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Kapitel XXIX. Weiteres von dem Narren

So lange es Narren in der Welt geben wird, so lange werden sie auch ihren Platz in jeder Geschichte behaupten, und so vermag auch ich den Narren aus dieser Erzählung, die mehr oder weniger ihren eigenen Lauf nehmen muß, nicht auszuschalten. Algernon ging zu Bett, ohne auch nur im geringsten an Edward oder auch an sein eigenes Mißgeschick zu denken, gänzlich unter dem berauschenden Gedanken, daß er einen auf tausend Pfund lautenden Scheck in Händen habe, den er jeden Moment einzulösen vermöge. Er verlebte den Morgen in stiller Heiterkeit, bis ihm ein kleines Päckchen, in Begleitung eines Billetts von Mrs. Lovell überbracht wurde, in welch letzterem sie ihm auseinandersetzte, daß dieses Päckchen die Kleinodien enthalte, seine kostbaren Gaben »der Wertschätzung« für sie, wie sie dieselben kränkenderweise zu bezeichnen beliebt hatte.

Algernon nahm es in die Hand und erwog einen Augenblick, ob er es aus dem Fenster werfen solle, aber da das Fenster zufällig offen war, beherrschte er seinen Impuls und schleuderte es mit großer Vehemenz in eine Ecke des Zimmers, ein Vorgehen, wie es eines Narren durchaus würdig ist, denn der Narr ist in seiner Art ein Weiser und wird sich wohl hüten, jemals sich selbst irgendwelchen Schaden zuzufügen, auf daß er nicht etwa daraus lerne und gescheiter werde.

»Ich dulde keine Beleidigung,« murmelte er selbstgefällig vor sich hin und fühlte sich um ein Beträchtliches männlicher. »Nein, selbst von Ihrer Seite nicht, meine Gnädige,« wandte er sich an Mrs. Lovells Porträt, das keine Nebenbuhlerschaft an der Wand mehr hatte, und das seinem Mut einen harten Kampf zu bestehen gab, so bezaubernd war es anzusehen. Daß sie ihm nicht schrieb, sie habe den Wunsch, ihn bei sich zu sehen, machte den Kampf leichter.

»Es sieht fast aus wie ein Bruch zwischen uns,« sagte er. »Sollte es wirklich etwas derartiges zu bedeuten haben, Mrs. Margaret Lovell, so sollen Sie mich nicht so gefügig Ihren Launen gegenüber finden, ob Sie auch eine schöne Frau und selbst völlig davon durchdrungen sind. Lächeln Sie immerhin! Ich ziehe trotz alledem eine treue, zuverlässige Art Frau vor. Und meine Überzeugung wird immer sicherer die, daß es für mich doch wohl auf die Kolonien herauslaufen wird. Dieser Gedanke brachte ihn dazu, Rhodas Bild vor seinem inneren Auge heraufzubeschwören, bis er ausrief: »Da soll mich doch gleich der Teufel holen, wenn das Mädel mir nicht fortwährend im Kopfe herumspukt!« – und er vertiefte sich mit einer gewissen Spannung des weiteren in diese Angelegenheit.

Ohne irgend Zeit zu verlieren, war er auf und davon, quer über das Square von Lincoln-Inn-Fields bei der Anwaltsfirma, wo man sein Kommen offenbar erwartet hatte, und wo er den Bescheid empfing, daß er das Geld am folgenden Tage erhalten werde. Darauf setzte er sich mit Edward in Verbindung und zwar in dem knappen cäsarischen Stil des Telegraphs: »Alles in Ordnung. Bleib dort. Alles Erforderliche arrangiert.« Sobald dies erledigt, rief er eine vorüberfahrende Droschke an und sank, nachdem er das Wort »Epsom« ausgesprochen hatte, in deren Kissen zurück, er tastete an seiner Rocktasche nach seinem Zigarren-Etui, ohne das offenbar tiefe Nachsinnen, darein die Plötzlichkeit des Auftrags seinen Droschkenkutscher versetzt hatte, auch nur eines augenblicklichen Interesses zu würdigen.

»Teufel auch, das ist gerad', was ich heut' nacht träumte und tat,« sagte der Droschkenkutscher, während er sich anschickte, die Reise zur Ausführung zu bringen.

Ein paar Jungen gaben ihm den Rat, nur ordentlich draufloszuhauen, dann würde er am Ende noch den Sieg davontragen können.

»Wo soll ich essen, Herr?« fragte der Kutscher durch die kleine obere Tür, um sich eine annähernde Idee davon zu verschaffen, welcher Art der Lohn sein möge, der ihn erwarte.

»Sie können Ihr Essen unterwegs verzehren,« sagte Algernon.

