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Siebentes Kapitel

An dem Wege nach Meran – oder besser an dem Steige, der von diesem nach Schloss Maultasch abästete, tief in den Rissen des Porphyrklippenzuges, der den Übergang des Talmoores mit dem Etschtalgebirge vermittelt, lag oder hing vielmehr eine kleine Holzhütte, eingezäunt und überragt von unförmlichen rötlichen Steinmasen, die Zelle des ›Narrenjakobs‹, wie das Volk im weiten Moos den verrückten Sohn des alten Michele nannte.

Insofern es dem Volke als Publikum zusteht, aus der Handlungsweise eines Menschen auf dessen geistige Verfassung zu schließen, hatte jenes der Gegend um das weite Moos herum offenbar ein Recht, den Sohn des alten Hofnarren der Gräfin närrisch zu nennen; denn nach den gewöhnlichen Begriffen, selbst jener Zeit schon, erblickt man immer in jedem Heraustreten aus allerwärts befahrenem oder begangenem Gleise die Offenbarung einer gestörten oder verkehrten Gemütsverfassung, die Narrheit zu nennen, ebenso wenig umständlich als kostspielig ist und sofort gerechtfertigt erscheint, wenn sich selbe auf so befremdliche Weise äußert, wie dies bei dem Sohne Micheles der Fall war.

Der junge, hübsche, kräftige Bursche war nämlich plötzlich – es gab Leute, die zu wissen vorgaben, seit wann und warum, welche beiden Fälle sie jedoch als solche bezeichneten, von denen man nicht gerne spreche – still und traurig zuerst, dann aber förmlich ›leutscheu‹ geworden und, nachdem er sich eine Zeit lang in den Forsten und Schluchten des Gant herumgetrieben, wieder im Tale erschienen, um sich hier an diesem absonderlichen Platze nächst dem Schlosse anzusiedeln.

Dass und wie er dies tat, war Grund genug, ihn ruhig gewähren zu lassen, beurkundete doch beides, dass die Fama des Tales recht hatte, als sie den Jakob als übergeschnappt erklärte.

Und wie es Leute gab, die den Grund und die Ursachen seiner Geisteszerrüttung zu kennen vorgaben, so gab es wieder welche, die zu behaupten berechtigt sein wollten, an dem ganzen Gerede sei kein wahres Wort und Jakob so gescheit, als er jemals gewesen. Freilich war dies leichter zu sagen als zu erweisen, sie wären denn im Stande gewesen, die Gründe anzugeben, die den jungen Burschen bewogen, ein kümmerliches Siedlerleben zu führen, ohne es auf jene Art anzuwenden, die Einsiedler von Beruf damals einzuschlagen beliebten.

Man sah ihn weder beten noch betteln, man wusste nicht, ob er faste oder sich kasteie, und erfuhr nicht, dass er sich auf die Heilkunst verlege oder auf die Einträglichere des Wahrsagens und Exorzierens, in welchen Geschäften damals jeder honette Eremit ›machte‹.

Zu der Gattung von Leuten, die an den Wahnsinn Jakobs nicht glaubten, gehörte ohne Weiteres auch dessen alter Vater, obwohl er seines Sohnes nie anders als mit dem Epitheton, mein ›verrückter‹ gedachte; denn sonst wäre der Ton, den er bei seinem Besuche nach dem Abzuge der Gräfin von Maultasch im Gespräche mit demselben anschlug, ein unerklärlicher gewesen.

»Sie ist fort!« sprach er im Eintreten ohne Gruß, und ohne einen breiteren Eingang für nötig zu halten.

Der Sohn, der in seinem kleinen, mit Moos bekleideten Gehäuse an der schmalen Fensterluke kauerte, sah rasch mit einem fragenden Blicke auf, aber seine Lippen blieben stumm.

