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Ramary und Kétaka

Das Haus, das der Doktor Andrianivoune den Fremden vermietete, befand sich in Soraka in der Vorstadt Tananarivos, die oberhalb des Sees Anosy gelegen ist. Dieses Haus war vordem von einem französischen Pärchen bewohnt gewesen, das zweifellos seine Flitterwochen darin verlebt hatte. Zwei elegant mit zartrosa Stoffen ausgestattete Räume gaben Kunde von dem auserlesenen Geschmack einer jungen Europäerin, deren Augen und Hände sich darin gefallen hatten, selbst eine Wohnung auszuschmücken, die ihr nur zu kurzem, vorübergehendem Aufenthalt diente. Der Garten befand sich in ziemlich vernachlässigtem Zustande; die Moosrosenbäumchen verwilderten darin; die Kaffeeanpflanzungen, die man nicht mehr gepflegt und beschnitten hatte, trugen keine Früchte mehr, aber der japanische Flieder wuchs und gedieh prachtvoll und war beinahe so hoch wie die Ulmen unsrer Gegenden. Die Pfirsichbäume waren zu einem Gestrüpp verwachsen, das im Wind gegen die alten Mauern des Gartens schlug.

Unterhalb des Hauses lag der kleine See, den einst der König Radame schuf, zu jener Zeit, da er den Berg Gottes, den unfruchtbaren Ambohid-Zanahare, von der Erde verschwinden lassen wollte, weil er seinen despotischen Augen mißfiel. Die fast runde Wasserfläche lag still und friedlich da und glitzerte leise in der bewegten Luft. Hinter ihm leuchteten hier und da kleine Tümpel und Teiche zwischen den üppigen Reisfeldern auf, die sich über die ganze große Ebene von Ikopa erstreckten. Und mitten in diesem leuchtend grünen Laubmeere erhoben sich die Schornsteine der großen Ziegelei von Ourville-Florens.

In diesem Hause war es, wo mein Freund Galliac und ich Unterkunft gefunden hatten. Es war an einem herrlichen Sommerabend; die hinter den Bergen des östlichen Horizontes versinkende Sonne versandte die letzten gleißenden Strahlen, die alles vergolden und die Herzen höher schlagen machten. Man trank die balsamische Luft wie köstlichen Wein; die Häuser, Bäume und Menschen, die großen Ochsenherden, die von singalesischen Soldaten durch die hügeligen Straßen getrieben wurden, alles war in leichte, Sonnenschein durchleuchtete, goldig schimmernde Staubwolken gehüllt, in denen Diamanten, Topase und Rubinen zu schimmern und blitzen schienen: ganz Tananarivo lag vor unsrem entzückten Auge wie eine köstliche japanische Malerei. Hier und da schritt ein in weiße Gewänder gehüllter Eingeborener durch die untere Straße und neigte sich tief vor dem siegreichen »Vahaza«. Die Glocken der christlichen Kirchen riefen zur Abendandacht und das Geläute der Kuhglocken erschallte in jenen langen melancholischen Tönen, die wir so oft im fernen Frankreich vernommen; unzählige rothaarige Hunde mit aufrechtstehenden Ohren bellten in wilder Weise und in all diesem Geräusch erbebten ein greller Mißakkord und gleichzeitig ein verführerischer Klang.

... Da plötzlich ertönte helles, fröhliches Lachen, das Lachen zweier junger Stimmen, die einander überboten, innehielten, um immer wieder in neues, überwältigend lustiges Kichern auszubrechen und dann stürmte Kétaka aus dem Gemache, das ich ihr angewiesen und rief mit triumphierender Stimme:

»Ich habe einen gefangen, ich habe einen gefangen!« Am Ende eines Fadens, an dem eine krummgebogene Stecknadel befestigt war, zappelte ein unglückliches rotes Fischchen. Meine kleine madagassische Freundin betrieb seit mehr als einer Stunde ein allerdings etwas frivoles Spiel. Ihre Sklavin war mit einem Netze zum See heruntergegangen, um kleine Goldkarpfen zu fangen, die zu tausenden auf der Oberfläche des Wassers umherschwammen. Kétaka hatte die roten Fischlein in einen Toiletteneimer gesetzt und amüsierte sich nun kaltblütig damit, sie von neuem zu fangen. Ihre Schwester Ramary, die quasi legitime Frau Galliacs, war ihrem Beispiele gefolgt und hatte ihr gegenüber Platz genommen. Sie konkurrierten, wer die meisten kleinen Gefangenen mit ihrer Angelrute machen würde. Meiner Freundin war die Ehre des Sieges zuteil geworden. Kétaka hatte den letzten der Goldkarpfen gefangen.

Jetzt standen sie beide, sich lustig auf ihren nackten Füßchen wiegend, vor mir auf der Veranda. Ramary strich mit beiden Händen über ihr volles glattes Haar und warf die schweren Zöpfe über ihre Schultern und ihren Hals. Dann sagte sie:

»Ramilina, du siehst unzufrieden aus, es gefällt dir wohl nicht, daß wir mit den Hazandranomena spielen, diesen kleinen roten Tierchen, die an die Oberfläche des Wassers kommen, um Nahrung zu suchen? Sage mir, ärgerst du dich vielleicht deshalb, weil es französische Tiere sind?«

»Es sind chinesische Tiere, Ramary, und du verstehst gar nichts von Geographie,« antwortete ich ihr.

»Oho! Ich habe in der Schule von Alarobia bei Herrn Peake, einem amerikanischen Vazaha, Geographieunterricht gehabt, aber ich kenne außerdem die Geschichte der Hazandramo, und die kennst du nicht! Vor langer Zeit lebte die Königin Ranavalona, die Böse genannt, die mit dem alten Herrn Laborde vermählt war – sie sind jetzt beide längst gestorben. Sie haben sich in dem Garten des Herrn Rigaud verheiratet, der da unten am See liegt. Alle Madagassen wissen dies. Es sind nämlich die ehrwürdigen Väter, die Jesuiten, die diese Heirat zustande gebracht … Darauf ist Herr Laborde auf Reisen gegangen – er ist den heiligen Fluß hinaufgefahren, der nur ein Ufer hat und der zu den Weißen führt. Und als er dann zurückkehrte, hat er eine runde, mit Wasser gefüllte Glaskugel mitgebracht, in der rote Fischlein schwammen, die Reiskörnchen aßen und das Maul weit aufrissen, siehst du, so! so! Die Königin liebte sie sehr und sie ließ sie in den heiligen See setzen. Sie waren so drollig und machten ein so dummes Gesicht! Und siehst du, Ramilina, von dem See sind sie dann in den Fluß hinabgestiegen und sie haben alle andern Fische aufgefressen, außer dem Aal, weil der gar kein Fisch, sondern eine Schlange ist, ja, und den Krebs haben sie auch nicht gemocht, der war ihnen zu hart.«

Die beiden Schwestern hatten den Kopf voller Geschichten und Schnurren und sie erzählten leidenschaftlich gern. Ramary und Kétaka waren durch die Hände der Quäker gegangen und erst im Augenblick des französischen Sieges hatten sie sich zur katholischen Religion bekannt und zwar geschah dies mit einer Art spöttischer Ueberlegenheit und verächtlicher Anerkennung der Sympathien der Sieger. Aus den tenysoa – das heißt den kleinen religiösen und moralischen Traktätchen der protestantischen Schulen, hatten sie nichts anderes behalten als einige Hymnen und Lobgesänge, indessen kannten sie die Bibel ziemlich genau; die Mysterien der Religion waren ihnen vollkommen gleichgültig, doch waren sie entzückt von den Legenden der Bibel und den Evangelien. Indessen gab es doch ein anderes Werk, das sie allen heiligen Büchern vorzogen, nämlich die Sammlung madagassischer Erzählungen und Traditionen des Norwegers Dahle. Sie liebten es, während der Abendstunden einander daraus vorzulesen und pflegten die darin enthaltenen Lieder mit kurzen Versen und langen seltsamen Assonanzen in halb singender Weise vorzutragen. Es war besonders die Geschichte Benandros, die sie rührte und viele Tränen vergießen machte. Benandro war ein schöner Jüngling, der fern von seinen Eltern in fremden Landen am Fieber und vor Hunger starb und dessen treuer Sklave Tsaramainty, ein schöner Schwarzer, ihm Füße und Hände abschnitt, die er dann getreulich in die Heimat und zu den Eltern Benandros brachte. Es geschah dies, damit man ihm eine würdige Totenfeier bereiten könnte und damit sein Geist mit den Geistern seiner Ahnen vereinigt würde, die in dem aus schweren unbehauenen Steinen hergerichteten Grabe nebeneinander, in aus unvergänglicher Seide hergerichteten Leichentüchern gehüllt, auf den Platten ruhten.

Ich hatte die Sammlung, die mir nicht gehörte, ihrem Eigentümer zurückgegeben, aber Ramary und Kétaka wußten sie auswendig und mehr als das. Sie brachten neue Elemente in diese Legenden: Benandro hatte nahe bei ihnen gelebt, die »Vazahas« hatten ihn entführt und die Offiziere »mit den weißen Helmen« hatten ihn füsiliert, »weil er irgend etwas dummes gemacht hatte«. Diese kleinen Mädchen hatten eben eine starke, wenn auch kindliche Einbildungskraft und sie gehörten einer Rasse an, die ihre Abstammung von dem Ursprung der Menschheit herleitete.

In ihrer Sprache, die von keinerlei Neuerung verdorben ist, heißt die Sonne »das Auge des Tages«, der Mond »die silberne Scheibe«, und wenn sie mit mir sprachen, ihre großen guten Augen zu mir aufschlugen und sich in so gehaltener edler Weise in ihren weißen Schleiern, unter denen ihr Körper nackt war, anmutsvoll und keusch bewegten, dann dachte ich an Homer und an Nausikaa.

Indessen hielt ich es doch für notwendig, ihnen in ziemlich ernstem Tone zu sagen, daß, wenn sie auch die roten Fische für französische Tiere hielten, dies doch durchaus kein Grund sei, sie zu quälen, daß wohlerzogene junge Damen überhaupt nicht in einem Toiletteneimer fischten und daß wir ihnen, um sie dafür zu strafen, keine Schuhe geben würden, um die Prozession der Jungfrau mitzumachen.

Ramary verzog schmollend das Mäulchen, machte das rote Fischchen von der Angelschnur los und warf es der weißen Katze zu, die sie schon seit vierzehn Tagen an der Ballustrade der Veranda festgebunden hielt unter dem Vorwande, daß sie sich dann besser an das Haus gewöhnen würde. Diese weise Maßregel hatte das arme Tier ganz wild gemacht.

Auch Kétaka schmollte. Sie war eine kleine Dame, die ganz außerordentlich von ihrem Werte überzeugt war und die sich nicht den kleinsten Vorwurf gefallen ließ. Im Grunde hatte ich ja unrecht. Da unsere kleinen Freundinnen wirklich sittsam waren, kamen sie nur sehr selten und bei besonderen Gelegenheiten aus ihren Gemächern und es geschah dies niemals ohne unsere ganz besondere Erlaubnis. Es war daher nicht mehr wie recht, ihnen ihre harmlosen Zerstreuungen zu gewähren. Ich sah meinen Fehler ein. Da ich es aber nicht mit meiner Würde für vereinbar hielt, mich zu entschuldigen – vielleicht auch zu ungeschickt dazu war – schickte ich meinen »boy« an den See, um ihnen neue Opfer zu beschaffen …

... So lebten wir fröhlich und harmlos wie glückliche Kinder in den Tag hinein, seit wir durch eine geheimnisvolle Schicksalsfügung bei Gelegenheit einer Jagdpartie in den Sümpfen von Antsahadinta unsere kleinen Frauen gefunden hatten.

*

Wir waren so ganz von selbst und ohne etwas dabei zu denken, in diese Quasi-Ehe gesprungen. Wir dachten gar nicht an so etwas! Da geschah es, daß eines Tages die Königin – (ach, wie weit zurück jene Zeit schon liegt, damals gab es noch eine Königin! –) uns frug, ob es uns Vergnügen machen würde, Arosys zu jagen? Ein Arosy aber bedeutet soviel wie eine wilde Gans, und eine wilde Gans ist ein stets sehr begehrtes Wild. Wir haben also ganz begeistert ja gesagt. Und am selben Tage fuhren wir wohlausgerüstet mit einem schönen Briefe an die Offiziere jener Domäne und mit reichlicher Munition versehen, das Gewehr über der Schulter in einer Piroge auf dem königlichen Teiche von Antsahadinta dahin.

... Es war ein sehr großer Teich, dessen Wasser still und grau und mit trockenen Binsen durchsetzt war, die, wenn unsere Pirogen hindurchfuhren, leise krachten. In der Mitte war das Wasser jedoch tief, vollständig klar und frei von Binsen; dort blühten tausende von blauen Lotusblumen, die von runden Blättern umgeben, uns mit zärtlichen Augen anzublicken schienen. In einiger Entfernung war dieser große, einem See ähnliche Teich, von einer Hügelkette begrenzt, die dieselbe rote glühende Farbe zeigte, die allen Hochplateaus von Madagaskar eigentümlich ist und in uns die Empfindung erweckte, als ob die ganze Vegetation davon durchleuchtet sei.

Hoch über unseren Köpfen flogen Scharen von Sumpfvögeln: große wilde Gänse, Enten, die den Enten unserer Gegenden durchaus ähnlich sehen, und die sogenannten tsiriris, deren Ruf einen so klagenden Ton hat. Sie waren alle vom ersten Flintenschuß erschreckt gleichzeitig aufgeflogen, und zwar in einer Zahl und mit einem solchen Schwung, daß man, obgleich sie sehr hoch flogen, doch die Luft unter den Schlägen ihrer nervösen Flügel sich bewegen hörte. Das fortwährende Vibrieren der Luft und ihre langen klagenden Rufe verwandelten plötzlich diese kalte stille Landschaft und gaben ihr Leben, ohne ihr jedoch etwas von ihrer Traurigkeit zu rauben. Die madagassischen Kahnführer ruderten mit der Pageie und mit leichten graziösen Bewegungen, als ob sie über das Wasser wegtanzen wollten. Sie bemerkten Tiere, die ich nicht sah und machten uns leuchtenden Auges darauf aufmerksam, ohne die Hände auch nur einen Augenblick von dem kurzen Ruder zu lassen.

»Ente … Tsiriri … Wildgans … da – da – zwischen den beiden Schilfbüscheln! Schieße dein Gewehr ab, Herr Vazaha!«

In einer Art von Miniaturbassin erschien plötzlich eine ganze Familie kleiner erotischer Knäkenten, die mit unruhiger Klugheit dahinschwammen und uns ihre korallenroten Schnäbel zuwandten. Mit der ganzen Wut und Grausamkeit des ungeschickten Jägers, der aufs Geratewohl blind dreinschießt, gab ich zwei Flintenschüsse auf sie ab.