»Nicht irgendein Eßkorb unterwegs abzuholen, Herr?«

»Sie möchten wohl einen sehen?«

»Na, ich hätt' nich' g'rad' was dagegen.«

»Dann sputen Sie sich nur, mein Lieber, um so eher werden Sie einen ganzen Berg Eßkörbe zu sehen kriegen.«

»Wenn Sie ein bißchen später anfangen wollten, Ihre Späßchen zu machen, würd' ich dem Rummel mehr trauen,« sagte der Droschkenkutscher, aber das sagte er nur zu sich selbst.

»Vielleicht 'ne Vorliebe für irgend'ne besondere Farbe, die ich tragen sollte, wie? Wenn's Ihnen Spaß macht, Herr, könnt' ich mir ja 'ne Rosette anschaffen und im Triumph angefahren kommen. Sieht immer nach 'n bißchen was aus. Das hab' ich wenigstens immer gefunden, und das ist so meine Erfahrung.«

»Zum Teufel mit Ihren Erfahrungen! Fahren Sie zu!« schrie Algernon. »Rot, gelb und grün.«

»Austern, Bier und Salat!« sagte der Droschkenkutscher und knallte mit seiner Peitsche, »gute Farben, das! Tenpenny Nail ist das Pferd. Zu dessen Farben halt' ich mich.« Und fort ging's, während die Londoner Straßenjugend den Kutscher beneidete, wie nur irgend Sterbliche einen Wagenlenker beneidet haben möchten, der vor ihren Augen zum Olymp hinaufgefahren wäre.

Algernon verschränkte die Arme mit einem Stirnrunzeln, als sähe er von allem, was ihn umgab, gar nichts – ein völlig in sich Gekehrter.

In der Schule hatte dieser Jüngling alles Summieren gehaßt. Alle arithmetischen Probleme hatten ihn verwirrt und angeödet. Aber jetzt arbeitete er mit unermüdlichem Fleiß auf einer Schiefertafel eigener Phantasie, stellte seine Voraussetzungen auf, zog alle Wahrscheinlichkeiten in Rechnung, räumte gewisse Möglichkeiten ein, addierte, subtrahierte, multiplizierte und verrichtete ahnungslos wahre algebraische Kunststücke, bis seine Brauen vom Stirnrunzeln ganz steif geworden waren, und sein Gehirn nach einem Anregungsmittel lechzte.

Die Notwendigkeit ließ seine Hand an die Börse greifen, denn das Anrufen der Droschke war keine im voraus von ihm erwogene Sache. Er entdeckte einige halbe Kronen und kleinere Silberstücke in ihr, welche letzteren er mit einer verächtlichen Miene ein paar Jungen zuwarf, welche die Gefährte zu ihrer lustigen Fahrt durch lustige Zurufe anfeuerten.

Es lag etwas verteufelt Spaßiges für ihn in dem Gedanken, daß er nicht einmal Geld genug habe, den Kutscher zu bezahlen oder für eine Mahlzeit zu sorgen. Seine augenblickliche Armut machte ihn ganz übermütig. Gestern war er mit einem Kreis junger Gardeoffiziere in königlichem Train hinausgefahren, und gestern hatte er verloren. Heute fuhr er ärmer, als mancher Bettler, dem er dort begegnen konnte, zu dem Rennen hinaus, und heute mußte er – den natürlichsten Berechnungen zufolge, gewinnen.

Er pfiff nach dem Rhythmus der Räder tolle Walzerweisen vor sich hin. Er glaubte an seinen guten Stern. Er schnellte seine halben Kronen den Chausseearbeitern zu und suchte die Glücksgöttin dadurch für sich einzunehmen, daß er jegliches Kleingeld mit souveräner Gleichgültigkeit behandelte, mit welcher Methode, ihr ein wenig den Hof zu machen, es ihm heiliger Ernst war. Kupfermünzen schleuderte er einfach schaudernd von sich. Sie »kreuzten sein Glück«. Und ich wüßte nicht, wie ich ihm eine gewisse Autorität diesem Verhalten gegenüber absprechen sollte, denn es steht fest, daß die Göttin mit Kupfermünzen durchaus nichts zu schaffen hat.

Beängstigende Versuche, sich klar zu erinnern, beunruhigten ihn. Er konnte sich nicht darauf besinnen, ob er »sein Geld umgedreht habe«, als er den letzten Neumond sah. Wann hatte er doch den letzten Neumond gesehen, und wo? Eine Wolke verhüllte ihm denselben, er hatte es vergessen. Er tröstete sich damit, auf allen Aberglauben zu fluchen. Tenpenny Nail sollte der Held des Tages werden, Fortuna zum Trotz. Das sagte Algernon vor sich hin, und sein hin und her flatternder Geist verkroch sich hinter den gesunden Menschenverstand, aber er fand diesen Winkel recht frostig. Sein Verlangen, sich durch einen Trunk Champagner anzuregen, nahm an Glut zu. Seine Arithmetik ließ allmählich nach.

