Koloman Mikszáth
Melchior Katánghy
Koloman Mikszáth

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Die Praxis.

Melchior legte jedoch vorerst sein Diplom dorthin, wo auch diejenigen seiner Brüder lagen: nämlich in die Schreibtischlade. Es war ihm weit lieber, zu Hause herumzufaulenzen und auf die Jagd nach Rebhühnern und Hasen zu gehen, als auf die nach Patienten. Jener wütende Greis, der sich im Wappen der Katánghys auf blauem Felde spreizt, ließ ihn absolut nicht los.

Wenn sein Vater ihn ermahnte, doch endlich mit der Praxis zu beginnen und in die Stadt zu ziehen (sei es nach Eperjes oder nach Kassa, wohin es ihm beliebte), antwortete er immer: »Ich hab' ja noch Zeit dazu.« Er schob den Termin immer weiter hinaus, bis zum Herbst, 's ward aber nichts daraus. Na, also dann im Frühling. Auch daraus wurde nichts. Immer kam etwas dazwischen. Einmal zögerte der junge Doktor, ein anderes Mal wieder hatte der Papa just nichts dagegen, daß er den großen Herrn spielte, besonders da er gerade anfing, eine vermögende Familie mit Töchtern zu besuchen. Es gab in den Nachbardörfern ein paar hübsche und reiche Mädchen. Wenn er vielleicht gar durch Zufall hier zu Hause irgendein Goldfischchen angeln könnte?!

Nur manchmal polterte der Alte: »Du vergißt alles, was du gelernt hast. Die Klinge rostet, wenn man damit nicht schneidet.«

»In einer guten Scheide nicht, lieber Vater. Und man kann sich ja schließlich auch zu Hause üben.«

Hie und da erkrankte ein Bauer im Dorfe durch den Genuß grüner Gurten; dem gab er Chinin gegen das Fieber; oder es brach einer das Bein, das der Doktor einrichten mußte. Aber besondere Krankheiten kamen nicht vor.

Und wenn der alte Herr darüber jammerte und seufzte, weil er es gern gesehen hätte, daß der Junge sich immerfort geübt hätte, antwortete man ihm: »Ja, im Sommer hat der Bauer keine Zeit, krank zu sein.«

Aber auch im Winter gab es dort keine Kranken. Wieder schimpfte der Alte über die Bauern: »Also wollt ihr denn niemals krank werden?«

»Wovon sollte der Bauer im Winter denn wohl krank werden,« erwiderte man ihm, »wenn er kaum etwas zu essen hat?«

Die Leute von Katángfalu sind eben arm, sie haben schlechte Äcker, die ihnen manchmal kaum die Aussaat hereinbringen.

Das konnte unmöglich für die Dauer so bleiben. Der Doktor selber sah ein, daß er denn doch schließlich mit der Praxis beginnen müsse.

Nur war auch dazu Geld nötig, um eine Wohnung zu mieten und einzurichten. Geld aber hatte Johann v. Katánghy nicht, weder kleines noch großes; Schulden hingegen hatte er, sowohl kleine als auch große.

Er hatte die gewöhnliche Karriere eines Edelmannes durchlaufen, mit allen ihren Phasen. Zuerst hatte er sich auf sich selbst verlassen, dann auf sein Feld – vielleicht würde es doch einmal eine riesig große Ernte bringen – dann auf den Juden, der Geld leiht, und erst als der Jude ihm keinen Kredit mehr gab, wandte er sich mit seinem frommen Glauben an Gott. Von Gott erhoffte er jetzt alles. Sagt ja doch die heilige Schrift: Wo die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten.

Herr Johann v. Katánghy wartete also auf das Erscheinen Gottes. An seiner Statt erschien jedoch der Gerichtsexekutor ... Es pflegt gewöhnlich so zu sein.

»Was sollen wir nun anfangen?« fragte der junge Doktor düster.

»Wir werden warten,« sagte der Vater. »Es wird schon irgend etwas geschehen.«

Was eigentlich geschehen konnte, das wußte Herr Johann gerade nicht mit Bestimmtheit, weder was geschehen könnte, noch was er erwartete, – trotzdem aber wartete er geduldig weiter.

Aber wie hätte er es auch wissen können, erwartete er doch irgendein gutes »non putarem«. Und das »non putarem« ist eben deshalb ein »non putarem«, weil niemand es vorher erraten konnte.

Und während er das »non putarem« erwartete, konnte er doch seinen Zustand noch irgendwie aufrechterhalten. Keiner verstand es, ungeduldige Gläubiger mit größerer Diplomatie zu weiterem Zuwarten zu bewegen. Er hatte eine Suada wie ein Botschafter. Wo die Suada nichts nützte, war er nicht so albern, drastischere Mittel zu verschmähen.

Zu dem in Vátorny, dem Nachbardorf, wohnenden Georg Majka, der bei ihm pfänden ließ, fuhr er hinüber und bat in gemütlichen Worten um Aufschub.

»Kann ich nicht gewähren,« erwiderte Herr Majka. »Ich brauche mein Kapital.«

»So? Sie brauchen es?« sagte er düster. »Sehen Sie die Taube dort fliegen, Herr Majka?«

»Ich sehe sie.«

Wie hätte er sie nicht sehen sollen? Sie standen am äußersten Ende des Gartens, und die Taube kreuzte über ihren Köpfen.

»Gleich werden Sie sie auch tiefer sehen,« sagte der alte Katánghy und zog mit Blitzesschnelle seine Pistole aus der Tasche hervor.

Er zielte, schoß, und die Taube fiel tot vor Herrn Majkas Füßen nieder.

»Gibt's Aufschub oder nicht?« fragte Katánghy seine Augen starr auf Majkas Gesicht heftend.