Drei von ihnen versanken leblos, die klare Wasserfläche mit den goldigen, weißen und in metallischem Grün schimmernden Federn befleckend. Andere Vögel flogen aus dem Walde der Wasserpflanzen empor; eine wilde Gans, die sehr hoch gestiegen, dann aber von mehreren Schüssen getroffen wurde, klatschte mit lautem Geräusch auf die Wasserfläche herab. Sie lebte noch, aber das arme Tier bot einen beklagenswerten Anblick, denn ein Auge und ein Flügel waren durchschossen. Ein großer silbergrauer Fischreiher stieg langsam auf und seine Silhouette hob sich deutlich über dem kahlen, vom hereinbrechenden Abend beschatteten Hügel ab.

»Er ist verwundet! Herr Vazaha!«

Aber er war nicht getroffen, sondern nahm seinen Aufstieg höher und höher bis in Regionen, wo unsere Kugeln ihm keine Gefahr mehr brachten und von wo er geduldig den Abzug der Menschen erwartete, um sich dann gefräßig über die Verwundeten, die er unter dem Schilfe erriet, herzumachen.

»Galliac,« rief ich, »es ist genug, die Dämmerung bricht herein.«

Und unsere beiden Boote ruderten dem Ufer zu.

Ein Eingeborener grüßte uns mit einer so demütigen tiefen Verneigung, daß sein Hut von Reisstroh ihm vom Kopfe und auf die Erde fiel. Er hatte unbeweglich und geduldig zwölf volle Stunden auf uns gewartet. Es war Rainitavy, der Gouverneur von Antsahadinta, dessen Amt und Pflicht es heischten, uns ehrenvoll zu begrüßen und uns Geschenke anzubieten, weil wir Vazahas von Bedeutung waren, deren Ankunft ihm von der Königin selbst angezeigt worden war. Er war umgeben von den Eingeborenen, welche die für uns bestimmten Geschenke trugen; einige von ihnen trugen große Körbe in den Armen oder auf ihren Schultern, die mit Reis gefüllt waren, dessen Körner weiß wie Elfenbein aussahen. Andere brachten an den Füßen festgebundene Hühner, deren Köpfe nach unten hingen und die jämmerlich schrien, ferner einen braunen fetten Hammel, mit zu unseren Ehren vergoldeten Hörnern, die in der einbrechenden Dunkelheit wie große leuchtende Muscheln glänzten. Alle diese Dinge wurden respektvoll zu unseren Füßen niedergelegt und man fügte dann zu diesen guten Dingen noch einen ungeheuren Haufen großen, grünen, frischgeschnittenen Zuckerrohrs; da entfuhr unseren Ruderern ein Freudenschrei, sie sprangen mit einem Satze darauf zu. Das war ihr Teil, die von ihnen bevorzugte Delikatesse, deren Saft ein wenig berauschend, aber belebend wirkt und besonders bei langen Märschen von den Eingeborenen sehr begehrt ist. Sie machten sich sofort darüber her und zermalmten das Rohr mit gierigen Kinnladen.

Sie rissen den sorgsam aufgeschichteten grünen Wall des Zuckerrohrs mit großer Hast voneinander, als plötzlich hinter demselben zwei kleine Mädchen, von vierzehn und sechzehn Jahren, hervortraten, die jüngsten Töchter Rainitavys, die uns mit stillen, ernst blickenden Augen anschauten.

»Ramaloa Mary, Ramatoa Kétaka!« sagte Galliac, der sie kannte.

Er umarmte sie ohne weiteres und sie lächelten ihm freundlich zu. Sie schritten mit nackten Füßchen leicht über den kurzen harten Rasen auf uns zu, und als sich bei der schnellen Bewegung ihre Schleier ein wenig verschoben, wurde für einen Augenblick ihre zarte junge Brust sichtbar; sie verhüllten sich dann aber sofort ohne jede Verlegenheit, mit der sicheren ruhigen Geberde, mit der eine Europäerin etwa ihren Mantel schließen würde. Sie fühlten sich offenbar sehr geschmeichelt, daß Galliac sie »Ramatoa« angeredet hatte. Ramatoa ist ein Titel, der ungefähr der Bedeutung der Anrede »gnädige Frau« oder »Fräulein« gleich kommt. Im allgemeinen setzt man einfach die Silbe ra vor den Namen der Angeredeten. Im intimen Verkehr fällt auch wohl diese Silbe ganz weg und man begnügt sich mit dem Namen.

»Tsaravo tompokolahy? Geht es Ihnen gut, gnädiger Herr?«

Sie boten uns beiden den hierzulande rituell gewordenen Gruß, indem sie das Innere der Hand mit einer bizarren kleinen Bewegung nach außen wendeten. Dann brachen wir auf, und die beiden kleinen Damen machten die Führerinnen und gingen mit raschem leichten Schritte bis zum Dorfe vor uns her. Rainitavy, ihr Vater, trug eine Laterne und wandte sich öfter mit würdiger Höflichkeit zurück, um uns zu leuchten.

*

Die Nacht war herabgesunken. Durch die geöffnete Türe unserer Hütte drang eine eiskalte Luft. Ramary und ihre Schwester Kétaka beschäftigten sich damit, der auf dem Boden liegenden Jagdbeute Federn auszuziehen.

»Kétaka,« sagte ich lustig, »willst du die Nacht über bei mir in dieser Hütte bleiben?«

Sie schüttelte den Kopf.

»O nein, Herr, ich bin kein kleines Gassenmädel. In Tananarivo gibt es ja viele Mädchen, die mitsangantsangana machen (d. h. mit vielen Liebhabern verkehren). Razafin-andriamanitra ist solch eine kleine Buhlerin. Auch Cecilie Bazafy ist eine kleine Buhlerin, Rasoa, Mangamaso und Ramaly (Amélie) sind Buhlerinnen. Hier aber ist das ganz etwas anderes.«

Sie dachte einen Augenblick nach und meinte dann: »Hier ist es zu klein … man würde es gleich dem Jesuitenpater sagen. Und der macht Geschichten von der Kanzel der Kapelle herab. Sie sollten nur morgen mit zur Messe kommen; er zankt mit uns, wenn wir das kleinste tun, was ihm mißfällt.«

»Wie alt bist du?« frug sie Galliac.

»Ich bin ein Jahr vor dem großen Kriege geboren, in dem die Hovas die Franzosen geschlagen haben.«

Sie sagte das ohne Pose, ohne Stolz, mit dem Ausdruck einer unanfechtbaren Wahrheit, indem sie auf das erfolglose Bombardement unserer Flotte auf Tamatava im Jahre 1885 anspielte.

»Kétaka,« sagte Galliac, »ich habe die Ehre, dir mitzuteilen, daß Tananarivo seitdem von dem General Duchesne eingenommen wurde.«

Aber Kétaka schüttelte den Kopf.

»Es ist nicht der General Duchesne, durch den Tananarivo gefallen ist, sondern durch Kinoly, den furchtbaren Riesen, der alles ermordet, er, den niemand gesehen hat, weil man, sobald man ihn gesehen, dem Tode verfällt. Er, den wir so wenig kennen wie jene Zauberkräuter, die auf alten zerfallenen Gräbern wachsen und die die Zauberer sammeln … Als die Franzosen von Westen her gekommen sind, da hat man ihn drei Nächte hintereinander in dem heiligen Wäldchen von Ambohimanga lachen hören: er hat Kinnladen wie ein Krokodil, und wenn er lacht, schlagen seine Zähne aneinander. Rafaralahy, mein Bruder, der in der Nähe der Gräber ruhte, hat sich den Kopf verhüllt, um ihn nicht zu sehen und zu hören … Der Kinoly aber ist herabgekommen und ist den Franzosen entgegengegangen. Sie hatten mehr als hunderttausend Mann ausgeschifft, weiße Franzosen, schwarze Franzosen, die aus Afrika kommen, gelbe, sehr häßliche Franzosen, die man auch Araber nennt, und die ohne Frauen leben. Sie führten die seltsamsten Sachen mit sich, große Flinten, die auf Rädern ruhten, Maultiere, die mit Wein gefüllten irdenen Krügen und mit wunderlichen Dingen, die wie Vögel in die Luft stiegen, belastet waren. Sie schlugen Brücken über die Flüsse, durchhöhlten die Berge, um Eisenbahnen anzulegen, und wenn der Abend kam, zogen sie sich in ein Lager von Zelten zurück, in dem sie fröhlich und guter Dinge waren. Der Kinoly aber ist bis zu der großen Ebene von Sakhalava vorgedrungen. In der wuchs zu jener Zeit nur Gras und nichts als Gras, kein Reis, kein Zuckerrohr, kein Maniok. Die Büffelochsen flohen vor dem Schatten, den der Furchtbare vor sich her warf. Und der entsetzliche Schatten zog den Soldaten entgegen. Man sah seinen Krokodilkopf nicht, weil er durch ein großes Leichentuch verhüllt war. Man sah nur seine Augen und die leuchteten blutrot, wie glühende Kohlen. Er glitt sanft neben den Soldaten dahin und neigte das Haupt, als ob er ein Bettler sei. Und der französische Miaramila redete ihn an und sagte:

»Bettler, du hast aber sehr lange Nägel?« …

Der Kinoly zog seine Klauen ein und sagte:

»Sie haben in der Erde gewühlt.«

Dann öffnete er ein wenig das ihn umhüllende Tuch. Und der französische Miaramila sagte:

»Wie hohl ist dein Bauch!«

»Das kommt davon, weil er in der Erde verfault ist.«

Und noch einmal sagte der französische Miaramila:

»Wie rot deine Augen sind!«

Da ergriff der Kinoly sein Leichentuch mit beiden Händen, warf es von sich und sagte:

»Blicke her!«

Er hatte keine Augen, sondern nur leere Höhlen, aus denen eine gespensterhafte Glut leuchtete und aus den Knochen seines Gesichtes hingen Fetzen halbverwesten Fleisches.

Die Soldaten wurden leichenblaß bei diesem Anblick, dann wurden sie vom Fieber geschüttelt und starben rasch dahin.

Der Kinoly aber drang weiter vor, er ließ seine Augen auf den Arabern ruhen, auf den dunkeln Soldaten, die Ihr aus Afrika geholt, und auf den weißgekleideten Offizieren der Weißen. Er marschierte mitten unter ihnen, er erweckte sie nachts, er erschreckte sie bei ihren Mahlzeiten, er legte die Hand auf die Kruppe ihrer Maultiere. Und wenn sie dies gespensterhafte, todbringende Schreckensbild gesehen, dann erbleichten sie und starben. Der Kinoly tötete sowohl die, die im Sande marschierten, wie diejenigen, welche in Zelten lagerten und die in den Flüssen badeten, und er freute sich des Totengeruches und spielte mit den seine Opfer umschwirrenden Fliegen. Das dauerte zwei volle Monde lang – dann waren alle tot.

Dann nahm der Kinoly seinen Weg zurück und ging nach Tananarivo, weil er den Raini-laiari-vony sehen wollte, den ersten Minister und Gemahl der Königin. Der alte Mann schlief in einem schönen Kupferbett in einem Zimmer des Palastes, das reich ausgestattet war. Er hatte bei seinem Abendessen Wein getrunken. Die Symbole der Zeitlängen, goldne und kristallne Uhren, hingen an den Wänden umher. Diese Wände aber waren reich mit Gemälden geschmückt. Einige davon waren Schlachtenbilder, andre Darstellungen schöner Landschaften und Gärten, auf deren klaren Seen Gondeln dahinglitten, in denen Liebespärchen einander umarmten oder in denen musiziert wurde. Auf Etageren umher standen reich gemalte Porzellanvasen und all diese Dinge kamen aus Europa.

Das durch das Fenster eindringende Licht des Mondes fiel auf den Schläfer; er war schon alt und seine Hände zitterten leise auf dem weißen Bettuche. Der gespenstische Schatten schlug ihn auf die Schulter und sagte:

»Raini-laiari-vony, Sohn des Rainiary! Ich komme, um dich zu holen. Ich habe all diese Franzosen getötet. Nun bist du an der Reihe. Du bist alt, also folge mir freiwillig.«

Aber der, der damals Machthaber von Madagaskar war, erwachte, ohne die geringste Furcht zu empfinden, er blickte dem Kinoly fest in das Auge, ohne zu sterben, denn er war im Besitze des Zauberkrautes.

»Ich werde dir nicht folgen, du Bösewicht! … Das Leben erscheint mir noch unendlich süß und ich liebe meine Macht, meine Paläste, meine Büffelherden, den täglichen Gruß meiner Sklaven. Ich stehe hoch über dir und du wirst ohne mich fortgehen.«

Der Kinoly antwortete nicht. Er kehrte in die Ebene von Sakhalava zurück. Die französischen Toten schlafen dort im Gestrüpp, im Sande und in den Flüssen; andere, die die Traurigkeit des Lebens überwältigt hatte, hatten sich selbst an den Bäumen aufgehangen und die Führer der Maultiere, die mit ihren Tieren in dem Augenblick von dem Kinoly getroffen wurden, als sich beide niederbeugten, um zu trinken, verloren das Fleisch von den Knochen in den verunreinigten Bächen.

Der furchtbare Schatten berührte sie alle mit dem Finger und sagte:

»Stehet auf.«

Und siehe, alle gehorchten seinem Rufe. Die Maultiere wieherten und scharrten mit den Hufen wie morgens, wenn der Weckruf erschallt. Die Männer ergriffen ihre Gewehre, die Offiziere zogen die Säbel, schnitten sich Wanderstäbe, durchritten Ambohimena und schlugen den Wege nach Tananarivo ein. Da sagte der erste Minister:

»Der furchtbare Schatten hat mich also belogen. Da kommen sie, diese Teufel.«

Die Königin erließ einen Volksaufruf und die Soldaten von Madagaskar zogen den Franzosen entgegen. Und sie waren mutig, die Madagassen. Haben sie etwa Furcht gezeigt, als sie den Zug gegen die Betsimisaraka und die Bares unternahmen? Und kennt der Madagasse überhaupt Furcht? Ich habe neulich gesehen, wie einer von ihnen hingerichtet wurde, und ich kann dir sagen, o Ramilina, daß, als man ihn zum Galgen führte, seine Lippen nicht so weiß waren, wie die deinen es jetzt sind. Und doch, als sie mit den Franzosen zusammenstießen, wurde Ramasombazana, ihr Führer, von namenlosem Entsetzen ergriffen, und seine Zähne schlugen aufeinander.

