Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Übersetzt von Arthur Schurig Über Mérimées Quelle vgl. Max Kuttner, Die korsischen Quellen von Chamisso und Mérimée (I), in Herrigs Archiv für neuere Sprachen, 1903.
Literatur über Korsika: Ferdinand Gregorovius, Corsika, Stuttgart und Tübingen 1854; dritte Auflage 1878. W. Hörstel, Die Napoleonsinseln Korsika und Elba, Berlin 1908.
Erwähnt sei: Mateo Falcone, publié d'après le manuscrit autographe de l'Auteur. Paris, Charpentier, 1876.
Erstdruck in der Revue de Paris, Mai-Heft 1829. Quelle: Voyage en Corse vom Abbé Gaudin, Paris 1787, Seite 123. In Terzinen übertragen von Adelbert v. Chamisso (1830). Nach 1872 oftmals ins Deutsche übertragen.
Wenn man von Portovecchio in das Innere der Insel wandert, in nordwestlicher Richtung, steigt der Weg ziemlich rasch, und nach drei Stunden Marsch auf sich schlängelndem Saumpfad, den mächtige Felsblöcke verbauen und zuweilen Schluchten unterbrechen, steht man am Rand einer weitausgedehnten MacchiaMacchia, französisch: le mâquis..
Hier ist die Heimat der korsischen Hirten und der Schlupfwinkel derer, die mit dem Gericht in Widerstreit geraten sind. Nun muß man wissen: auf Korsika erleichtert sich der Bauer die Mühe, sein Feld zu düngen, indem er ein Stück Wald in Brand steckt; fliegt das Feuer weiter, als der Zweck es erheischt, so ist das schlimm; doch was auch geschehen mag, die Saat unter der Asche der Bäume, die diese Flur beschatteten, sichert ihm gute Ernte. Die Ähren werden gesichelt, während das Stroh, das zu sammeln zu umständlich wäre, liegen bleibt; und aus den unverbrannten Baumwurzeln treiben im Frühling darauf üppige Sprößlinge, die in ein paar Jahren sieben bis acht Fuß hoch sind. So entsteht ein Buschwald, die Macchia geheißen, aus allerlei Bäumen und Sträuchern, die wirr durcheinander wachsen, wie der göttliche Zufall es fügt. Nur mit der Axt in der Hand bricht sich der Mensch darin Bahn, und an manchen Stellen ist das Dickicht so unzugänglich, daß sogar Wildschafe nicht durchkommen.
Wer einen Menschen umgebracht hat, enteilt in die Macchia von Portovecchio. Dort fristet er sein Leben ungefährdet, wenn er eine gute Büchse, Pulver und Blei besitzt; nicht zu vergessen den Pilone (das ist ein brauner Kapuzenmantel), der als Lager und Decke dient. Die Hirten spenden Milch, Käse und Kastanien; vom Gericht und von der Sippe des Gemordeten hat er nichts zu befürchten, außer wenn er nach neuem Schießvorrat hinab ins Dorf muß.
Als ich im Jahre 18.. auf Korsika weilteMérimée hat Korsika erst 1839 besucht., hatte Matteo Falcone sein Haus eine halbe Miglie vor diesem Buschwald. Nach dortigem Begriff war er ein wohlhabender Mann; er lebte vornehm, das heißt ohne viel zu tun, vom Ertrag seiner Herden, die von Hirten (einer Art Nomaden) nach den verstreuten Weiden im Hochlande geführt werden. Ich habe ihn kennengelernt zwei Jahre nach dem Ereignis, das ich erzählen will; er kam mir höchstens fünfzig Jahre alt vor. Man stelle sich einen kleinen, aber kräftigen Mann vor mit pechschwarzem krausem Haar, Adlernase, schmalen Lippen, großen lebhaften Augen und einer Hautfarbe vom Braungelb der Stulpenstiefel. Er galt als hervorragender Schütze, was viel besagt in einem Lande, das daran nicht Mangel hat. Wildschafe zum Beispiel traf Matteo auf hundertzwanzig Schritt mit der Kugel im Kopf oder Blatt, je nachdem. Nachts handhabte er seine Waffe genau so gut wie bei Tag, und man hat mir eine Probe seiner Geschicklichkeit berichtet, die mancher, der Korsika nicht kennt, kaum glauben wird. Man stellte in Entfernung von achtzig Schritt eine angezündete Kerze hinter einer tellergroßen Scheibe aus Ölpapier auf. Er legte an; dann blies man das Licht aus. Nach einer Minute drückte er ab und verfehlte die Scheibe im Stockdunklen bei vier Schuß nur einmal.
