Koloman Mikszáth
Der wundertätige Regenschirm
Koloman Mikszáth

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Dritter Teil.

Auf der Spur.

Der Regenschirm kommt zum Vorschein.

Viele Jahre sind vergangen, viele Flöße über die Gran geschwommen, viel hat sich in Neusohl verändert seitdem; doch uns interessiert von allen Veränderungen am meisten die kleine Tafel im Korridor des Gregoricshauses, auf welcher mit kleinen Goldbuchstaben geschrieben steht: »Georg Wibra, Landes- und Wechseladvokat.«

Die Welt schreitet immer weiter, immer weiter ... aus dem kleinen Knaben Georg ist ein berühmter Advokat geworden. Weise Komitatsherren erbitten sich seine Meinung, wenn er im Rat sitzt, und schöne Mädchenköpfe lächeln hinter blumenbesetzten Fenstern auf ihn hinab, wenn er über die Gasse geht. Er ist auch wahrlich ein hübscher Mann und hat viel Verstand. Und was braucht man mehr auf der Welt? Er ist jung, gesund – die ganze Zukunft steht offen vor ihm da. Er kann sogar noch einmal Deputierter werden.

Doch soweit voraus schweift die Phantasie der Kleinstädter nicht. Sie steigen nur immer um eine Stufe höher. Und was könnte die nächste Stufe denn anderes sein, als: wen wird Georg Wibra heiraten?

Nun, den möchte auch Käthchen Krikovszky heiraten, obgleich sie das schönste Mädchen in der Stadt ist; mit beiden Händen würde Mathilde Hupka nach ihm greifen, und die ist doch gewiß ein hochmütiges, spöttisches Ding. Vielleicht möchte ihm sogar Mariechen von Biky keinen Korb geben, trotzdem sie von Adel ist und fünfzigtausend Gulden Mitgift bekommt. Die Mädchen sind heutzutage sehr wohlfeil!

Jedoch Georg Wibra bekümmerte sich um all dies nicht, er war sehr ernst und in sich gekehrt. Seine Bekannten fühlten heraus, daß in seinem Kopfe ganz andere Gedanken ihr Wesen trieben, als in dem der andern Menschen. Der Lauf der Dinge ist: daß man sich erst das Diplom erwirbt, dann eine Kanzlei eröffnet, hernach sich Klienten verschafft und das primitive Nest sich immer mehr erweitert, bis es endlich einmal vor lauter Geräumigkeit so leer erscheint, daß jemand unbedingt diese Leere ausfüllen muß. Ein schönes Frauenköpfchen fehlt darin, ein blondes oder ein brünettes. So machen es die andern jungen Advokaten, denen das Glück lächelt.

Georg kam dies gar nicht in den Sinn. Als Mama Krikovszky einmal die Frage an ihn richtete: »Wann werden wir Ihren Namen unter den Heiratsnachrichten lesen?« antwortete er mit förmlicher Entrüstung: »Pardon, aber ich habe nicht die Gewohnheit mich zu verheiraten.«

Wahrlich, heiraten ist auch nichts anderes als eine schlechte Gewohnheit, jedoch eine Gewohnheit, die durchaus nicht aus der Mode kommen will. Generationen nach Generationen thun desgleichen seit Jahrtausenden, beklagen sich auch darüber, kratzen sich die Köpfe, daß sie eine Dummheit begangen, doch klüger wird die Welt dadurch doch nicht. So lange schöne, junge Mädchen blühen, blühen sie immer für jemand.

Seine Kanzlei kam prächtig in Gang, das Glück lächelte ihm überall zu, doch er nahm es mit ziemlich saurem Gesicht auf. Er arbeitete, er arbeitete freilich, aber eher aus Gewohnheit, so wie sich der Mensch alltäglich wäscht und kämmt, so verrichtete er seine Advokatursgeschäfte. Seine Seele befand sich anderswo. Doch wo?

Ei, wohin wandert denn die Seele in diesem Alter?