Es waren keine Menschen, diese Franzosen, es waren Kinolys! Sie hatten keine Augen, aber aus den leeren Höhlen glühten rote Flammen und grüne, verweste Fleischsetzen hingen an ihren Knochen. Man konnte durch ihren hohlen Bauch sehen, die Hände hatten lange Krallen, ihre Kinnladen öffneten sich und schlugen zusammen wie die Kinnladen ausgegrabener Leichen. Sie marschierten rasch, sehr rasch, ihre Schritte aber machten kein Geräusch und ihre Füße schienen die Erde kaum zu berühren. Ihre Gewehre rauchten nicht, aber sie töteten wie durch einen Blitzschlag … Ramasombazana schleuderte seinen Federhut und seinen Säbel von sich und entfloh. Die Soldaten warfen ihre Waffen von sich und entflohen. Und die Franzosenleichen kamen näher und näher, sie kletterten die Hügel hinauf, stiegen in die Täler hinab, die Mauern fielen in sich zusammen, sobald ihr Finger sie berührte, und Entsetzen faßte, wer die rote Glut ihrer Augenhöhlen und ihr Totenantlitz sah … Der Alte, der erste Minister, der der Gemahl dreier Königinnen gewesen, fing an zu weinen, weil der Kinoly ihn besiegt hatte.

Und er lieferte Tananarivo dem Schatten aus.«

Kétaka hatte ihre Geschichte beendet. Auf den Zehen hockend, ohne Geste, in einer veralteten Sprache, aber mit größter Beredsamkeit hatte das Mädchen ohne zu stocken erzählt. Es wurde mir nicht ganz leicht, sie zu verstehen, aber Galliac sprang hier und dort ein und verdolmetschte ihre Worte.

Ihre Schwester Ramary aber rief:

»Kétaka ist eine große Lügnerin. Alle Tage erfindet sie neue Geschichten. Es ist allerdings wahr, daß es Kinolys gibt und ich weiß sogar die Orte, wo sie wohnen, es ist ganz nahe bei den großen Felsen. Aber nicht sie sind es, die Tananarivo genommen haben. Die Besieger der Stadt sind keineswegs die Toten, sondern die Lebenden gewesen. Sary Bakoly, meine andere Schwester, hat einen davon geheiratet; es ist der Leutnant Biret, der in Moramanga, nahe dem großen Walde, lebt.«

»Du hast eine Schwester, die sich Sary Bakoly, das heißt die Terracotto-Statuette nennt?« sagte Galliac, »das ist ein schöner Name und sie soll sehr hübsch sein.«

»Nicht hübscher wie ich,« bemerkte schnippisch Kétaka. Sie streckte die feinen Arme unter ihrem Ueberwurf hervor, neigte den Kopf tief und erschien nun zart und fein gegliedert, mit beinahe weißer Haut, wie diese den jungen Mädchen dieses Landes, die sich edler Herkunft rühmen, eigentümlich ist. Sogar ein zarter rosa Hauch färbte ihre Wangen, und mit ihren großen schwarzen Augen, ihren prachtvollen Zähnen, die sie täglich mit Kohle und Asche abrieb, fühlte sie sich völlig bewußt, zu den begehrenswertesten Töchtern ihres Volkes gezählt zu werden … Man dachte zugleich an ein Kind, eine junge Frau, an ein Tier, wenn man ihrer gedachte und, halb unbewußt, von ihrem Reize umgarnt, lächelte ich, indem ich ihr ins Auge sah …

Der Himmel war nun mit unzähligen Sternen besät; die Milchstraße zeichnete sich deutlich von dem tiefblauen Firmamente ab, sie erschien so weiß, so deutlich sichtbar, daß man sie für eine unbewegliche Wolke hätte halten können. An einem Punkte zweigte sie ab und ein heller Streifen verlor sich ganz allmählich in dem tiefen Schatten. Ein leiser Windhauch machte die Blätter der großen Bäume erzittern, denn die Antsahadinta beherrschenden Hügel sind bewaldet und wirken in dem unfruchtbaren Imerina wie ein Wunder voll Schönheit und Majestät. Man hat sie deshalb auch für heilig erklärt, wie jene elf andern waldgekrönten Hügel, wo die ersten Könige Hovas unter dem Laub der hohen Bäume das Rauschen unsichtbarer Flügel hörten und die Gegenwart der Geister der Vazimbas ahnten, jener ersten Besitzer dieses Landes, die von den Hovas besiegt und gemordet wurden und die dennoch durch einen geheimnisvollen Vorgang die schützenden Dämonen ihrer Mörder geworden sind. Hier und da leuchteten Wachtfeuer durch das Dunkel auf und in abgemessenen Zwischenräumen vernahm man die Stimme der madegassischen Wächter, deren Ruf Kunde davon gab, daß alles ruhig und sicher sei. Auch in den benachbarten Dörfern waren die treuen Wächter überall auf ihrem Posten und die ganze Nacht über ertönte nach den üblichen Intervallen ihr einfacher harmonischer Ruf.

Unsere zwei neuen Freundinnen sahen zu, wie wir unsere Feldbetten aufschlugen und unsere Decken aufrollten, dann entfernten sie sich schweigend. Galliac überzeugte sich davon, daß der Holzriegel fest über der Türe unserer Hütte lag, und dann schliefen wir ein. Unsere Träger hatten sich unter einem notdürftigen Schutzdache fast ganz im Freien gelagert und sie drängten sich so dicht wie möglich aneinander, um weniger zu frieren, denn die Nächte sind auf den Hochplateaus fast ebenso kalt wie die Herbstnächte Europas.

Wir waren trotz der Insurrektion hierhin gekommen und trotz der unaufhörlichen Angriffe der Fahavalen, die manchmal ihre Raubzüge bis in die Vorstädte von Tananarivo ausdehnten. Ihm selbst sei niemals etwas Unangenehmes in Antsahadinta passiert, hatte mir Galliac versichert, und: »Rainitavy ist ein alter Freund von mir.«

Dennoch glaubte ich gegen Mitternacht entfernte Flintenschüsse zu vernehmen und Rainitavy weckte uns. Die Fahavalen hatten das kaum drei Meilen von uns entfernt liegende Ambatomasina überfallen und verbrannt und die erschreckten Einwohner waren bis zu uns geflohen. Einige suchten, noch an allen Gliedern zitternd, Unterkunft in unserer Hütte. Die Feinde waren, etwa dreihundert Mann stark, über das Dorf hergefallen, sie waren mit Assagais (langen Spießen) bewaffnet und verfügten nur über zwei Gewehre, aber den armen Dorfbewohnern fehlten alle Mittel zur Verteidigung: die französische Regierung hatte ihnen ihre Waffen genommen. In Angstschweiß gebadet erhoben sie ihre gelben Hände: »Willst du, o Vahaza, daß wir mit den Fäusten kämpfen?« Und der Gouverneur von Ambatomasina, ein Greis mit ganz weißem Haar, weinte, weil sein Haus in Flammen aufgegangen war; sein schönes Haus, in dem es mit Goldnetzen bespannte Stühle und prächtige Tapisserien mit grünen Palmenlandschaften gab, und wo sogar Scheiben in den Fenstern waren. Er hatte sie so mühsam hergestellt, seine schöne Wohnung, mit den Früchten der Erpressungen, die er an seinen Untergebenen ausgeübt, die dennoch mehr wie wir an seine Ehrlichkeit und Gerechtigkeit glaubten. Die lange Gewohnheit durch eine von ihnen selbst gewählte Regierung benutzt und ausgeplündert zu werden, verhinderte die Madagassen daran, sich ihrer Leiden bewußt zu werden. Jetzt, wo sie alle von einem gemeinsamen Unglück betroffen und ruiniert waren, wandten sie sich voller Unruhe und mit einer letzten Hoffnung an diese Weißen, die sie unterjocht hatten, ohne sie schützen zu können: wir konnten leider nichts für sie tun.

Und plötzlich übermannte uns die Furcht selbst auf diesem Hügel, in diesem einsamen Dorfe angegriffen und von unserm Freunde Rainitavy ausgeliefert zu werden, um als Lösegeld des Dorfes zu dienen, das ebensogut wie das andere verbrannt werden konnte, wenn es sich zur Wehr setzen sollte. Rainitavy jedoch dachte gar nicht an Derartiges. Seine Gefühle waren geteilt. Wir flößten ihm immer noch die höchste Achtung ein, zugleich aber war er von lebhafter Furcht vor den Fahavalen ergriffen. Kétaka und ihre Schwester weinten bitterlich. So vergingen die letzten Stunden der Nacht. Wir hatten zwei Militärgewehre bei uns, die wir aus Vorsicht mitgenommen hatten. Wir übergaben unsere Jagdflinten und zwei Revolver den Händen derjenigen unserer Träger, zu denen wir das meiste Vertrauen hatten. Danach blieb nichts anderes zu tun, als auf unserer Hut zu sein. Ambatomasina brannte wie ein Kohlenmeiler und der ganze westliche Horizont war von den hochaufsteigenden Flammen gerötet. Indessen trug gerade dieser rote Feuerschein dazu bei, uns zu beruhigen. Die auf der nächsten französischen Station befindliche Garnison mußte ihn ja ebenfalls sehen und sie würde uns zweifellos zu Hilfe eilen. Wir spähten in dieser Hoffnung eifrig nach der Richtung hin, aus der wir die Franzosen erwarten durften. Ein ganz seltsames Gefühl hatte sich unsrer Seele bemächtigt; es war keine Furcht, sondern vielmehr eine gewisse Angst vor der Furcht, das unbestimmte Gefühl, vor einem unvorhergesehenen Ereignis zu stehen, das wir nicht kannten, die beinahe mystische Spannung der Nerven, die alle Menschen befällt, wenn sie sich in absolutester Dunkelheit und Unsicherheit befinden und sie an ihrem eigenen Mute zweifeln macht.

Endlich wurde es Tag. Wir fingen an zu lachen und sprachen davon, nach Ambatomasina zu marschieren. Um acht Uhr Morgens kam eine Abteilung algerischer Tirailleurs im Laufschritt bei uns an und, obwohl wir uns selbst lächerlich genug dabei vorkamen, nahmen wir doch die kräftige Ermahnung des Kapitäns der Tirailleurs demütig hin. Aber jedes Ding hat zwei Seiten: ich dachte im Stillen doch, daß es nur unsere Gegenwart gewesen, die das Dorf unseres Freundes Rainatavy vor dem Schicksale des Nachbardorfes gerettet habe. Auch der Vater Kétakas und Ramarys schien sehr bedrückt zu sein: das Unglück, das heute verhindert worden, würde ihn morgen oder in einigen Tagen unfehlbar treffen. Mit düsterer Resignation sah er der Abreise dieser Franzosen entgegen, die seine Gäste gewesen und ihn nun einem Feinde überantworteten, der von ihnen geschaffen worden. Vielleicht dachte er auch an seine sorgfältig verborgenen Geldersparnisse, an geheime Kompromisse, die er mit den Insurgenten abgeschlossen, an alte, seinerzeit notwendig gewesene Zugeständnisse, die ihm eine gewisse Sicherheit verliehen, während sie ihm gleichzeitig geheimnisvolle Pflichten auferlegten.

»Ramilina, Ragalliac,« sagte er zu uns, »ich bleibe hier, weil ich der Gouverneur bin. Das Leben ist süß, aber niemand kann seinem Schicksale entgehen. Aber ich habe große Angst um meine beiden jungen Töchter. Die Hügel von Antsahadinta sind kein sicherer Aufenthalt für sie und ich bitte Sie deshalb, sie mitzunehmen und sie zu ihrem Onkel Rainimaro zu bringen, der in Tananarivo, im Stadtviertel von Ambatovinaky, wohnt.

Und da überkam es mich plötzlich und ich rufe Kétaka zu: »Kleine liebe Kétaka, wenn ich dich mitnehme, dann behalte ich dich auch.«

Kétaka überwachte in diesem Augenblicke mit zusammengepreßten Lippen eine Sklavin, die damit beschäftigt war, eine Matte über einen Koffer von Holz zu befestigen, der ihr einziges Gepäckstück war. Sie antwortete ruhig und ohne jede Verwirrung:

»Ja, wenn du nicht schon eine Frau bei dir hast.«

So ist es gekommen, daß ich nach einer Jagdpartie im Teiche und einer unter den Waffen verbrachten Nacht voller Unruhe mich mit einer kleinen Frau verheiratete und daß nach allen vorhergegangenen Aufregungen ich nun in eine Art freudige Extase geriet. Der Vater verneigte sich mit einem einfachen höflichen Lächeln. Er machte sich keinerlei Illusionen über diese Art von Heiraten der Weißen mit den Töchtern Madagaskars, sie sind nicht bindend und es ist äußerst selten, daß dem armen kleinen Mädchen ein weißer Mann die Treue hält. Dennoch war er glücklich für sein Kind, das er liebte und vielleicht auch für sich selbst einen Schützer zu finden. Außerdem ist der Begriff der Beständigkeit und der Tugend dem Madagassen durchaus fremd. Keuschheit existiert kaum, selbst nicht als Vorurteil und die Frauen können ihre Liebe anstandslos verschenken, wem immer sie wollen, sie besitzen durchaus die Freiheit und Rechte der Männer. Diese antike Tradition wurde den Bewohnern Madagaskars von den Malayo-Polynesiern übertragen, die die Ureinwohner des Landes gewesen sind. Ebenso will es die Sitte aller australischen Länder, daß alle Kinder der Familie der Mutter zugehörig sind, in der sie stets freundlich aufgenommen und gepflegt werden, ohne daß je nach dem Vater gefragt würde.

Da der Weg, auf dem wir gekommen, nicht mehr für sicher galt, folgten wir den Tirailleurs bis zu ihrer Station, wo unsre kleine Gesellschaft sich dann der Eskorte anschloß, die die Händler bei ihren täglichen Geschäftsreisen begleitete.