Der Alte, der offenbar keiner anderen Aufforderung bedurfte, denn er war gekommen, um zu reden, beantwortete diesen Blick sofort, indem er sich auf die Bodenerhöhung an dem Fenster Jakobs zur Seite setzte: »Fort nach Schloss Tirol, auf Befehl ihres Schwähers, den sie jetzt Tutor nennen, was etwa Schirmvogt oder so was bedeuten soll.«

Er hielt inne, wie um jetzt eine Frage zu erwarten. Da aber Jakob sich nicht regte, fuhr er wieder fort: »Dort erwartet sie ihr Gemahl, wie ich höre, und nebstdem, wie ich meine, ein Ehrengericht oder so was, obwohl ich nicht begreife, was bei der lieben Gräfin noch an Ehren zu richten sein sollte!«

Er setzte wieder ab und wartete eine Weile, aber abermals vergebens, ehe er fortfuhr: »Diesmal, denke ich, wollen sie ihr hart zu Leibe gehen; der Herr Tutor sieht verzweifelt ernst aus, und weder eine Hand noch Zunge scheint sich ihr zu Gunsten zu regen. Ja, ja, ich hab' immer gefürchtet, sie werde übel ankommen einmal mit ihren ewigen Liebeleien! – Und der Prinz hat gar versprochen, ihr Beweise zu liefern über begangenen Ehefrevel – ich kann mir denken, was er meinte, doch dürfte ihm das schwerer ankommen, als er glaubt!«

»Was?« ließ sich jetzt Jakob fragend vernehmen, indem er sich halb aufrichtete.

»Ei, die Geschichte mit dem Kinde!« sagte Michele, »der Falk hat sie dem alten Enzo, glaub' ich, selber verraten!«

Jakob schien jetzt erst anzufangen, an der Botschaft seines Vaters Anteil zu nehmen, obwohl er ihn nicht durch Worte äußerte. Aber er setzte sich plötzlich gerade auf und sah dem Alten mit gespanntem Ausdrucke in den Mienen ins Gesicht. Hierdurch ließ sich trotz des rasch zunehmenden Abenddunkels seine Gestalt, die in seiner bislang innegehabten zusammengekauerten Stellung nur in den notdürftigsten Konturen abgezeichnet war, ausnehmen: er war stark, und wie es seinem Oberleibe nach schien, hochgewachsen, obwohl er das, trotz seiner krankhaften Blässe schöne, von schlichtem blondem Haare umhangene Haupt stark vorgeneigt trug.

Michele sah sich durch obbesagte, Anteil verratenden Gebärde seines Sohnes aufgefordert, weiter zu erzählen, was er des Breiteren tat, von seinem Zusammentreffen mit dem Falken von Missian bis zu der Katastrophe auf Maultasch.

Doch schien die Hinterbringung dieser Nachrichten nicht die einzige Absicht seines Besuches bei Jakob zu sein, und er sie vielmehr als Handhabe zu weiteren, und wie es schien, sein Herz schwer bedrückenden Eröffnungen zu benützen, denn er fügte dem Schlusse seiner Mitteilung folgendes zu: »Deswegen Jakob! – Du siehst, jetzt hat es ein Ende mit all' den eitlen Dingen – deswegen glaub' ich, könntest Du mir jetzt folgen und einmal zu Willen sein in dem, worum ich Dich seit Jahren schon mit Bitten und Betteln angegangen! Sieh, eine günstigere Gelegenheit hierzu kommt nicht leicht wieder: meine Narrenzeit ist lang vorüber, und die Gräfin dürfte jedenfalls eines frischen, lustigen Spaßmachers dort bedürfen, wohin sie heute zieht. Lass uns also fort, weit fort von hier, Jakob, wo uns niemand kennt, wo niemand weiß, was Du…«

Jakob unterbrach den Alten durch eine hastige, abwehrende Gebärde und sprach in feurigem Eifer: »Wie sprichst Du so töricht, Vater! Was kümmert mich jemand und niemand, was Wissen und Nichtwissen? Wen hab' ich denn zu fliehen als mich? Mich allein – die Erinnerung! – Weißt Du einen Weg, auf dem ich ihr entflöhe, einen Berg, den sie zu erklimmen verzagte, einen Wald, der sie durch sein ödes Dunkel schreckte, einen Strom, der sie aufhielte? Nenne mir ihn, und ich will jenen barfuß pilgern, diesen auf den Knien erklettern, jenen mit nackten Armen durchbahnen! Hoho! Fort von hier? Wohin denn, Alter? Hab' ich es nicht schon versucht? Habe ich nicht alle Schluchten der Schart durchkrochen? Sie kroch mir nach. – Ich verließ den weiten Forst und stieg auf die Höhen des Gant, auf seinen höchsten Kogel, vor dessen jähem Riff der kühnen Gämse Fuß erzittert, sie kam mir nach! Ich Narr, entfliehen – ich trug sie ja im Herzen!...« Er schlug die Hände vor das Gesicht, und seiner Brust entrang sich jener seltsam jammernde Ton, in dem starke Herzen zu weinen pflegen.