Bei so außerordentlicher Tüchtigkeit erfreute sich Matteo Falcone hohen Ansehens. Es hieß, er wäre als Freund so treu wie gefährlich als Feind. Sonst war er gefällig und mildtätig, hielt mit jedermann im Bezirk Frieden; allerdings ging das Gerücht, er habe sich in Corte, woher sein Weib gebürtig war, eines im Streit wie bei Liebschaften gleich unbequemen Rivalen in urwüchsiger Weise entledigt. Jener Flintenschuß nämlich, der besagten Nebenbuhler beim Rasieren am Fenster ins Jenseits beförderte, ward keinem andern zugeschrieben als dem Matteo. Noch war diese Geschichte nicht ganz vergessen, da führte er Giuseppa heim. Seine Frau schenkte ihm zunächst drei Mädchen (worüber er wütete) und endlich einen Jungen, der – die Hoffnung der Familie und der Erbe des Namens – Fortunate getauft wurde. Die Töchter waren längst gut verheiratet; bei Bedarf konnte Matteo auf die Dolche und Stutzen seiner Schwiegersöhne rechnen. Der Knabe war erst zehn Jahre alt, aber seine Anlagen versprachen das Beste.
An einem schönen Herbsttage brach Matteo mit seiner Frau zu früher Stunde auf, um in einer Lichtung der Macchia eine seiner Herden zu besichtigen. Der kleine Fortunato wollte mitgehen, aber der Ort war zu weit, und es war wohl auch nötig, daß jemand zurückblieb, das Haus zu hüten. Also schlugs ihm der Vater ab. Er sollte es zu bereuen haben.
Die Eltern waren etliche Stunden fort; der Knabe lag behaglich ausgestreckt in der Sonne, schaute nach den blauen Bergen und bedachte, daß er am kommenden Sonntag in der Stadt bei seinem Onkel, dem CaporaleCaporale. Hierzu bemerkt Mérimée: Die Caporali waren ehedem die Anführer, die sich die korsischen Gemeinden wählten, wenn sie sich wider die Feudalherren auflehnten. Heutzutage gibt man diesen Namen zuweilen jemandem, der durch seine Liegenschaften, seine Verbindungen und seinen Anhang Einfluß und gewissermaßen eine tatsächliche Oberherrschaft über einen Bezirk (pieva) ausübt. Nach altem Herkommen gliedern sich die Korsen in fünf Kasten: die Edelleute (die einen heißen: Magnificenzi, die andern: Signori), die Caporali, die Bürger, das Volk und die Fremden., zum Mittagsmahl eingeladen war, als ihn plötzlich der Knall einer Feuerwaffe seiner Träumerei entriß. Er sprang auf und horchte in der Schallrichtung, der Niederung zu. Nochmals schoß es und immer wieder, in ungleichen Abständen, näher und näher. Schließlich erschien auf dem Pfad, der vom Hang her zum Hause führte, ein Mann, auf dem Haupt eine Zipfelmütze, wie die Bergbewohner sie tragen, mit struppigem Bart, in zerlumpter Kleidung. Auf seine Büchse gestützt, vermochte er sich kaum weiter zu schleppen. Ein Schuß hatte ihn in den Schenkel getroffen.
Es war ein Bandit, das heißt ein Geächteter, der in der Nacht, um Pulver zu kaufen, nach der Stadt gegangen war, unterwegs aber auf einen Streiftrupp korsischer Jäger gestoßen war, die im Hinterhalt lagen. Nach mannhafter Gegenwehr war es ihm gelungen, den Rückweg zu gewinnen, lebhaft beschossen, von Fels zu Fels wieder feuernd. Er hatte nur geringen Vorsprung vor den Soldaten, und seine Wunde hinderte ihn, den Buschwald zu erreichen, ehe sie ihn einholten.
Er näherte sich Fortunato und rief ihm zu:
Bist der Sohn von Matteo Falcone?
