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Kapitel XXXI. Das Dahinschmelzen der tausend Pfund

Die tausend Pfund waren endlich in Algernons Händen. Früh am Nachmittag hatte er sich von Boynes Bank fortgeschlichen, um den Wechsel einzulösen und das Geld in seiner Tasche zu fühlen, ehe die Sonne dieses Tages sich ihrem Untergange zuneigte. Da war eine Fünfhundertpfundnote, vier Hundertpfundscheine und zwei Fünfziger. Und alles dies war durch das simple Hinschreiben seines Namens als Empfängers dieser Summe zu ihm gewandert!

Es war wirklich dazu angetan, sich direkt in die Zivilisation zu verlieben. Hat man erst einmal das Geld in der Tasche, kommt es einem immer vor, als wäre es leicht dahingekommen, selbst, wenn man dafür gearbeitet hat; hat man aber keinerlei Arbeit dafür getan und findet es trotzdem dort, so wird es (im Falle es sich um einen Schmetterlings-Jüngling, das typische Kind eines wohlhabenden Landes, handelt) Gefühle eines wahren Freudenrausches auslösen, die jenem Glücklichen Schwingen verleihen, welche ihn über alle irdische Mühsal hinaustragen.

Er kannte geradezu die Züge der Banknoten. Jener wackere, alte Fünfhunderter, der es zu einem Tausender hätte bringen können, wenn er es nicht vorgezogen hätte, sich großmütigerweise in Zenturionen und Tirailleurs zu spalten, wurde in seiner Phantasie zu einem hünenhaften, weißhaarigen Kriegsmann, der sonder Tadel aus dem Gemetzel der Schlachten und dem Geplänkel der Hofintriguen hervorgegangen war, etwa wie Blücher am Hofe des Regenten von Waterloo. Die Hunderter waren seine Generale, die Fünfziger seine Hauptleute, und jeder derselben besaß wiederum die unbegrenzte Fähigkeit, sich in nützliche Regimenter zu zerspalten, sobald ihr Herr, Algernon, den Befehl ausgab.

Er mochte sich kaum leise eingestehen, daß es die größte Summe Geldes sei, die er jemals bei sich getragen, aber da es sein Vergnügen daran erhöhte, machte er sich dennoch für eine halbe Sekunde das Eingeständnis. Fünfhundert auf einen Fleck – schon eine solche Summe hatte er niemals besessen. Es erschien ihm wie ein Bollwerk gegen jedes Mißgeschick des Lebens.

Für einen jungen Mann, der im allgemeinen in Verlegenheit war, seinen Droschkenkutscher zu bezahlen, und vor kurzem sogar die Schwierigkeit kennen gelernt hatte, sich ein Mittagessen zu verschaffen, war das erhebende Gefühl, das von der Summe ausströmte, geradezu berauschend. Aber allzuviel über die Fünfhundert nachzusinnen, wurde den Fünfzigern gefährlich, sie schrumpften dadurch zu solcher Bedeutungslosigkeit zusammen, daß es für ihre Selbstachtung geradezu gefährlich werden konnte. Daher richtete Algernon, im Verfolg einer großartigen Taktik, sein Vorstellungsvermögen auf ein paar vereinzelte Schillinge, die er in seinem Besitz hatte, den Rest von fünf Pfund, welche er von dem alten Anton geborgt hatte, als dieser das ihm an jenem Theaterabend geliehene Pfund samt Zinsen von ihm zurückzuerlangen gesucht hatte. Algernon hatte ihm, sowohl in dieser Beziehung, wie auch hinsichtlich seiner Bekanntschaft mit Dahlia, den Mund zu stopfen gewußt, indem er sofort einen Versuch zu einer neuen Anleihe machte, sowie Anton es irgendwie auf eine Unterredung unter vier Augen mit ihm anlegte. Ein Gläubiger, dem er ein Pfund schuldig war, besaß keine sonderliche Schrecken für ihn, und er wußte sich den alten Mann geschickt vom Leibe zu halten, indem er – wie schon früher – sagte: »Wahrhaftig, ich kenne das junge Frauenzimmer nicht, von dem Sie sprechen, ich bin ihr oder jemand, der ihr ähnlich sah, ein oder das andere Mal begegnet,« – und alsbald in gedämpftem Ton fortfuhr: »Übrigens, mir ist eben das Kleingeld etwas ausgegangen, – wie ist es, könnten Sie vielleicht mit irgendeiner unbedeutenden Kleinigkeit –,« auf welches Stichwort hin Anton sofort die Flucht ergriff.

Aber an dem Tage, der die Epsom-Rennen abschloß, gab er Anton einen geheimen Wink, ihm aus dem Kontor heraus zu folgen und erbot sich freiwillig dazu, ihm Mitteilungen hinsichtlich Dahlias zu machen, die er soeben erhalten hätte.

»O,« sagte Anton, »ich habe sie gesehen.«

»Das habe ich nicht,« sagte Algernon, »auf Ehre nicht.«

»Ja, Herr, ich habe sie gesehen und zu meinem Bedauern gehört, daß es ihrem Manne ein bißchen schlecht geht.« Anton deutete auf seine Tasche. »So was man ›Ebbe‹ nennt, wissen Sie!«

Algernon ließ alsbald ein Kompliment auf ihn los, das den eitlen alten Kerl geradezu elektrisierte, er mochte wollen oder nicht, und das dahin zielte, anzudeuten, daß Antons Fluten den Einflüssen des wechselnden Mondes nicht unterworfen seien.

»Nun, nun, Mr. Blancove, solche Vorstellungen von mir dürfen Sie sich nicht machen. Ich will ja nicht gerade sagen, daß ich nicht reicher wäre, wenn ich alles das hätte, was ich an Schulden ausstehen habe.«

»Dann könnten Sie sich überhaupt nicht mehr ohne Schutz sehen lassen, Sie wandelnder Goldbarren,« sagte Algernon, der immer eine feine Witterung für die Schwächen anderer hatte, »dann dürften Sie nur noch mit einer Sicherheitswache zu beiden Seiten ausgehen und müßten in einem eisernen Geldschranke schlafen.«

Das Ende der Unterhaltung war der Besuch eines Wirtshauses und die Übermittelung einer neuen rechtskräftigen Urkunde von Algernon an Anton. Der letztere verabschiedete sich mit einem Stöhnen über die fünf Pfund, zehn Schilling auf dem Papier, der andere frohlockend über seine fünf Pfund in Gold. Das war am Sonnabend. Am Montag waren nur noch ein paar Schilling von den fünf Pfund, aber sie genügten, eine Droschke zu bestellen und – sofern man bescheidene Ansprüche auf ein Mittagessen auf die Tagesordnung setzte, – zu einem Diner. Algernon ließ sich in den Westen fahren.