Michele sah finster vor sich nieder und flüsterte mit bitterem Tone: »Erinnerung? – Reue nenne es!«

»Reue?« rief Jakob mit irrem Lächeln: »Reue? Du alter Narr? Nährt Reue den sich verzehrenden Leib? Hebt Reue den sinkenden Mut? Hält Reue das brechende Herz? Leuchtet sie dem, dessen Leuchte erloschen mit einem gesunkenen Sterne? – Ich hab' es geagt!«

»So liebst Du sie noch?« fragte der Alte mit hohler Stimme.

»Ich habe sie geliebt!« antwortete Jakob nach kurzem Bedenken, »ich gab ihr mein Herz und meinen Leib zu eigen, sie mochte damit schalten nach Begehr – solange jenes schlägt und dieser lebt, ist sie beider Herrin!«

»Entsetzliches Weib!« rief Michele, die Hände über die Brust zusammenschlagend, »sie hat ihn verzaubert!«

Der junge Mann sah ihn mit sonderbarem Lächeln an und lehnte sich schweigend wieder in die Ecke an dem Fenster.

»Was willst Du also tun, mein Sohn?« fragte Michele nach einer Pause scheu.

»Was? – Hört mich an, Vater!« gab Jakob zur Antwort: »Vor Jahren – ich war fast noch ein Knabe dazumal – kam einstmals ein fremder Sänger zu Nacht an den Grafenhof, der damals noch auf Tirol gehalten ward. Der sang unter anderen schönen Weisen ein Lied, vom treuen Eckart hieß es. Im deutschen Norden, im Thüringerland, liegt, so sang er, ein geheimnisvoller Berg, der Venusberg geheißen, in dessen Tiefe Frau Holda schläft. Zur Nachtzeit eines gewissen Tages erwacht Frau Holda, und wenn sie die Wunderaugen erschließt, fängt der Berg zu tönen und zu klingen an in herzbetörenden und sinnberückenden Weisen, deren Zauber sich niemand zu entschlagen vermöchte, hielte vor dem Bergeseingang nicht der treue Eckart warnend Wacht. Er selber büßt also bis auf den letzten Tag der Welt sein frevles Gelüste nach dem zauberischen Weib, für dessen Umarmung er seine Seele hingegeben.«

»Nun?« fragte Michele gespannt, da sein Sohn hier plötzlich abbrach.

»Du fragst? – Ich bin Eckart, der Warner, und mein Platz an Frau Holdas Schwelle! – Morgen brech' ich auf nach Schloss Tirol!« sagte Jakob mit feierlichem Tone.

»Entsetzen, Jakob, Jakob!« kreischte der Alte mit keuchender Brust auf und ergriff mit bebender Hand den Arm seines Sohnes, wie um ihn aus seinem wahnwitzigen Traume wachzurütteln.

Jakob machte einen Arm leise los und sprach bestimmt und fest: »So ist's, Vater! Ich tue, was ich muss – lass mich gewähren!«

»Narr, Narr!« rief der Alte mit der Schärfe der Verzweiflung, und sein Blick haftete, das Dunkel der inzwischen eingebrochenen Nacht durchdringend, an den starren, ruhigen Zügen seines Sohnes, auf denen aber sein trostloses Vaterauge nichts zu lesen vermochte, als klar ausgeprägten, entschlossenen Willen.

»Michele, Michele!« flüsterte in diesem Augenblicke eine gedämpfte Stimme an dem Fenster, vor dem ein breiter, dunkler Schatten auftauchte.

»Was ist's?« fragte Michele, erschrocken aufspringend.

»Ich hörte reden hier und erkannte Deine Stimme, lass mich ein!« tönte es von außen drängend zurück.

»Bei Gottes Gnad', das ist der Falk von Missian!« rief der Narr erstaunt und sprang an die Türe.