Bin ich! antwortete der Knabe.
Ich bin Gianetto Sanpierro. Die Gelbkragen sind mir auf den Nähten. Verbirg mich! Ich kann nicht weiter.
Was wird mein Vater sagen, wenn ich dich ohne seine Erlaubnis verstecke?
Er wird sagen: Hast recht getan!
Wer weiß?
Rasch verbirg mich! Sie sind schon nahe.
Warte, bis mein Vater heimkommt!
Warten soll ich? Gottverdammich! In fünf Minuten sind die Kerle hier. Rasch, verbirg mich – oder ich schlage dich tot!
Mit größter Kaltblütigkeit erwiderte ihm Fortunato: Deine Flinte ist nicht mehr geladen. Hast auch nichts zu schießen in deiner Carchera.
Ich habe meinen Dolch!
Kannst du so schnell laufen wie ich?
Er machte einen Satz und brachte sich in Sicherheit.
Du willst der Sohn von Matteo Falcone sein und läßt mich vor eurem Hause gefangennehmen?
Der Knabe war sichtlich betroffen.
Was gibst du mir, wenn ich dich verstecke? fragte er und kam wieder näher.
Der Geächtete griff in die Ledertasche, die er am Gürtel trug, suchte und brachte ein Fünffrankstück hervor, für das er gewiß hatte Pulver kaufen wollen.
Beim Anblick des Silberlings lächelte Fortunato, und er sagte zu Gianetto: Brauchst keine Angst mehr zu haben!
Alsbald machte er ein großes Loch in den Heuschober, der vorm Hause stand. Gianetto kroch hinein, und das Kind verbarg ihn so, daß er nur ein kleines Luftloch zum Atmen hatte, ohne daß man vermuten konnte, ein Mensch stäke im Heu. Erfindungsreich wie ein Wilder, hatte er noch einen Einfall. Er holte eine Katze samt ihren Jungen und setzte sie auf den Schober, damit es aussähe, als hätte ihn in der letzten Zeit niemand berührt. Und da er die Blutspur auf dem Wege zum Hause wahrnahm, streute er sorgsam Staub darüber. Danach streckte er sich in voller Gelassenheit wieder in der Sonne hin.
Wenige Minuten später waren auch schon sechs Soldaten in braunen Röcken mit gelbem Kragen, befehligt von einem FeldwebelFeldwebel, französisch: adjutant. Chamisso, der es als Offizier eigentlich wissen müßte, läßt das Wort fälschlich unübersetzt, ebenso Adolf Laun in seiner Übertragung, und nach ihm getreulich alle andern Verdeutscher., vor Matteos Haus. Dieser Führer war ein weitläufiger Verwandter Falcones; bekanntlich gilt in Korsika die Verwandtschaft in weiteren Graden als sonstwo. Der Feldwebel hieß Tiodoro Gamba; er war ein tatenlustiger Mann, gefürchtet von den Geächteten, denn er hatte ihrer schon manchen aufgestöbert.
Guten Morgen, Vetterchen! sagte er zu Fortunato, indem er vor ihn trat. Bist groß geworden! Sage mir mal, ist nicht eben ein Mann vorübergegangen?
So groß wie Ihr bin ich freilich noch nicht, Herr Vetter, entgegnete der Knabe dummdreist.
Wird nicht lange dauern . . . Aber sag: hast du niemanden vorbeikommen sehen?
Ob ich jemanden habe vorbeikommen sehen?
Ja, einen Mann mit einer Zipfelmütze aus schwarzem Samt, in einem Kittel mit rot und gelbem Besatz.
Einen Mann mit einer Zipfelmütze in einem Kittel mit rot und gelbem Besatz?
Ja doch! Gib flugs Antwort und wiederhole nicht erst meine Fragen!
Heute morgen ist der Herr Pfarrer vor unsrer Tür vorbeigeritten auf seinem Piero. Er hat mich gefragt, wie es dem Vater gehe, und ich habe ihm gesagt . . .
Du willst mich foppen, du Schlingel! Rasch, sag, wohin ist Gianetto? Den suchen wir nämlich, und den Weg da ist er bestimmt heraufgekommen.
Wer weiß?
Wer weiß? Ich weiß, daß du ihn gesehen hast.