Seine Freunde glaubten es zu wissen und bestürmten ihn genug: »Warum heiratest du nicht, Alter?«

»Ich habe kein Geld.«

»Nun eben deshalb; die Frau bringt ja das Geld.« (Diese Auffassung herrscht in der Lateinerwelt.)

Georg schüttelte den Kopf, er hatte einen schönen, ovalen Männerkopf mit seelenvollen, melancholischen schwarzen Augen.

»Das ist nicht richtig. Das Geld bringt die Frau!«

Ach, welch eine Frau muß der begehren! Sie meinten hochstrebende Pläne in ihm zu entdecken.

»Ein verdammt großer Streber ist der Georg Wibra. Er will viel, er will was Großes. Diese einfachen, kleinen Bürgermädchen gefallen ihm nicht. Vielleicht geht ihm eine Baronesse Mednyanszky oder Radvanszky im Kopfe herum. Mit einem Wort, er ist ein großer Streber, so wie die wilde Rebe, die in die Höhe klimmt und dann erst Blüten treibt. Und er konnte sich doch emporschwingen, auch wenn er jetzt heiraten würde. Sehet, die Adlerbohne klimmt mit ihren Blüten zugleich aufwärts.«

Das war lauter dummes Gerede. Georg Wibra fehlte nichts anderes, was die Gleichmäßigkeit seiner Carriere, die Harmonie seiner Individualität getrübt hätte, als diese unglückselige Legende von seiner Erbschaft. Ihn störte kein Mädchenantlitz, kein Ehrgeiz, nur seine Legende.

Denn für andere war es eine Legende, doch für ihn beinahe Wirklichkeit, die vor ihm leuchtete gleich einem Irrlicht: er kann weder davon lassen, noch es erreichen. Er läuft, läuft ihm immer nach, aus dem alltäglichen Geleise getrieben, er läuft erregt und ohne Unterbrechung: es hüpft ihm überall in den Weg, verfolgt ihn wach und im Traume, eine Stimme ruft ihm aus Mauern und Straßensteinen zu: »Du bist ja ein Millionär.« Wenn er die erbärmlichen Klageschriften zu fünf und zehn Gulden schreibt, grinsen ihm plötzlich die Schnörkel der Buchstaben entgegen: »Wirf die Feder nieder, Georg Wibra, du besitzest genug Schätze, Gott weiß, wie viel Schätze. Dein Vater hat sie hinterlassen, denn er war dein Vater, für dich hat er sie gesammelt, sie sind dein rechtliches Erbe. Du bist ein großer Herr, Georg, und kein armer Anfänger! Wirf die Akten zum Teufel und schau dich nach deinen Schätzen um. Wo du sie suchen sollst? Nun freilich, wo? Das ist es ja eben, worüber man verrückt werden kann. Womöglich sitzt du darauf, wenn du dich müde irgendwo ausstreckst, womöglich erwärmst du sie mit deiner Hand, wenn du dieselbe an etwas lehnst, und auch das ist nicht ausgeschlossen, daß du sie nie auffinden wirst. Und welch ein Herr könntest du damit sein! Was alles könntest du mit diesem Gelde ausrichten! Mit einem Viererzug könntest du fahren, Champagner trinken, Dienerschaft halten. Eine andere Welt, ein anderes Leben würde sich vor dir eröffnen. Der Silberschlüssel wappengeschmückter Thüren würde auf das Geräusch deiner Tritte knarren. Und es ist nur Sache des Erratens, daß all dies eintreffe. Es gehört nichts anderes dazu, als ein glückliches Aufblitzen deines Geistes. Doch da sich dieses nicht melden will, schreibe die Klageschriften nur weiter, mein Freund, und verteidige mit edler Ruhe die armen slowakischen Angeklagten.«

Der Gedanke an das verschwundene Vermögen war ein förmliches Unglück für ihn. Er fühlte dies selbst und wünschte oft, nie etwas darüber gehört zu haben. Er hätte viel dafür gegeben, wenn aus dem Dunkel eine Einzelheit auftauchen würde, die die Existenz der Erbschaft zweifelhaft oder unwahrscheinlich erscheinen ließ. Wenn sich nur einmal ein Mensch melden würde, der folgendermaßen spräche: »Ich habe den alten Gregorics in Monako gesehen, er hat riesige Summen verloren!«

Doch nein, lauter solche Einzelheiten kamen zum Vorschein, die noch mehr das verborgene Vermögen bewiesen, und solche Menschen tauchten auf, die den jungen Advokaten anspornten.