Hinter Alarobia passierte unsre Karawane mehrere verbrannte Dörfer. Man sah von der Höhe der zahllosen kleinen Hügel von roter Erde, die wir einen nach dem andern überschritten, deutlich die zerstörten kleinen Häuser, von denen manchmal nur ein Giebel oder eine halbzerfallene Außenwand übriggeblieben war. Als wir näher kamen, war die ganze Luft von dem Geruche der Feuersbrunst erfüllt, es roch stark nach verbranntem, noch rauchendem Stroh und nach der erhitzten Erde, die ihre Feuchtigkeit in heißen Dünsten ausschied. Hier und dort war das verbrannte Strohdach zwischen die vier teilweise noch stehenden Wände der kleinen Häuser gefallen und unter den Trümmern des zerstörten Heims so mancher glücklichen Familie unterschied man noch zuweilen in der nordwestlichen heiligen Ecke die Ueberreste des Herdes unter zerbrochenen Wasserkrügen und Gefäßen, die zum Kochen des Reises dienten, und den ganzen ärmlichen Hausrat, der von dem Feuer zerstört und geschwärzt war. Das Bild vollständiger Zerstörung war um so trostloser, da diese Dörfer so sehr an europäische Niederlassungen erinnerten. Die Fenster waren mit nun zerbrochenen Glasscheiben versehen; an den Wänden erkannte man deutlich Ueberbleibsel hölzerner Treppen; Hühner und Puten, die gewohnheitsmäßig an den Ort zurückgekehrt waren, suchten ihren Lebensunterhalt zwischen den Trümmern. Einige isoliert stehende, aber auch ganz zerstörte Wohnungen erinnerten an die Pachthöfe Frankreichs. Die ganze, diese Dörfer umgebende Landschaft war auf das sorgsamste bebaut und in regelmäßig quadratförmige Felder eingeteilt. Man sah Felder, die mit Maniok, andre, die mit Kartoffeln, die von Europa hier eingeführt wurden, bepflanzt waren und aus den tieferherabsteigenden Tälern leuchtete das saftige Grün üppiger Reisfelder. Ueberall waren Wasserleitungen angelegt, die das Wasser geschickt bis zu den Hügeln führten und man erkannte allerorten die harte Arbeit des für sein Eigentum begeisterten Bauers, der die Felder, die ihn nähren, liebt und der mit unermüdlichem Fleiße unter Mitwirkung der Sonne und des Wassers mit der Hacke und dem sogenannten Ochsenschenkel, einer Art von Keule, die dazu dient, die harten Erdklumpen zu zerkleinern, der Erde ihre Gaben abringt.

Und wie sah das jetzt alles aus, wie zerstört und ausgeraubt! Manchmal entdeckten wir auf einem hohen fernen Hügel undeutlich weiße Gestalten: es waren Fahavalen, die von dort aus die Straße überwachten, um vorüberziehende Karawanen zu überfallen. Dann stießen unsere Träger ein Angstgeschrei aus und drückten sich an die Männer unsrer Eskorte; es waren durchweg Singhalesen mit blauschwarzer Haut, die in Begleitung ihrer Frauen dahinschritten. Die Weiber hatten herabhängende Brüste und sehr breite Hüften, sie waren überladen mit Schmuckgegenständen aus Kupfer und Silber, mit Amuletten und Halsketten aus gelbem Bernstein.

Diese Barbaren, die von den Vertretern der Zivilisation berufen, waren ein minder barbarisches Volk, das, obwohl von ihnen besiegt, doch fortfuhr, sie zu verachten, marschierten ordnungslos und mit Bewegungen und Sprüngen, die an wilde Tiere gemahnten, unserm Zuge voran. Kaum, daß sie eine Uniform trugen; aber man achtete sie ihres unbezähmbaren, beinahe erschreckenden Mutes, ihrer robusten Gesundheit wegen, vor allem aber wegen ihrer Leidenschaft für den blutigen Kampf, ihre Art, den Tod aus nächster Nähe zu versenden und zu empfangen.

Die armen furchtsamen Lastträger drückten sich in ihrer Angst so nahe wie möglich zusammen, klagten einander mit leiser Stimme ihr Elend und erzählten die Geschichte ihrer Kameraden, die in die Hände der Feinde gefallen waren und denen diese die Kniegelenke grausam durchschnitten hatten. Endlich verschwanden die am fernen Horizonte sichtbar gewesenen Gestalten der Insurgenten. Alle atmeten erleichtert auf. Die Karawane zog sich allmählich auseinander. Die Leute marschierten zu zweien oder, je nachdem der Transport der schweren Koffer und Kisten dies erheischte, zu vieren einher. Wir Europäer, die wir dies Land ja noch für viel wilder und unkultivierter gehalten, als es in Wirklichkeit war, schleppten alles mögliche mit: Feldbetten, Kisten voller Brod und Wein und ganz unnötige Vorräte.

»Nun ist unser Ziel bald erreicht,« sagte Galliac, »da ist schon das Observatorium der Jesuiten.«

Auf der Spitze eines runden Hügels erhob sich eine halb zerstörte Kuppel, ein Gebäude, das selbst jetzt nach dem Drama seiner Zerstörung noch einen banalen und geschmacklosen Eindruck machte.

»Es erinnert dich wohl nicht an das Evangelium?« fuhr Galliac fort.

Und er fügte mit ironischem Lächeln hinzu:

»Wir sind nicht in die Welt gekommen, um den Frieden zu bringen, sondern den Krieg.«

In diesem Augenblicke stießen unsre Träger im Chore ein Freudengeschrei aus, den klassischen, beinahe heiligen Ruf, der stets ertönt, wenn sie sich dem Ziele einer langen Reise nähern. Vor ihnen lag die Stadt, die die Zivilisation wie durch ein Wunder in diesem barbarischen Lande erstehen ließ. Lange genug waren sie ohne Atem zu schöpfen über die feuchte Tonerde im tragischen Schatten der östlichen Wälder dahingewandert, ihre Lendentücher von grober Sackleinwand, die sie beinahe nackt ließen, trieften von Schweiß. Nun endlich war das Ziel erreicht.

»Antananarivo! Antananarivo!«

Vor uns erhob sich die wunderbare, auf drei sich übereinander erhebenden Bergen gelegene Stadt, diese seltsame Stadt, die zu erbauen die Eingeborenen gezwungen wurden, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, was sie schufen – genau so, wie einst die Juden in Aegypten von genialen und stolzen Priestern gezwungen wurden, die Pyramiden zu erbauen.

Es war Tananarivo. Ueber mehreren, teilweise jäh abfallenden Abhängen erblickte man ein Gewirr von mit Veranden umgebenen Etagenhäusern, rote, graue und weiße Kirchen, deren Glocken man schon vernahm und zwei große Paläste, den der Königin und den des ersten Ministers. Der eine war von einer abgeplatteten Kuppel überwölbt, der andre wurde von vier mäßigen Türmen mit romanischen Rundbogen flankiert. Vor uns lagen große Straßen, deren Häuser so dicht aneinandergedrängt waren, daß kaum das Land dazwischen sichtbar wurde. Viele dieser Häuser waren in modernem Villenstil erbaut, andre hatten ganz das behagliche intime Aussehen englischer Cottages; sie waren von hübschen Gärtchen und Tennisplätzen umgeben und die aus großen Ziegelsteinen erbauten Mauern der Häuser waren überall mit Spalieren von Pfirsichen und Mangobäumen besetzt – eine Mischung der tropischen Kultur mit den in Frankreich gedeihenden Obstbäumen. Uebrigens spürte man überall und an allen Dingen diese seltsame Mischung der abendländischen und der tropischen Welt. Man empfand sie in der lauen und doch leicht bewegten Luft, in den Wohnungen, in der Kleidung der Eingeborenen, die unter ihren in römischen Falten fallenden Lambas gewöhnliche, grob gearbeitete Hosen trugen. Unsre Filanzanes – große sänftenartige Tragstühle, welche vier flinke Männer transportieren, die alle paar Minuten von vier anderen so geschickt abgelöst wurden, daß man den Wechsel der Träger nicht verspürte und unsre Reise stets in gleichem Galoppschritt voranging, flogen jetzt durch die schön gehaltenen Straßen und wir hatten sehr bald die ersten Häuser der Stadt erreicht. Von nun an führte unser Weg auf und ab. Unsre Mpilanzas hatten Felsen zu erklettern, Mauern zu übersteigen oder Höfe zu durchkreuzen. Hundert Leute hätten genügt, diese Festung zu verteidigen, die sich so ohne weiteres ergeben hatte und der matte passive Widerstand dieses Volkes im Jahre 1895 erscheint ein unlösbares Rätsel.

Schon hatten wir den Platz von Andohalo und die Straße von Zoma durchquert und dann endlich waren wir wieder zu Hause. Die Nacht war herabgesunken, und Galliac, der indessen die kleine Ramary zu seiner Frau erwählt, und ich, wir nahmen ruhig das Abendessen miteinander ein.

»Und die Frauen?« sage ich zu dem Boy, der uns bei Tisch aufwartet.

»Ihre Sklavin hat ein Reisgericht für sie gekocht, Ramilina, und sie haben gegessen.«

Ich geh die Treppe hinauf, um mein Schlafzimmer aufzusuchen. Dort finde ich Kétaka. Sie sitzt an einem Tische vor einem Klöppelkissen und ist damit beschäftigt, Spitze zu machen. Sie hat die Lampe angezündet, meine Bücher aufgestellt, den Koffer in eine Ecke gerückt und die Vorhänge zugezogen; und mir ist es plötzlich, als ob sie mich schon seit Jahrhunderten erwartete, oder vielmehr als sei sie immer bei mir gewesen und habe stets mit mir gelebt. Ihr köstliches schwarzes Haar ist in der Mitte geteilt und fällt in schweren halbaufgelösten Zöpfen tief über ihre Schultern herab. Ihre zarte Gestalt hat etwas kindliches, kaum daß die kleinen Brüste sich unter ihrem losen Jäckchen abzeichnen. Aber sie tritt mir ernst und mit einer einfachen Würde entgegen, die beinahe etwas matronenhaftes hat.

»Kétaka,« sage ich zu ihr.

»Ja, mein gnädiger Herr?«

Und sie reicht mir unbefangen die Lippen zum Kuß, wie dies etwa eine alte Gattin dem alten Gatten tun würde, kleidet sich aus und holt dann eine ganz neue, sehr schöne Binsenmatte, die sie zu Füßen meines Bettes ausbreitet und auf der sie sich niederlegt.

So ist Kétaka meine Frau geworden, obwohl ich nicht sagen kann, daß sie mein Lager geteilt habe. –

*

Aber der Glanzpunkt und die Freude des Hauses war doch die kleine Ramary, die Freundin Galliacs. Die freiwillige halbe Gefangenschaft, in der sie lebte, sagte ihrem kindlichen schüchternen Wesen, das vor dem Außenleben zurückschreckte, durchaus zu; sie fühlte sich sehr glücklich darin. Dennoch war sie ein wirkliches kleines Weibchen – eine zwar demütige, aber dabei entzückend naive, zärtliche, junge Frau. Wenn ich morgens Galliac in seinem Zimmer aufsuchte, lag sie bei ihm im Bett. Die Nacht verbrachte sie zwar auch wie Kétaka auf ihrer Matte, aber beim ersten Dämmern des Tages sprang sie zu ihm. Sie sah mich dann schelmisch lächelnd mit ihren kleinen braunen Mäuseaugen an und der gleichzeitig lustige und verschüchterte Ausdruck ihres hübschen Gesichtchens war überaus reizend. Sie umschlang den Hals ihres Freundes mit ihren Armen und entließ ihn auch bei meinem Eintritt nicht aus ihrer zärtlichen Umarmung. Galliac ließ es sich nur zu gern gefallen. Ihre Zärtlichkeit hatte sein Herz bezwungen; er war ganz im Banne des Reizes dieser seltsamen Verbindung, er genoß das Bewußtsein, Herr und Gebieter, Besitzer und König dieses mit seinen Instinkten beinahe einem Tiere ähnlichen jungen Wesens zu sein, daß ihn liebkoste, liebte, ihm fröhlich vorplauderte.

»Wenn du in Frankreich ein Mädchen findest, das meiner Ramary gleich ist,« sagte er einmal zu mir, »dann mache ich es zu meiner rechtmäßigen Gemahlin.«

So war es gekommen, daß er ganz allmählich in jene verliebte Stimmung geraten war, die der Vermischung der Rassen so sehr günstig ist. Dazu kam der Reiz, den die neue Umgebung, der auf die Sinne wirkende wollüstige Charakter dieses seltsamen Landes und seiner Bewohner auf ihn ausübte. Zur Befriedigung unserer geistigen Bedürfnisse genügten unsere allabendlichen langen Unterhaltungen, die Analogie unseres Geistes und unserer Erziehung. Wir waren Freunde, die sich herzlich liebten und wir liebten unsere kleinen Mädchen mit einer Art diskreten Freimütigkeit, ohne jemals ein Wort darüber zu verlieren, vielleicht weil wir es uns selbst nicht zu gestehen wagten, wie rasch dies neue Leben unter einer andern glühenden Sonne uns in seinen Bann gezogen. Waren wir hierher gekommen, um Gold zu suchen, um die Erde urbar und unser Glück zu machen? Wir wußten es nicht mehr, aber es gab Stunden, in denen uns ein tiefes Schamgefühl übermannte, weil es uns plötzlich bewußt wurde, daß wir anfingen, unser altes Vaterland zu vergessen und daß unsere Herzen für andere schlugen, als für die, die wir in Europa geliebt.

Galliac besonders gab sich diesen neuen Gefühlen ganz und ohne jeden Rückhalt hin. Ihn fesselte ja auch kaum etwas an die alte Heimat, seiner harrten jenseits des großen Wassers weder Freunde, noch Familie; als er das eines Tages der kleinen Ramary erzählte, war sie ganz bestürzt und so traurig, daß sie beinahe weinte.

»Du hast weder Vater noch Mutter, weder Bruder noch Schwester! O mahantra, mahantra ianaho, du armer, unglücklicher Mann!«

»Im Gegenteil,« sagte ich in der Absicht, den bekannten, den Bewohnern Madagaskars eigentümlichen Geiz in ihr zu reizen, »im Gegenteil, Ramary, er ist reich, er ist ein Erbe.«

Sie aber wiederholte: »O mahantra, mahantra izy!«

Ihr erschien die Lage eines Mannes ohne Familie, ohne Vater, Onkel oder Bruder eine höchst beklagenswerte zu sein. Denn in Madagaskar hält die Familie mit großer Anhänglichkeit aneinander. Es sind die Familienglieder, die einander stützen und sich gegenseitig helfen, sie sind es, die den Kranken pflegen und ihn vor dem Gerichtshofe verteidigen, wenn er von einer andern Familie angegriffen und beleidigt wird. In den kleinen moralischen Traktätchen der protestantischen Pastoren sowohl wie der jesuitischen Missionäre kommt wie der Refrain eines Liedes immer wieder dieser eine Satz vor: »Habt Mitleid mit den Armen und den Waisen.« Arm oder verwaist zu sein, das erschien Ramary ganz gleichbedeutend. Ist es doch auch schon seit einem Menschenalter die bisher ungelöste Aufgabe der christlichen Religion und der Zivilisation gewesen, mit der primitiven Auffassung der Eingeborenen aufzuräumen, daß ein alleinstehender Mensch vogelfrei sei und wie ein wildes Tier behandelt und gejagt werden dürfe.