Sieht man die Vorübergehenden, wenn man schläft?
Du hast nicht geschlafen, Spitzbube! Die Schießerei hat dich aufgeweckt.
Denkt Ihr denn, Herr Vetter, Eure Flinten machen solchen Lärm? Meines Vaters Stutzen ist viel lauter.
Der Teufel soll dich holen, gottverdammter Bengel! Ich bin überzeugt, daß du den Gianetto gesehen hast. Hast ihn vielleicht gar versteckt. Auf, Kameraden, ins Haus! Schaut nach, ob unser Mann nicht drin ist! Der eine Lauf ist ihm kaputt geschossen, und der Schelm ist nicht so dumm, die Macchia humpelnd erreichen zu wollen. Überdies hört die Blutspur hier auf.
Und was wird Vater sagen? fragte Fortunato höhnisch grinsend, wenn er erfährt, daß man während seiner Abwesenheit in sein Haus gedrungen ist?
Nichtsnutz, sagte der Feldwebel Gamba und nahm den Jungen am Ohr, du weißt doch, daß es in meiner Macht steht, andre Saiten aufzuziehen! Ich denke, fünfundzwanzig mit der flachen Klinge werden dich zum Reden bringen.
Fortunato grinste weiter.
Mein Vater heißt Matteo Falcone! sagte er würdevoll.
Du weißt, kleiner Wicht, daß ich dich nach Corte oder nach Bastia führen lassen kann. Dort wirst du im Loch liegen auf Stroh, Eisen an den Beinen. Und den Kopf lasse ich dir abhacken, wenn du nicht gestehst, wo Gianetto Sanpierro ist.
Bei dieser bösen Drohung brach der Junge in Gelächter aus, und er wiederholte: Mein Vater heißt Matteo Falcone!
Feldwebel, raunte einer der JägerJäger, französisch: Voltigeurs. dem Führer zu, mit Matteo wollen wir lieber keine Händel!
Gamba machte ein verlegenes Gesicht. Er beriet sich leise mit seinen Leuten, die bereits das ganze Haus durchsucht hatten. Das war kein zeitraubendes Geschäft, denn die Hütte eines Korsen enthält nur eine einzige viereckige Stube. Die Einrichtung besteht aus einem Tisch, Bänken, Truhen, Jagd- und Hausgerät.
Während sie sich besprachen, spielte der kleine Fortunato mit seiner Katze, wobei er sich sichtlich an der Ratlosigkeit der Jäger weidete.
Einer der Soldaten ging an den Heuschober und stach mit seinem Bajonett hinein, nachlässig und achselzuckend, als habe er das Gefühl, etwas Lächerliches zu tun. Es rührte sich nichts, und der Knabe verriet nicht die geringste Unruhe.
Der Feldwebel und sein Streiftrupp fluchten. Schon schauten die Soldaten ernstlich nach der Niederung, dem Entschlusse nahe, dahin zurückzukehren, woher sie gekommen, da begann ihr Führer, überzeugt, daß mit Drohungen bei Falcones Sohn nichts zu erreichen war, einen letzten Versuch, um zu sehen, ob mit Schmeichelei und Geschenken mehr zu machen sei.
Vetterchen, sagte er, du hasts faustdick hinter den Ohren. Wirst es weit bringen. Doch mit mir solltest du wahrlich dein Spiel nicht treiben. Ich möchte es meinem Vetter Matteo nicht antun; sonst, der Teufel hol mich, würde ich dich abführen!
Hihi!
Aber wenn mein Vetter heimkommt, werde ich ihm den Vorfall erzählen, und er wird dich zur Strafe braun und blau prügeln.
Fragt sich!
Du wirst es sehen. Aber schau! Sei ein braver Junge! Ich schenke dir auch was.
Und ich, Herr Vetter, gebe Euch einen guten Rat. Wenn Ihr noch länger säumt, wird der Gianetto im Buschwald sein, und dann langt ein Kerl wie Ihr nicht, ihn herauszukriegen.