»Ein großes Vermögen, ohne Zweifel ein sehr großes Vermögen hat Ihnen der gottselige Paul Gregorics hinterlassen. Ich sage es bei Gott, er muß viel Geld besessen haben. Ahnen Sie wirklich nichts davon?«

Er ahnte nichts – aber seine Gedanken beschäftigten sich immer damit und zerstörten ihm jede Freude, jede Ruhe. Der vorzügliche Jüngling wurde in Wahrheit nur ein halber Mensch, denn er trug den Seelenzustand von zwei Menschen in sich. An einem Tage lebte er in dem Bewußtsein, daß er der Sohn einer Dienstmagd sei und noch dazu der illegitime. Er begann zu fühlen, daß er es weit gebracht mit seinem Verstand, mit seiner Individualität, und in solchen Momenten war er glücklich und zufrieden, edle Arbeitslust erfüllte ihn. Doch es bedurfte nur eines Wortes, eines Gedankens, und der junge Advokat verwandelte sich in einen andern Menschen. Er wurde der Sohn des steinreichen Paul Gregorics, der jetzt heimatlos ist, bis er das Erbe auffindet. Von Zeit zu Zeit überkam ihn der Durst des Tantalus nach dem verhängnisvollen Vermögen; er verließ oft seine blühende Kanzlei und reiste auf Wochen nach Wien, um bei denjenigen nachzuforschen, die einst mit seinem Vater in geschäftlicher Verbindung gestanden.

Der reiche Wagenfabrikant, der das Wiener Haus des Paul Gregorics angekauft hatte, lieferte auch thatsächlich einen wichtigen Anhaltepunkt.

»Ihr Vater sprach einmal folgendermaßen zu mir, als ich den Kaufpreis bezahlte: ›Ich lege das Geld in einer Bankanweisung an‹ und er erkundigte sich bei mir nach dem Wesen der Anweisungen und Checks.«

Georg forschte auf dieser Grundlage bei allen Banken nach, aber erfolglos. Vollkommen erschöpft und mißgestimmt kehrte er mit dem festen Vorsatz nach Neusohl zurück, die ganze Angelegenheit als nicht vorhanden zu betrachten. »Der Narrentanz muß sein Ende haben. Ich dulde es nicht, daß mir das goldene Kalb ewig in die Ohren brüllt und mir alles verschlingt. Nicht einen Schritt will ich mehr thun, ich nehme an, das Ganze ist nur ein Traum gewesen.«

Aber ist dies ausführbar? Man kann vielleicht die Glut mit Asche bedecken, doch wird sie nicht trotz alledem rauchen? Wird sie nicht ewig von einem Windstoße wieder angefacht werden?

Einmal plauscht der, ein andermal jener. Die Mama, die gute alte Mama, die nun schon auf Krücken geht, erwähnt oft neben dem warmen Kamin vertraulich und aufrichtig die guten, alten Zeiten. Es ist schon lange her, jetzt ist es ohnehin alles eins. Sie gesteht auch langsam ein, daß der gute Paul Gregorics, als er im Sterben lag, Georg durch eine Depesche an sein Bett berufen wollte.

»Ach, wie sehnlich hat er dich erwartet, er konnte gar nicht sterben, ehe du nicht kamst. Aber ich war die Schuldige.«

»Und warum wartete er so sehnsüchtig auf mich? Hat er es nicht gesagt?«

»Ja freilich hat er es gesagt. Er wollte dir etwas übergeben.«

Wie hell es wird, wie sich das Dunkel lichtet. Kleine, weiße Punkte entstehen hier und dort. Aus dem Bericht des Wiener Wagenfabrikanten kann festgestellt werden, daß sich das Vermögen des Paul Gregorics in einer Bankanweisung befinden müsse. Aus den Worten der alten Mama ist zu entnehmen, daß er die Anweisung Georg, seinem Sohne, übergeben wollte. Folglich war sie bei ihm. Doch wo ist sie hingekommen? Auf welche Bank lautete sie? Ist es möglich, dem nicht nachzuforschen? Kann man sich darein mit gesunder Vernunft ergeben, es ruhig für ewig vergessen?