Vielleicht war es diese Idee, die die kaum erwachte Seele der kleinen Ramary erfüllte, die köstliche Idee, daß der Mann, den sie liebte, ihres Mitleids bedürfe.

Dennoch, trotz dieser ihrer großen selbstlosen Liebe und trotz ihres zarten Alters von vierzehn Jahren war Ramary keine Jungfrau mehr und sie gab dies auch ganz offen und ohne jedes Gefühl der Verlegenheit oder der Scham zu. Viele madagassischen Mütter erblicken in der Jungfräulichkeit ihrer kleinen Mädchen nichts anderes wie eine Art von Gefahr, durch die ihren Kindern dereinst Schmerz bereitet wird, und sie erachten es daher für durchaus wichtig, sie schon in den ersten Lebensmonaten zu zerstören, wenn das Kind noch zu klein ist, sich des ihm zugefügten Leides bewußt zu werden.

Ihre Kindheit hatte sie in einem kleinen Holzhause verlebt, das unter dem heiligen Schatten von Antsahadinta und in der Nähe der Begräbnisstätten der Edelsten des Landes gelegen war. Sie war dort in dem Kreise gleichaltriger Freunde und Freundinnen aufgewachsen, die keineswegs mehr unschuldig waren und später war sie einem jungen Engländer gefolgt, dem Sohn eines Pastors, der sie mit in die von grünen Palmen erfüllten Täler von Vonizongo nahm. Er war Goldsucher gewesen, und nachdem er einen breiten großen Gürtel voll des köstlichen Goldstaubes gefüllt, hatte er sie eines Tages verlassen, um in das tiefer gelegene Land zu ziehen. Es war seine Absicht gewesen, zurückzukehren, aber als er einen der reißenden und tiefen Flüsse durchkreuzte, war seine Piroge umgeschlagen und sein schwerer goldgefüllter Gürtel hatte ihn in den Grund gezogen. An dem Jahrestage seines Todes löste Ramary ihr Haar auf und hüllte sich in dunkelblaue Schleier, wenn sie diesen Ritus verabsäumt, dann würde der » matatoa«, Phantom des Verstorbenen sich an ihr gerächt haben. Aber Ramary war nicht mehr traurig, wenn sie seiner gedachte, ebensowenig wie sie daran dachte, ihre früheren Abenteuer zu verheimlichen, weil diese nach ihrer seltsamen Moral durchaus nichts Entehrendes hatten. Sie hatte ein ausgesprochenes Standesgefühl und wußte, daß sie sich nur mit einem wie sie, der ersten Kaste angehörigen Manne oder mit einem Vahaza, der hoch über allen Kasten steht, vermählen dürfe. Sie glaubte ferner, daß, wenn man einmal »verheiratet«, es nicht anständig sei, wenn eine Frau das Haus ihres Gatten verließe und die Augen auf andere Männer würfe. Man nennt das mitsangan-tsangana, »laufen«, und es schädigt das Ansehen einer jungen Frau. Allerdings gab es in Tananarivo eine Menge junger Personen, selbst solche, die edler Geburt sind, selbst unter den Ehrendamen der Königin, die sich durchaus nicht davor scheuten, in der Stadt Besuche zu machen, deren Zweck oft etwas zweideutig war: Ramary jedoch, die die strengen Sitten des Landes ehrte, machte kein Geheimnis aus ihrer Verachtung für diese Damen.

Meine Freundin Kétaka teilte die Ansichten ihrer Schwester, ja, da sie ernster veranlagt war wie diese, dachte sie vielleicht noch strenger über solche Dinge. Ramary war eben verliebt und die Liebe stimmt die Herzen weich und nachsichtig, und diese Nachsicht mit den Schwächen andrer verdankte Ramary einer vornehmen Freundin, die sie ein wenig protegierte, worauf sie nicht wenig stolz war: es war eine junge Frau vornehmer Geburt, aber nicht ganz reinen Rufes, die Prinzessin Zanak-Antitra.

Selbst an dem barbarischen Hofe Ranavalonas, wo man keine übertriebenen Anforderungen an die Moral machte, hatte die wütende Leidenschaft der Prinzessin Skandal erregt. Es waren mächtige Gründe, politische Gründe, die gegen ihre Liebe zu dem Kapitän Limal erhoben wurden. Es spielten sich zu jener Zeit viele Intrigen in und um den Palast ab. Die höchstgestellten Frauen empfingen geheime Besuche von zweideutigen Personen, die ihnen Botschaften überbrachten und besorgten, Männer und Frauen, die, man weiß nicht woher sie kamen, noch wohin sie gingen. Und die Prinzessin Zanak-Antitra war dem Kapitän Limal toll ergeben. Sie beriet ihm die tiefsten Geheimnisse; sie hätte ihren Mann, den König, ja sogar ihre eigenen Kinder für ihn preisgegeben, sie verleugnete jeden Patriotismus – wenn überhaupt in Madagaskar es je so etwas wie Patriotismus gegeben hat –, sie verleugnete die Religion und sogar die Achtung für die Interessen der Familie, dieses heiligen Prinzips, das in Madagaskar die Basis aller Moral ist. Da war es denn selbstredend, daß der Kaplan der Königin, die Königin selbst und endlich sogar der überaus gutmütige und tolerante Gemahl der Prinzessin diese zur Rede stellten und ihr auf das strengste den Verkehr mit ihrem Herzensfreund untersagten; was jedoch wenig Eindruck auf Zanak-Antitra machte. Sie fand nach wie vor Mittel und Wege, sich mit dem Kapitän zu verständigen. Man entschloß sich daher, sie einzuschließen und wie eine Gefangene zu halten. Sie brüllte vor Wut und erklärte, daß eine Frau ihrer Geburt das volle Recht habe, ihre Liebhaber selbst zu wählen. Man schickte europäische Priester zu ihr, die ihr Vorstellungen machten und sie eines besseren zu belehren suchten; da forderte sie die Scheidung von ihrem Manne. Ihre Liebe zu dem Kapitän Limal war so wahr und so glühend, daß sie allen Halt verlor und sich beinahe kindisch benahm, sie weinte bei den öffentlichen Zeremonien, im Tempel, auf dem Balle, bei den Paraden und verbarg ihr Antlitz hartnäckig hinter dem Taschentuche, das der Kapitän ihr verstohlen zusteckte. Da sie es indessen doch nicht mehr wagte, ihn in ihrem Heim zu empfangen, veranstaltete sie Rendezvous mit ihm in unserm Hause. Sie ließ sich von ihren acht Trägern im Sturmschritt zu uns bringen und erschien dann ganz in weiße Seide gekleidet und überladen mit schweren häßlichen goldnen Schmuckgegenständen und Perlenketten. Sie und Ramary waren gute Freundinnen, die voreinander keinerlei Geheimnisse hatten und die oft stundenlang in intimen Plaudereien verbrachten, denen erst durch die Ankunft des Kapitäns Limal ein Ende gemacht wurde.

Obgleich von Krieg umgeben, machte man sich in der Stadt deshalb keinerlei Sorge. Nur der Stunde lebend, genoß man in harmlosem Leichtsinn die Freuden des Lebens. Man sang, man trank und tanzte, man gab sich den Freuden der Liebe hin. Die Erntezeit war gekommen, die Reisfelder waren gelb geworden. Auf den weichen, nachgebenden Schollen niedergekauert und mit groben Sicheln ausgerüstet, durchschnitten die jungen Mädchen mit rascher Hand die Garben dicht über dem sumpfigen Boden. Gegen Abend sah man sie von der Arbeit heimkehren. Sie trugen dann eine der blauen Lotusblumen in der rechten Hand, wie solche, umgeben von der guten, nahrungsspendenden Pflanze, in den üppigen Reisfeldern gedeihen. Von der hinter ihnen stehenden Sonne beschienen, stiegen die zarten, von der harten Arbeit ermüdeten Frauengestalten langsam die Hügel hinauf. Das Kolorit ihres ernsten, verträumt dreinschauenden Antlitzes hatte einen tief-gesättigten bräunlichen Ton. Ihr aufgelöstes, dunkles Haar hing bis tief über die Schultern herab und die sie verhüllenden weißen Schleier waren über der Stirn wie von einem blauen Stern mit einer Lotusblume gekrönt. Um sie herum lief und sprang eine ganze Schar schmutzstarrender Kinder, die in grundloser Freude unausgesetzt lachten, schrien und schwatzten. Alle, die Herrinnen, wie die Sklavinnen, hatten sich gleichmäßig an der Erntearbeit beteiligt und versammelten sich jetzt um die großen dampfenden Reistöpfe, denn es herrschte eine eigentümliche Gleichheit zwischen Herren und Dienern, und die Einfachheit der miteinander geteilten Wohnungen und der gemeinschaftlichen Mahlzeiten trug nicht wenig dazu bei, dies uns wie Barbaren erscheinende Sklaventum durchaus erträglich zu gestalten. Dennoch geschah es, daß man zuweilen eine Mutter klagen hörte, der man das Kind geraubt hatte, um es weit weg zu verkaufen.

*

Um diese Zeit geschah es, daß die Kétaka zugehörende Sklavin ein kleines Mädchen zur Welt brachte. Das winzige, kaum lebende schwärzliche Ding hatte ein seltsam ernstes Aussehen und es weinte nicht wie die europäischen Kinder dies tun. Seine Mutter trug es in einen Zipfel ihrer Lamba geschlagen auf dem Rücken umher, oder sie legte es, wenn die Sonne schien, ganz nackt auf den Rasen des Gartens. Kétaka war sehr glücklich. Die Geburt dieses Kindes bedeutete eine Vergrößerung ihres Vermögens und erhöhte ihr Ansehen; den Sitten des Landes gemäß galt sie moralisch als die zweite Mutter des Babys, und das Gefühl der Verantwortlichkeit erfüllte Kétaka mit Stolz und mit wirklicher Liebe für das Neugeborene. So hatte unser Haus einen Bewohner mehr erhalten. Wir hatten übrigens auch einen Affen, einen Hund, ein Maultier, sehr viele Hühner und Truthühner, und zwei schwarze Schweinchen.

So verfloß unser Leben in köstlichem Müßiggange. Ramary hatte das bessere Teil erwählt; Kétaka kümmerte sich um alles, sie führte den Haushalt und sorgte sich wie eine kleine richtige Hausfrau. Ich glaubte zuerst, sie nur deshalb zu lieben, weil sie mir angehörte, ohne mir klar darüber zu werden, daß ich schon durch festere Banden an sie gefesselt war. Sie verstand es, meine Sinne zu reizen, ersparte mir aber gleichzeitig alle Sorge und Mühe um das tägliche Leben, und sie hatte sich so unentbehrlich zu machen gewußt, daß ich abhängig von ihr war wie sie von mir. Die lange Regenzeit war vorüber. Der rußige Staub des vertrockneten Bodens stieg in großen Wolken zu dem wolkenlosen immer blauen Himmel auf und unwillkürlich verglich ich im stillen oft die unveränderliche trockene Schönheit der Landschaft mit der ebenso unveränderlichen, unnahbaren Höflichkeit der Eingeborenen. Kétaka war ein echtes Kind ihrer Rasse. Sie besaß den ganzen Stolz, den Geiz, den prozeßsüchtigen, herrschsüchtigen Geist der Madagassen. Gewiß gab es auch noch andre Elemente in ihrem Charakter, das weiß ich wohl, eine gewisse Feigheit, die sich vor der Gewalt demütigte, eine Art willfähriger Verachtung für den Fremden, dem sie untertan war. Indessen waren es nicht die von den unsern verschiedenen, ihr durch die Tradition überkommenen Begriffe, die den Grundzug ihres Charakters bildeten. Es war vielmehr ein blinder Stolz, eine Art wilden Eigensinns, der es nicht litt, daß sie jemals, selbst wenn sie wußte, daß sie im unrecht sei, um Entschuldigung bat, ein leidenschaftlicher Freiheitsdrang, der sie zwang, nur in den Ideen zu leben, die sie begriff.

Ich hatte einmal auf einer Versteigerung hundert Meter mit großen weißen Rosen bedruckten roten Kretonne gekauft. Kétaka nahm Hammer und Nägel, stellte sich selbst eine Art Leiter her und fing an, das Zimmer, in dem wir wohnten, mit Stoff zu bespannen und auf das geschmackvollste herzurichten. Sie war unermüdlich bei dieser Arbeit, und man merkte ihr die geheime Freude, den Stolz an, sich nützlich zu machen und sich als Herrin des Hauses zu betätigen, die es versteht, ein anheimelndes Interieur zu schaffen.

»Du arbeitest sehr geschickt, kleine Kétaka,« sagte Galliac lachend zu ihr. »Aber du selbst wirst niemals in diesem schönen Zimmer schlafen. Weißt du es denn nicht, daß dein Ramilina findet, du seist nicht fröhlich genug, und daß er deiner überdrüssig ist?«

Es war wirklich nur eine Neckerei, aber Kétaka konnte nun mal keinen Scherz verstehen. Als ich zum Frühstück nach Hause kam, richtete sie in kaltem Tone ein paar Worte an mich. Sie bediente sich dabei jenes veralteten Dialektes, den zu verstehen, mir immer große Mühe gemacht, und den ich diesmal überhaupt nicht verstand.

Der eigentümlichen Gewohnheit Tauber und aller der Menschen folgend, die aus irgendeinem Grunde nicht verstanden haben, was man ihnen gesagt, antwortete ich »Ja.« Sie sagte darauf noch ein paar mir unverständlich gebliebene Worte und ich antwortete aufs geratewohl abermals »Ja«, ohne auch nur einen Versuch zu machen, zu erraten, was sie gesagt. Am Abend war Kétaka verschwunden. Diese plötzliche Flucht für ein Wesen, das sonst überhaupt die Wohnung nicht verließ, war etwas Ueberraschendes, indessen dachte ich nur an irgendeinen mutwilligen Streich und erwartete, sie jeden Augenblick wieder eintreten zu sehen. Aber dann sagte Ramary mir:

»Meine Schwester wird nicht zurückkehren. Sie hat dich ja doch gefragt, ob es wahr sei, daß du ihrer überdrüssig seist und nichts mehr von ihr wissen wolltest, und du hast ›ja‹ geantwortet. Und dann hat sie dich wieder gefragt, ob Handwerker gerufen werden sollten, um dein schönes Zimmer fertigzustellen, und du hast es abermals bejaht. Da hat Kétaka deinem Wunsch entsprechend gehandelt.«

Ich aber fühlte mich furchtbar verlassen. Ich war wie ein Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hat. Ich erfuhr, daß Kétaka zu ihrem Onkel Rainimaro gegangen sei. Sollte ich sie holen lassen? Ließ sich das mit meinem Stolz, dem beleidigten europäischen Stolze vereinigen? Sie war gegangen, ohne ein Wort des Vorwurfs oder der Verteidigung, ohne eine Träne zu vergießen. Ihr so schnell gefaßter Entschluß, ihre verächtliche Resignation erfüllten mich mit Aerger und Zorn. Endlich übernahm es die Prinzessin Zanak-Antitra, Schritte zu tun, uns zu versöhnen und Kétaka zu bewegen, zu mir zurückzukehren. Sie kam zurück, jedoch mit dem Stolze und der Unnahbarkeit einer Göttin.