Der Feldwebel zog seine silberne Uhr aus der Tasche, die ihre zehn Taler wert sein mochte, und wie er bemerkte, daß die Augen des kleinen Fortunato bei ihrem Anblick funkelten, ließ er sie an der stählernen Kette baumeln und sagte:
Was, du Schlingel, so eine Uhr hättest du wohl gern am Halse hängen? Du würdest durch die Gassen von Portovecchio spazieren, stolz wie ein Spanier, und die Leute würden dich fragen: Welche Zeit ist es? Worauf du ihnen antwortest: Hier, seht selber nach!
Wenn ich groß bin, wird mir mein Onkel, der Caporale, eine Uhr schenken.
Ja, aber der Sohn deines Onkels hat schon eine . . . so schön wie die hier ist sie zwar nicht . . . er ist aber auch jünger als du.
Der Kleine seufzte.
Na, Vetterchen, willst du sie, diese Uhr?
Fortunato schielte nach der Taschenuhr wie eine Katze, der man ein ganzes Huhn vor die Nase hält. Sie hat die Empfindung, daß man Scherz mit ihr treibt; sie getraut sich nicht, die Krallen danach auszustrecken; von Zeit zu Zeit wendet sie den Blick ab, um der Versuchung nicht zu unterliegen, leckt sich aber fortgesetzt das Mäulchen und zieht dabei ein Gesicht, als wolle sie fragen: Wozu dies grausame Spiel?
Wie dem auch sei, der Feldwebel Gamba bot seine Uhr offenbar allen Ernstes an. Fortunato hielt seine Hand im Zaum, aber er sagte bitter lächelnd:
Was foppt Ihr mich?
Bei Gott, ich foppe dich nicht! Sage mir bloß, wo Gianetto ist – und die Uhr ist dein!
Um Fortunatos Mund flog ein ungläubiges Lächeln, und indem er seine schwarzen Augen auf die des Feldwebels heftete, suchte er darin zu ergründen, ob er dessen Worten glauben dürfe.
Ich will mich degradieren lassen, rief Gamba, wenn ich dir unter dieser Bedingung die Uhr nicht gebe. Die Kameraden sind Zeugen. Ich kann mein gegebenes Wort nicht zurücknehmen.
Wie er so sprach, ließ er die an der Kette herabhängende Uhr hin und her pendeln, so daß sie der bleichen Wange des Knaben ganz nahe kam. Auf Fortunatos Gesicht spiegelte sich der Kampf, der in seiner Seele zwischen seiner Begehrlichkeit und der Ehrfurcht vor dem Gastrecht tobte. Die nackte Brust schwoll ihm; er rang sichtlich nach Atem. Währenddem ward die Uhr hin und her geschlenkert, wobei sie sich drehte und zuweilen an Fortunatos Nase tippte. Nach einer Weile hob sich langsam seine Rechte nach der Uhr hin; die Spitzen ihrer Finger berührten sie, und schließlich lag sie ihm schwer in der Hand, doch ohne daß der Feldwebel das Ende der Kette losließ . . . Das Ziffernblatt war aus Lasur . . . das Gehäuse jüngst blankgeputzt . . . es flammte in der Sonne wie eitel Feuer . . . Die Versuchung war allzu mächtig.
Fortunato hob nun auch die linke Hand und wies mit dem Daumen über seine Schulter weg nach dem Heuschober, an den er gelehnt stand.
Gamba begriff die Geste sofort. Er gab die Kette frei; Fortunato fühlte sich im Vollbesitz der Uhr. Behend wie eine Hindin richtete er sich gerade und ging zehn Schritte weg vom Heuschober, den die Jäger sofort auseinanderrissen.
Es dauerte nicht lange, da bewegte es sich im Heu, und ein blutbefleckter Mann kroch heraus, den Dolch in der Hand; doch als er versuchte, sich auf seine Füße zu stellen, machte es ihm die geronnene Wunde unmöglich, sich aufrecht zu halten. Er sank um. Der Feldwebel stürzte auf ihn und nahm ihm den Dolch. Alsdann legte man ihm trotz seines Widerstandes starke Fesseln an.
Als Gianetto, wie ein Bündel Reißig verschnürt, auf dem Boden lag, wandte er den Kopf nach Fortunato, der wieder näher gekommen war. Mißgeburt du! sagte er zu ihm mit mehr Verachtung als Zorn.