Er erinnerte sich daran, wie sorglos er sich ehemals inmitten dieses modernen Strudels gefühlt hatte, aber als er die Wege jetzt hinabschritt, empfand er, wie gesetzt er jetzt geworden sei. Eine gewisse Equipage, ein Pferd stach ihm ins Auge, und sonst, pfenniglos wie er war, würde. er gesagt haben: »Das ist gerade mein Fall!« Jetzt zog er im Gegenteil die möglichen Kosten der Sache in Betracht, sagte zu sich selbst: »Wie ist's?« und antwortete mit schwachem Widerstreben »Nein«, um alsbald in bestimmterem Tone hinzuzufügen: »Ist nichts für mich!«

Er steigerte sich keineswegs nur in das Gefühl hinein, mit den Leuten, die er ringsum sah, auf gleichem Fuße zu stehen. Ein Mann, der in der Lage ist, um tausend Pfund darauf zu wetten, daß kein anderer der Anwesenden eine solche Summe in der Tasche hat, kann sich schwerlich seiner Umgebung nicht ebenbürtig fühlen.

Reitende Damen zu Pferde kamen in leichtem Galopp an ihm vorüber. »Mögen sie doch,« dachte er. Noch tags zuvor hätte ihn der Anblick einer dieser Reiterinnen von großartigen Verbindungen träumen lassen. Wenn man es sich leisten kann, ein Junggeselle zu sein, liegt der Fall ganz anders. Nach einer Weile, – wer anders sollte an ihm vorüberreiten, als Mrs. Lovell! Sie sprach in ernsterem Tone, als es ihr stand, mit jenem dunkeläugigen, gewandten Menschen, jenem Manne, der ihn geradezu wild dadurch gemacht hatte, daß er in die Opernhaus-Loge gekommen war.

»Armer, alter Ned!« sagte Algernon, »ich muß ihn doch warnen.« Aber er wußte, daß das bloße Aufheben eines Fingers, ein aufs Papier geworfener Wink Edward sofort von Paris herüberbringen würde, und das lag durchaus nicht in seinem Plan, so beschloß er nur, gelegentlich seinem Vetter zu schreiben.

Eine Flut abendlichen Goldes lag über dem Park des Westens.

»Das Großartige an diesem Platze ist das,« sagte Algernon zu sich selbst, »daß man hier niemand als Gentlemen trifft,« und der Gegensatz zu den Rennplätzen von Epsom machte sich ihm angenehm bemerklich.

Ein abergläubisches Entsetzen packte ihn, als er – indem er seine Augen umherschweifen ließ, unter den Gruppen geschmackvoll gekleideter Menschen Sedgett gewahrte, – eine so unharmonische Figur wie möglich in diesem Milieu, der sich in seiner Unbeholfenheit augenscheinlich dessen bewußt war, denn er vermochte weder in seinen Bewegungen noch in seinem Aussehen den Anschein eines Menschen zu erwecken, dem es in seiner Haut wohl ist. Algernon drehte sich kurzerhand um und ging denselben Weg zurück, den er gekommen, aber Sedgett hatte gute Augen.

»Hab' so viel von London gehört« – schlug alsbald der verhaßte Klang seiner Stimme an Algernons Ohr, – »bün auch schon mal früher in London gewesen, wollte mal 'n büschen von die Vornehmen sehen, – Teufel noch mal, so 'ne nette Gesellschaft sieht man nicht leicht auf 'n Haufen! Das is' schon 'n kleinen Spaziergang von 'ner Stunde wert. Sünd Sie oft hier, Herr?«

»Wie beliebt? Wer sind Sie? O!« sagte Algernon, halb toll vor Wut. »Entschuldigen Sie,« und er ging rascher.

»Mein'twegen können wir fufzigmal hier auf un' ab pendeln, wenn Ihnen das Spaß macht,« erwiderte Sedgett gutgelaunt, »'n feiner Anblick, die Pferde! Was? Ich mag hier noch lieber sein a's auf 'n Rennplatz. Un' was die Damens sind – ach was, Damens hin, Damens her! wenn mein Schatz man erst Zeit kriegt, daß ihr Haar wiederwächst un' sie wieder frische Farben kriegt, Teufel noch mal, denn will ich doch gleich stockblind sein, wenn sie nich' gerad' so fein is', wie eine von diesen hier! Un' das soll sie auch! Australien soll mal was zu sehen kriegen! Ich muß Ihn'n noch dankbar sein, daß Sie mir damit bekannt gemacht haben, un' sei'n Sie man nich' bange, ich vergess' das schon nich'.«

Sobald sie an eine größere Menge Menschen kamen, vermochte Algernon es, seinem Verfolger dadurch zu entkommen, daß er sich sehr rasch seinen Weg bahnte, aber die freien Zwischenräume gaben ihn ohne Gnade der Bloßstellung preis, neben ihm gesehen zu werden, und er floh mit einer geradezu staunenerregenden Geschicklichkeit vor Augen, die seine Einbildungskraft verzehnfachte. Die Spitzen seiner Finger, die Wurzeln seiner Haare prickelten ihm vor Ärger, und wie geschickt er auch manövrieren mochte, immer blieb Sedgett ihm auf den Fersen.

»Sie können mich in meiner Wohnung aufsuchen!« sagte er gebieterisch.

»Sie sünd ja nie zu Hause, Herr.«

»Kommen Sie morgen früh um zehn.«

»Um eine große schwarze Tür zu sehen und daran zu stoßen, bis mir die Zehen durch die Stiefel durchkommen! Danke vielmals!«

»Ich sage Ihnen, ich verbitte es mir, daß Sie mich öffentlich belästigen, ein für allemal!«

»Was is' denn los, Herr? Mir däucht, wir sünd doch letztes Mal ganz freundschaftlich aus'nandergegangen. Haben Sie mir nich' die Hand geschüttelt? na, wie is' es? Haben Sie mir die Hand geschüttelt oder nich'? Ich will wissen, ob Sie mir die Hand geschüttelt haben oder nich', Herr? 'ne runde Antwort! Wir hatten ja so 'n lütten Tanz mit'nander, bei 'n Nachhausefahren. Das geb' ich ja zu. Aber wenn man sich danach die Hand schüttelt, dann heißt es doch: ›Na, nun sünd wir wieder gute Freunde‹. Ich weiß ja, daß Sie 'n vornehmen Herrn sünd, un' 'n Mann wie ich sollte woll nich so frech sein un' 'n besseren hauen. Na ja, aber sehen Sie, ›Voll-von-Bier‹, das 'n hitzigen Racker, un' der is' gleich hoch, un' nachher, ja, denn tut's einen leid.«

Ein glorreicher Gedanke stieg in Algernon auf. Er zog fünf Schilling aus der Tasche, reichte sie Sedgett hin, hieß ihn nach seiner Wohnung fahren und dort auf ihn warten. Sedgett nahm das Geld, aber es waren verlorene fünf Schilling. Er tat nicht im geringsten, als habe er irgendwelchen Auftrag erhalten, und es war ausgeschlossen, ihn gebieterisch anzureden, ohne sich Bemerkungen lebhafter Art von Seiten der eleganten Menschengruppen auszusetzen, die umherstanden, oder -saßen.

Der junge Harry Latters fing einen Blick Algernons auf, niemals wurde ein Jüngling wohl freudevoller begrüßt. Harry sprach von dem Rennen am Freitag und von dem Abfall des Rennpferdes Tenpenny-Nail. Ein Herr ging mit einem Kopfnicken und einem »Wie geht's?« vorüber und empfing seinerseits ein kühles Anstarren als Erwiderung.