Als es den Hügel hinaufging, hörte das Wagengerassel ein Weilchen auf, und als der Ruf »Tenpenny Nail« an sein Ohr schlug, steckte er den Kopf hinaus und fragte, was mit dem Pferd los sei.

»Lahm geworden,« war die Antwort.

Die Antwort traf sein Nervenzentrum, ohne daß sie sein Verständnis erreicht hätte, und da auf den Rennplätzen von Epsom alle Engländer dasselbe gelten, setzte sein stierer Blick auf den Mann, der gesprochen hatte, und seine krankhafte Farbe ihn allerhand beißenden Bemerkungen aus.

»Halloh! Hier 's noch ein Ninepenny – ein Penny zu knapp!« und ähnliche Pröbchen von Epsom-Witz, wie sie ein lustiges Zwinkern und ein schlagfertiges Entgegnen seines Wagenlenkers noch begünstigte, surrten rings um ihn, – aber ihm bedeutete es nichts als ein leeres, äußerliches Getöse. Ein tolles Sich-Jagen erregter Empfindungen schwemmte jeden klaren Gedanken aus seinem Kopfe davon, und gelang es ihm einmal, eines einzelnen Herr zu werden, so war es nur ein bitterer Hohn auf die Vorsehung, daß sie ihm die letzte Möglichkeit abgeschnitten habe, sein Verhalten zu reformieren und gut zu werden. Was würde er nicht alles Herrliches und Schönes und Besänftigendes vollbracht haben ohne diese wahnsinnige Verschwörung aller Schicksalsmächte gegen seine Person!

Es war klar, die Vorsehung kümmerte sich ›kein Jota‹ darum, ob er gewann oder verlor – ob er gut oder böse sei. Man konnte ebensogut ein Heide sein; warum nicht?

Er sprang aus der Droschke heraus (bei welcher Prozedur er seinen Rock zerriß – ein geringeres Übel, aber, wie er sagte: »Es paßte alles zusammen!«) und bahnte sich einen Weg mitten in den Kreis der Zuschauer hinein. Der Bienenschwarm auf dem goldenen Zweig war so dicht wie nur je. Algernon vernahm keinerlei Verwünschungen, und seine Hoffnung begann sich, während er weiterging, aufs neue zu regen. Er fing an, glühend zu hoffen, daß jenes Gerücht über das Pferd vielleicht ein falsches sein könne, denn von irgendwelcher besonderen Aufregung, von irgendeiner stürmischen Auseinandersetzung war nichts zu merken.

Er drängte sich vor, um in den lärmenden Kreis hinein zu kommen, obschon das Verlangen nach Eintrittsgeld ihn bedeutete, daß es sich dabei um ein Privilegium handle, und er stotterte irgend etwas Unverständliches und vergaß völlig der vornehmen Ruhe, die ihm im allgemeinen eigen war, über dem empfindlicher stechenden Schmerz seines altehrwürdigen Leidens, einer gänzlichen Geldlosigkeit. Und dann verlangte der Droschkenkutscher Gehör; ein höflicher Droschkenkutscher, aber einer, den Zweifel hinsichtlich seines Mittagsessens wie seiner Bezahlung befallen hatten, und der durch sein Herjagen inmitten einer drängenden Volksmenge hinter einem völlig tauben Herrn, ein wenig hitzig geworden war. Sein halbbeleidigter Blick gab Algernon seine Selbstbeherrschung zurück.

»Ah, da sind Sie ja: – laufen Sie mal flink hin und holen mir mein Portemonnaie aus Ihrer Droschke, ich hab' es da liegen lassen.«

Der vertrauensselige Droschkenkutscher zog sich auf diesen Auftrag hin zurück. Sich an das Portemonnaie eines Herrn zu halten ist sogar noch sicherer, als sich an den Herrn selbst zu halten.

Während Algernon nachdenklich mit seinem Zeigefinger in seiner Westentasche herumhantierte, sagte ein Mann in seiner unmittelbaren Nähe mit einem kleinen Anflug von Familiarität:

»Wenn's Ihnen angenehm sein könnte, Herr,« und zeigte ihm den Rand eines Goldstücks zwischen Zeigefinder und Daumen.

»Schon gut,« entgegnete Algernon bereitwillig und fühlte, daß man ihn hier offenbar kenne, doch versuchte er vergebens zu vermeiden, den Mann anzusehen, – eine Bemühung, die sich als gänzlich unnütz erwies. Er nahm das Geld, nickte flüchtig und trat in den Kreis.