Der Knabe warf ihm das Silberstück hin, das er von ihm empfangen hatte, im Gefühl, daß er kein Recht mehr darauf hatte. Aber der Geächtete achtete dieser Bewegung nicht. Kaltblütig sagte er zum Feldwebel: Lieber Gamba, ich kann nicht laufen. Ihr müßt mich schon tragen, hinab zur Stadt!
Eben noch liefst du schneller als ein Reh, erwiderte der grausame Sieger. Doch sei beruhigt! Ich bin dermaßen froh, daß ich dich habe, daß ich dich eine Stunde lang auf dem Buckel tragen könnte, ohne matt zu werden. Zunächst, lieber Freund, wollen wir dir eine Bahre aus Ästen und deinem Mantel zurechtmachen. In der Meierei von Crespoli bekommen wir Pferde.
Gut! meinte der Gefangene. Etwas Stroh legt Ihr mir doch auch auf die Bahre, damit ich besser liege.
Wie die Jäger also beschäftigt waren, die einen, aus Kastanienbaumzweigen eine Art Tragebett herzustellen, die andern, dem Gianetto die Wunde zu verbinden, da tauchten mit einem Male Matteo Falcone und sein Weib an der Wendung des Pfades auf, der zum Buschwald führte. Die Frau ging tiefgebeugt unter der Last eines Riesensackes voll Kastanien, während der Mann, der nichts trug als eine Büchse in der Hand und eine zweite am Riemen über der Schulter, wie ein Prälat stolzierte; ist es doch eines Mannes unwürdig, andre Bürde zu tragen als seine Waffen.
Angesichts der Soldaten war Matteos erster Gedanke: Die wollen mich verhaften! Aber warum dieses Mißtrauen? Hatte er mit dem Gericht irgendwie zu schaffen? Keineswegs. Er genoß einen guten Ruf. Er war, wie man zu sagen pflegt, eine wohlbeleumundete Person. Aber er war Korse und Gebirgler, und es gibt unter den Korsen in den Bergen nur wenige, die bei genauer Prüfung ihres Gedächtnisses nicht irgendwelche kleine Sünde fänden, sei es, daß ihnen einmal das Gewehr plötzlich losgegangen oder der Dolch abgerutscht oder sonst eine Bagatelle passiert wäre. Mehr denn sonst einer durfte sich Matteo eines reinen Gewissens rühmen, war es doch schon über zehn Jahre her, daß er einmal sein Gewehr auf einen Menschen angelegt hatte. Immerhin, Vorsicht war geboten, und er setzte sich in Bereitschaft, sich nötigenfalls bestens zu verteidigen.
Weib, sagte er zu Giuseppa, leg deinen Sack nieder und paß auf!
Sie gehorchte ohne weiteres. Er gab ihr die Büchse, die er am Riemen getragen und die ihm jetzt hinderlich sein konnte; die andre, die er in der Hand hielt, machte er schußbereit. Sodann schritt er langsam auf sein Haus zu, dicht an den Bäumen hin, die den Weg säumten, bereit, beim geringsten feindseligen Zeichen schleunigst hinter den dicksten Stamm zu treten, um in Deckung feuern zu können. Sein Weib trottete ihm auf den Fersen nach, mit der zweiten Büchse und der Munitionstasche. Auf Korsika ist es das Amt einer guten Hausgenossin, im Fall eines Kampfes die Gewehre des Mannes zu laden.
Drüben dem Feldwebel ward es arg unbehaglich zumute, als er Matteo derart anrücken sah, Schritt um Schritt, die Büchse schußfertig und den Finger am Abzug.
Sollte es der Zufall gefügt haben, dachte Gamba bei sich, daß sich Matteo als Vetter oder Freund von Gianetto ansieht und er ihn heraushauen will, so wird die Ladung von zwei Flinten zweien von uns so sicher aufs Fell brennen wie der Donner dem Blitze folgt; und nimmt er mich ins Visier, so nutzt mir alle Vetternschaft nichts.
In so hochnotpeinlicher Lage faßte er einen sehr mutigen Entschluß, nämlich, Matteo allein entgegenzugehen und ihm das Geschehnis zu erzählen, wobei er ihn vertraulich anreden wollte. Doch der kurze Raum, der zwischen ihm und Matteo lag, kam ihm erschrecklich lang vor.
Halloh, alter Kamerad! schrie er. Wie geht es dir? Ich bins, Gamba, dein Vetter!
