Prosper Mérimée
Der Novellen erster Teil
Prosper Mérimée

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Gesicht Karls des Elften

Vision de Charles XI

  Zur Quellenfrage vgl. das ähnliche Motiv in der Ballade: Gesicht Thomas II. in La Guzla (im Anhange zum Band II).

Übersetzt von Arthur Schurig

Erstdruck in der Revue de Paris, Juli-Heft 1829. Quelle: Freie Erfindung Mérimées. Bereits mehrfach ins Deutsche übertragen.


Mehr Dinge gibts im Himmel und auf Erden
Als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio!
                                              Hamlet

Man spottet über Gesichte und Erscheinungen; und doch sind etliche so gut bezeugt, daß daran nicht glauben wollen einen streng-logischen Menschen eigentlich verpflichten müßte, überhaupt jedes historische Zeugnis abzulehnen.

Ein Bericht in bester Form, eigenhändig unterschrieben von vier glaubwürdigen Zeugen, verbürgt die Wahrheit des Ereignisses, das ich im folgenden erzähle. Voraus bemerken möchte ich, daß die im Bericht enthaltene Prophezeiung bekannt geworden ist und in Büchern erwähnt steht, lange bevor neuere Geschehnisse jene Voraussage erfüllt haben.

*

Karl XI. (1660-1697), des berühmten Karls XII. Vater, war ein Gewaltherrscher, wie es ihrer nicht viele in Schweden gegeben hat, aber einer der weisesten Fürsten. Er dämmte die ungeheuerlichen Vorrechte des Adels ein, brach die Macht des Reichsrates und schuf eigenmächtige Gesetze; mit einem Worte, er veränderte die Landesverfassung, die vor ihm eine Oligarchie gewesen, gründlich und zwang die Reichsstände, ihm die unumschränkte Herrschaft einzuräumen. Bei alledem war er ein aufgeklärter mutiger Mann, treu dem lutherischen Bekenntnis, ein unbeugsamer, kalter, mit dem Wirklichen rechnender Charakter, bar jeder Einbildungskraft.

Vor kurzem hatte er seine Frau Ulrike Eleonore verloren. Obwohl seine Härte, so munkelte man, der Fürstin Ende beschleunigt hatte, schätzte er sie doch, und ihr Tod ergriff ihn sichtlich mehr, als man von seinem so nüchternen Gemüt erwartet hätte. Seit ihrem Tode ward er düsterer und schweigsamer denn je, und er widmete sich den Staatsgeschäften auf das eifrigste, offenbar aus starkem Bedürfnis, peinlichen Grübeleien zu entgehen.

An einem Herbstabend, es war schon spät, saß er, in Hausrock und Hausschuhen, vor helloderndem Kaminfeuer in seinem Arbeitsgemach im Stockholmer Schlosse. Bei ihm war sein Kammerherr, Graf Brahe, der in allerhöchster Gunst und Gnade stand, sowie der Leibarzt Baumgarten, der, beiläufig erwähnt, Freigeisterei zur Schau trug und am liebsten alles in der Welt in Zweifel gesetzt sah, ausgenommen die Heilkunde. Karl hatte ihn an diesem Abend zu sich befohlen, um ihn wegen irgendeiner Beschwerde zu befragen.

Die nächtliche Sitzerei fand kein Ende, und der König gab den beiden Herren noch immer nicht zu verstehen, es sei Zeit, ihn allein zu lassen. Das gewohnte Guten Abend meine Herren! kam nicht. Den Kopf vornübergebeugt, unverwandt in die Flammen starrend, verharrte er in tiefem Schweigen. Er war der Anwesenden überdrüssig; aber ihm bangte, ohne zu wissen warum, vor dem Einsamsein. Graf Brahe, der wohl merkte, daß seine Gegenwart unliebsam war, hatte wiederholt seiner Besorgnis Ausdruck gegeben, Majestät bedürfe gewiß der Ruhe; eine Handbewegung des Königs hatte ihn jedesmal weiter auf seinen Sitz gebannt. Der Arzt seinerseits spielte darauf an, zu langes Aufbleiben wäre der Gesundheit nicht dienlich, doch Karl murmelte vor sich hin: Bleiben Sie! Ich spüre noch nicht Lust zum Schlafen.

Nun versuchte man den und jenen Gesprächsstoff, aber nach zwei, drei Sätzen war er erschöpft. Kein Zweifel, Seine Majestät war wieder einmal von Schwermut heimgesucht; ein heikel Ding für einen Hofmann.