Nein, nein. Es kann nicht für immer spurlos verloren sein. Sogar ein Weizenkorn, wenn es am Rande eines Grabens oder wo immer niederfällt, kommt einmal unerwartet ans Tageslicht, es sprießt sogar aus der Rocktasche hervor. Und nun erst eine solche Sache! Ein Wort kann sie aufdecken, ein Funke erleuchten ...

Er mußte auch nicht lange warten. Eines Tages wurde Georg zum sterbenden Bürgermeister Thomas Krikovszki gerufen, um das Testament aufzusetzen. Der städtische Obernotar und einige Senatoren waren anwesend, die er ebenfalls zu seiner letzten Stunde hatte rufen lassen.

Das Haupt der Stadt (dieses trotzige, befehlende Haupt) lag matt und fahl auf den Kissen, doch auch jetzt noch steckte eine feierliche Rede darin, mit welcher er sich vom Magistrate verabschiedete, indem er ihnen die weitere Pflege der edlen Stadt ans Herz legte; dann zog er das Amtssiegel der Stadt unter seinem Kopf hervor und übergab es dem Obernotar mit einem tiefen Seufzer: »Zwanzig Jahre lang habe ich damit das Recht besiegelt.«

Alsdann diktierte er sein Testament Georg in die Feder, wobei er gleichsam sein ganzes Leben überblickte und von seinen Revolutionserinnerungen zu reden begann.

»Donnerwetter, das waren Zeiten,« sprach er, seine Worte an Georg richtend. »Ihr Vater hat einen roten Regenschirm gehabt, dessen Stock ausgehöhlt war. In diesem Regenschirmloche hat er die geheimsten Informationen von Lager zu Lager getragen ...«

»So? Der Regenschirm,« stotterte Georg Wibra, und seine Augen leuchteten auf.

Wie der Blitz schlug der Gedanke in seinem Kopf ein. O weh! In diesem Regenschirm befand sich die Bankanweisung! Das Blut begann rasch in seinen Adern zu kreisen, von seinen Schläfen rann Schweiß, und sein Geist drang mit jauchzender Siegesgewißheit der Sicherheit entgegen.

Dort war sie, dort war sie, ganz sicher war sie dort! Plötzlich tauchte die Theißscene vor ihm auf, wie den Alten Entsetzen ergriff, als der Schirm aus dem Kahne in die schönen blauen Wellen sank, welch großen Lohn er für den Regenschirm versprach.

»Ach, es ist sicher, sicher!«

In seinem Ohre erklangen sogar die damaligen Worte des Gregorics »wenn der Regenschirm dir einst angehören wird, wird er ein guter Schutz gegen Wetter und Wolken sein,« sie erklangen und tönten, schallten, als kämen sie gerade aus dem Jenseits herüber.

Die Senatoren konnten es nicht begreifen, was den jungen Advokaten am Sterben des Herrn Krikovszky derart aufregen mochte, er thut ja am Ende wohl daran, zu gehen, er hat seine gichtischen Füße ohnehin schon langsam hier oben nach sich geschleppt, er thut wohl daran, jungen Kräften Platz zu machen; er hat wahrlich nicht umsonst gelebt, sein Porträt wird für den Sitzungssaal gemalt werden, und das ist ein schönes Ende – wenn er noch weitere zehn Jahre die Zügel der Stadt halten würde, könnte er auch nicht mehr erreichen, als daß sein Porträt gemalt wird, nur das Bild würde dann schon häßlicher.

Noch mehr erstaunten die Senatoren über die sonderbare, ja sogar förmlich einfältige Frage, die Georg trotz des feierlichen Momentes an den Sterbenden richtete: »Und war die Höhlung groß, lieber Herr Bürgermeister?«

»Welche Höhlung?« fragte der Sterbende, der schon vergessen hatte, was er gesagt.