Ohne etwas zu erwidern, war Matteo stehengeblieben und bei jedem Wort, das der Andre sprach, hob er die Mündung seiner Büchse ein wenig, so daß der Lauf gen Himmel gerichtet war, im Moment, da Gamba bei ihm anlangte.
Buon giorno, fratello! (Das ist der übliche Gruß auf Korsika: Guten Tag, Bruder!) sagte der Feldwebel, indem er ihm die Rechte bot. Es ist lange her, seit ich dich nicht gesehen habe.
Buon giorno, fratello! wiederholte Matteo.
Ich wollte dir und meiner Base Peppa im Vorübergehn Guten Tag sagen. Wir haben heute einen tüchtigen Marsch hinter uns; aber wenn wir auch müde sind, wir dürfen nicht klagen, denn wir haben einen famosen Fang gemacht. Eben haben wir den Gianetto Sanpierro erwischt.
Gott Lob und Dank! rief Giuseppa. Er hat uns vergangene Woche eine Milchziege gestohlen.
Solches hörte Gamba mit Vergnügen.
Armer Teufel! murmelte Matteo. Er hatte Hunger. Der Bursche hat sich wie ein Löwe verteidigt, fuhr der Feldwebel fort, etwas eingeschüchtert. Er hat mir einen meiner Jäger niedergeknallt, und nicht zufrieden damit, dem Sergeanten Chardon den Arm zerschossen, was nicht weiter schlimm ist, denn Chardon ist bloß ein Franzose. Zuletzt hat er sich so gut versteckt, daß ihn auch der Teufel nicht entdeckt hätte. Ohne Vetterchen Fortunato hätte ich ihn nie und nimmer gekriegt.
Fortunato? schrie Matteo.
Fortunato? echote Giuseppa.
Ja, Gianetto hatte sich da im Heuschober verkrochen, aber Vetterchen hat mir das Versteck gezeigt. Ich werde es auch seinem Onkel, dem Caporale, berichten, damit er ihm für seine Mühe ein schönes Geschenk schickt. Und sein wie dein Name soll im Bericht nicht fehlen, den ich dem Herrn Staatsanwalt überreichen werde,
Verfluchte Geschichte! flüsterte Matteo vor sich hin. Sie hatten den Streiftrupp erreicht. Gianetto war bereits auf die Bahre gebettet. Eben sollte aufgebrochen werden. Als er Matteo zusammen mit Gamba erblickte, lächelte er eigentümlich; dann, gegen die Haustüre gewandt, spuckte er auf die Schwelle und sagte: Verräterhaus!
Nur ein Mann, der mit dem Leben abgerechnet hat, konnte es wagen, Falcone das Wort Verräter ins Gesicht zu schleudern. Ein Dolchstoß, dem kein zweiter hätte zu folgen brauchen, hätte den Schimpf im selben Augenblick gerächt. Doch Matteo tat nichts; nur machte er eine Handbewegung nach der Stirn wie einer, der sich Höherem fügt.
Fortunato war ins Haus gegangen, sowie er den Vater kommen sah. Bald kam er wieder zum Vorschein, mit einem Topf Milch, den er mit gesenktem Blick Gianetto darbot.
Weg von mir! schrie der Geächtete mit Donnerstimme ihn an. Darauf sagte er zu einem der Jäger: Kamerad, gib mir zu trinken!
Der Soldat legte ihm seine Feldflasche zwischen die Hände, und der Geächtete trank das Wasser, das ihm ein Mensch reichte, mit dem er kurz zuvor Flintenschüsse gewechselt hatte. Dann bat er, man möge ihm die Hände anstatt unter dem Rücken über der Brust zusammenbinden.
Ich liege gern bequem, sagte er.
Man beeilte sich, ihm zu willfahren. Darauf gab der Feldwebel das Zeichen zum Aufbruch, nahm Abschied von Matteo, ohne Antwort zu erhalten, und begann raschen Schritts den Abstieg.
Etwa zehn Minuten verstrichen, ehe Matteo den Mund öffnete. Der Knabe schaute mit unruhigem Auge bald zu seiner Mutter, bald zu seinem Vater, der ihn, auf seine Büchse gestützt, mit dem Ausdruck maßlosen Ingrimms betrachtete.