Graf Brahe vermutete, des Königs Trübsal wurzle im Kummer ob des Verlustes seiner Gattin, und so betrachtete er geraume Zeit das Porträt der Königin, das im Zimmer hing, seufzte vernehmlich und sprach: Das Bildnis da ist ausgezeichnet. So sah Ihre Majestät aus, hoheitsvoll und liebreizend zugleich . . .

Find ich nicht! erwiderte der König brüsk. Wenn man in seiner Gegenwart die Königin nannte, argwöhnte er stets, einen Vorwurf zuhören. Das Bild schmeichelt. Die Königin war häßlich.

Aber, insgeheim ärgerlich über sein rauhes Wort, stand er alsbald auf und begann eine Runde durch das Zimmer, eine Erregung zu verbergen, deren er sich schämte. Am Fenster blieb er stehen. Es ging nach dem Hof. Die Nacht war finster; Neumond kaum vorüber.

Das heutige Königsschloß zu Stockholm war damals noch im Bau, und Karl XI., der ihn begonnen, bewohnte das alte Schloß auf dem RiddarholmenDas alte Königsschloß auf dem Riddarholmen (Ritterinsel) ist kurz nach dem Tode Karls XI. am 7. Mai 1797 niedergebrannt; mit Mühe konnte man den Leichnam des Königs retten. mit Ausblick auf den Mälar. Es war ein großes Gebäude in Hufeisenform. In dem einen Flügel befand sich des Königs Arbeitsgemach, und fast gegenüber lag der große Saal, in dem Seiner Majestät Stände zusammentraten, wenn sie eine Kundgebung zu vernehmen hatten.

Sonderbar, dem König schien es, als leuchte drüben aus den Fenstern des Saales helles Licht. Anfangs nahm er an, die Kerze eines Dieners verbreite diesen Schimmer. Aber was hatte der in dieser Stunde im Ständesaal zu schaffen, der seit langem verschlossen war? Und dann, die Helle war viel zu stark; von einer einzigen Kerze konnte sie nicht herrühren. Noch weniger war an eine Feuersbrunst zu denken, denn man sah keinen Rauch; die Scheiben waren nicht zerbrochen, und Lärm machte sich nicht vernehmbar. Kurz, der Saal mußte regelrecht erleuchtet sein.

Ohne zu reden schaute Karl eine Weile nach den hellen Fenstern, und wie er bemerkte, daß Graf Brahe die Hand nach dem Klingelzug ausstreckte, um einen Pagen zu beauftragen, die Ursache der seltsamen Erleuchtung festzustellen, da hinderte er ihn daran.

Ich will selber hinüber in den Saal gehn! sagte er. Beim Sprechen dieser Worte ward er blaß. Das sah man deutlich. Scheu vor Übernatürlichem spiegelte sich in seiner Miene. Trotzdem ging er festen Schrittes hinab. Kammerherr und Arzt folgten, jeder eine angezündete Kerze in der Hand.

Der Kastellan, der die Schlüssel verwahrte, lag schon im Bett. Baumgarten weckte ihn und befahl ihm im Namen des Königs, ohne Verzug die Türen zum Ständesaal zu öffnen. Des Mannes Erstaunen bei so unerwartetem Befehl war groß. In aller Eile zog er sich an und meldete sich mit dem Schlüsselbunde beim König.

Zunächst schloß er das Tor auf zu einer Halle, die dem Ständesaal als Vorzimmer oder Ablegeraum diente.

Der König trat ein. Zu seiner Verwunderung erblickte er die Wände ringsum schwarz ausgeschlagen.

Wer hat diesen Wandbehang angeordnet? fragte er zornigen Tones.

Sire, niemand, soviel ich weiß! erwiderte der Kastellan bestürzt. Wie ich die Halle das letztemal habe kehren lassen, war die Eichentäfelung da wie immer . . . Aus Eurer Majestät Teppichkammer sind diese Behänge bestimmt nicht.

Schon war der König über die Mitte der Halle vorgestürmt. Graf Brahe und der Kastellan hielten sich dicht hinter ihm. Baumgarten, der Arzt, blieb etwas zurück. Er schwankte zwischen Furcht, allein gelassen zu werden, und Angst, in ein Abenteuer zu geraten, das sich in so sonderbarer Weise ankündigte.

Euer Majestät sollten nicht weitergehen! warnte der Kastellan. Bei meiner Seele Seligkeit: in der Galerie spukt es . . . um diese Stunde . . . Seit dem Tode der Königin, Eurer erlauchten Gemahlin . . . heißt es . . . geht sie hier nachts um . . . Gott behüte uns!