Sobald er die Barriere einmal passiert hatte, blieb ihm keine weitere Zeit, sich zu schämen. Er war mitten in der Atmosphäre der Wetten. Er hörte Stimmen und sah Menschen, mit denen nicht zu wetten, ja, nicht einmal einen Versuch zu wagen, so viel hieß, als sich selbst für einen ganz jammervollen Kerl erklären und allem Mannesgefühl den Rücken wenden. Algernons Wettbuch war alsbald hervorgezogen und in vollem Betriebe. Während er solcherart beschäftigt war, sah er Gesichter an sich vorüber und wieder vorübergehen, die gleichsam eine Anwartschaft auf ein Frühstück und eine Anleihe bedeuteten, und dies Bewußtsein war ein so wohliges, daß er alle weiteren Bedenken beiseite schob, ganz weit fort in den fernsten Hintergrund, und leichten Herzens zu wetten fortfuhr.

Geringfügige, sinnlose Wetten; sie beschäftigten ihn lediglich, und sie zu gewinnen, war noch weniger befriedigend, als sie zu verlieren, denn, verlor er, so konnte er immerhin das Anklagekonto gegen die unsichtbaren Mächte, die das Weltregiment in der Hand hielten, noch etwas schwerer belasten.

Algernon war zu ärgerlich, große Wetten zu entrieren, nun das eigentliche Kennen vorüber war. Er wies sowohl Sticheleien wie schmeichelnde Überredungen zurück, aber Lord Suckling sagte, im Vorbeigehen: »Welches ist denn Ihr Pferd?« und – so überrumpelt – nannte Algernon aufs Geratewohl ›Little John‹, ein Pferd des großen Haufens, das keinerlei Aussichten hatte. Lord Suckling gab ihm eine letzte Chance, indem er sagte: »In Zehnern? Fünfzigern?«

»In Silber,« entgegnete Algernon achselzuckend, denn er wollte Fortuna gegenüber unerbittlich bleiben, und der gutmütige junge Edelmann nickte und ließ ihn seine schlechte Laune und seinen Kleinmut nicht entgelten, wußte er doch, welch hohen Einsatz er auf seinen Liebling gewagt hatte.

Little John setzte den Rennplatz dadurch in Erstaunen, daß er bei einem leichten Galopprennen als Erster durchs Ziel ging.

»Es haben schon Menschen um geringfügigerer Ursache willen Selbstmord begangen,« murmelte Algernon zwischen den Zähnen, und ein milder Ausdruck von Resignation gegen die Gerechtigkeiten des Schicksals legte sich auf seine Züge. Er blieb im Zuschauerkreise, bis er ganz hager vor Übermüdung aussah. Seine ganze Natur lechzte nach Champagner, und endlich zerriß er die teuflischen Stricke dieses Bannkreises, um nach Lord Suckling und einem Eßkorbe Umschau zu halten. Ein ordentlicher Bissen und ein eisgekühlter Trunk war alles, was er noch vom Schicksal verlangte. Es kam ihm vor, als wenn die Menschenmenge auf dem Zuschauerplatz rastlos hin und her woge.

»Ich möchte wahrhaftig wissen, was sie eigentlich machen,« dachte er laut.

»Nun, Herr, das letzte Rennen ist ja gerade keins für das allgemeine Interesse,« sagte sein Droschkenkutscher, der urplötzlich hinter seiner Schulter auftauchte. »Sollten Sie vielleicht hungrig sein, Herr? – denn ›Glück oder Unglück‹, das 's so mein Fall. Ihr Portemonnaie hab' ich aber nirgends finden können.«

»Scheren Sie sich zum Teufel! Was soll dies ewige Bei-mir-Herumlungern? Was wollen Sie eigentlich?« schrie Algernon und fand alsbald selbst die richtige Antwort auf seine Frage, indem er den Kutscher mit dem Rest seines Geldes nach einer Kneipe hin in Trab setzte und ihm zugleich einen Platz angab, wo sie sich für die Rückfahrt treffen wollten. Worauf er einen verstohlenen Blick um sich warf, um festzustellen, daß der Mann, welcher ihm das Goldstück geliehen hatte, nicht in Sehweite sei. Augenscheinlich flutete der Zuschauerkreis allmählich nach London zurück.

Er eilte an den Wagenreihen entlang, die sich alle in Bewegung zu setzen begannen. Die gespenstische Ahnung zuckte in ihm auf, daß er freundlos hier zurückgelassen und dem Verhungern preisgegeben werde. Wohin er blickte, überall sah er fremde Gesichter und leere Frühstückskörbe, Flaschen, Stroh, Einwickelpapier – die Nachbleibsel festlicher Mahlzeiten, während die Ironie des Schicksals Bettler zu ihm gesellte, die seine Verwünschungen als die Kehrseite der an solchen Orten ausgeübten Mildtätigkeit herunterschluckten.

