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Die ersten Herbstzeitlosen erblühten auf den Prixdorfer Wiesen. Das bedeutet den Schluß der Saison. Das Bad verliert seine Wunderkraft, auch der letzte Kranke reist nach Hause.
Hotels und Läden werden geschlossen, die Brunnenmädchen treten bis zum Frühjahr in den nahen Städten als Mägde in Dienst, die Bäume werfen ihre Blätter ab – alles fällt der Vergänglichkeit anheim.
Wenn irgendein Verspäteter eigensinnig noch bleiben wollte, so trifft sein Doktor mit ihm einen Vergleich: »Stören wir einander nicht, – zahlen Sie mir nur die Hälfte meines Honorars und lassen Sie mich gehen, ich will Sie gesund werden lassen.«
Katánghy hatte es nicht nötig, sich zu vergleichen; er konnte ruhig sein Winterquartier beziehen. Aber wohin sollte er mit seiner Frau gehen?
Zuerst dachten sie an Budapest; aber ihre geringen Mittel erlaubten ihnen das nicht. Sie wählten daher ein kleines Städtchen im Komitat Vas, wo vielleicht Aussicht auf einen kleinen Verdienst war, besonders wenn das Lokalblatt die fettgedruckte Notiz bringen würde: »Dr. Melchior v. Katánghy, der berühmte Prixdorfer Kurarzt, hat sich in unserer Stadt niedergelassen; er wohnt in der Kirchengasse, gerade gegenüber dem der Witwe Franz Sirjai gehörenden Gasthause ›Zur kleinen Ackerlerche‹.«
Und in der Tat fand sich gleich im Anfang ein Patient, und obendrein ein sehr vornehmer Herr, der Fürst Karl Johann Maria Montvich, Husarenleutnant im dortigen Regiment.
Was dem wohlbeleibten Leutnant mit den vollen rosigen Wangen eigentlich fehlen mochte, wußte wohl der Himmel (gibt es doch allerlei Krankheiten). Das eine aber ist gewiß, daß er oft auch zweimal am Tage zum Doktor hinüberging, um mit dem Doktor oder der Frau Doktor stundenlang zu plaudern.
Daß Katánghy ein guter Arzt sein mußte, geht deutlich daraus hervor, daß der Fürst im nächsten Sommer Urlaub nahm und ihn in Prixdorf verbrachte, um auch weiterhin in Katánghys Behandlung bleiben zu können.
Daß aber Fürst Montvich auch ein guter Patient war, läßt sich daraus folgern, daß, als der Fürst im darauffolgenden Herbste nach Nagyvárad versetzt wurde, auch Dr. v. Katánghy sich für den Winter in Nagyvárad niederließ.
Und als im dritten Winter das Regiment nach Budapest übersiedelte, gelangte Katánghy schließlich auch in die Hauptstadt. Fürst Karl Johann Maria besuchte auch hier täglich den Arzt. Seine Krankheit mußte recht hartnäckig sein.
In Szombathely und Nagyvárad klatschten die Kaffeeschwestern gehörig über die Sache, wenn sie gerade auf das Tapet kam.
»Schöne Doktorin ... ein prinzlicher Leutnant ... armer Ehemann ... es war nicht schwer, die Diagnose zu stellen.«
Für einen »Gentleman« war aber der Tratsch der bösen Welt noch niemals maßgebend. Nach der Versicherung Michael Vargas – der in diesem Punkte doch durchaus gut unterrichtet sein mußte –, lebten Herr und Frau v. Katánghy im besten Einvernehmen, wie zwei Turteltauben.
Außerdem war Katánghy jetzt nicht mehr so arm; seine Praxis hatte sich schon etwas ausgebreitet, so daß er leben konnte, eine hübsche Wohnung hielt, seine Frau elegant kleidete. Und dann ist auch schließlich nicht jeder Leutnant ein Frauenjäger, es gibt ja auch ehrliche, solide Leutnants. Überdies ist auch nicht jede Frau ... das heißt, dies wage ich nicht mehr zu behaupten.
Eines aber wage ich dennoch zu behaupten, daß nämlich, wenn schon »irgend etwas faul im Staate« war, Melchior nichts davon wußte. Jedes Ding hat seine Grenzen, auch die Enthüllung. Wir sind zwar auf Melchior böse, weil er ein Taugenichts und ein Streber ist, aber weiter geht es nicht. Sonst ist Melchior aber ein Gentleman. Er war dem Fürsten zugetan, vielleicht weil ihm des Fürsten Freundschaft imponierte und weil sie seine Position hob und festigte, ihm eventuell vornehme Klienten brachte; etwas anderes darf man aber nicht einmal voraussetzen.
Wenn dann im Winter, besonders in späteren Jahren König Johann in die Hauptstadt kam, so besuchte er meistens Katánghys und pflegte dann Melchior zu vertrösten, indem er sprach: »Wenn Gott mir das Leben schenkt, suche ich dir für die nächste Wahl einen Bezirk aus. Verlaß dich darauf.«
Gelegentlich eines Faschings erschien er plötzlich und sagte mit fröhlicher Miene: »Der Bezirk ist in Sicht, mein Junge, er hat sich sogar schon gefunden, ich habe ihn schon ausspekuliert.«
Katánghy schüttelte ungläubig den Kopf. Kann man denn überhaupt einen Bezirk »ausspekulieren«?