Sire, machen wir halt! rief der Graf. Ist das nicht Geräusch im Saal? Wer weiß, welcher Gefahr Majestät sich aussetzt!

Sire, fügte Baumgarten hinzu, dem ein Luftzug die Kerze ausgeblasen hatte, zum mindesten bitte ich untertänigst um Befehl, ein Dutzend Leibgardisten herbeizubeordern.

Gehen wir hinein! befahl der König mit fester Stimme. Er stand vor der Tür des großen Saales.

Kastellan, rasch, schließt auf!

Er stieß mit dem Fuß gegen das Holz, und der Lärm davon, durch den Widerhall der Gewölbe verstärkt, krachte wie ein Kanonenschuß durch den hohen Raum.

Der Kastellan zitterte dermaßen, daß sein Schlüssel gegen das Schloß stieß, ohne daß er ihn ins Schlüsselloch zu stecken vermochte.

Ein alter Soldat und zittert! sagte Karl, die Achsel zuckend. Graf, rasch, machen Sie auf!

Sire, erwiderte Brahe und trat einen Schritt zurück, wenn Majestät mich gegen das Feuer einer dänischen oder deutschen Batterie schickt, werde ich ohne Zaudern gehorchen; aber das heißt der Hölle trotzen!

Der König entriß den Schlüssel der Hand des Kastellans. Ich sehe, sagte er verächtlich, selber ist der Mann! Und ehe ihn sein Gefolge hindern konnte, hatte er die schwere eichene Tür geöffnet.

Mit den Worten: Gott steh mir bei! trat er in den Ständesaal. Seine drei Gefährten, getrieben von Neugier, die alle Furcht überwand, vielleicht auch aus Ehrgefühl, Ihren Herrn nicht im Stich zu lassen, folgten ihm unmittelbar.

Der Saal war durch zahllose Kerzen erleuchtet. Statt der Gobelins mit ihren vielen Gestalten sah man schwarzes Tuch über die Wände gespannt. An ihnen, in Reih und Glied wie sonst, waren deutsche, dänische und russische Fahnen aufgestellt, Siegeszeichen von Gustav Adolphs Heer. Aus ihrer Mitte grüßten, schwarz umflort, schwedische Banner.

Eine unermeßliche Versammlung füllte die Bänke. Ihrem Range gemäß saßen da die vier Reichsstände, Adel, Geistlichkeit, Bürger und Bauern, alle schwarz gekleidet. Diese Menge Menschengesichter, gleichsam Lichter auf dunklem Grund, blendeten die Augen der vier Zeugen des sonderbaren Auftritts so stark, daß keiner von ihnen ein ihm bekanntes Gesicht herauszufinden imstande war. Genau so sieht ein Schauspieler, der vor zahlreichen Zuschauern steht, nichts als eine verschwommene Masse, in der sein Blick den Einzelnen nicht unterscheiden kann.

Vor dem erhöhten Thron, von wo der König die Stände anzusprechen pflegte, sahen sie aufgebahrt einen blutigen Leichnam, geschmückt mit den Zeichen der königlichen Würde. Ihm zur Rechten stand ein Kind, die Krone auf dem Haupte, das Zepter in der Hand; zur Linken, dem Throne sich anlehnend, ein betagter hoher Herr, schemenhaft blaß. Er trug den Prunkmantel der Reichsverweser aus der Zeit, da Wasa Schweden noch nicht zum Königreiche gemacht hatte.

Dem Thron gegenüber saßen an einem Tische, darauf dicke Folianten und etliche Pergamentrollen lagen, mehrere Personen in ernster feierlicher Haltung, in langen schwarzen Roben, offenbar Richter. Zwischen dem Thron und den Bänken der Versammlung stand ein Richtblock, schwarz verhangen, und daneben blinkte ein Beil.

Niemand in dieser unheimlichen Menschenmenge nahm irgendwie Kenntnis von der Anwesenheit Karls und seiner drei Begleiter.

Wie sie eintraten, vernahmen sie zunächst nur dumpfes Stimmengewirr, dem kein Ohr bestimmte Worte zu entnehmen vermochte. Alsbald erhob sich der älteste der schwarzgekleideten Richter, zweifellos der Vorsitzende, schlug dreimal mit der Hand auf einen Folianten, der offen vor ihm lag. Sofort trat tiefe Stille ein. Eine Reihe junger Männer von edlem Aussehen, in stattlicher Tracht, die Hände auf dem Rücken gebunden, trat in den Saal durch eine der Türen derjenigen gegenüber, die Karl geöffnet hatte. Erhobenen Hauptes, festen Willen im Blick, schritten sie herein. Hinter ihnen ein stämmiger Mann in brauner Lederjoppe; er hielt die Enden der Stricke, die jenen die Hände fesselten. Der an der Spitze Gehende, gewiß der Vornehmste der Gefangenen, blieb in der Mitte des Saales vor dem Richtblock stehen und sah voll stolzer Verachtung darauf. In diesem Augenblick war es, als bewege sich der Leichnam in krampfhafter Zuckung, und frisches purpurrotes Blut rann aus seiner Wunde.