»Wer ist das?« fragte Algernon.

»Der Sohn eines hohen Würdenträgers.«

»Und Sie schneiden ihn?«

»Sie sehen, ich kann es tun, wenn es zur öffentlichen Pflicht wird.«

»Was ist denn los mit ihm?«

»Er ist einfach ein Gauner, ein Grieche, ein Betrüger, ein Schwindler oder was Sie sonst wollen,« sagte Harry. »Keiner von uns grüßt einen berufsmäßigen Spieler, und ich habe keine Lust, mit einem Amateur von der Sorte einen Gruß, zu wechseln. Ich bin 'n bißchen eigen in dergleichen. Er befand es für gut, an dem gegebenen Tag vorig Jahr abwesend zu sein; schön, von dem Tage an gilt er mir in toto für abwesend. ›Nichts von euren Rrrrr–n, Rechnereien, laß uns doch die ganze Sache in toto rrrr–n!‹ Sie kennen doch Sucklings famose Geschichte von dem Yankee-Kerl? Übrigens, auf übermorgen, ja? Dann essen Sie mit mir und Suckling im Klub.«

Andere Freunde riefen Latters an. Algernon mußte ihn notgedrungen gehen lassen. Er kroch unter dem eisernen Geländer durch und kreuzte laufend die Hauptstraße; ein völlig ungehöriges Unterfangen, aber er konnte es nicht helfen. Seine Hoffnung war, daß Sedgett nicht die gleiche Kühnheit besitzen würde, oder daß man ihn, wenn er sie hätte, daran hindern würde, und Algernons Lohn für eine so logische Berechnung war, daß er sich, als er sich umsah, wirklich befreit fand. Eiligst schlüpfte er aus dem Park heraus. Sedgetts Gegenwart wirkte auf die tausend Pfund mit einer so tödlichen Gewalt wie ein Torpedo.

Eine Viertelstunde lang hatte Algernon nicht das geringste von ihnen verspürt. Der Gedanke an eine Droschke, um seines Erstaunens ganz gewiß zu sein, tauchte ihm auf, und er würde eine angerufen haben, hätte ihm nicht seine neuerdings erregte Sparsamkeit, die wie ein Spuk in ihm waltete, daran gemahnt, daß er soeben fünf Schilling in die Gosse geworfen habe. Für vier und einen halben Schilling konnte ein Mensch mit bescheidenen Ansprüchen zu Mittag essen und sich sogar noch eine bescheidene halbe Flasche Wein dazu leisten, und die Summe besaß er. Um sich selbst ein bißchen zu quälen und sich bei der Vorsehung etwas einzuschmeicheln, beschloß er, an diesem Tage nicht Wein, sondern Bier zu trinken. Er sagte den Namen des Getränkes vor sich hin: ein halbes Maß Ale, und lachte, wie es einem königlichen Ökonomie-Kommissar wohl ansteht, der sich selbst ein wenig kurz hält, nur weil's ihm selbst Spaß macht.

»Kollossal fidel, was, Herr?« sagte Sedgett unmittelbar neben ihm.

Algernon drehte sich um und stieß einen grimmigen Fluch aus, so lang er war, so jäh war sein Entsetzen und so stark sein Widerwille.

»Das Spiel will ich Ihnen versalzen,« sagte Sedgett.

»Infamer Schurke!«

»Nehmen Sie sich mit dem Schimpfen in acht!«

»Was wollen Sie von mir?«

»Das will ich Ihnen sagen, Herr. Ich wünsche weder zu einem Hahnenkampf, noch zu einem Wettlokal zu gehen.«

»Hier, kommen Sie diese Straße herauf,« sagte Algernon, indem er ihm von der Hauptstraße der eleganten Welt in eine düstere Nebengasse voranschritt. »Also jetzt, was wollen Sie von mir? Hol' Sie der Teufel!«

»Na, Herr, mich wird der Teufel sobald noch nicht holen, darauf will ich doch gleich –, na, da fang' ich auch schon mit 'n Fluchen an. Kurz und gut – ich muß etwas Geld haben, ehe die Woche um ist.«

»Von mir kriegen Sie keinen Heller!«

»Das is' deutlich, wenn ich's auch nich' in der Tasche hab',« sagte Sedgett grinsend. »Ich sag' Ihnen, Herr, mit allem Respekt, den Sie haben wollen, ich muß Geld haben. Ich muß die Passage auf 'n Schiff bezahlen, für mich und meine Frau, und schnell muß es sein. Da sind auf beiden Seiten Sachen zu kaufen, 'n kleinen Vorschuß, un' denn will ich Sie auch nich' weiter belästigen. Sagen wir fufzig. Fufzig, un' denn sollen Sie mich bis Sonnabend nich' wiedersehen. Denn woll'n Sie mir ja, wie abgemacht, das Geld an der Kirchentür einhändigen, un' dann woll'n wir uns adjüs sagen auf Nimmerwiedersehen. Immer fidel! – ich will mal 'n büschen singen!«

Algernons Widerwille gegenüber der Gemeinheit und Roheit dieser Spitzbubenart vertiefte sich fast zu einem Gefühl des Hasses, während er Sedgett zuhörte.

»Ich werde nichts Derartiges tun,« sagte er, »keinen Heller werden Sie kriegen. Machen Sie, daß Sie wegkommen! Wenn Sie mir folgen, werde ich Sie einem Polizisten in Verwahrsam geben.«

»Wenn Sie das man wagen!« sagte Sedgett mit einem schlauen Zwinkern.

Er konnte, dank der Seelenverwandtschaft in seiner eigenen Feigheit, eine physische Schwäche ebenso rasch herausfinden, wie Algernon durch die gleiche Art von Bruderschaft eine moralische.

»Sie wagen es nicht,« fuhr Sedgett fort. »Und warum sollten Sie es auch, Herr, es liegt ja nicht der geringste Grund dafür vor. Ich bin 'n höflicher Mann. Ich verlang' nichts anderes, als was mir gehört, nichts anderes, als was im Grund' schon mein ist. Ich nenn' den Handel gut. Warum sollt' ich 'n nich' halten? Ich hab' das Geld bös' nötig. Das Land hier hängt mir zum Hals heraus. Ich möcht' mit 'n ersten besten Schiff los, was abgeht. Können Sie mir nich' wenigstens zehn geben bis morgen? Un' denn die anderen vierzig? Ich hab' sie, wahrhaftigen Gott, nötig. Kommen Sie, daß Sie so rennen, hat gar keinen Zweck, meine Beine sünd gerad' so gut a's Ihre.«

Algernon hatte sich zu der großen Hauptstraße zurückgewandt. Er fürchtete, zehn Pfund müßten diesem quälenden Dämon des Fleisches wohl geopfert werden, und er suchte den Anblick seiner wohlgekleideten Gefährten, um seinen Widerstand daran zu stärken. Es wollte ihm kein Vorwand mehr einfallen, Drohungen waren augenscheinlich nutzlos. Dennoch verursachte ihm der Gedanke, eine der Banknoten zu wechseln, und zwar für ein so unwürdiges Geschöpf, Gewissensqualen, die ihm noch eine Weile halfen, seinen unentwegt neben ihm hertrottenden Schritt und seine unflätige. Zunge zu ertragen. Dies ging so lange, bis die Hand einer Frau, die aus einer Droschke heraus winkte, ihn stutzen ließ. So wenig einwandsfrei ein derartiges Zeichen war, so nahm er doch bestimmt an, es gelte ihm, und überlegte gerade, ob er seinen Hut lüften oder nur mit einem Lächeln für die erwiesene Gunstbezeichnung quittieren sollte, wie ein Mann, der sich immerhin bevorzugt, aber nicht allzu geschmeichelt fühlt, als die Droschke anhielt und die Frau: »Sedgett!« sagte. Es war eine gut aussehende Frau, von kräftiger Gesichtsfarbe, mit braunen Augen und derbem Auftreten.