»Wie heißt er?« fragte er mehr aus Höflichkeit als aus Neugierde.
»Borontó.«
»Wo liegt das?«
»In dem Komitat, in welchem die Stadt Szentandrás liegt.«
»Dazu wäre Geld nötig, lieber Onkel.«
»Aber nein, nicht ein Pfifferling ist nötig.«
»So großen Einfluß haben Sie dort?«
»Nicht den geringsten.«
»Ja, wieso soll ich denn aber dort gewählt werden?«
Herr Johann schnalzte überlegen mit den Fingern.
»Durch Praktiken.«
»Es gibt keine Wunder mehr, Onkel Johann.«
»O ja, es gibt welche,« sagte dieser im Tone vollster Überzeugung.
Dabei blieb es damals; als jedoch die Wahlen näher rückten, kam König Johann im Winter mehrmals nach Pest und animierte Katánghy immerfort, bezüglich des Bezirkes Borontó in Aktion zu treten.
Melchior nahm es nicht ernst; er glaubte, es sei ja ohnehin vergeblich und schade um jeden Schritt, denn was unmöglich ist, ist unmöglich; aber die Frau wollte es, und was die Frau wollte, das mußte geschehen.
»Du wirst sehen, Klara, ich mache mich nur lächerlich.«
»Es gilt einen Versuch! Kein Wort mehr, du mußt auftreten! Ich will Abgeordnetengattin sein.«
Melchior weigerte sich noch eine Zeitlang mit allerlei Ausflüchten. Es ist leicht zu sagen, ich soll auftreten, aber wie soll ich auftreten? Mit welchem Fuß? Was soll ich tun? Wo soll ich anfangen? dachte er.
Alle seine Ausflüchte halfen ihm aber nichts. König Johann enthüllte bei Gelegenheit eines Familiensoupers den ganzen Plan.
»Du läßt dich einfach in den liberalen Klub aufnehmen, dann erbittest du dir vom Exekutivkomitee den Bezirk Borontó, beziehungsweise zeigst du dem Ministerpräsidenten an, daß du dort zu sprechen wünschest.«
»Und wenn man mir den Bezirk nicht gibt?«
»Den Bezirk? Aber warum denn nicht? Sie werden sich sogar darüber freuen. Der Parteipräsident wird dir um den Hals fallen und sagen: ›Lieber Freund, gehen Sie nur, gehen Sie nur!‹ Denn das ist ein schwieriger Bezirk, in dem auch jetzt ein Oppositioneller sitzt. Die schwierigen Bezirke aber verteilt man in der Partei mit solchem Gleichmut, als ob man einen Stern vom Firmament verlangen würde. Sie sagen: ›Nimm ihn! Er sei dein, und mein Segen obendrein!‹ Man wird dich abschrecken wollen, dir sogar ins Gesicht lachen; du aber kümmere dich gar nicht um sie, sondern sage nur immer wieder: ›Ich wünsche eben diesen Bezirk, ich bin ja keine Katze, daß ich mich fürchten soll, ich werde dort auftreten.›«
»Wer ist der Obergespan?«
»Baron Peter Belendy, ein wackerer Mann.«
»Ich kenne ihn, er war mein Schulkamerad in Kassa.« »Um so besser,« erwiderte König Johann.
»Um so schlechter,« entgegnete Katánghy, »weil er mich auch kennt.«
»Das ist einerlei. Was ich sagte, dabei bleibt's, so mußt du's machen.«
»Ja, wenn ich nur den geringsten Funken von Wahrscheinlichkeit sähe!« seufzte Katánghy auf, dann gab er jedoch nach. (Hätte er auch sonst wohl von seiner Frau Ruhe gehabt?) Er trat in den liberalen Klub ein und erklärte eines schönen Tages den maßgebenden Persönlichkeiten, daß er bei der nächsten Wahl in Borontó auftreten wolle.
Als König Johann Ende Februar wiederkam, war der hierhergehörige Teil der Sache schon in schönster Ordnung. Die Koryphäen des liberalen Klubs hatten achselzuckend gesagt: »Gut, der Bezirk mag Ihnen gehören; dann sehen Sie aber auch zu, daß Sie dort gut Wurzel fassen.«
König Johann war mit dem Resultat zufrieden.