»Durch Gottes Gnad' sag' lieber, mein guter Alter! Denn ohne ihr wär' ich ein toter Mann!« sagte der Genannte eintretend und bot schwer aufatmend dem Narren die Hand.

»Gott sei gelobt! So liegt eine Blutschuld weniger auf ihrem Haupte!« rief Michele mit freudigem Tone, »doch wie entkamst…«

»Müsst' ein schlechter Falke sein, wenn mich der Hirsch von Vilanders erjagt hätte!« fiel ihm Claus von Missian in die Frage und erzählte: »Ich dachte mir es gleich, dass sie meinem Wort nicht trauen würde, das ich ihr eidlich gab, nichts gegen sie auszusagen, wenn ich ihr ins Auge gestellt werden sollte, und dass ihr ein stummer, toter Mund gerechter dünken würde als ein gebundener durch Manneswort. Doch des hatt' ich wenig bang. Als mir der Ritter näher kam – meine Mähre wollte nicht mehr weiter – sprang ich aus dem Sattel und vom Weg hinab ins Moor hinein, wo ich den edlen Herrn ruhig, aber vergebens erwartete; er sah ein, zu Ross konnt' er nicht nach, auch mocht' ihm wohl zu Ohren gekommen sein, dass die Ringer um Eppan in dem Rufe stehen, vor keiner Klinge zu scheuen. Kurz, er ritt weiter und ich ging ihm auf Umwegen nach!«

»Nach Bozen?«

»Ja wohl! Es war mir ja zumeist darum zu tun, zu erfahren, was es mit meinem Kinde ist, und das wurde mir leicht. Das böhmische Kriegsvolk ist gar guter Dinge dort, zecht und tollt nach dem harten Ritt von Lienz her nach Herzenslust, und ein Rottenmeister hat mir in seiner weinseligen Laune willig und umständlich die ganze Sach' erzählt, die gar nicht geheim gehalten wird. Das Kind ist auf der Feste!«

»Hier, auf Maultasch?«

»So ist's, seit einer guten Weile! Ihr müsst den Zug vorüber kommen gesehen haben, nicht?«

»Wir sprachen angelegentlich miteinander und hatten des Weges nicht acht!« sagte Michele auf die Frage.

»Es schien so«, meinte der Falk und schwieg, eine Weile mit gesenktem Kopfe vor sich niederstarrend; dann legte er, wie zu einem plötzlichen Entschlusse gekommen, seine Hand auf die Schulter Micheles und sagte mit treuherzig bittendem Tone: »Willst Du einem armen, bedrängten Manne helfen, Michele! – Du kannst's!«

»Ich, womit?« fragte der Alte erstaunt.

»Mit Rat!« – Zur Tat hat es um Hilfe keine Not!« erwiderte der Falk, von dem offenen Tone der raschen Frage sichtlich ermuntert: »Du gehst wieder heim zu Nacht ins Schloss?«

»Ja – obwohl ich's nicht im Sinne hatte, als ich herging!«

»Wohl, dann hat mich Gottes Fürsehung Dich treffen lassen: Wisse, ich will mein Kind entführen!«

»Aus dem Schlosse?«

»Aus dem Schlosse, aus den Armen seiner Wächter, und wären ihrer zu Hunderten, trotz aller Schlösser und Riegel!« rief der Falk leidenschaftlich. »Ich bin nicht allein – an die dreißig Männer, die ich um Missian herum aufgebracht, harren meines Rufes im Moore unten. Ich wage das Äußerste…«

Der Narr besann sich eine gute Weile, ehe er fragte: »Du weißt wohl nicht, was sich seit Nachmittag auf Maultasch Absonderliches zugetragen und dass es in den Händen des Prinzen von Luxemburg ist?«

Der Falk stieß einen Schrei der Überraschung aus.

»Du kennst den jungen Greifensteiner? Der befehligt da droben! Wenn du mit dem…« meinte Michele nachdenklich.

»Der? Ach, der hasst den alten Nebenbuhler in mir!« seufzte der Falk traurig, und seine Lippen flüsterten leise jammernd nach: »Mein Kind, mein Kind!«

»Mit Gewalt geht es nimmer!« sagte der Alte mit bekümmertem Tone.