Endlich sagte er: Dein erstes Stück war gut!
Diese Worte klangen kühl, grausig aber dem, der den Sprecher kannte.
Lieber Vater! rief der Knabe, Tränen in den Augen und näher kommend, offenbar, um vor ihm auf die Knie zu fallen.
Matteo jedoch schrie: Zurück von mir!
Da blieb das Kind stehen und schluchzte. Regungslos stand es etliche Schritte vor seinem Vater.
Giuseppa trat hinzu. Sie hatte die Uhrkette bemerkt, die aus Fortunatos Hemd hervorblinkte.
Von wem hast du die Uhr? fragte sie in strengem Tone.
Vom Vetter Gamba.
Falcone riß die Uhr an sich und schleuderte sie mit aller Gewalt gegen einen Stein, an dem sie in tausend Stücke zerschellte.
Weib, rief er, ist der mein Blut?
Giuseppas Wangen wurden ziegelrot.
Was sagst du, Matteo? Weißt du, mit wem du redest?
Der erste Sproß meines Stammes, der ein Verräter ist!
Fortunatos Seufzen und Stöhnen wurde immer heftiger. Falcone starrte mit seinen Luchsaugen scharf auf ihn. Endlich stieß er den Kolben seines Gewehres zu Boden, warf es über die Schulter, schlug wieder den Weg nach der Macchia ein und schrie Fortunato zu: Mir nach!
Das Kind gehorchte.
Giuseppa lief hinter Matteo her und faßte ihn am Arm.
Es ist dein Sohn! sagte sie mit bebender Stimme, indem sie den Blick ihrer schwarzen Augen in die ihres Mannes bohrte, wie um darin zu lesen, was in seiner Seele vorging.
Laß ab! erwiderte Matteo. Ich bin sein Vater.
Giuseppa umarmte ihren Sohn und zog sich weinend in die Hütte zurück. Vor einem Bilde der Madonna warf sie sich auf die Knie und betete inbrünstig. Währenddem ging Matteo zweihundert und einige Schritte den Pfad hin und machte erst vor einer kleinen Schlucht halt, in die er hinabstieg. Er versuchte den Boden mit dem Gewehrkolben und fand ihn weich und leicht aushebbar. Die Stätte dünkte ihm passend für sein Vorhaben. Fortunato, stell dich an den großen Stein dort!
Das Kind tat, wie ihm geheißen. Dann kniete es nieder.
Bete!
Vater, Vater, Ihr wollt mich töten?
Bete! wiederholte Matteo mit schrecklicher Stimme.
Weinend, schluchzend stammelte das Kind das Pater und das Credo her. Mit fester Stimme sprach der Vater jedesmal das Amen nach.
Sind das alle Gebete, die du weißt?
Lieber Vater, ich kann noch das Ave Maria und die Litanei, die mich die Tante gelehrt hat.
Die ist lang, doch in Gottes Namen!
Das Kind sagte die Litanei bis zu Ende her, mit immer leiser werdender Stimme.
Bist du fertig?
Gnade, lieber Vater! Verzeiht mir! Ich wills nicht wieder tun. Ich werde den Vetter Caporale bitten, daß er Gianetto laufen läßt.
Noch redete Fortunato. Matteo hatte den Hahn gespannt und legte das Gewehr an die Wange.
Gott sei dir gnädig! murmelte er.
Der Knabe machte einen verzweifelten Versuch, aufzustehen und die Knie seines Vaters zu umklammern, aber er kam nicht mehr dazu.
Matteo drückte ab, und Fortunato fiel tot nieder.
Ohne dem Leichnam einen Blick zu gönnen, schlug Matteo den Heimweg ein. Er wollte einen Spaten holen, seinen Sohn zu begraben.
Er hatte nur wenige Schritte zurückgelegt, als er Giuseppa begegnete, die, aufgeschreckt durch den Schuß, herbeilief.
Was hast du getan? schrie sie.
Gerechtes!
Wo liegt er?
In der Schlucht. Ich will ihn begraben. Er ist als Christ gestorben. Ich lasse ihm eine Messe lesen. Sage meinem Schwiegersohn Tiodoro Bianchi, er soll fortan mit in unserm Hause wohnen!