Allmählich gelangte er fast dahin, nach dem Manne zu seufzen, der ihm den Sovereign geliehen hatte, und kaum war dieser Wunsch in ihm aufgestiegen, als Nicodemus Sedgett herankam und seinen mit wunderlichen Holzfiguren geschmückten Hut schwenkte. Er war fast ein wenig leichter gekleidet als die Damen vom Ballet, und was sein Beinwerk betraf, so trug er dasselbe ebenso kühn zur Schau wie jene Damen.

Algernon musterte den plumpgebauten, grobknochigen Schlingel mit allem Widerwillen, der ihm für einen Menschen zu Gebote stand, welcher als das Werkzeug der Versuchung zu ihm kam, um ihm zu einer armseligen Erfrischung zu verhelfen. Sedgett teilte ihm mit, daß er nie in seinem Leben solchen Spaß gehabt hätte.

»Gerad' vordem einer in den Ehestand eintritt,« raunte er ihm in einem momentanen Flüstertöne zu, »sollte er doch 'n büschen von der Welt sehen, sag' ich, – sagen Sie das nich' auch, Herr? un' dies is' 'n Extraspaß gewesen, ja, wahrhaftig! Ihre Börse gefunden, Herr? Ach, das Pfund, das 's ja ganz schnuppe! Ich geb' Ihnen gleich noch eins, wenn Sie eins wollen. Na? Sagen Sie bloß: Ja oder Nein?«

Algernon sann offenbar über ein weitabliegendes Problem nach. Er nickte kurz und herrisch.

»Ja. Kommen Sie morgen in meine Wohnung.«

Ein zweites Goldstück wurde ihm zugesteckt. Aber so leicht war Sedgett nicht abzuschütteln.

»Ich möcht' übrigens gerad' gern ein paar Worte mit Ihnen sprechen,« sagte er im Flüsterton.

»Den Teufel auch! Ich hab' den ganzen Tag noch nichts gegessen,« fuhr es dem reizbaren, jungen Herrn heraus, der jetzt Angst bekam, er könne in der Gesellschaft des Kerls gesehen werden.

»Kommen Sie man mit! Ich zeig' Ihnen die allerfidelste Kneipe, die Sie sich denken können,« sagte Sedgett und hob ein Bein wie zum Tanz.

»Kommen Sie man mit längs, Herr, mich soll doch gleich dieser oder jener holen, wenn ich je in 'ner fideleren Kneipe gewesen bin! Bier und Musik, das 's so meine Passion!« Der Elende redete in dem allergemeinsten Englisch. »Un' 'n paar Worte mit Sie reden, das will ich nu' mal. Ich kleb' mich einfach an Sie an. Ja, wenn ich fidel bin, denn bin ich vor die Geselligkeit, das bin ich nu' mal. Un' ich kenn' auch kein' ein' hier auf 'm Rennplatze. Da haben wir 'n Salat. Nu' man los: Alles in Ordnung? Un' krieg' ich das Kleingeld in Kleingeld oder in was sonst? Un' vor dem Festrummel oder nachher? Na? Man los, sag' ich! Ja oder Nein?«

Algernon verfluchte ihn innerlich mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft, aber ihm war die Kehle trocken, er fühlte sich mutlos und schwach, und so ging er vorwärts, während Sedgett neben ihm herschritt. Er trat in eine Kneipe und beteiligte sich an einer Mahlzeit von Schinken und Bier, während er das Gefühl hatte, als genösse er die Hefe allen Elends. Obschon ihm das Bier ein wenig gut tat, erheiterte es doch seine Stimmung keineswegs, und er hörte Sedgetts Reden mit einer Art moralischen Jammers zu.

Sedgett nahm seine unhöfliche Art als etwas hin, was man um der Ehre eines vertraulichen Gesprächs mit einem Gentleman willen in den Kauf nehmen müsse. Ein paarmal kam er auf das Thema zurück, über das er, wie er sagte, ein paar Worte mit ihm zu sprechen wünsche.

Er erzählte, wie er dem jungen Frauenzimmer »ganz verlegen« den Hof gemacht habe, und wie sie ihn wirklich ganz verlegen gemacht habe; denn sie wäre wirklich eine schöne junge Person, nicht so hübsch, wie sie im Winter gewesen sei, als er sie einmal gesehen hätte; aber ihre Krankheit hätte sie ein bißchen von ihrem hohen Roß heruntergebracht und sie bescheiden gemacht; während des Fiebers wäre ihr das Haar abgeschnitten worden und damit schiene ihr ganzer Stolz weg zu sein; und als er letzten Sonntagabend die Frage an sie gerichtet hätte, da hätte sie so was wie 'ne Ohnmacht gekriegt, und nun ginge er mit ihrem Jawort in der Westentasche herum, und gut behandeln wolle er sie immer, das hätte er sich vorgenommen – und dabei stieß er einen Fluch zur Bekräftigung aus.

