärte, aber dennoch davon abstand, ihn in das Gefängnis zu schicken, stand es in seinen Gedanken fest, das ›Troubinal‹ habe dahin geurteilt, daß seine Schuld überhaupt keine Schuld sei. Folglich, so schloß er, würde es sich nur um ein kleines Trinkgeld für Missieu Berenger handeln, der dann schnell veranlassen würde, daß man ihm das dem Chinesen gestohlene Geld zurückgäbe.«
»Barnavaux,« sagte ich, »deine Geschichten widersprechen dem gesunden Menschenverstand.«
»Ich habe gesunden Menschenverstand,« antwortete Barnavaux trotzig. »Was aber die uns aus Frankreich geschickten Richter, Deputierten und Zeitungen betrifft … Glauben Sie denn, daß die neuen Begriffe von Recht und Unrecht, die man den Eingeborenen aufdrängt, das wert sind, was man in ihnen unterdrückt? …«
»Ach,« sagte ich, »ich kenne sie leider auch.«