»Es geht, es geht gewiss, wenn nur ein winziger Halt dafür da ist!« rief der Falk, sich plötzlich wieder ermannend aus, »eine willige Hand an dem Riegel – o möge die meine verdorren, die in einer verfluchten Stunde den des Tores vom Sonnenberg zurückzog! – Michele, Herzensmichele!« Mit diesem Rufe fasste er nach diesem Wutausbruche wieder die Hände des Alten und zog sie mit flehender Gebärde an sein Herz: »Höre, nur eine willige Hand an dem Rigel, und ich breche mir Bahn bis an das Lager des Kindes! Hilf, Alter, hilf, du kannst es, wenn Du willst! O sage, dass Du willst, sonst geht meine Seele in Jammer zu Grunde!«

»Ich kann nicht, bei Gott, Mann! Ich kann nicht!« sagte der Narr erschüttert.

»Ich kann's!« sprach eine tiefe Stimme neben ihm, die Jakobs, der, bislang in dumpfem Schweigen hingekauert, jetzt plötzlich aufstand und, indem er dem Falken die Hand bot, wiederholte: »Ich kann's, und ich tu's!«

Bei dem Klange dieser Worte, fest und überzeugend wie ein Eid gesprochen, war der Falk mit einem hellen Schrei aufgefahren, doch schon im nächsten Augenblicke sank er wieder in sich zusammen, und der Aufschrei seines aufwallenden Herzens verlor sich in die trostlosen Worte: »Jakob, Du?«

»Ich!« gab dieser mit voller Stimme zurück, »verzagst Du an meinem Wort, weil die Sage geht, des Narren Sohn sei selber Narr geworden? Ich kann's und tu's, hab' ich gesagt, und löse mein Wort!« Damit erhob er sich stolz zur vollen Höhe, langte von dem Gesimse über dem Fenster ein langes Messer herab, das er in seinen Leibgurt steckte, und bot dem Manne von Missian abermals die Hand zum Gelöbnis und Abschied. »Ich geh' allein! – Der Vater hat recht, mit Gewalt geht es nicht! Harre mein allhier, auch Du, Vater! – Bin ich bis Mitternacht nicht da, so – klingt Frau Holdas Berg hinfür an ungewarnte Ohren!«

Er schritt hinaus, und sein Tritt war lange verhallt, ehe der Falk und Michele sich von ihrem Erstaunen erholten.

»Gotts Blut!« fuhr endlich der Erstere auf, »er geht dahin, mir mein Kind zu schaffen, und ich sollte hier die Hände feig im Schoß…«

Michele erfasste den Arm des im Nacheilen Begriffenen und rief: »Bleib und lass ihn gehen, wie er will – allein! Er weiß, was er tut, und glaube mir, er bringt's zuwege!« Er zog den Widerstrebenden zu sich nieder, und es wurde still in der Siedelei…

Und still lag draußen auf dem ruhenden Tale die dunkle Nacht, die nur von Zeit zu Zeit der heisere Schrei eines verspäteten Geiers unterbrach, der mit raschem Flügelschlage seinem Horst zueilte, und der traurige, eintönige Unkenruf im tiefen, schilfbewachsenen Moore.

Immer tiefer umzog ihr dunkler Schleier das schlummernde Gefild, auf dem endlich auch die letzten Lebenstöne verklangen und erstarben.

Alles schlief, nur der Strom war wach und trieb nimmermüde seine grünen Wellen hinab, dem Süden zu, sie mit leisen Scheidegrüßen an die schlummernden Ufer anschlagend.

Doch horch! Was regt sich dort im betauten Filze des Moores? Was treibt sich wie fliehende Wolkenschatten über die Au und dem Schlosssteige zu? Was knirscht und klingt auf dessen scharfem Kiesplane?

Menschenschritte – zehn – zwanzig – und mehr dunkle Gestalten schleichen mit leisen, eiligen Tritten über den verräterischen Sand. Ein leiser, feiner Pfiff gellt durch die Stille. –

Sie halten an der Siedelei – und nach kurzer Rast verschwinden sie wieder in dem verhüllenden Dunkel der Nacht.

Wieder alles still!