»Erstmal verheiratet un' das Geld in der Tasche, un' meine Pacht auf 'ne orndtliche Weise an 'n Mann gebracht, dann geht's auf und davon nach Australien, und dann laß ich das alte England links liegen, un' vielen Dank auch, Mutter, vielen Dank! Un' sobald kriegst du mich denn nich' wieder zu sehen! Un' was ich denn für 'ne Melodie singen soll an Stelle von ›England ist mein Vaterland‹, da hab' ich noch nich' genug über nachgedacht. Australien, das 's so 'n doll langes Wort, na, aber da kommt man woll mit der Zeit über. Un' da will ich 'ne feine Farm haben, un' da soll mir keiner von die Vornehmen an 'n Wagen fahren können!«

Des Burschen Augen hatten einen wilden Blick, als er das sagte; ein eigentümlicher, schwärzlicher Schatten, der sich ihm auf Stirn und Backenknochen legte, gab ihm etwas Grimmiges, im übrigen blieb das Gelb, welches das kleine braune Pünktchen im Zentrum seines Auges umgab, unverändert, aber der Blick hatte zweifellos etwas Wildes, Böses, Bestialisches. Er schloß die Lider und verzog gleich darauf die Miene zu einem gemeinen Grinsen.

»Einigkeit, das ist die Sache! Erfüll' du, was an dir ist, dann halt' ich, was an mir ist. Ich hab' die Bedingungen innegehalten. Sie weiß nichts von meinen Angelegenheiten – will sagen, wo ich zu Haus bin, un' sie meint, ich hätt' sie zum erstenmal in ihrem Zimmer getroffen. Das 's wahr, Mr. Blancove. Un' sie denkt, ich bin so 'n Schaf, un' das bin ich auch, wenn ich mit sie zusammen bün. Sie kann da nich' hinter kommen, wie ich nach ihr Haus hingekommen un' sie zuerst kennen gelernt hab'. Hat woll nu' alle aufgehört, sich da 'n Kopf über zu zerbrechen, denn sie sagt nix mehr davon. Un' ich erzähl' ihr so was vor von Australien, un' wie das Leben da is'. Un 'n paarmal hat sie da 'n büschen zu gelächelt. Die wird noch dazu kommen, Käse zu machen, da brauchen Sie nich' bange vor zu sein. Aber dies sag' ich: Das Geld muß ich haben. Ein Tausend is' abgemacht, un' dabei muß es auch bleiben. Is' da kein Tausend, na, dann is' da auch keine Frau. Nich', a's wenn ich nich' an das festhalten wollte, was abgemacht ist. Ich bün 'n zuverlässigen Mann.«

Algernon besaß nicht die Fähigkeit, einem Menschen fest ins Auge zu sehen, andernfalls würde er dem Manne mit einem Blicke gezeigt haben, wie widerwärtig er einem Gentleman sei. Etwas wie Gewissenspein beschlich ihn, es kam ihm vor, als sei er daran Schuld, diesem Elenden ein Opfer in die Hände zu liefern.

Aber das Frauenzimmer folgte ja doch ihrer eigenen Neigung. Oder tat sie das etwa nicht? Es handelte sich ja doch um keinerlei Zwang: sie nahm diesen Mann an. Und wenn sie das zu tun vermochte, war jedes Mitleid an ihr verschwendet!

So dachte er, und so würde die Welt über diese arme, verlassene Seele urteilen, die nur nach dem einen strebte, ihren Fehler zu sühnen, damit ihr Vater und ihre Schwester Frieden fänden und der Schande ledig würden.

Algernon bedeutete Sedgett, daß von seiner Seite das Übereinkommen fest und unwiderruflich sei.

Sedgett goß einen Krug Bier hinunter.

»Die Hand darauf,« sagte er und streckte seine gewaltige Hand offen quer über den Tisch.

Das war zu viel.

»Mein Wort muß Ihnen genügen,« sagte Algernon, indem er aufstand.

»Das soll es. Un' das tut es auch,« erwiderte Sedgett, während er seinerseits ebenfalls aufstand.

»Woll'n Sie's mir schriftlich geben?«

»Fällt mir nicht ein.«

»Das 's deutlich.«

»Haben Sie Lust, sich 'n Ringkampf da in der Bude mit anzukucken, Herr?«

»Ich will nach London zurück.«

»London un' 's Thiater – das 's jetzt der Hauptjux, nich?« Sedgett lachte.

Algernon entdeckte seinen Droschkenkutscher, sah, daß sein Wagen in Ordnung war und winkte ihn heran.