In dieser Weise ging das Leben dann weiter. Unsere Tage brachten uns viele kleine Freuden und Genüsse, die uns aber kaum mehr als solche erschienen, da wir dagegen abgestumpft waren. Aber es gab auch mancherlei Beunruhigungen, kleine Reibereien und Sorgen, die mir freilich jetzt, wenn ich daran zurückdenke, unwesentlich, ja sogar reizvoll erscheinen. Dann aber verließ Galliac, den ich wie einen Bruder liebte, plötzlich das Haus.

Er langweilte sich, er erstickte in der Stadt, und trotz der überall im Lande auflodernden Feuersbrünste, trotz der Warnungen und düsteren Prophezeiungen und trotzdem sich so mancher Europäer in das Innere des Landes gewagt, ohne daraus zurückzukehren, reiste er ab. Er sehnte sich danach, ziellos umherzustreifen und er mußte fort. Uebrigens war es ja kaum eine Reise zu nennen, er wollte mal vierzehn Tage im Süden zubringen, kaum zwanzig Meilen von Tananarivo entfernt. Er zuckte verächtlich die Achseln, wenn man ihn zu warnen suchte.

Als er, von seinen Trägern und seinem Gepäck umgeben, am Morgen seiner Abreise Abschied von uns nahm, erschien er völlig gleichgültig und kalt – vielleicht, weil er uns das Herz nicht schwer machen wollte.

»Adieu, mein Alter.«

»Adieu, Alter.«

Läßt es sich aussprechen, wie schmerzlich mein Herz sich bei diesem scheinbar kühlen Abschied zusammenkrampfte, wie schwer mir das Scheiden wurde? Ach, ich liebte ihn und wußte, daß er mich liebte! Aber einander sich das zu gestehen, nachdem uns die Sonne des Südens gebräunt, in unserm Alter Sentimentalitäten hinzugeben – nein, so etwas gab es nicht. Wir unterdrückten tapfer den auf unsern Lippen zitternden Seufzer und keiner wagte es dem Freunde zu sagen, wie schmerzlich man ihn vermissen werde. Nichts andres als: »Adieu, wirst du mir schreiben?« – »Glaubs kaum, keine Gelegenheit dazu.« – »Nun denn, Adieu!« – »Adieu!«

Die kleine Karawane entfernt sich, sie umgeht den See und verliert sich dann von dem heiligen Platze, wo die Königin alle Jahre ihr Volk hinter dem dürren, unfruchtbaren Hügel Ambohi-dzanahare versammelt. Jetzt spähe ich vergebens von der obersten Galerie in die Ferne, ich sehe nichts mehr. Dann aber vernehme ich einen tiefen schmerzlichen Seufzer. Es ist Ramary, die weint, die, ihr Antlitz in den Schleiern verbergend, heiße Tränen weint und nicht getröstet sein will.

»Er hat mir gesagt, daß er auf die Jagd ginge, um Vögel zu schießen, aber das ist nicht wahr. Ich weiß, daß er in den Krieg gezogen ist und ich weiß, daß ich ihn niemals wiedersehen werde.«

*

»Ramilina, hier ist meine Schwester Sary-Bakoly, die dir ihren Besuch machen will.«

Die Terracottastatuette steht vor mir; sie ist von einer Sklavin begleitet, die einen Korb mit Bananen und Orangen, ein Huhn und frische Eier trägt, denn es würde nicht für anständig gelten, einen zeremoniellen Besuch zu machen, ohne gleichzeitig ein Gastgeschenk zu überreichen. Sie ist mit ihrem Freunde, dem Leutnant Biret, von Mouramangue zurückgekommen. Sie ist sehr glücklich, ihre Schwestern mit so vornehmen Vazahas verheiratet zu finden, und bittet um die Erlaubnis, sie oft besuchen zu dürfen. Ich gewähre ihr ohne zu zaudern gern diese Erlaubnis.

Sary-Bakoly war eine große, schlanke Erscheinung, sie war nicht mehr ganz jung. Ihr regelmäßiges Gesicht machte einen sehr intelligenten, aber zugleich auch einen undurchdringlichen Eindruck. Sie benahm sich mit größter Höflichkeit, indessen fühlte man sehr wohl, daß sich hinter dieser glatten Außenseite ein eiserner Wille versteckte. Sie hatte übrigens eine ausgesprochene Ähnlichkeit mit Kétaka. Die drei Schwestern vertieften sich sofort in eine nicht endenwollende Unterhaltung; sie teilten einander alle Familiennachrichten mit, erzählten von den Brüdern, den Verwandten, von Tieren und Menschen, von Reis- und Maniocfeldern, und gingen dann, um das Negerkindchen zu wiegen und zu bewundern, Kétakas künftige Sklavin, das ihre schwarze Mutter der jungen Frau geschenkt.

Und ich fing an, zu begreifen, welchen Raum die Interessen der Familie und ihres Stammes in diesen Seelen einnahm, und daß im Grunde meine vorübergehende Erscheinung in dem Leben Kétakas nur eine ganz untergeordnete Rolle spielte. Wenn sie und ihre Schwester einwilligten, uns als ihre Gatten und Herren anzuerkennen, so geschah dies mit einer gewissen Herablassung, in die sich ebensowohl Furcht wie Schwäche mischte und ich erriet in beiden einen schweigenden Groll, eine ihnen gerecht und wohlverdient erscheinende Verachtung der Unwissenheit, die wir offenbarten, sobald es sich um gewisse Riten, Pflichten und Anschauungen handelte, die sich einer Moral anpaßten, welche mit der, zu der wir uns bekannten, nichts Gemeinsames hatte …

Sary-Bakoly kam oft wieder; einmal kündigte sie mir an, daß sie mit der Erlaubnis des Leutnants vierzehn Tage bei ihrer Familie verbringen möchte.

»Du verstehst doch, Ramilina,« sagte meine kleine Freundin.

Und ich antwortete wie immer, daß ich vollständig verstände. Meine quasi Schwägerin sprach mir dann ihren tief gefühlten Dank aus, und es geschah dies mit einer gewissen ernsten Grandezza, als ob ich ein wichtiges Abkommen mit ihr abgeschlossen hätte.

Ramary nahm an diesen Unterhaltungen keinen Anteil. Man betrachtete sie immer noch wie ein halbes Kind und ihre wirklich große Liebe zu Galliac, die sie ganz erfüllte, war Veranlassung, daß man sie wie eine kleine Verräterin behandelte, die sich außerhalb der Familie gestellt hatte und die darin herrschenden Gebräuche gering achtete. So geschah es, daß sich gleichzeitig zwei Katastrophen vorbereiteten, deren eine einen so unwiderruflich tragischen Ausgang nehmen sollte.

*

Ich hatte Sary-Bakoly mit einer etwas ironischen Freundlichkeit aufgenommen, und zwar besonders deshalb, weil ihr Haushalt mit dem Leutnant Biret ganz besondrer Art war. Er unterschied sich gewaltig von dem unsrigen: es war Sary-Bakoly, die das Geld in Händen hatte. Ein Offizier in Madagaskar hat kein allzuhohes Gehalt, und wenn er dabei verliebt ist, muß er sich wohl oder übel zu einigen Opfern entschließen. – Leutnant Biret legte seinen ganzen Sold in die Hände seiner Freundin. Sary-Bakoly führte die Geschäfte, sie gab ihm von einem Tag zum andern sein Taschengeld und bezahlte seine Schneiderrechnungen. Man hätte in diesem Arrangement eine Art individueller Wiedervergeltung der Eingeborenen gegen unser Kolonialsystem erblicken können. Was ist denn das Prinzip dieses unseres Systems? Der Eingeborene zahlt und wir verwalten sein Geld, nachdem wir, wie sich dies von selbst versteht, die Bezahlung für unsre Angestellten und die uns zukommenden Benefizien davon zurückgehalten haben. Hier aber war das Verhältnis ein umgekehrtes, der europäische Liebhaber bezahlte, die eingeborene Maitresse verwaltete sein Geld und selbstredend blieb der Löwenanteil davon in ihren Händen; diese Vertauschung der Rollen regte mich zu eigentümlichen Betrachtungen an. Aber man tut unrecht daran, den allgemeinen politischen Brauch mit der Führung eines Haushaltes zu vergleichen. Die Abreise Sary-Bakolys nach Mouramangue, der graziöse und heitere Ton meines Abschieds von ihr – und auch dies Geständnis ist demütigend – aber ich muß es machen. Der Mangel allen Zartgefühls, mit dem Leutnant Biret sich eine mir damals völlig unbekannte madagassische Sitte zunutzen machte, waren Ursache ernster Unannehmlichkeiten.

Es war Josef, mein Boy, der sich verpflichtet fühlte, mich in Kenntnis zu setzen. Als er mir eines Abends bei Tische aufwartete, bat er, mir ein paar Worte sagen zu dürfen.

Die Frauen speisten für sich und führten eine von der unsern ganz verschiedene Küche, ein mit Salz, Piment und Zucker gewürztes Reisgericht; getrocknete Fische oder an Festtagen vielleicht ein wenig Fleisch, das war ihre ganze Nahrung. Es galt nicht für passend, sie an unserm Tische zu empfangen und diese Gunst würde ihrem Geschmacke auch in keiner Weise entsprechen, sie vielmehr in Verlegenheit gesetzt haben und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie sich des Messers und der Gabel nicht zu bedienen gelernt hatten. Der Löffel allein ist bis in die madagassische Zivilisation gedrungen. Ich habe bei der Königin und ihrer Familie, ich habe bei den Frauen der Minister und bei den Frauen aller Großen des Hofes gespeist – aber ich glaube kaum, daß mehr als fünf oder sechs von ihnen es verstehen, mit einem andern Instrument als dem Löffel die Speise zum Munde zu führen. Indessen gaben sich diese Damen darum doch keineswegs eine Blöße, sie nahmen lächelnd und plaudernd am Tische mit uns Platz, ließen jedoch in heroischer Weise die besten Speisen vorübergehen, ohne einen Bissen davon zu genießen.

Es ist wahr, daß viele dieser Damen sich dann nachher am Champagner entschädigten. Man darf auch nicht vergessen, daß unsre kleinen Freundinnen, obwohl sie edler Geburt waren, doch vom Lande kamen. Sie nahmen nur dann auf einem Stuhle Platz, wenn es gewisse Beschäftigungen zu verrichten galt, wie schreiben, lesen oder Nadelarbeiten auszuführen, Dinge, die sie von ihren katholischen oder protestantischen Lehrern gelernt hatten. Aber niemand hatte daran gedacht, sie zu lehren, wie die Weißen essen und wenn sie speisten, mußten sie auf Matten vor der dampfenden Reisschüssel kauern, dann waren sie wieder kleine Wilde.

Josef, mein Boy, also wartete mir beim Essen auf, das ich, seit Galliac abgereist war, ganz allein einnahm. Da ich dies ziemlich langweilig fand, hatte ich ihn in letzter Zeit ab und zu zum sprechen veranlaßt, eine Erlaubnis, die er mit größter Diskretion zu benutzen pflegte. Ich schätzte Josef seiner Höflichkeit, seiner Sanftmut und selbst seiner Heuchelei willen, alles Eigenschaften, die einen guten Diener aus ihm machten. In diesem Augenblicke beschäftigte er sich mit größter Ernsthaftigkeit damit, vermittels eines Strohhalmes die Ameisen, die in meiner Kaffeetasse schwammen, herauszufischen. Diese Ameisen waren wirklich die Plage des Hauses. Man fand sie überall und ganz besonders in der Zuckerdose. Man mochte diese verstecken, wo immer man wollte und sie mit einem Meere von Essig umgeben, es half alles nichts, immer und immer wieder fand man den Zucker mit diesen kleinen schwarzen Tieren überdeckt. Das einfachste war, sich ohne sie zu beachten, zu bedienen und dann die Ameisen von seinem Diener aus dem Kaffee herausfischen zu lassen.

Josef hielt das für gar nichts besonderes und ich hatte mich auch daran gewöhnt.

Aber an diesem Abende preßte er die Lippen in einer bei uns ungewohnten Weise zusammen und es war offenbar, daß er etwas auf dem Herzen hatte.

»Gnädiger Herr« sagte er endlich, »wissen Sie auch, daß Kétaka heute den lieben langen Tag beim Leutnant Biret verbracht hat?«

Josef hatte mit Kummer die Regelmäßigkeit unsrer Sitten beobachtet. Er hätte gar zu gern nicht nur die Rolle des Ganymeds, sondern auch die des Merkurs übernommen, weil er bei letzterer Rolle immer etwas profitiert haben würde. Ich erklärte ihm darauf rund heraus, daß er ein elender Verleumder sei. Aber eine Viertelstunde darauf suchte ich Kétaka auf und hatte die Schwäche, sie einem Verhör zu unterwerfen.

»Ob ich bei Leutnant Biret gewesen bin?« sagte sie. »Ja! Da die Terracotta-Statue ihn verlassen hat und er keine Frau mehr hat, und weil ich doch Sary-Bakolys Schwester bin.«

»Es ist gut. Du wirst mich heute Abend noch verlassen.«

»Es dunkelt schon. Warte bis morgen,« antwortete sie sehr ruhig. »Es schickt sich nicht, daß eine Frau zu dieser Stunde allein über die Straße geht.«

»Mach dich fort,« sagte ich.

Ihre Schwester Ramary lief herbei, sie umarmte mich und rief:

»O Ramilina, warum nur bist du so böse? Es ist doch der Leutnant Biret, zu dem Kétaka gegangen, und da Sary-Bakoly abgereist ist, mußte sie diese vertreten, so verlangt es der Ritus … man würde ja sonst mit Fingern auf sie gewiesen haben.«

In ihrem Schmerz stupste sie ihr Näschen gegen meine Wange nach Art des madagassischen Kusses.

»Geh fort,« sagte ich in noch rauherem Tone zu Kétaka.