»Das Loch des Regenschirmstockes.«

Er erhob seine verglasten, trüben Augen matt und verwundert zu Georg, während er zwischen seinen Zähnen nach Luft rang.

»Ich weiß es wirklich nicht, ich habe Ihren Vater nie danach gefragt.«

Dann schloß er die Augen und setzte leise mit jener eigentümlichen, nachlässigen Gemütlichkeit, mit der nur der Ungar zu sterben versteht, hinzu: »Aber wenn Sie ein wenig warten wollen, werde ich mich gleich danach erkundigen.«

Und was er versprochen, mag er auch gehalten haben, denn kaum hatten sich der Advokat und die Ratsherren entfernt, so hißte der Heiduck Privoda schon nach einer halben Stunde eine große schwarze Fahne auf die Fassade des Rathauses, und in den katholischen Kirchen erklangen der Reihe nach die Glocken für den Verstorbenen.

Georg Wibra, der unterdessen zu Hause angekommen war, lief voll Fieber und Erregung in seiner Kanzlei auf und ab. Bald hüpfte sein Herz, vor Freude trunken: »Der Schatz ist da, der Schatz ist da,« bald zog es sich hoffnungslos zusammen: »Das heißt, er wäre hier, wenn der Regenschirm bei der Hand wäre. Aber wo ist er?«

Er konnte weder essen, noch trinken, noch schlafen, bis er der Sache nicht auf den Grund kam. Zuerst fragte er seine Mutter aus.

Die alte Frau strengte ihr Gedächtnis auch an, konnte aber nur soviel sagen: »Wer kann das wissen, mein lieber Sohn, nach so vielen Jahren! Und wozu sollte dir auch der zerrissene Regenschirm nützen?«

Georg seufzte auf.

»Aus der Erde Grund möchte ich ihn mit meinen fünf Nägeln hervorgraben, wenn es möglich wäre.«

Die Frau zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf.

»Vielleicht weiß der Matykó davon!«

Es war leicht, den Matykó aufzufinden, er rauchte auch jetzt seine Pfeife im Vorzimmer des »mladipan« (junger Herr), als dessen Diener, aber auch er sang dieselbe Weise, daß er seitdem auch wichtigere Dinge als den Regenschirm vergessen habe, jedoch daran erinnert er sich, daß ihn der alte Herr noch im Sterben verlangt habe. Der gute Gott weiß, weshalb er gar so sehr auf ihn acht gegeben hatte. (Das weiß nun auch schon ein anderer, nicht nur der gute Gott.)

Den meisten Wert hatten die Bemerkungen der Witwe Botár, die noch immer Mieterin des kleinen Krämerladens im Gregoricshause war und zugegen war, ja sogar mithalf bei der Waschung und dem Ankleiden des toten Gregorics. Die brave Frau schwor bei Himmel und Erde, daß der Regenschirm in der zusammengepreßten starren Hand des Toten gewesen war, seine Finger mußten auseinandergerissen werden, um den Regenschirm herauszunehmen und an seine Stelle, so wie es sich schickt, das heilige Kruzifix zu legen.

Der Advokat wandte sich ab und zerdrückte ein, zwei herabperlende Thränen in seinen Augen bei diesen Einzelheiten.

»Ja, ja, der Regenschirm war in seiner Hand« – wiederholte die Witwe Botár – »ich soll mich nie von dieser Stelle rühren können, wenn es nicht wahr ist.«

»Das ist alles nichts wert,« brummte Herr Georg, »wir müßten wissen, wo er sich jetzt befindet. Gewiß hat man ihn verschleudert, wie die andern Sachen.«