»Was für 'n Beest du bist, Sedgett, nich' zu Hause zu sein, wenn du mich mit allen Kisten und 'n Bettzeug un' alles nach London kommen läßt! Guter Gott, das is' wahrhaftig 'n Glückstreffer, daß ich dich noch gerad' erwische, sonst wär' ich gleich nach 'n Dock 'runtergefahren un' hätte mich nach 'n Schiff umgekuckt. Du bist wirklich 'n Beest. Nu' komm mal gleich 'rein.«

»Wenn du hier mit Schimpfwörtern um dich schmeißt, hab' ich auch gleich ein oder zwei für dich auf Lager,« knurrte Sedgett.

Algernon hatte genug gehört. Überzeugt, daß er Sedgett nun Händen überlassen hätte, die ihn sobald nicht wieder freigeben würden, eilte er mit elastischem Schritt vorwärts. Nach diesen Qualen hatte er ein starkes Verlangen nach Wein. Wo würde man ihm Kredit gewähren? Es war ja wahr, er sah jetzt mit lächelnder Verachtung auf das blumige Land des Kredits herab, aber trotzdem hätte ihm der Eintritt in dasselbe durch irgendein Hintertürchen augenblicklich recht gut gepaßt, wäre ihm doch damit die Möglichkeit geboten, sich mit Hilfe eines wohltuenden Mittagessens zu sättigen und zu erfrischen, während er seine Tausend intakt in der Tasche behielt. Doch ließ er die Betrachtungen über irgendwelchen Kredit und seine vorübergehenden Reize alsbald fahren. »Ich will überhaupt nicht zu Mittag essen,« sagte er.

Eine Bettlerin streckte ihm die Hand hin – er ließ einen Schilling hineinfallen.

»Hol's der Kuckuck, wenn ich mir das leisten kann,« war seine nächste Erwägung, und er trat mit den übrigen dreieinhalb Schillingen in einen Tabaksladen und kaufte Zigarren, um sich vor der Extravaganz weiterer Wohltätigkeit zu bewahren. Nachdem er dem Tabakshändler mit ernster Miene Vorwürfe gemacht hatte, daß seine Zigarren immer teurer würden, trat er wieder ins Freie mit dem Gefühl einer außerordentlichen Leere. Die Ursache hiervon wurde ihm alsbald klar und machte ihm Spaß. Da er von jeher an den Geruch von Tabak gewöhnt war, wenn er vom Mittagessen kam, schien es ihm, als die Düfte des Ladens ihm in die Nase stiegen, als richte ein inquisitatorischer Geist Fragen an sein Inneres, und als äußere er alsbald seine Mißbilligung über die Hohlheit, der er daselbst begegnete.

»Was hilft's? Ich kann nicht zu Mittag essen,« murmelte er, sich vor sich selber rechtfertigend. »Eine von den Banknoten wechseln will ich nicht, und zu Mittag essen will ich auch nicht, 'n Klub hab' ich nicht. Und es ist kein anständiger Kerl zu sehen, der mich vielleicht zu Tisch bitten könnte. Ich will nur langsam nach Hause schlendern. Da ist noch etwas Sherry.«

Aber Algernon wußte nur allzu gut, daß er sich aus dem Sherry gar nichts mache.

»Ich habe von jungen Leuten gehört, die sich zu Hause Würste kochten und von so was wie zwei Schilling den Tag lebten,« meinte er nachdenklich; und dann fiel es ihm plötzlich ein, daß Mrs. Lovells Paket mit zurückgesandten Schmucksachen zu Hause in einer seiner Schubladen liege, – das heißt, im Falle die Wäscherin es unberührt da hatte liegen lassen.

In einer plötzlichen, tödlichen Aufregung rief er eine Droschke herbei und fuhr wie im Fieber nach dem Temple. Als er das Paket unbeschädigt dort liegen fand, steckte er ein paar Ringe und den Schmuck mit dem Opal in die Westentasche. Natürlich mußte der Droschkenkutscher bezahlt werden, so mußte eins der Kleinodien verpfändet werden. Welches sollte es sein? Der Diamant oder der Opal? Ein Dutzend Mal die Sachen vertauschen und dann das Schmuckstück in der rechten Hand! Der Opal! Schön, also soll es der Opal sein. Wieviel mochte der Opal ihm eintragen? Darüber kann der Pfandleiher jedenfalls die beste Auskunft geben. So fuhr er zu einem Pfandleiher, zu einem, den er kannte. Der Pfandleiher bot ihm fünfundzwanzig Pfund für den Opal.

»Was in aller Welt können Leute Ehrenrühriges darin finden, in ein Pfandbüreau zu gehen?« fragte sich Algernon, während er seinen Schein und die fünfundzwanzig Pfund in Empfang nahm und gleichzeitig den erstaunten Blick eines Mannes, der jenseits einer Querwand verhandelte, zurückwies.

»Es gibt wenige seinesgleichen im Königreich,« sagte er zu dem Pfandleiher, welcher leicht mit dem unseligen Opal spielte.

»Ja, wer weiß? Vielleicht! Mag schon sein,« räumte der Pfandleiher bereitwillig ein, nun das Übereinkommen getroffen war.

»Ich werde Ihnen denselben nicht lange überlassen können.«

»Sie können ihn zurückholen, sobald Sie Lust haben, Herr.«

Algernon bemerkte, als er sich wegwandte, daß der Mann jenseits der Querwand, der mehr das Aussehen eines gewandten jungen Verkäufers als das eines irgendwelcher Anleihe oder Garantie Bedürftigen machte, sich vorbeugte, um den Opal zu betrachten, und er hörte zweifellos seinen Namen aussprechen. Das machte ihn wütend, aber die Klugheit riet zu einem ruhigen Verhalten an diesem Orte und verbot irgendwelchen Streit mit dem Pfandleiher. Zudem schrie seine ganze Natur nach einem Mittagessen. So dinierte er denn und trank seinen Wein, so gut wie ihn, nur irgend jemand für Geld bekommen konnte (behauptete er kühn), denn er kannte die Restaurants, deren Keller einen altehrwürdigen Ruf besaßen.