Doch in der Hütte des Narrenjakob schlagen zwei bange Herzen wie Hämmer gegeneinander in bekümmertem, traurigem Schweigen – zwei Vaterherzen.

Und um die Hütte herum schlagen viele mutige, treue Herzen in rauen Hüllen, frisch und ungesäumt aufgewallt zu ehrlicher Hilfe und dazu bereit bis zu ihrem letzen Schlage. –

Die Nacht verrinnt.

Die Nebel zerreißen, und der Himmel beginnt seine Myriaden Sternenaugen aufzutun, und der Mond tummelt sich hinter den Bergkuppen hervor, wie um seine Saumsal gut zu machen, helllicht und voll!

»Meinst Du, es sollt' nicht an Mitternacht sein?« brach endlich Michele das lange, bange Schweigen.

Der Falk von Missian ächzte wie weinend auf. Ach, es durfte ja noch nicht Mitternacht sein – sonst hätte er sein Kind verloren zu geben. Und der Narr?

»Horch!« rief dieser, plötzlich aufspringend. –

Beider Herzen vergaßen zu pochen und harrten des Aufrufes des Alten: »Er ist's, er ist's!« rief der Falk mit freudig zitternder Stimme nach, und, »er ist's«, hallte es rund um aus den Agavensträuchern nach, denn von dem Schlosssteige herab kam Jakob in kurzen, hastigen Sprüngen auf die Hütte zu…

Die Männer umdrängten ihn bewillkommnend.

»Jakob, Engel Gottes!« rief der Falk in die Knie sinkend und die zitternden Arme dem Ankommenden entgegen streckend.

Er trug den Knaben in den Armen. –

»Hier ist das Kind! Ich hab' mein Wort gelöst!« sprach er kurz und hochaufatmend.

»Gottes Lohn, sein reichster Segen für Dich!« schluchzte der glückselige Vater, das Kind, das verwundert und erschreckt um sich blickte, an seine freudig wogende Brust drückend.

»Doch wie ist es Dir gelungen, das…«

»Schweig und flieh! Flieht alle ungesäumt, ich fürchte, des Kindes Schreien hat mich verraten!« unterbrach Jakob drängend und zu dem Falken niedergebeugt, flüsterte er ihm zu: »Ich hab' den Wächter erschlagen!«

Der Falk sprang auf: »So komm mit mir, mit uns, edler Mann! Ich will Dich auf den Händen…«

»Flieh, flieh!« rief Jakob abermals und deutete mit erhobenem Finger gegen das Schloss hin, in dessen Räumen sich ein dumpfer Lärm erhob, der im Momente darauf in laut hallendes Pferdegetrapp überging.

»Fort!« schrie Jakob und drängte den Falken mit den Worten: »Mein Weg führt anderwärts, mit Gott!« abwehrend von sich, ergriff seinen Vater an dem Arme und zog den willenlosen Greis mit sich ins weite Moos hinab. –

Die Gestalten der Landleute verloren sich im Nebel.

Bald darauf brauste ein Trupp Reiter auf dem Wege einher und hielt an der Siedelei.

Sie war leer und rundum alles still. –

»Du wolltest, ich solle Dir folgen, Vater! – Wohlan, da hast Du mich!« sagte Jakob zu dem Alten – sie standen in sicherem Versteck im Moore – als die Verfolger längst wieder aus ihrem Gesichtskreise waren, sie hatten in ohnmächtiger Wut die Hütte in Trümmer geworfen.

»Wohin?« fragte Michele freudig.

»Alleins! – Einen habe ich noch zu warnen – einen, den sie seit Langem umsponnen hält mit den feinen Fäden ihres Liebesnetzes. – Ich hörte, er ringe, sie zu zerreißen – zu ihm also!« sagte Jakob gedankenvoll.

»Wohin aber? Wer ist dieser eine?«

»Der Markgraf von Brandenburg!« –

»Dann liebst Du sie noch – und hast das Kind…« rief Michele auffahrend.

»Ihretwegen entführt!« ergänzte Jakob kaltblütig.

Und sie schritten talabwärts, dem Strome zu, schweigend und die Herzen von trüben, traurigen Gedanken erfüllt.

Bald lag wieder Totenstille auf dem Tale und dem Moor. –


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