»Vielleicht, Herr,« sagte Sedgett, »wenn ich so frei sein dürfte – nich', daß ich über die Sovereigns sprechen wollte – aber ich muß schließlich auch zurück, un' mit 'n Kleingeld is' das nich' mehr recht was. Is' Ihnen einerlei, Herr? Sind Sie so freundlich?«

Nun besaß Algernon von jeher eine gewohnheitsmäßige, übergroße Höflichkeit seinen Gläubigern gegenüber, sobald dieselben anwesend waren. Er haßte den Kerl, aber die letzte Frage faßte ihn bei seinem schwachen Punkt, und er überlegte, vielleicht könne er auf der Fahrt nach London Sedgetts Geist den Gedanken nahe bringen, daß es ganz gut sein könne, die Tausend zu teilen, wie er schon früher angedeutet hatte.

»Springen Sie auf,« sagte er.

Als Sedgett saß, würde Algernon gern den ganzen Weg bis London zu Fuß gegangen sein, um dieser unangenehmen nächsten Nachbarschaft zu entrinnen. Er nahm in hellem Entsetzen über dieselbe den leeren Platz ein. Bis zu diesem Augenblick hatte der Mann ein gewisses achtungsvolles Benehmen zur Schau getragen, und in Dahlias Gegenwart hatte er den Eindruck eines braven, ungeschlachten Kerls mit einem ehrerbietigen, gütigen Herzen gemacht. Sedgett brachte ihm alsbald eine andere Meinung bei.

»Sie haben Pech gehabt – das sieht man Ihnen schon an der Nase an. Wenn Sie 'n Frauenzimmer wären, würd' ich sagen: ›Lauf man hin un' les' 'n büschen in deine Bibel‹. Das sag' ich ümmer zu meiner, un' wahrhaftig, das 's wie 'ne Medizin vor ihr. Ganz gewiß! Ich hab' ihr so lang' vorgelesen, bis ich zwei Maß Bier auf einen Schluck hätt' heruntergießen können, so verflucht durstig machte mich die Geschichte. Ich weiß nich', besser machen tut 's die Menschen auch nich' ümmer. Mir hat's nich' gut getan. Da stand ich un' fluchte über das Gewäsch, daß 's nur so krachte, un' sie, mit 'n Händen man so gerungen, un' ins Feuer 'reingestarrt, a's wenn sie sich die Augen aus 'm Gesichte kucken wollte, 'n armselige, schwächliche Bande is' die ganze Sorte!«

Das unleidliche Gerede des Schurken veranlaßte Algernon plötzlich, um sich Luft zu machen zu dem Ausruf:

»Ein Schuft, wie Sie, ist freilich wohl darüber hinaus, noch irgend etwas Gutes aus der Bibel herauszuholen.«

Sedgett wandte ihm seine ausdruckslosen braunen Augen zu, die das dickflüssige, hassenswerte Aufsteigen bösen Blutes mit abscheulicher Bosheit füllte.

»Halloh! Sei'n Sie gefälligst höflich, wenn Sie mit mir zusammen fahren wollen,« sagte er. »Schimpfworte, davon will ich nichts wissen, die kann ich nich' verdauen. ›Schuft‹, das 'n Wort, da hab' ich meine ganz besondere Antwort vor, un' wenn Sie's nich' gewesen wär'n, un' sind doch 'n vornehmen Herrn, denn hätten Sie 'n ganz Gehörigen mit der Faust gekriegt, Am Ende is' Sie das noch nich' recht klar, was ich vor 'n Arm hab'. Bitte, fühlen Sie mal eben die Muskeln!«

Er krümmte seinen Arm und hielt Algernon die Knöchel seiner Hand gerade vors Gesicht.

»Herunter mit der Faust, du Hund!« schrie Algernon und sprang auf, wobei er seinen Hut arg zerdrückte.

»Die wird schon noch auf Ihre Nase kommen, wenn ich sie erstmal fallen lass', mein Gnädigster,« sagte Sedgett. »Übrigens haben Sie sich Ihren Hut 'n büschen eingetrieben.«

Er zog Algernon an den Enden seines Rockes wieder auf den Sitz zurück.

»Halt!« schrie Algernon dem Droschkenkutscher zu.

»Losfahren!« brüllte Sedgett.

Dies Signal einer auseinandergehenden Meinung hallte über die Hauptstraße von Epsom hin und erweckte die abflauende Heiterkeit der Landstraße aufs neue.

Algernons Befehle kamen mit einer sich überschlagenden Stimme heraus, Sedgett donnerte die seinen hervor.

Es kam zu einer Balgerei, und nachdem jeder dem andern einen unangenehmen Knuff beigebracht hatte, trennten sie sich infolge gegenseitigen Übereinkommens und wechselten fortan nur verstohlene Püffe. Der Droschkenkutscher über ihnen – schließlich nicht bloß ein Droschkenkutscher sondern ein Individuum – hieb dem Pferde in die Flanken, zwinkerte listig mit den Augen und zuckte verschmitzt die Achseln in Erwiderung auf allerhand Zeichen, die man ihm von der Straße und den Ladentüren her machte.