»Ich würde einen erstklassigen Reisemarschall für einen Millionär abgegeben haben,« sagte er mit verächtlicher Aufrichtigkeit, ohne indessen auf die Lage der Dinge zu schelten, die ihn als Gentleman hatten zur Welt kommen lassen. Da er eine geraume Weile, ohne auch nur ein Bein zu bewegen, über seinen Wein gesessen hatte, gab er sich dem guten Glauben hin, er habe tief nachgedacht, aus welchen Tiefen er plötzlich mit sehr ähnlichen Empfindungen wie einer, der ein wenig geschlummert hat, emporfuhr und ein plötzliches Mißbehagen in Kopf und Gliedern verspürte.

»Ich muß mich selbst zu vergessen suchen,« sagte er. Kein ernster Mentor war in der Nähe, der ihn hätte überzeugen können, dieser tragische Zustand sei die Folge schlechter Verdauung seines Mittagessens und seines Weines. »Ich muß mich selbst zu vergessen suchen. Ich bin das Opfer eines Verhängnisses. Ich sehe es jetzt. Niemand macht sich etwas aus mir. Ich weiß nicht, was Glück ist. Ich bin unter einem unglücklichen Stern geboren. Mein Schicksal ist unausbleiblich vorher bestimmt.« Und seiner jugendlichen Weisheit folgend, schleppte dies wunde Wild seine trägen Glieder nach den Hallen hin, wo es Kognak und Gesang gab.

Man lernt Mitleid mit Narren empfinden, wenn man sie eingehender studiert, und obschon die Natur voller Weisheit ist, bleibt der Narr dennoch der Natur nahe verwandt. In seiner Einfalt steht er nackt da, er kann uns manches sagen und noch mehr ahnen lassen. Meine Entschuldigung dafür, daß ich mich so lange bei ihm aufhalte, ist, daß er das Bindeglied ist, welches meine Erzählung zusammenhält. Wo Narren zahlreich sind, muß ihrer einer hie und da in einer glaubwürdigen Geschichte die Hauptrolle übernehmen dürfen. Es kommt eine Stunde, wo es den Schleier über ihn zu werfen gilt, da er einem leichteren Winke zu gehorchen nicht immer die genügende Reinheit besitzt.

Algernon kam andern Tags spät und nicht in heiterer Stimmung auf die Bank, obschon er seine gewohnte Zurechtweisung mit Ergebung hinnahm. Der Tag verlief nach dem Muster des vorhergehenden, abgesehen davon, daß er nicht den Park besuchte; mit dem Abend war es das gleiche.

Am Mittwoch Morgen erhob er sich mit der Überzeugung, daß England nicht der rechte Platz für ihn zum Leben sei. Wie wäre es, wenn ihn Rhoda in die Kolonien begleiten würde? Der Gedanke hatte allmählich in seinem Hirn Gestalt angenommen von dem Augenblick an, wo er in Besitz der tausend Pfund gelangt war. Konnte sie nicht vorzüglich Butter und Käse bereiten, während er zu Pferde über die unermeßlichen Ebenen dahinritt? Sie war ein starkes Mädchen, ein rechtschaffenes Mädchen, und sie würde eine dankbare Gattin sein.

»Ich will sie heiraten,« sagte er und machte eine kleine Pause. »Ja, ich will sie heiraten.« Aber es müßte sofort geschehen.

Er beschloß, augenblicklich nach Wrexby zu reisen, sie durch eine Liebeserklärung zu beglücken, durch einen Heiratsantrag in Erstaunen zu setzen, ihr kleines Herz mit überhastenden Eigenschaftswörtern zu verwirren, sie im Sturm nach London zu wirbeln und in wenig mehr als einer Woche, mit ihr als ein neuer Mensch, auf hoher See dahinzusegeln, jenseits aller Zivilisation, abgesehen von ein paar letzten sehr prima Zigarren, welche er sich vornahm, auf dem Achterdeck des Schiffes zu rauchen, um dabei von der Welt zu träumen, die er hinter sich zurückließe.

Er ging in weit besserer Stimmung auf die Bank, schrieb dort an Rhoda, die er geradeheraus um eine Unterredung bat, deren Zweck er durchblicken ließ. Während er hiermit beschäftigt war, fielen ihm Harry Latters und Suckling ein und die Torheit, in seiner jetzigen Lage mit anderen zu dinieren. Es konnte heute oder gestern der Abrechnungstag sein, aber ein Kolonist braucht von derartigen Vereinbarungen nichts zu wissen. Einer seiner Kollegen erinnerte ihn an eine Anleihe, die heute ablief, und zeigte ihm seine Namensunterschrift unter einem Schuldschein. Er bezahlte die Summe, indem er ostentativ einen seiner Fünfziger aus der Tasche zog. Sofort kam ein anderer mit einem ähnlichen Streifen Papier. »Sie können doch kaum verlangen, daß ich dies wechsele, nicht wahr?« sagte Algernon, und alsbald wurde ihm eine Geschichte von häuslicher Not und einer habgierigen Hauswirtin aufgetischt. Er stöhnte innerlich: »Wirklich komisch, daß ich dafür zahlen muß, daß seine Wirtin 'ne böse Sieben ist!« Die Banknote wurde gewechselt, die Schuld liquidiert. Auf der Türschwelle, gerade als er zum Frühstück gehen wollte, verlegte ihm der alte Anton den Weg und wurde fast lärmend eindringlich in seinem Verlangen, daß er ihm das eine Pfund drei Schilling und die fünf Pfund zehn Schilling zurückzahlen sollte. Algernon bezahlte beide Summen, und es kam ihm fast vor, als sei der Verdacht, daß er die Absicht habe, ein Ansiedler zu werden, bereits durchgesickert.

Er benutzte die Frühstückspause zu dem Besuche eines überseeischen Schiffs-Kontors und prallte in der Tür fast mit Sedgett zusammen. Die Frau, die ihn aus der Droschke angerufen hatte, war in Sedgetts Gesellschaft, aber Sedgett sah niemand. Er ließ den Kopf hängen, und seine Brauen waren mißmutig zusammengezogen. Algernon entging seiner Aufmerksamkeit. Seine erste Anfrage in dem Kontor betraf die Geschäfte des Paars, das ihm soeben begegnet sei, und er war beruhigt, als er erfuhr, daß Sedgett für sich und seine Frau Zwischendecksplätze belegt habe.

»Ich möchte wohl wissen, wer dies Frauenzimmer sein mag,« dachte Algernon, um sie sofort wieder zu vergessen.

Er erhielt einige detaillierte Auskunft und wurde, als er auf die Bank zurückkehrte, zu seinem Onkel gerufen, welcher seine Verdienste in einem verächtlichen Vorwurf kurz und bündig zusammenfaßte und ihn in seinem Entschluß bestärkte, sich dieser Art Behandlung nicht länger auszusetzen. Infolgedessen versprach er Sir William, sich zu bessern, und dies waren die ersten hoffnungsvollen Worte, die Sir William je von ihm gehört hatte.