Sie senkte den Blick ihrer schwarzen Augen nicht vor mir und sich an ihre Schwester wendend und mit dem Finger auf mich zeigend, sagte sie:

»Afabaraka izy! Er ist entehrt!«

Eine Stunde später war sie lautlos verschwunden, ohne sich herabzulassen, mich noch einmal zu sehen oder mich um Verzeihung zu bitten.

Ich war entehrt. Ramary wiederholte es mir. Die Beleidigung, die ich ihrer Schwester angetan, war unverzeihlich. Es gehörte zu den von ihren Ahnen her übernommenen heiligen Riten, daß eine Schwester den Platz, den die andre verlassen, zu vertreten habe. Kétaka hatte daher nur ihre Pflicht erfüllt, und ich hatte die ganze Familie dadurch beleidigt, daß ich es gewagt, sie fortzujagen, weil sie die altehrwürdigen Bräuche ihres Clans hochgehalten hatte.

»Siehst du, ich will es dir ja vergeben,« sagte Ramary zu mir, »aber nur, weil du der Freund Galliacs bist!« Ich will mich lieber selbst kompromittieren und mich mit meiner Familie überwerfen, als dieses Haus verlassen, zu dem Galliac zurückkehren wird – ach, wird er zurückkehren? – – Aber die andern werden dich immer verachten. –«

Selbst die Prinzessin Zanak-Antitra gab mir Unrecht, und da sie mich als Witwer vereinsamt sah, und da Ramary auch so sehr traurig war, fand sie kein besseres Mittel, sie zu trösten, als, indem sie ihr eine Einladung zu einem in der nächsten Zeit am Nachmittag bei der Königin stattfindenden Tanzvergnügen schickte. In meiner Eigenschaft als Europäer würde man nur allzu glücklich sein, mich zu empfangen; Ramary würde zuerst hingehen und dann würde ich später nachkommen. Es war eine große Ehre zu den intimen Festen der Königin eingelassen zu werden; die kleine Verlassene sprang vor Freude.

»Du wirst mir zehn Piaster geben, Ramilina, dein Freund Galliac wird sie dir zurückerstatten. Ich muß wirklich wenigstens zehn Piaster haben. Zuerst muß ich mir schwarze Seidenschuhe, kiraro merinosy, beschaffen, die sind so hübsch! Ich habe noch das Kleid, das ich bei dem Feste der Gräber getragen habe, es ist von kupferroter Farbe und wirklich prächtig, aber ich muß durchaus ein neues Leibchen darauf haben und dann weiße Strümpfe und ein Korsett, sowie die weißen Damen es tragen, dann aber werde ich auch sehr schön sein.«

Schon drei Tage vor dem Feste erschien eine ältere Frau, um Ramarys Frisur vorzubereiten. Zuerst wusch sie sorgfältig die Haare und salbte sie dann mit seiner Rosenpomade. Dann – und dieser Prozeß nahm einen halben Tag in Anspruch – wurde das Haar in unzählige ganz dünne Zöpfchen geflochten, in der Art, wie man es in Frankreich zuweilen mit den Mähnen der Pferde macht. Dann am darauffolgenden Tage wurden diese Flechten sorgsam aufgelöst und dann fiel Ramarys reiches Haar in glänzend schwarzen Wellen herab. Am Morgen des Festtages endlich wurde mit Hilfe meines Dieners Josef, der entzückt war, eine so angenehme Beschäftigung zu finden, ihr Haar dann in einen hohen und sehr komplizierten Chignon aufgetürmt. Sie verließ das Haus, so bald es zwei Uhr geschlagen und war mächtig stolz darauf, von vier gemieteten Sklaven in einer Sänfte getragen zu werden, denn das gehört mit dazu; ebenso war sie sehr stolz auf ihr in metallischen Reflexen schimmerndes Kleid, an dem jedoch, wie ich sehr fürchte, die Taille nicht ganz an der richtigen Stelle saß, aber Ramary empfand es mit besonderer Freude ihr Jäckchen, das ihr ein so reizend kindliches Ansehen gab, ihren Ueberwurf mit dem keuschen Faltenwurf, der ihrer zarten Gestalt eine beinahe antike Grazie und eine gewisse anmutige Eleganz verlieh, mit dem steifen, unkleidsamen Korsett vertauscht zu haben. Nachdem ihre Toilette beendet und sie mit den neuen Schuhen geräuschvoll klappernd die Treppe hinuntergegangen und das Haus verlassen hatte, gedachte ich unwillkürlich jenes Tages, da ich sie zuerst an den Ufern des Sees Antsahadinta gesehen – ich gedachte des geräuschlos dahingleitenden Ganges ihrer kleinen nackten Füße und wie sie leicht und erhobenen Hauptes mit rosigen Sohlen über das harte kurze Gras dahingeschritten war.

Dann aber rief ich nach meinen Trägern, um mich in den Palast der Königin bringen zu lassen, wo an diesem Tage getanzt wurde.

Dieser Palast befindet sich jenseits der Königsgräber im Innern des Rouves, des alten heiligen Stadtviertels; er war von leichten, von Holz gebauten Arkaden umgeben. Von draußen schon vernahm ich das Geräusch eines verstimmten Klaviers. Ich trat ein.

Im Hintergründe eines viereckigen, von einer Galerie umgebenen Saales saß die Königin auf ihrem vergoldeten Trone. Sie war häßlich, sah vertrocknet aus und war auch schon ziemlich alt; sie hatte übrigens niemals Kinder gehabt. Aber selbst wenn sie Mutter geworden wäre, so war es doch durch das Gesetz des Königreiches längst entschieden, daß ihre Nachkommen, deren legaler Vater Raini-lairivony keiner vornehmen Kaste angehörte, niemals zur Regierung gelangen würden. Und selbst das in den Adern der Königin fließende Blut war nicht das ganz unvermischte Blut dieser tapfern Malayen, deren Geschichte sich bis in die graue Vorzeit verliert und von der kaum mehr als ein paar Legenden erhalten sind. Wir wissen nur, daß dieses Volk, nachdem es bis zu den roten, unfruchtbaren Hügeln vorgedrungen war, sich mit einer energischen konzentrierten Bewegung zu Herrn des Landes aufzuwerfen wußte und die ganze Insel eroberte. Der politischen Vereinigung ihrer Ahnen mit den dunkeln sakhalavischen Mädchen, mit den bestialisch entwickelten Kinnladen verdankte die Königin das schwärzliche Ansehen ihrer Haut und die stark entwickelte vorstehende Bildung ihres Mundes. Man fühlte in ihrem ganzen Wesen, das keineswegs der Würde ermangelte, die, wenn auch angenommen, ihr doch zur Gewohnheit geworden war, daß man vor einer intelligenten, aber hinterlistigen Frau stehe, vor einer gewalttätigen Natur, die einen tiefen bittern Groll, einen heißen Rachedurst in sich verbarg. Es war auch ein offenes Geheimnis, daß die französischen Sieger ihr nicht trauten und sie sogar im Verdacht hatten, sich an Verschwörungen zu beteiligen. Man erzählte sich üble Dinge davon, und es wurde sogar behauptet, daß man bei den Insurgenten von ihr unterzeichnete und durch ihr Siegel beglaubigte Briefe beschlagnahmt habe. Indessen erschienen diese selben Sieger heute in Uniform zu den Festen der Königin, sie tanzten und machten ihren Ehrendamen den Hof; aber während sie sich grüßend verneigten, lag doch ein gewisser drohender Ausdruck in ihren Augen und sogar der Klang ihrer Stimme ließ künftige Verbannungs- und sogar Todesurteile ahnen.

Ramary blickte mit fröhlichen Augen in dies seltsame Treiben; sie gab sich ganz der Freude der Stunde hin; was wußte dies harmlose Kind auch von all den Intrigen, die sich am Hofe abspielten? Sie sprang fröhlich umher und ließ sich von den schönen Offizieren zum Tanze führen, begrüßte freudig ihre Freundin Zanak-Antitra und ließ sich von der Prinzessin bemuttern. Plötzlich aber eilte sie auf mich zu und, den Finger auf die Lippen legend, sagte sie leise:

»Ramilina, komm und sieh!«

Sie führte mich in ein ärmlich ausgestattetes Zimmer, das eng wie ein Gefängnis und mit schlechten, verbrauchten Tapeten behangen war. Ich fand einen alten Mann darin, der mich kannte und zu sich gerufen hatte.

Dieser Mann war Raini-tsimbazafy, der neue Premierminister. In früherer Zeit war das Amt eines solchen als ein schreckliches und beinahe heiliges angesehen worden und nur, um es herabzuwürdigen, hatte man es in Raini-tsimbazafys Hände gelegt, weil man ihn für ungefährlich und einfältig hielt. In einen schmutzigen Schlafrock gehüllt, hatte er sich in dieses Loch zurückgezogen; er saß nun vor einem Schreiben, das man ihm aus der Residenz zugeschickt hatte und prüfte mit ängstlichem Blicke den unter demselben freigelassenen Raum des Papiers.

»Ich habe dies soeben zugestellt bekommen,« sagte er mit leiser Stimme zu mir. »Wo muß ich es unterzeichnen?«

Und nachdem ich ihm mit dem Finger die richtige Stelle bezeichnet hatte, fuhr er schüchtern fort:

»Ist es wahr, daß Ihr die Hütte Andrian-ampo-in-Imérina zerstören wollt?«

Es war dies eine bescheidene, aus Holz und Stroh erbaute Hütte, in der einst der Gründer der Dynastie wohnte. Von dieser Hütte aus war er zur Eroberung der Insel geschritten, unterstützt durch die Hilfe der ersten in Madagaskar erschienenen Europäer, die mit einem Schlage die Größe und die Zerstörung der Dynastie vorbereiteten. Stolz auf ihre Erfolge hatten seine Nachfolger diese bescheidene Wohnung beibehalten, unbeirrt von den prächtigen Palästen, die sich rings darum erhoben. Das kleine, baufällige Häuschen neigte sich stark auf die rechte Seite, wurde aber immer wieder sorgsam ausgebessert und, um das Recht zu haben, an dem Herd dieses beinahe schon einer Ruine ähnlichen kleinen Gebäudes zu sitzen, mußte man von edelm Geschlechte sein. Die alte Sklavin, die einst die Amme eines Königs gewesen und jetzt seit dreißig Jahren Schaffnerin des bescheidenen Häuschens war, hatte niemals den hinter der mittleren Säule gelegenen, nur für freie Männer bestimmten Raum betreten, und wenn sie die Hütte verließ, so ließ sie sich über den als Schwelle dienenden runden Mahlstein tragen, um durch die Berührung ihrer durch die Dienstbarkeit entweihten Füße nicht die Schwelle zu beflecken, die zu dem geheiligten Herde führte.

»Ist es wahr,« wiederholte er demütig, »ist es wirklich wahr, daß Ihr sie zerstören werdet?«

Ich antwortete ausweichend.

»Es schweben allerlei Pläne in der Luft, die sich um die Verschönerung des Rouves drehen.«

»Man sagt,« murmelte er, sich seines Aberglaubens schämend, »daß, wenn die fünf seinen Herd bildenden Steine verschwunden sein werden, es mit dem Königreich vorbei ist … Alles was ihr Franzosen tut, ist ja gut – – – indessen verstehe ich es nicht immer. Ich bin sehr alt und ich bin sehr krank. Glauben Sie, daß Frankreich mich ruhig würde gehen lassen?«

Als ich ihm die Antwort schuldig blieb, betrachtete er mit niedergeschlagener Miene das große Staatssiegel und fügte hinzu:

»Ich langweile Sie. Gehen Sie tanzen.«

Würde diese grob angelegte Zivilisation lebensfähig gewesen sein, wenn wir nicht gekommen wären, um sie zu verdrängen und durch unsere Zivilisation zu ersetzen? Und doch war es jene, die diesen Palast gebaut, die in weniger als einem Menschenalter ein Kaiserreich schuf und die sich in nicht ungeschickter Weise unseren Wissenschaften und Religionen anzupassen strebte, beinahe so, als fände sie darin etwas längst Verlorenes wieder, dessen Gebrauch ihr wohl bekannt war. Aber in dieser Stunde erkannte ich, daß sie dem Untergang geweiht sei, und als wir das Bedürfnis empfunden, eine Entschuldigung dafür zu finden, suchten wir uns an dem Schauspiel ihrer Lächerlichkeiten und Laster zu ergötzen. Einige der Tänzer hatten in einem abgelegenen Raume die Prinzessin Rasendranoro entdeckt, die die Königin, ihre Schwester, dort hatte einschließen lassen, weil sie – wie regelmäßig an jedem Abend, vollständig betrunken war. Sie führten die hin- und herschwankende, schimpfende und nur mühsam ihren gewaltigen Körper voranbewegende Dame bis zu dem Throne der Königin, an den sie sich lautlachend stützte. Neben ihr bemerkte man den Prinzen Rakotomena, den mutmaßlichen Thronerben, der es vor Zeiten gewagt hatte, die Franzosen in den Straßen von Tananarivo hinterlistig ermorden zu lassen und der nun mit seiner niedrigen, gesenkten Stirn und den blutunterlaufenen Augen einem bösen Stiere glich, der sich nur widerwillig dem Joche beugt, vor dem er zittert.

»Komm,« sagte ich rauh zu Ramary. »Ich fühle mich hier traurig werden. Ich würde lieber den großen Palast anschauen, den ich noch nicht gesehen habe.«

Es war das allerdings bei Gelegenheit eines Festes nicht gerade üblich. Aber gab es denn überhaupt etwas, was man einem Weißen abschlagen würde? Einer der Offiziere verneigt sich tief, findet meine Laune durchaus natürlich, reizend liebenswürdig und erbietet sich mir, als Führer zu dienen. Er geht uns voran und unser Weg führt uns bald über Gänge und bald über Treppen mit niedrigen und unregelmäßigen Stufen. Nun durchschreiten wir zwei hohe Säle, deren Fußboden mit Rosen- und Ebenholz ausgelegt ist, die jedoch selbst zu dieser frühen Nachmittagsstunde so düster sind, daß sie wie unterirdische Höhlen erscheinen und man an die hier überall wirr durcheinander stehenden Dinge anstößt; man findet hier Betten und ganz gewöhnliche aus Europa importierte Möbel, dazwischen Kabinette in prächtig eingelegter indischer Ausführung, deren orientalische Seltsamkeit einige Augenblicke die alten Herrscher reizte und die jetzt vergessen in dieser Art von Lagerräumen vermodern. Endlich sind wir auf dem flachen Dache angekommen, das von einer Balustrade umgeben ist. Ueber unsern Köpfen breitet der Adler, der die Kraft personifizierende Vogel, seine Ungeheuern bronzenen Flügel aus. Und zu unsern Füßen liegt die ganze Stadt.