Das war das Wahrscheinlichste. Auf der Stelle lief Georg in das Archiv, dort mußte unter den Verlassenschaftsakten auch das Versteigerungsprotokoll noch vorhanden sein. Er fand alsbald das Verzeichnis der verkauften Gegenstände: an wen und für wie viel die Schränke, Tische, Stühle verkauft wurden, dort waren Pelze, Pistolen, Jagdtaschen, Filzschuhe, Wurstfüller angeführt, jedoch ein Regenschirm kam nicht vor. Er durchlas es zehnmal, vergebens, keine Spur fand sich, wenn nicht folgende Zeile dafür genommen werden konnte: »Unbrauchbare Dinge zwei Gulden. Vom weißen Juden angekauft.«

Wer weiß, ob nicht dies das Richtige ist. Nur das kann es sein. Unter diesen unbrauchbaren Gegenständen muß der Regenschirm gewesen sein. Der weiße Jude hat sie gekauft. Nun, so muß der weiße Jude aufgesucht werden. Das ist die erste Aufgabe.

Doch wer ist eigentlich der weiße Jude?

Denn in den glücklichen Bergstädten waren zuzeiten der Licitation die Juden noch eine Seltenheit. Ein, zwei, die sich fanden, waren leicht zu unterscheiden. Der eine wurde gelb genannt infolge seines blonden Haares, der andere schwarz, der dritte eventuell rot, oder wenn er ergraut war, weiß, mit diesen vier Farben ließen sich sämtliche Israeliten der Stadt unterscheiden – jedoch seitdem ist ihre Zahl in Neusohl auf über hundert Familien angewachsen –, aber für die Vermehrung der Haarfarben hat unser Herrgott nicht gesorgt.

Es war trotzdem nicht schwer, es herauszufinden; ältere Leute erinnerten sich daran, daß einst Jonas Münz der weiße Jude genannt wurde, und es war um so wahrscheinlicher, daß er es war, denn die alten Hosen und Westen der Stadt versammelten sich in seinem kleinen Laden in der Getreidegasse, bevor sie die zweite Periode ihrer irdischen Laufbahn begannen. Viele erinnerten sich noch an diesen kleinen Laden, als dessen Schild abgetragene Stiefel, Krispinen, Bauernmäntel und Flausröcke draußen hingen, mit folgender, mit Kohle auf die Thüre gezeichneten Aufschrift: »Nur die Lilien auf dem Felde kleiden sich billiger, als es in diesem Laden möglich ist.«

(Das war freilich richtig mit dem Zusatz, daß die Lilien auf dem Felde sich auch etwas schöner kleideten, als es in diesem Laden möglich war.)

Georg war von all diesen Erklärungen nicht sehr befriedigt, und obzwar er nicht mit sanguinischen Hoffnungen erfüllt war, was das Auffinden des Regenschirmes anbelangt, ging er doch aus dem Archiv zum Präsidenten des Gerichtshofes, dem hochwohlgeborenen Herrn Sztolarik, um sich nach weiteren Einzelheiten zu erkundigen, da derselbe geraume Zeit hindurch Notar in der Stadt gewesen war und alle Menschen, alle Verhältnisse kannte.

Er erzählte aufrichtig und ausführlich seine Entdeckung, daß das Vermögen des Paul Gregorics, welches aller Wahrscheinlichkeit nach in einer ausländischen Bank deponiert sei, beinahe aufgefunden wäre, und fügte hinzu, es erleide keinen Zweifel, daß die Anweisung in dem Stock des Regenschirmes verborgen war. Der Regenschirm wurde wahrscheinlich bei der Versteigerung von einem Juden, Namens Jonas Münz, gekauft.

Dies alles stotterte Georg keuchend, rasch, in einem Atem bei seinem ehemaligen Vormund hervor.

»So viel ist mir gelungen zu erfahren. Doch was soll ich nun beginnen?«

»Das ist viel, das ist mehr, als ich geglaubt hätte. Jetzt muß nur weiter geforscht werden.«

»Aber wo soll ich forschen? Der Münz existiert ja nicht mehr. Und wenn auch der Münz existieren würde, wer weiß, auf welchem Misthaufen seitdem schon der Regenschirm verfault.«