Algernons Plan ging dahin, sich an diesem Abend in den allgemein üblichen Gesellschaftsanzug zu werfen, so daß er Harry Latters, im Falle er ihm begegnen sollte, versichern könne, er komme noch in den Klub, sei aber gezwungen, anderswo, bei seinem Onkel oder irgendwo sonst, zu Mittag zu essen. Als er die Tür seiner Wohnung erreichte, stand ein Mann davor, welcher sagte:

»Mr. Algernon Blancove?«

»Ja,« Algernon zog die Bejahung in die Länge, um womöglich das dadurch angeregte Vertrauen wieder etwas zu dämpfen.

»Darf ich Sie um eine Unterredung bitten, Herr?«

Algernon hieß ihn, ihm zu folgen. Der Mann war hochgewachsen, von starken Gesichtszügen mit einem schwer zu enträtselnden Ausdruck im Gesicht.

»Ich komme vom Mr. Samuels, Herr,« sagte er in ehrerbietigem Tone.

Mr. Samuels war Algernons Haupt-Juwelenlieferant.

»O,« bemerkte Algernon. »Schön, augenblicklich brauche ich nichts, und lassen Sie mich Ihnen gleich sagen, dies seiner Kundschaft Nachlaufen liebe ich nicht. Ich dachte, Mr. Samuels stände über dergleichen Sachen.«

Der Mann verbeugte sich. »Mein Auftrag geht nicht dahin, Herr. Hm. Ich darf wohl annehmen, daß Sie sich noch eines Opals entsinnen, den Sie von unserer Firma empfingen? Er war in einen Halsschmuck gefaßt.«

»Ganz recht, ich erinnere mich desselben sehr gut,« sagte Algernon kühl, aber ohne das Wechseln seiner Farbe verhindern zu können.

»Er kostete fünfundfünfzig Pfund, Herr.«

»Ja? So, das habe ich vergessen.«

»Wir haben entdeckt, daß er für fünfundzwanzig versetzt ist.«

»Etwas weniger als die Hälfte,« sagte Algernon. »Pfandleiher sind einfach Betrüger.«

»Sie sind vielleicht nicht schlechter als andre Leute,« bemerkte der Mann.

Algernon war gerade in der Stimmung, wo ein rechtschaffener Zornausbruch die beste Waffe, wenn nicht die einzige Hilfsquelle scheint. Er errötete, aber er war nicht sicher, ob der Augenblick, loszubrechen, bereits gekommen sei. Der Mann deutete sein Erröten richtig.

»Darf ich fragen, ob Sie ihn versetzt haben, Herr? Ich bin gezwungen, diese Frage an Sie zu richten.«

»Ich? Wahrhaftig, ich – es paßt mir nicht, unverschämte Fragen zu beantworten. Was hat Ihr Hierherkommen zu bedeuten?«

»Es scheint mir ebenso richtig, Herr, ganz offen zu sprechen, um Mißverständnissen vorzubeugen. Einer unsrer jungen Leute war zugegen, als Sie ihn versetzten. Er hat es mit angesehen.«

»Und wenn er das getan hat?«

»So vermag er als Zeuge zu dienen.«

»Gegen mich? Ich habe seit drei, vier Jahren bei Samuels gekauft.«

»Ja, Herr, aber Sie haben bisher noch niemals eine Rechnung beglichen. Und ich glaube, ich irre mich kaum, wenn ich sage, daß dieser Opal nicht das erste Stück aus unserm Hause ist, das versetzt wird, wenn schon ich nicht behaupte, daß Sie es bereits bei früheren Gelegenheiten getan haben.«

»Das möchte ich Ihnen doch auch raten,« fiel ihm Algernon ins Wort.

Er unterbrach ein peinliches Schweigen mit der Frage: »Was sonst noch?«

»Mein Chef hat Ihnen seine Rechnung geschickt.«

Algernon warf einen Blick auf die ungeheuerlichen Zahlen.

»Fünf Hun–!« keuchte er und wich einen Schritt zurück, dann fügte er hinzu: »Schön, auf der Stelle bezahlen kann ich es nicht.«

»Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Sie sich eines Vergehens schuldig machen, Herr, wie Sie es, um Ihrer Angehörigen willen, besser vermeiden würden.«

»Sie wagen doch nicht am Ende, mir damit zu drohen, mich meinen Verwandten anzugeben?« sagte Algernon hochmütig und bemerkte sofort, daß Entrüstung bei dieser Gelegenheit ein guter Coup sei, denn während der Mann den Gedanken zurückwies, als könne er etwas Derartiges beabsichtigen, zeigte er zugleich, wie fest sein Glaube an die eventuelle Kraft einer solchen Drohung sei.

»Das durchaus nicht, Herr, aber Sie wissen, daß ein Verpfänden nicht bezahlter Gegenstände gesetzlich unzulässig ist und für strafbar gilt. Kein Geschäftsmann mag dergleichen, sie können es einfach nicht zulassen. Ich kann Sie ebensogut gleich wissen lassen, daß Mr. Samuels –«

»Genug!« unterbrach ihn Algernon mit einem, wie er meinte, recht herzlichen Lachen. »Mr. Samuels ist ein sehr anständiger Jude, aber er scheint sich doch nicht darauf zu verstehen, mit Gentlemen zu verkehren. Irgendwelche Verlegenheit taucht auf,« er machte eine vague Handbewegung, »man hat Geld nötig und verschafft es sich, wie man eben kann. Mr. Samuels soll nicht mit dem Gedanken schlafen gehen, als sei er um das Seine betrogen. Ich werde Herrn Samuels einen besseren Begriff über die Vornehmen beizubringen suchen. Schreiben Sie mir eine Quittung.«

»Für welchen Betrag?« fragte der Mann rasch.

»Für den Wert des Opals, das heißt für den Wert – zu welchem Mr. Samuels, ihn angesetzt hat. Verfl– Teufel – na, 's ist egal. Schreiben Sie die Quittung aus.«

Er warf einen zerknitterten Fünfziger und einen zerknitterten Fünfer auf den Tisch und schob dem Mann Papier zu, um die Quittung auszustellen.

Der Mann dachte einen Augenblick nach, dann verweigerte er die Annahme.

»Ich glaube nicht, Herr,« sagte er, »daß sich Mr. Samuels mit weniger als zwei Dritteln der Rechnung zufrieden geben wird. Sie sehen, dieser Opal war in einem Halsschmuck. Er war nicht in einen Ring gefaßt, den man einfach vom Finger streift. Es handelt sich um ein Damenschmuckstück, und Sie machen, bald nachdem Sie es von uns erhalten haben, davon in der Weise Gebrauch, daß Sie es zu Gelde machen. Es ist ein Fall für die Kriminalpolizei, – um Ihrer Verwandten willen würde Herr Samuels sich allerdings nur ungern entschließen, dieselbe in Bewegung zu setzen. Die Anklagebank ist kein Platz für Sie, Herr, aber Mr. Samuels muß das Seine behaupten. Er nimmt die Sache nicht leicht. Ich würde mich ungern dazu entschließen, einen Polizisten herbeizurufen.«

»Hoho!« rief Algernon, »dazu würde es immerhin einer Vollmacht bedürfen.«

»Die besitze ich, Herr!«

Obschon Algernon für kleine Spitzbübereien eine gewisse Neigung besaß, hatte er doch niemals die Rechte studiert, und so schloß er aus seinem eignen Angstgefühl und dem steinernen Gesicht des Mannes, daß Haftbefehle ebenso leicht zu erlangen wären, wie Parlamentseinberufungen.