»Das mögen die miteinander ausmachen, ich bin 'n Unparteiischer,« sagte er gelassen, und nachdem er seine kleine Beobachtungstür aufgemacht und – wie ein Falke – einen Blick hinuntergeworfen hatte, verschloß er sich dem Anblick dieser Sterblichen und fuhr gleichmäßig weiter.

Epsom ließ die Sache zu; aber Ewell nannte einen handfesten Bürger sein, der, seine Pfeife rauchend, unter seiner Tür stand, die Vorbeikommenden musterte und den Kampf dort im Wagen meteorgleich an sich vorüberrauschen sah. Er erhob das gewachste Ende seiner Pfeife und machte mit einer gleichzeitigen autoritativen Bewegung seines Kopfes einen Mann in einem Eselskarren auf den Fall aufmerksam; dieser sah zurück, erblickte die Streitlust auf Rädern und manövrierte so geschickt mit seinem sanftmütigen und wundervoll ebenmäßig dahintrottenden Esel, daß er den Droschkenkutscher zwang, anzuhalten.

Die Kämpfenden sprangen auf die Landstraße.

»Das 's recht, ihr Herren, 'n Spaßverderber bin ich ja auch nich',« sagte der Eseltreiber. So 'n Epsomtag der muß mit 'n düchtigen Schnaps begossen werden, das gehört dazu!«

»Die Gesichter haben so was von Sonnenuntergang,« sagte der Droschkenkutscher, »wie wär's mit 'ner Seitengasse, meine Herren?«

Aber inzwischen hatte der Eseltreiber die Gesichter des feindlichen Paares einer genaueren Musterung unterzogen.

»Das 's kein ehrliches Spiel,« sagte er zu Sedgett. »Sie lassen den Herrn da in Ruhe, hören Sie woll!«

Nun kam der Mann mit der Pfeife auch dazu.

»Gekämpft wird nicht mehr,« bemerkte er. »Wir woll'n hier keinen Krawall auf unserer Dorfstraße haben. Man soll nich' sagen, Engländer wüßten nich', sich zu amüsieren, ohne daß sie betrunken un' roh würden. Sie lassen die Fäuste jetzt ruhen!«

Die Trennung mußte gewaltsam vollzogen werden, denn nun war Algernons Blut in Wallung.

Es dauerte nicht lange, so hatte sich eine Menschenmenge angesammelt, wodurch ein allgemeiner Stillstand unter den Fuhrwerken jeder Art entstand.

Aus einem offenen Wagen heraus lehnte ein Herr, um die Prügelei mit einem kritischen Blick zu mustern, und als auch sein Begleiter den Kopf herausstreckte, entfuhr dessen Lippen ein unwillkürliches: »Sedgett!«

Die beiden ursprünglichen Kämpfer (denn inzwischen waren der Kämpfenden mehr geworden) wandten den Kopf gleichzeitig dem Wagen zu.

»Wollen Sie 'rankommen?« brüllte Sedgett, doch war nicht zu unterscheiden, ob es Algernon oder einem der Herren oder jemand aus der Volksmenge galt. Da niemand reagierte, schüttelte er sich, gleich einem wütenden Stier, warf die Schultern zurück und schmiß sich selbst in die Polster des Wagens mit einer solchen Vehemenz, daß der Kutscher oben schwankte und bebte, und der Droschkengaul zusammenfuhr und groteske Sprünge machte.

Zum großen Erstaunen der Zuschauer ließ der augenscheinliche Gentleman (soweit sich aus dem Beobachten ergab), der sich noch eben zuvor mit dem andern im Handgemenge befunden hatte und die Spuren davon deutlich an sich trug, den Kopf hängen, stieg in die Droschke und ließ sich davonfahren.

»Scheint, 'ne Art Ehestandszwist,« gab der Eseltreiber seiner Meinung zur Sache Ausdruck. »Irgendwas treibt den Pfropfen 'rein, un' irgendwas treibt 'n wieder 'raus, – aber was das is', das kann weder ich noch du dem geehrten Publikum sagen.«

Und er rieb seinem kleinen Esel zärtlich die Schnauze.

»Will vielleicht einer der Herren 'ne Wette mit mir machen, daß ich die Droschke da innerhalb drei Meilen von Ewell einhole?« fragte er und ergriff die Zügel.

Aber seines kleinen Esels vorzügliche Qualität war in der Gegend berühmt.

»Denn man los!« sagte er, »denn woll'n wir mal zeigen, was du ohne 'ne besondere Auszeichnung leisten kannst, Master Tom.«

Und der kleine Esel setzte sich in Trab.


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