Die Sonne neigte sich schon allmählich dem Untergange zu und tauchte den westlichen Himmel in leuchtende karmoisinrote Töne; man erkannte deutlich die unregelmäßige Hügelkette, die sich über die schon gelben Reisfelder und die dazwischen gestreuten Sümpfe erhebt und der Blick schweifte ungehindert über das ungeheuere wellige Land, dessen Einförmigkeit von keinem Baume unterbrochen wurde, bis zu dem Fuße des zackigen Ankaratra, diesem heiligen Berge, der von einem Fluge großer Raubvögel umkreist wird, die die Wohnung der zu den Göttern erhobenen Toten beschützen.

Unmittelbar zu unsern Füßen lagen mit Arkaden geschmückte Häuser, Gärten, Kirchen, die Abhänge hinauf und hinab, über und untereinander liegend bis zu jener großen grünen Wiese hin, die zwischen Ambohi-Dzanahare und dem von Radame gegrabenen heiligen See liegt. Es war ein unvergleichlich königlicher Blick über diese Wunderstadt, die von dem genialen Volke geschaffen wurde, das jetzt bereits seinem Untergange entgegensah.

Plötzlich hörten wir, wie von der Stadt her sich ein murmelndes, schnell näher kommendes Geräusch erhob. Man erkannte deutlich, wie eine in ihre weißen Gewänder gehüllte vielköpfige Menge sich der Einfriedigung des Rouves zudrängte; und dieser Menge entstieg ein Schrei des Mitleids und des Entsetzens – und ein zerlumpter zitternder Mann erzählte ihnen schreckliche Dinge, die wir nicht verstehen konnten und brach endlich vor dem Tore des Palastes zusammen.

»O mein Gott,« sagte Ramary, »was bedeutet das? … Komm mit mir, Ramilina, ich fürchte mich.«

Und wir steigen so schnell wie nur möglich hinab. Die Gäste sind bereits in den Hof geeilt und vor der Königin, vor den Europäern im schwarzen Frack und in Uniform kauert ein Neger; er ist mit Blut bedeckt, mit vertrocknetem Blute, das schmutzige Flecken auf seiner mit Staub erfüllten Haut verursacht. Seine Arme sind abgehauen, die weißen Muskeln liegen bloß und seine Zähne schlagen im Fieberfrost aufeinander. Es ist Rainibozy, der Führer der Träger Galliacs.

Er erkennt mich und in monotonem, resignierten Tone wiederholt er mir den Satz, den er, seit er angekommen, unaufhörlich hersagt wie das Schlußwort einer einstudierten tragischen Rolle:

»Efa maty Ragalliac! Man hat Herrn Galliac getötet!«

Und ich stoße ein Wutgeheul aus so verzweifelt, daß er das Schmerzgeschrei Ramarys übertönt.

Der Unglückselige streckte uns die verstümmelten Reste seiner Arme, aus denen das Blut floß, entgegen, und das, was er uns erzählte, war eben so einfach wie schrecklich. Die Karawane Galliacs hatte in einem kleinen Dorfe ihr Nachtlager aufgeschlagen und war dort von den Fahavalen überrascht und angegriffen worden. Galliac hatte aber keinen Augenblick die Geistesgegenwart verloren, sondern sich mit bewunderungswürdiger Kaltblütigkeit zu verteidigen gewußt; er hatte den einzigen Eingang mit einem großen runden Stein versperrt und die fünf Gewehre, die er mit sich führte, unter die Einwohner verteilt. Am andern Morgen hatte er versucht, sich nach Tananarivo zurückzuziehen. Die meisten seiner Träger waren geflohen, er war fast allein zurückgeblieben. Gegen Mittag kam er zu Fuß vollständig erschöpft vor Müdigkeit und der Hitze in Manantsoa, einem andern Dörfchen an.

»Halte dich hier nicht auf, Herr Vazaha,« hatte ihm der Gouverneur gesagt: »Fliehe, so rasch du kannst, sie werden zurückkehren.«

Sie waren in der Tat und zwar in noch größerer Zahl zurückgekommen und sie führten die Bewohner des Landes, nachdem sie dieselben ausgeraubt, als Gefangene mit sich. Obwohl Galliac bereits verwundet war und den sichern Tod vor Augen sah, hatte er sich dennoch zwei Stunden lang in einem von gebackenen Ziegeln gebauten Häuschen tapfer verteidigt. Man hatte mit Axthieben ein Loch in die Mauer gehauen, um zu ihm gelangen zu können. Aber nachdem diese Bresche gemacht, wagte doch niemand, hindurchzudringen.

Da hatte man endlich Feuer an das Dach gelegt und der tapfere Mann war lebendig verbrannt, sein stolzer Mut, seine Kaltblütigkeit waren durch den Schrecken eines so entsetzlichen Todes besiegt worden und gellendes Schmerzensgeschrei war aus dem brennenden Hause gedrungen. Der Anführer der Rebellen jedoch hatte vollständig ruhig das Ende der Feuersbrunst abgewartet, dann hatte er, vorsichtig tastend, nach der unter der Asche liegenden, halbverkohlten Leiche gesucht und als er sie gefunden, hatte er sich mit einem Messer in der Hand darüber geneigt und einen Fetzen Fleisch von dem geschwärzten Bauche gerissen, so daß eine große rote und rauchende Wunde entstand, dann hatte er sich hochaufgerichtet und den Fleischfetzen der Menge zugeworfen. Rainibozy, der seinem Herrn treu geblieben und der die Türe des Häuschens tapfer verteidigt hatte, war überwältigt worden und man hatte ihm die Hände abgehackt …

*

Ramary hatte sich zu ihrem Onkel Rainimaro geflüchtet. Dort auf der höchsten Galerie des Hauses kauerte sie, in ein zerrissenes blaues Gewand gehüllt, händeringend am Boden und schreit ihren Schmerz in die Welt hinaus. Sie klagt und jammert ohne Unterlaß und ihren Augen entquillen große Tränen, diesen schönen Augen, die ich ihres kindlich fröhlichen Ausdrucks wegen so sehr liebte. Der Abend sinkt herab und man hat kleine Wachskerzen angezündet. Menschliche Gestalten bewegen sich um die Trauernde, sie sprechen leise in murmelndem Tone miteinander, nur zuweilen, wenn das Weinen des armen jungen Weibes lauter erschallt, begleiten sie ihre Klagen mit einem feierlich theatralisch klingenden Seufzer.

Es sind unsre Träger mit ihren Frauen und Töchtern und alle Verwandten der kleinen Witwe, die gekommen sind, um das Andenken des Toten zu feiern und an Ramarys Schmerz teilzunehmen und alle trinken Rum, den, wie das der Brauch ist, ihnen Ramary gespendet hat. Viele von ihnen sind schon betrunken und haben sich hingekauert oder gelegt, um den Harmonika- und Gitarrespielern zu lauschen, die man zur Trauerfeier gemietet hat; andre haben sich um ein im Freien entzündetes Feuer versammelt, an dem sie große Stücke Ochsenfleisch braten, das sie mit Hilfe von Stäbchen gierig verschlingen. Alle diese Veranstaltungen werden auf Kosten Rainimaros und seiner Nichte gemacht: aber der Onkel überwacht, obwohl er selbst schon halb betrunken ist, dennoch mit eifersüchtigem Blicke den auf einem vor ihm stehenden Tische befindlichen Teller, der schon beinahe ganz mit kleinem Silbergelde angefüllt ist; denn die Sitte verlangt, daß jeder, der an der Totenfeier teilnimmt, die ihm gebotene Gastfreundschaft durch eine kleine Geldgabe vergilt. Indessen hat einer der Klagenden seine Valiha gestimmt, ein aus Bambus gefertigtes, mit Saiten bezogenes Musikinstrument, und er singt das Lied der Verlassenen:

»Ich bin nichts mehr wie ein Stückchen Rinde, das die jungen Sprossen des Bananenbaumes abgestoßen haben; aber als ich reich und glücklich war, da liebten mich die Freunde meines Vaters und meiner Mutter. Wenn ich sprach, schwiegen sie, wenn ich zu ihnen redete, neigten sie das Haupt. Ich war der Schutz und der Ruhm der Verwandten meines Vaters, und den Verwandten meiner Mutter war ich der große Schatten, der sie vor den glühenden Strahlen der Sonne schützte. Ich war für sie wie die junge Ferse, die im Sommer geboren ist, ich war ihre Freude und ihr Reichtum, ich war diejenige, von der man sagte, das ist der große Feigenbaum, die Zierde der Felder, das ist das große Haus, der Schmuck der Stadt. Sie ist unser Schutz, und Ruhm, unsre Freude und unser Erfolg! Sie ist es, die das Gedächtnis der Toten heilig hält! Denn sie bewunderten mich wie eine hohe schlanke Säule und sie empfingen mich mit Liebesgrüßen und mit Ehrenbezeugungen.«

»Jetzt aber bin ich wie ein Stücklein Rinde, das die jungen Sprossen des Bananenbaumes abgestoßen haben. Man hat mich verlassen, weil ich unnütz bin, die Familie meines Vaters haßt und die Familie meiner Mutter verwirft mich. Ich genieße nicht mehr Achtung wie der Stein, auf dem man die Kleider an der Sonne trocknet, wie der Stein, den man wegstößt, wenn der Himmel sich umwölkt. O mein Volk! Während ich rede, mache ich mir selbst Vorwürfe, denn ich bin beides strafbar und entehrt.«

Dann stießen alle Anwesenden ein lautes Klagegeschrei aus und stimmten darauf die harmonisch klingende, getragene Melodie der Totenklagen an. Es lag dieser Klage kein andrer Text zugrunde, als die unzählige Male wiederholten, verzweifelt klingenden Worte:

»O der Traurigkeit, der Traurigkeit, der Trauer in der Nacht! O bittres Leid! Ihre Mutter weint, unsre Kinder weinen, unsre Verwandten weinen und unsre Sklaven schwimmen in Tränen, Tränen, Tränen, Tränen in der Nacht! …«

Sie wird niemals zurückkehren in das Haus des Doktors Andrianivoune, jenes lauschige kleine Haus, das in Soraka, der Vorstadt von Tananarivo, über dem See Anosy gelegen ist. Nein, sie kehrt nicht wieder, die kleine trostlose Witwe, und wenn sie ihr großes Leid überwunden hat, dann wird sie mit aufgelöstem Haare zu der Wohnung ihres Vaters zurückkehren, vor dem ein murmelnder Bach die Zuckerrohrfelder berieselt.

... Und ich werde sie nicht wiedersehen, nie, nie, sowenig wie ich Galliac wiedersehen werde, dessen verstümmelter Körper in der roten Erde ruht und so wenig wie ich Kétaka wiedersehen werde, Kétaka, meine kleine stolze Freundin, die niemals eine Kränkung vergibt! Die Prinzessin Zanak-Antitra schluchzt ebenfalls bitterlich. Der Kapitän Limal hat Tananarivo endgültig verlassen, ihre große Liebe ist zertrümmert.

»Ramilina,« sagt sie zu mir, das böse Lied hat recht, – »wir armen Verlassenen sind entehrt, wir sind verloren« … Verloren! … Früher wußten wir nicht, was das bedeutete, wir wußten kaum, ob ein Mann unser Geliebter oder unser Gatte war. Aber dann seid ihr gekommen, ihr weißen Männer und wir haben euch geliebt und ihr habt uns Dinge gelehrt, von denen wir bisher nichts wußten. Euere Missionare sprachen den unwissenden kleinen wilden Mädchen während der Schulstunden von der Treue, von der Keuschheit, während die schönen weißen Offiziere und Kolonisten draußen ihrer harrten, um sie in Besitz zu nehmen. Indessen langsam und ganz allmählich kommen wir dazu, zu glauben, daß all diese schönen Tugenden, von denen Eure Priester reden, vielleicht doch existieren; und dann verlaßt ihr uns! Der lieben Ramary bleibt wenigstens ein Trost: ihr Freund ist unter der Erde für immer, er ist tot, er hat sie nicht verlassen. Aber glaubst du etwa, daß sie in Zukunft mit einem madegassischen Gemahl glücklich leben wird? O, ich weiß es sehr wohl, daß sie es versuchen wird, wenn sie zu altern anfängt, aber sie wird unglücklich sein, sie wird ihr ganzes Leben lang an den Weißen denken, der tot ist und an alle Freuden und die Liebe, die er ihr geschenkt, Dinge, von denen der Madegasse nichts weiß. Sie wird heimlich weinen und wenn er das merkt, wird er sie schlagen, um sie dafür zu strafen … Siehst du, Ramilina, es geht mit unsern Freuden wie mit unserm Königreich – sie zerbröckeln. Ihr werdet in größerer Zahl hierher kommen und ihr werdet eure wahren Gemahlinnen mitbringen, die schönen weißen Frauen, die ihr für das ganze Leben behaltet, von denen ihr Kinder habt, die ihr nicht auf die Straße werft und deren Bild in goldnem Rahmen auf dem Kamin schöner Zimmer steht. Wir werden dann verlassen sein, kleine, unglückliche, böse und eifersüchtige Frauen; es wird vorbei sein mit unsern alten vornehmen Familien, es wird keine madegassische Regierung, keinerlei Ehren mehr für uns geben; das Volk wird wie Staub sein und die Frauen werden in den Kot getreten.«

In diesem Augenblick vernahmen wir die Stimme des einen der Sänger mit großer Deutlichkeit. In rauhen, tiefen Tönen trug er einen fragenden Vers vor, auf den der Chor der Frauen und der Kinder ihm antwortete.

»Ach, sage doch, wer ist vor dir?« »Ich weiß es nicht, ich spreche nicht mit ihr.« – »Ach, sage doch, wer ist hinter dir?« – Ich weiß es nicht, sie hat nicht gesprochen.« – »Warum bist du so unbeweglich und steif?« – »Laß doch, ich habe mich eben erst aufgerichtet.« – »Warum bist du so verstört und außer dir?« – »Ich bin nicht außer mir, ich träume.« – »Aber du zitterst ja, du schluchzest?« – »Ich zittre nicht, ich friere.« – »O sage doch, warum bist du so traurig?« – »O, wie sollte ich nicht traurig sein, da der, den ich liebe, gestorben ist.« –

»Nein, nein, man muß nicht weinen,« sagte die Prinzessin Zanak-Antitra zu mir. »Wenn ich in Schande sterben soll, was tut es, ob sie mich heute oder morgen trifft?

Glücklich diejenigen, die leben. Sieh nur, wie hell die Sterne glänzen! Ich bin allein – und du bist allein. Wir wollen miteinander gehen. Bin ich nicht schon deine Freundin, da ich mit dir traurig gewesen bin?« –


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