Seine Muskeln strafften sich. Seinerzeit hatte er leichthin von einem möglichen Ruin gesprochen, aber dies war ureigene Erfahrung. Er und der Mann maßen einander mit den Blicken. Algernons Mut sank.

»Meinen Sie?« murmelte er.

»Nun ja, Herr, halbe Maßregeln haben keinen Zweck. Wenn ein Geschäftsmann sagt, er muß sein Geld haben, dann scheut er auch die dazu erforderlichen Schritte nicht.«

»Sind Sie in Mr. Samuels Geschäft?«

»Das nicht gerade, Herr.«

»Sind Sie ein Detektiv?«

»Ich habe als solcher gedient.«

»Ah! jetzt verstehe ich.« Algernon erhob mit einem Anflug von Hochmut den Kopf. »Wenn Mr. Samuels Sie begleitet hätte, würde ich meine Schuld beglichen haben. Es ist durchaus gerechtfertigt, daß ich darauf bestehe, eine Quittung von ihm persönlich zu empfangen und zwar eine solche, die auf die ganze Summe lautet.«

Hiermit zog er seine Brieftasche und zeigte die in Frage kommenden Fünfhundert.

Sein Triumphgefühl war von kurzer Dauer. Der steinerne Mann hatte ihm ebenfalls etwas zu zeigen.

»Ich versichere Sie, Herr,« sagte er, »daß Herr Samuels sehr wohl weiß, auf welche Weise man mit Gentlemen verkehrt. Wenn Sie mir die Ehre erzeigen wollten, Herr, mit mir in Mr. Samuels Geschäft zu kommen? – Oder nicht? Wie Sie wollen, Herr, um Ihnen diese Unbequemlichkeit zu ersparen, – hier ist die von ihm unterzeichnete Quittung zu der Rechnung.«

Algernon zerknitterte mechanisch die Banknote in seinen Händen.

»Samuels?« stieß der unglückliche Junge hervor. »Wahrhaftig, meine Mutter hat bei Samuels gekauft. Meine Tante hat bei Samuels gekauft. Meine ganze Familie kauft seit Jahren bei ihm, und er redet davon, derartig gegen mich einzuschreiten, weil – meiner Treu, das ist wirklich ein bißchen stark! Und mir einen Polizisten zu schicken! Ich will Ihnen etwas sagen, – wenn ich diese Geschichte laut werden ließ, könnte sie Herrn Samuels beträchtlich in Mißkredit bringen. Natürlich würde mein Vater die Sache zu ordnen haben, aber Herrrrr – Herrrrr Samuels möchte sich doch sobald nicht davon erholen. Er würde froh sein, die Fünfhundert – wie war es? und fünfundzwanzig – warum nicht und sechs Groschen drei Heller? – wieder zurückzahlen zu dürfen! Ich sag' Ihnen, ich werde meinen Vater die Sache bezahlen lassen. Mr. Samuels wird mir am besten mit einer simplen Vorladung aufwarten. Ich sag' Ihnen, ich habe nicht die Absicht, mich gänzlich blank zu machen. Ich habe die Rechnung noch nicht genau angesehen. Lassen Sie mir dieselbe hier. Sie können den Quittungszettel abreißen. Lassen Sie sie hier.«

Der Mann machte sich das Vergnügen, einen wiederholten leichten Protest einzulegen.

»Mein Herr, das geht nicht.«

»Die halbe Rechnung,« brüllte Algernon, »ich würde mir nichts draus machen, die halbe Rechnung zu bezahlen.«

»Herr Samuels verlangt rund zwei Drittel; dann will er stehen bleiben und ruhig so weiter gehen, wie bisher.«

»So, also dann will er stehen bleiben und ruhig weiter gehen? Mr. Samuels hat 'ne ganz merkwürdige Ähnlichkeit mit seinen eigenen Uhren,« spöttelte Algernon in gezwungenem Ton. »Na,« fuhr er in der Zuversicht, hiermit ganz sicher zu gehen, fort, »zwei Drittel will ich bezahlen.«

»Dreihundert Pfund, Herr.«

»Jawohl, dreihundert. Sagen Sie ihm, er möchte mir eine Quittung für die dreihundert schicken, dann werde ich. sie ihm auszahlen. Was die Frage betrifft, ob ich jemals wieder seinen Laden betrete, so werde ich mir das noch sehr überlegen.«

»Darauf muß es ein Herr in Mr. Samuels Lage ankommen lassen, Herr,« sagte der Mann.

Algernon sah weniger mit einer Regung der Furcht, als des Staunens, wie er an seiner Brusttasche herumtastete. Dies Tun hatte das Ergebnis, eine zweite Rechnung zutage zu fördern, mit einer vollgültigen Quittung über dreihundert Pfund.

»Mr. Samuels möchte Ihnen auf jede Weise entgegenkommen, Herr. Er verlangt gar nicht die volle Summe, nur einen Teil. Er dachte sich gleich, vielleicht sei es Ihnen angenehmer, nur einen Teil zu bezahlen.«

Nach dieser Offenbarung von Voraussicht seitens des Juweliers, gab Algernon jeden weiteren Widerstand auf, nur, daß er ein »Uff!« gründlichen Dégouts herausstieß.

Er prüfte Rechnung und Quittung in des Mannes Händen scheinbar mit genauster Gründlichkeit, während er in Wirklichkeit keine einzige Silbe klar zu sehen vermochte.

»Nehmen Sie das, und wechseln Sie es,« er warf die Fünfhundert auf den Tisch, doch entriß er sie alsbald wieder dem Griff des Feindes, und mit einem: »Eins, zwei, drei,« schmiß er seine Hunderter auf den Tisch, für welche ihm die verwünschte Quittung alsbald eingehändigt wurde.

»Wie,« fragte er mit halberstickter Stimme, »wie konnte Mr. Samuels wissen, daß ich – daß ich Geld hätte?«