Der junge Mann kniete nieder, hielt das Haupt hin; das Henkerbeil blitzte durch die Luft und schlug laut nieder. Ein Blutstrahl spritzte an die Stufen des Thrones und hinauf in das Blut des Leichnams. Der Kopf aber rollte, einige Male vom rot sich färbenden Estrich emporschnellend, zu Karls Füßen, die er mit Blut befleckte.

Bis zu dem Moment war der König vor Staunen stumm verblieben; aber bei diesem gräßlichen Anblick löste sich seine Zunge. Er tat ein paar Schritte in Richtung auf den Thron, und der Gestalt im Prunkmantel des Reichsverwesers zugewandt, sprach er kühn den allbekannten Spruch: Bist du Gottes, so rede! Gehörst du dem Anderen an, dann laß uns in Frieden!

Langsam und feierlich erwiderte das Gespenst: König Karl, dies Blut wird unter deiner Herrschaft nicht fließen . . . (hier ward die Stimme beinahe undeutlich) . . . erst unter deinem fünften Nachfolger. Wehe, wehe, wehe Wasas Blute!

Jetzt begannen die Umrisse der zahlreichen Personen der erstaunlichen Versammlung ineinander zu fließen. Bald schimmerten nur noch farbige Schatten. Schließlich waren sie ganz verschwunden; die fabelhafte Beleuchtung erlosch, und im Kerzenlichte des Königs und seines Gefolges war nichts zu sehen als die alten Gobelins, die sich leise im Windzüge blähten. Noch hörte man eine Weile ein fast melodisches Geräusch, das den einen der Zeugen hinterher an Blättergesäusel im Wind, den andern an den Klang einer Harfe, an der beim Stimmen eine Saite springt, erinnerten.

Die Dauer der Erscheinung schätzten alle vier einstimmig auf kaum zwanzig Minuten.

Der schwarze Wandbehang, das abgeschlagene Haupt, die Blutspritzer am Fußboden, alles war mit den Gespenstern verschwunden. Nur Karls einer Hausschuh hatte einen roten Fleck behalten, der allein genügt hätte, ihm das nächtliche Erlebnis ins Gedächtnis zurückzurufen, wäre es nicht tief genug darin eingegraben gewesen.

Wieder in seinem Arbeitszimmer, ließ der König einen Bericht über das, was er geschaut, aufsetzen und von seinen drei Gefährten unterzeichnen. Auch er schrieb seinen Namen eigenhändig darunter.

Obgleich man alle Vorsicht anwandte, um den Inhalt des Aktenstückes der Öffentlichkeit vorzuenthalten, ward der Vorfall dennoch bald bekannt, schon zu Karls XI. Lebzeit. Der Bericht ist in der Urschrift erhalten, und bis auf den heutigen Tag hat sich niemand unterstanden, seine Echtheit zu bezweifeln. Der Schlußsatz des Dokuments ist bemerkenswert. Der König sagt da: Und wenn das, was ich hier berichte, nicht lautere Wahrheit wäre, so entsage ich jeder Hoffnung auf ein besseres Leben, das ich etwa verdient habe durch einige gute Werke, vornehmlich durch meine Bemühungen um das Wohl meines Volkes, wie durch den Eifer, mit dem ich meiner Väter Glauben verteidige.

Wenn sich die Nachwelt den Tod Gustavs III. (1792) und das Gericht über den Hauptmann von Anckarström, seinen Mörder, vergegenwärtigt, so wird man manche Beziehung zwischen diesem Ereignis und jenem prophetischen Gesicht finden. Der junge Mann, der vor den Reichsständen enthauptet ward, wäre Anckarström gewesen; der Leichnam mit den königlichen Abzeichen Gustav III.; das Kind mit Krone und Zepter sein Sohn und Nachfolger Gustav IV. Adolf; und der alte Herr schließlich der Herzog Karl von Södermanland, Gustavs IV. Oheim, Regent und später, nach der Entthronung seines Neffen (1809), König von Schweden.


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