»Hast du den Brief an den Obergespan?«
»Den habe ich hier in der Tasche.«
»Sehr recht. Also jetzt sehen wir nach dem schwierigeren Teil der Sache. Paß gut auf, Freund Melchior. Und du, Klara, schwätze nicht immer dazwischen.«
»Ich bin ganz Ohr, Onkel Johann.«
»Am 12. März ist Gregor-Tag, notiere dir das Datum wohl. An diesem Tage ist in Borontó große Namenstagsfeier beim ehrenwerten Herrn Gregor Fekete, dem Nabob des Komitats. Jeder nur halbwegs in Betracht kommende Mensch des Wahlbezirkes wird dabei sein; hast du mich recht verstanden?«
»Natürlich, wie denn nicht?«
»Du kommst schon am 11. in Szentandras an, steigst aber nicht bei mir ab, sondern im Gasthaus.«
»Jawohl.«
»Dann machst du dem Obergespan deine Aufwartung und übergibst ihm den Brief. Er wird dich auslachen, daß du in Boronto auftreten willst; du beharrst aber hartnäckig auf deinem Entschluß und bittest ihn nur, er möge dich am folgenden Tage zur Namenstagsfeier nach Borontó mitnehmen. Gut. Der Obergespan nimmt dich dann mit. Du wirst dort sein, wirst essen und trinken, von deinen Absichten aber weder durch Worte noch durch dein Betragen etwas verraten. Wenn geschwatzt werden muß, na so bin halt ich dazu da; verlaß dich nur ruhig auf mich.«
»Sie werden dort sein?«
»Natürlich, du darfst mich jedoch nicht kennen! Und sollte man meiner vor dir erwähnen, so sprich geringschätzig von mir.«
»O, das werde ich um keinen Preis der Welt tun!«
König Johann fuhr jähzornig in die Höhe; seine schlauen Augen funkelten und sprühten in drei Farben.
»Tue nur,« sagte er mit Überlegenheit, »was ich bestimme, denn es muß so geschehen. Der Plan ist gut; man muß aber jede Nuance desselben einhalten, dann kannst du ganz beruhigt sein; denn merke dir wohl, wenn die Katze einmal ihren Kopf in den Topf gesteckt hat, so nascht sie auch den Rahm auf.«
Es kam alles genau so, wie sie es geplant hatten. Am 10. Februar schickte Frau Katánghy ihre echte Perlenschnur ins große Leihhaus und drückte die dafür erhaltenen anderthalbhundert Gulden Melchior für Reisekosten in die Hand. In dem gegenüberliegenden Schneiderladen des Jakob Singer borgten sie einen Reisepelz für einen Gulden Leihgebühr täglich, worauf dann Melchior seine Frau und seine Kleinen (er hatte schon drei Kinder) abküßte und sich mit dem Nachmittagsschnellzuge in das Land der Székler begab. Am 11. Februar traf er programmgemäß in Széntandrás ein, stieg im Gasthofe »Zum Vogel Turul« ab, kleidete sich um und suchte den Obergespan im Komitatshause auf.
Alle Wetter! Ist aber dieser König Johann ein gescheiter Mensch! Alles hatte er genau vorhergesagt. Er kannte den Obergespan bis ins Innerste.
Seine Hochgeboren freute sich ungemein, als er seinen alten Schulkameraden Melchior v. Katánghy erkannte; als er jedoch den Brief des Exekutivkomitees las, in welchem klar und deutlich geschrieben war: »Im Bezirke Borontó wird unser geehrter Gesinnungsgenosse auftreten«, schrie er ihn verwundert an: »Bist du von Sinnen?«
»Nein, keineswegs!«
»Oder hast du irgendwo eine Goldmine entdeckt?«
»Das noch weniger.«
»Ja, aber was willst du dann eigentlich?«
»Einen Versuch machen. Und vorläufig bitte ich dich nur um eines, hochgeborener Herr, habe die Güte, mich morgen zum Gregortage nach Borontó mitzunehmen, wo ich ein bißchen Fühlung zu den Wählern nehmen will.«
Der hochgeborene Baron zuckte die Achseln.
»Ja mitnehmen will ich dich recht gern, aber was das übrige anbetrifft, so hast du dich da in eine gar schwierige Sache eingelassen. Der Székler, mein Freund, wählt nicht gern einen Fremden, wenn er nicht mindestens eine Berühmtheit des Landes ist. Das heißt, gern tut er's auch dann noch nicht. Und besonders der Bezirk Borontó! Das ist der allerschwierigste. Der jetzige Abgeordnete ist allerdings unpopulär geworden (hier würden sie in drei Jahren sogar Ludwig Kossuths überdrüssig werden), aber an seiner Stelle sind schon zehn andere da, die alle möglichen Parteien vertreten. Nach ein paar Wochen werden sie urplötzlich hervorspringen, wie die Frösche aus dem Sumpf. Was unsere Partei anbelangt, so vernimm, daß der alte Graf Albert Tenky auftreten will ... Der ist aber ein Dynast, dem gegenüber man nicht mucksen darf. Wo denkst du hin, lieber Freund? Und vollends du mit deinem Sároser Dialekt.«
»Einerlei, wenn ich einmal hier bin, will ich mich wenigstens von den hiesigen Verhältnissen überzeugen.«
»Sehr richtig. Ich habe gar nichts dagegen, daß du mit mir kommst; ich habe nur meine Meinung geäußert; ein Prophet bin ich nicht. Versuchen wir's halt. Schließlich können ja auch einmal Zeichen und Wunder geschehen, obschon ich noch keine gesehen habe. Wirst du beim Nabob Bekannte treffen?«
»Johann Király.«
»Den Bürgermeister? Na, dieser Bekanntschaft brauchst du dich nicht eben zu rühmen!«