»Ja, Herr, sehen Sie,« der Mann lächelt ganz kordial, nachdem er die drei Hundertpfundscheine in seinen Rock geknöpft, wie einer, der eine lästige Maske abwirft, »›Kredit‹ müßte wohl bald den Geist aufgeben, wenn er nicht so seinen ganz speziellen Geist hätte, – das ist so 'n ›Kniff‹, wenn ich so sagen darf. Es ist von Mr. Samuels Seite nur so ein Riecher. Er hört, daß seine Sachen ins Pfandhaus getragen werden. ›Halloh‹, denkt er. Und Geschäftsleute sind eben auch Menschen, Herr. Unter uns gesagt, ich selbst stehe meistens auf Seite der Herren Kunden. Aber ich bin ja, so zu sagen, doch bei Mr. Samuels in Amt und Brot. Da 's ein junger Herr in Schulden, bring' ihm mal 'n orndtlichen Schreck bei, und sein Geld, wenn er was hat, wird schon herausspringen. So eine quittierte Rechnung schicken, das ist immer ein ganz guter Fühler. Anzunehmen, daß jemand zahlen kann, ist doch immer 'ne Art Kompliment. Mr. Samuels würde ja nicht so weit gehen, mit einem Haftbefehl vorzugehen, das würde er doch nur im allerhöchsten Notfall tun. Sie fingen von einem Haftbefehl an, dadurch kam ich erst darauf. »Mir wär's nicht im Traum eingefallen, daß ein Gentleman die Sache anders auffassen könne. Haben Sie nicht mein steinernes Gesicht bemerkt? Das hätt' ich mit einem geriebenen Schuldenmacher, verzeihen Sie, ich meine mit einem richtigen – mit 'nem Schuft, nie riskiert. Die regelrechten, die müssen unser Mienenspiel sehen, mit denen dürfen wir nicht allzu schlau sein, sonst schöpfen sie Verdacht, die sind so scharf wie 'n Fuchs. Das können Sie mir glauben! Guten Abend, Herr!«

Algernon hörte die Tür schließen. Er sank in einen Stuhl und, den Kopf in beide Arme auf dem Tisch vergrabend, schluchzte er verzweiflungsvoll, sah er sein eigen Spiegelbild doch allzu deutlich in einer der vielen Facetten der Torheit blinken. Das Tageslicht wurde ihm unleidlich, er ging zu Bett.

Ein Mann, der in solchem Paroxismus der Verzweiflung mit vollem Vorbedacht zu seinem Kopfkissen seine Zuflucht nehmen kann, gehorcht einem animalischen Instinkt, um das Vergessen zu finden, dessen seine Nerven bedürfen. Algernon wachte in tiefem Dunkel auf, mit einem köstlichen Gefühl von Hunger. Er sprang auf. Sechshundertfünfzig Pfund des Geldes waren noch intakt, und er war froh gestimmt. Er machte Licht, um nach seiner Uhr zu sehen, die Uhr war stehen geblieben, – ein schlechtes Zeichen! Er konnte es nicht vergessen. Warum war seine Uhr stehen geblieben? Ein frostiges Schauergefühl, ob nicht vielleicht Vorherbestimmung die Welt regiere, hemmte alle anderen Erregungen, welche ihn bestürmten. Er kleidete sich sorgfältig an, und bald hörte er eine große Stadtuhr, mit entsetzlichen Zwischenräumen zwischen allen Schlägen, die elfte Stunde der nahenden Mitternacht verkündigen. »Nicht spät,« sagte er.

»Wer hätte das gedacht!« rief eine Stimme auf dem Treppenabsatz, als er seine Wohnung verlassen wollte.

Es war Sedgett.

Algernon fühlte eine Regung, den Elenden zu erdrosseln, eine zweite, ihn zu besänftigen.

»Na, Herr, ich hab' hier just darauf gewartet, daß Sie von Ihren tollen Streichen nach Haus kommen sollten. Hab' nicht geahnt, daß Sie zu Hause wären!«

»Nützt Ihnen gar nichts,« begann Algernon.

»Nützt mir doch was, Herr,« sagte Sedgett und erzwang sich den Eintritt ins Zimmer. »Jetzt geben Sie acht. Ich hab' da 'n junges Frauenzimmer, das muß ich aus 'n Land 'raus haben. Un' das muß ich tun, solang ich – na, solang ich noch 'n Junggesell' bin. Sie muß 'raus oder sonst kriegen wir Krakeel. Sie haben ja gesehen, wie sie mich aus 'ner Droschke heraus abfing. Sie ist ganz sicher immer da, wo man sie nich' braucht. Sie geht nach Amerika. Ich muß ihr 'n Billet lösen und mir auch. Un' – um die Wahrheit zu sagen – so ist das so: sie meint, ich will mit ihr weg. Sie weiß, daß ich zu Haus bankrott bin. Un' das bin ich auch. Um so mehr meint sie, muß ich mit ihr kommen. Ich bring' sie mit 'n Zug auf 'n Schiff im' an Bord, un' da geb' ich ihr 'n Laufpaß.

»Morgen abend um diese Zeit geht das Schiff ab. Ich hab' die Überfahrt für sie bezahlt, un' für mich auch – wie sie meint. Das können Sie mir ruhig überlassen. Das will ich schon alles kriegen! Aber was ich sagen wollt' – nu' bin ich ganz auf 'n Hund. Ich muß un' will die fufzig haben, un' ich möcht' nich' erst viel drohen. Ich brauch' das Geld, und wenn Sie es mir nich' geben, dann brech' ich die Geschichte ab; und merken Sie sich das wohl, Mr. Blancove, – Sie kommen nicht so leichten Kaufs davon, wenn ich die Sache abbrech'. Ich weiß von all Ihren Verhältnissen ganz genau Bescheid, und, beim Himmel! ich werd' die Sachen schon herumbringen! Nee, Sie hören das so ruhig an, Herr, als wenn Sie meilenweit weg wären, in irgend'ner Holzhütte und kein Hund in der Nähe.«

Das dachte auch Algernon, und ohne irgendwelches Licht zu gewahren, von der Gaslaterne draußen auf dem Platz abgesehen.

Sie stritten eine Stunde lang miteinander. Als Algernon sich ein zweites Mal auf den Weg machte, war er um fünfzig Pfund ärmer. Er tröstete sich damit, daß dies Geld seine Bestimmung nur etwas früher erreicht habe, als festgesetzt, und es gereichte ihm zu einer gewissen Befriedigung, sich vorzustellen, daß er auf alle Fälle so viel von der Summe der Verpflichtung gemäß, unter welcher er deren Besitz angetreten hatte, verwandt habe.

Und was sollte er nun weiter tun? Seine Schritte standen so augenscheinlich unter der Leitung des Fatums, daß er es ablehnte, sich irgendwie ihretwegen zu beunruhigen.

Am nächsten Morgen kam das gewohnte kurze, ungeduldige Gekritzel auf dünnem, blauem Papier von Edward, das kaum einen flüchtigen Gedanken lohnte. In einem Postskriptum fragte er: »Kannst du wirklich schwören, daß keine Briefe für mich da sind? – Sollten welche da sein, schicke sie mir augenblicklich – jeden einzigen, auch Rechnungen. Versäume es nicht. Ich muß sie haben.«

Algernon ließ sich endlich dazu bewegen, Dahlias Briefe zusammenzupacken, indem er sagte: »Vermutlich können sie jetzt kein Unheil mehr anrichten.« Die Ausgabe des Portos tat ihm leid, aber er bemerkte dazu: »Weiber kosten einem doch immer gleich ein Dutzend, wo unsereins mit einem Stück auskommt.« Auf seinem Wege zur Stadt mußte er darüber schlüssig werden, ob er auf die Bank gehen oder den nächsten Zug nach Wrexby benutzen wolle. Er wählte letzteres, bis er in dem Gefühl, daß er damit doch am Ende einem allzu ernsten Ziele zusteuere, zu sich selber sagte: »Nein, erst die Pflicht!« und diese Expedition auf den folgenden Tag verschob.


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