»Der Faden darf doch nicht fallengelassen werden.«

»Haben Sie, Herr Vormund, den Jonas Münz gekannt?«

»Gewiß! Er war ein sehr ehrlicher Jude, deshalb hat es der Arme zu nichts gebracht. Er ist oft zu mir gekommen, ich sehe ihn noch heute mit seinem Kahlkopf und dem flatternden weißen Haar an den Rändern. Bei Gott (und da sprang Sztolarik auf wie eine Ziege), er hat den roten Regenschirm des Paul Gregorics in der Hand gehabt, als ich ihn zuletzt gesehen. Hörst du, Georg, jetzt weiß ich es ganz genau, ich könnte darauf schwören, ich habe noch meinen Spaß mit ihm getrieben: ›Sie gehen vielleicht sogar ins Jenseits hinüber hausieren, Jonas, und haben diesen Regenschirm dort dem Gregorics abgekauft?‹ Worauf er lachte und launig erwiderte, soweit hätte er es noch nicht gebracht, er wandere nur in Sohl und Hont, die andern Komitate habe er unter seine Söhne verteilt, dem Moritz gehörte Trentschin und Neutra, dem Sami die Zips und Liptau. Robi, der jüngste Sprößling, habe erst vorige Woche das Barscher Komitat erhalten; doch ins Jenseits habe er nicht die Absicht zu wandern, noch seine Kinder hinüber zu lassen, wenn es nicht sein müsse.«

Die Augen des Georg Wibra leuchteten vor Freude auf.

»Bravo, mein lieber Vormund!« rief er aus. »Ein solches Gedächtnis haben nur die Götter besessen.«

»Du bist ein Glückskerl, Georg. Eine Vorahnung flüstert mir zu, daß du auf der richtigen Spur bist, daß du dein Erbe auffinden wirst.«

»Jetzt glaube ich es selbst,« rief triumphierend der Advokat, der ebenso leicht zum Optimismus neigte wie zum Gegenteil, »doch was ist aus dem armen Münz geworden?«

»Es existiert eine christliche Legende über die Juden, daß an jedem langen Tag ein Jude aus der Welt spurlos verschwindet. So ist auch der alte Jonas verloren gegangen: jetzt vor vierzehn Jahren kam die Reihe an ihn. (Habe keine Angst, von den Rothschilds wird keiner verloren gehen.) Sein Weib, seine Kinder warteten, warteten immer auf ihn, doch Jonas kam nicht zurück. Dann brachen seine Söhne auf und suchten nach ihm von Spur zu Spur, und es stellte sich heraus, daß der alte Jonas irrsinnig geworden sei und so in den slowakischen Dörfern herumirrte. Bald sah man ihn hier, bald dort; vor den suchenden Söhnen tauchte die Kunde von ihm öfters auf, bis endlich eines Tages die Gran seine Leiche auswarf.«

Über das schöne Antlitz des Advokaten zog eine Wolke des Mißmutes und der Verzagtheit.

»Dann ist ja der Schirm auch in die Gran gefallen.«

»Vielleicht nicht. Er konnte ihn ja auch zu Hause gelassen haben; und wenn er ihn zu Hause gelassen hat, kann er noch jetzt unter den alten Sachen liegen – denn gekauft hat ihn sicher niemand. Eine Glücksprobe, mein Junge! Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich mich sofort in einen Wagen werfen und fahren, fahren, so lange bis ...«

»Ich möchte auch gehen, doch wohin soll ich gehen?«

»Nun freilich, freilich. (Sztolarik dachte nach.) Die Münzjungen sind in der Welt verstreut – die Zündhölzchenpäckchen, mit welchen sie ihre Laufbahn begonnen, sind seitdem vielleicht irgendwo zu Häusern angewachsen, von den Münzjungen habe ich nichts gehört, doch weißt du was, fahre nach Bábaszék, ihre Mutter, die Witwe, lebt dort.«

»Wo liegt Bábaszék?«

»Gleich bei Altsohl, im Gebirge, man spottet darüber, daß in Bábaszék ein Schaf in den Hundstagen angeblich erfroren sei.«

»Und wissen Sie sicher, daß Frau Münz dort wohnt?«

»Ganz sicher. Vor einigen Jahren hat man sie als Juden aufgenommen und nach Bábaszék geführt.«


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