»Meinetwegen,« stammelte Majka mit bebender Stimme.

Auf diese Art zog und schleppte sich Herr Johann v. Katánghy durch zirka zwei Jahre hin, immer auf jenes gewisse non putarem wartend, das ihn auf einmal aus seiner unangenehmen Lage befreien sollte.

Und es kam denn auch wirklich. Aber weder in Form einer Promesse noch als amerikanischer Goldonkel, sondern es war der Tod der kam.

Johann v. Katánghy stieg infolge eines Herzschlages zu seinen Ahnen in die Gruft von Katángfalu hinab. Er hatte draußen im Forstrevier mit Michael Varga gejagt; »plötzlich brach ein großer junger Hase aus dem Gebüsch hervor und lief geradeswegs auf den hochwohlgeborenen Herrn zu (so trug Michael Varga nämlich die Sache vor). Der alte Herr hob die Büchse und zielte; doch der freche Hase kümmerte sich den Teufel darum, blieb hinter einem Ameisenhaufen stehen, richtete sich auf den hinteren Läufen auf und drohte dem Jäger mit den vorderen Läufen. Meine beiden Hände mögen verdorren, wenn es nicht so war (beteuerte Michael Varga). Der hochwohlgeborene Herr geriet in Wut über den spottenden Hasen, und ehe er seine Flinte abfeuern konnte, sank er hin und war tot.«

Die Familie verschwieg diese Details. Es wäre ja auch recht seltsam gewesen, daß ein Katánghy vor Schreck gestorben wäre, noch dazu vor Schrecken über einen Hasen! Ein so berühmter Schütze! Er ist am Herzschlag gestorben, Punktum.

Aber mit Herrn Johanns Tod hatte dann alles ein Ende. »Die drei Nichtstuer« mußten sich jetzt nach einem Broterwerb umsehen. Das Familiengut kam an einem schönen Frühlingstage unter den Hammer (ein gewisser Moritz Stern kaufte es), und nachdem die Gläubiger befriedigt waren, entfielen noch je dreitausend Gulden auf jeden der Söhne.

Die drei Brüder sanken einander in die Arme und sprachen: »Wir wollen nun Abschied voneinander nehmen und in die Welt hinausziehen, um unser Glück zu versuchen.«

Da die Schilderung der Schicksale des Ingenieurs und des Advokaten Katánghy nicht zu unserer Aufgabe gehört, so verfolgen wir nur den Lebenslauf unseres Helden, der nach Kassa in zwei schön eingerichtete Zimmer zog und eine Tafel, »Dr. Melchior v. Katánghy, praktischer Arzt«, an seiner Türe aufhing. Die goldenen Buchstaben auf dem Schilde glänzten wunderschön; der erste Patient aber wollte sich nicht einstellen.

Michael Varga saß fleißig im Vorzimmer und wartete auf das Erklingen der Türglocke. Der Arzt kam öfter heraus, um zu fragen: »Hat niemand geläutet? Mir war's, als hätte ich läuten gehört.«

»Keine Menschenseele war da, Herr. Kann sein, daß ich den Knopf ein wenig drückte, als ich ihn putzte, denn ich hatte Angst, daß die Spinnen ein Netz darüber weben könnten.«

Melchior ging zu einem seiner Kollegen, dem Dr. Andreas Demény, mit dem er die Universität besucht hatte, um ihn um Rat zu fragen.

»'s will absolut nicht gehen.«

»Das heißt, du hast keine Patienten.«

»Stimmt, und mein kleines Kapital schmilzt ganz bedenklich zusammen. Was soll ich tun?«

»Hast du nicht irgendeinen gesunden Reklameeinfall?«

»I wo denn!«

»Verstehst du dich aber wenigstens auf die Krankheiten? Hast du zu Hause seither mit der fortschreitenden Fachwissenschaft Schritt gehalten?«

»Ja; sobald diese nämlich einen Schritt vorwärts machte, machte ich zwei zurück. Das wenige, was ich wußte, habe ich vergessen.«

»Das ist wahrlich schlimm. Dann kann ich dir nur raten, heirate oder ...«

»An die Heirat habe ich auch schon gedacht; aber dazu gehören zwei, ich und ein reiches Mädchen. Die reichen Mädchen sind aber selten. Also gehen wir zu deinem ›oder‹ über.«

»Oder etabliere dich irgendwo als Badearzt.«

»Warum eben als Badearzt?«

»Weil du dazu die vollkommene Qualifikation besitzest.«

»Wie das?«

»Der Badearzt braucht gar nichts zu wissen. Nicht einmal das ›Zeigen Sie Ihre Zunge‹ ist unbedingt notwendig. Die Diagnose zu stellen, was das schwerste ist, hat er nicht nötig, denn der Patient kommt mit einer bereits konstatierten Krankheit ins Bad. Der Badearzt muß nur die Brust auskultieren, gleichviel ob er etwas hört oder nicht, und dann ordinieren, von welchem Wasser und wieviel der Kranke trinken soll, wieviel Stunden er täglich spazieren gehen soll usw.«

»Wirklich, dein Rat ist ganz gescheit.«

»Außerdem bist du ein hübscher Junge, mit dem Anstrich eines ›Gentleman‹. Wenn du dir ein Monocle ins Ange klemmst, kannst du ruhig den Attaché im Nationaltheater spielen; da du jedoch nicht einen Attaché, sondern einen Doktor spielen willst, mußt du unbedingt eine Brille tragen. Fürchte nichts, die Frauen werden dich trotz der Brille noch riesig hübsch finden. Und da der größte Teil des Badepublikums aus Frauen besteht, ist es ganz ausgeschlossen, daß du als Badearzt nicht eine Zukunft haben solltest.


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