George Meredith
Richard Feverel
George Meredith

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Vierundvierzigstes Kapitel.

Die letzte Szene.

Die Uhr, die Hippias abwechselnd mit seinem Puls zu Rate zog, um irgend welche geheime abscheuliche Berechnungen anzustellen, zeigte halb zwölf Uhr nachts. Adrian saß und schrieb an dem Tische der Bibliothek mit einem ruhig amüsierten Ausdruck auf seinem runden Gesicht, das er etwas seitwärts geneigt über Papier und Feder hielt. In einem Halbkreis um den Stuhl des Barons saßen Lucy, Lady Blandish, Mrs. Doria und Ripton, dieser Unglücksvogel von Raynham. Sie schwiegen alle, wie Leute, die die fliehenden Minuten zählen. Ripton hatte gesagt, daß Richard bestimmt kommen würde, aber die Augen der Frauen blickten immer wieder fragend nach ihm hin, und hatten genug Grund zur Besorgnis gefunden, die mit dem Vorschreiten der Zeit zunahm. Sir Austin beharrte in seiner gewöhnlichen Miene nachdenklicher Ruhe.

Aber wenn ihm auch jede gewöhnliche Unruhe fern schien, so war er doch der erste, der sprach und seinen Zustand verriet.

647 »Bitte, stecke deine Uhr fort. Ungeduld hilft hier nichts,« sagte er, mit einer heftigen Bewegung nach seinem Bruder hin, der halb hinter ihm saß.

Hippias ließ seinen Puls los und stöhnte nachsichtig: »Dies ist kein Nachtgespenst.«

Seine Bemerkung wurde nicht beachtet und ihr Sinn blieb unklar. Adrians Feder zog einen besonders kräftigen Schnörkel auf seinem Manuskript, ob aus Mitleid oder teuflischer Freude, konnte niemand sagen.

»Was schreibst du?« fragte ihn der Baron nach einer Weile mürrisch, vielleicht geärgert durch ein Gefühl der Eifersucht auf die kühle Ruhe des weisen Jünglings.

»Störe ich dich, Onkel?« erwiderte Adrian. »Ich bin damit beschäftigt, einen Vorschlag zu entwerfen, wie man die Kaiserreiche und Königreiche Europas unter einem väterlichen Haupte vereinigen könnte, nach dem Muster des noch immer zu bewundernden und zu betrauernden heiligen Roms. Dieser Abschnitt behandelt die Erziehung von Jünglingen und Mädchen und gewisse schulmeisterliche Verrichtungen, die damit verbunden sind. Es wird verordnet, daß jeder einzige dieser Beamten ein Mann der Wissenschaft sei« usw. Und Adrian schrieb fröhlich weiter.

Mrs. Doria nahm Lucys Hand, um ihr schweigend Mut einzuflößen und Lucy lächelte zur Erwiderung, so weit es ihr möglich war.

»Ich fürchte, wir müssen ihn für heute Abend aufgeben,« bemerkte Lady Blandish.

»Wenn er gesagt hat, daß er kommen wird, dann wird er auch kommen,« warf Sir Austin ein. Etwas wie ein geheimer Kampf schien zwischen ihm und Lady Blandish zu herrschen. Er wußte wohl, daß nur ein vollkommener Erfolg dieses selbständige Gemüt noch länger würde fesseln können. Sie hatte ihn durchschaut.

»Er sagte nur, daß er bestimmt kommen würde,« sagte 648 Ripton, aber er wagte es nicht, irgend einen anzusehen, als er das sagte, denn es wurde ihm klar, daß Richard ihn vielleicht getäuscht hätte, und er kam sich wie ein schwarzer Verschwörer gegen ihrer aller Glück vor.

Er beschloß, dem Baron zu sagen, was er wußte, wenn Richard bis zwölf Uhr nicht da wäre.

»Was ist die Uhr?« fragte Hippias mit leiser Stimme.

»Zeit für mich zu Bett zu sein,« brummte Hippias, als ob ihn alle Anwesenden schlecht behandelt hätten. Mrs. Berry kam herein, um Lucy zu sagen, daß sie oben nötig wäre. Sie stand ruhig auf. Sir Austin küßte sie auf die Stirne und sagte: »Es ist besser, wenn du nicht wieder herunterkommst, mein Kind.« Sie sah ihn fragend an. »Tue mir den Gefallen und ziehe dich für die Nacht zurück,« fügte er hinzu. Lucy reichte den andern die Hand und ging, von Mrs. Doria begleitet, hinaus.

»Diese Aufregung wird dem Kinde schaden,« sagte er laut vor sich hin. Lady Blandish meinte: »Ich denke, sie hätte ebensogut wieder zurückkommen können. Sie wird doch nicht schlafen.«

»Sie wird sich um des Kindes willen zusammennehmen.«

»Sie verlangen zu viel von ihr.«

»Von ihr nicht,« sagte er mit Nachdruck.

Es schlug zwölf, als Hippias seine Uhr schloß und ärgerlich sagte: »Ich bin überzeugt, daß meine Blutzirkulation allmählich und beständig abnimmt.«

»Bis du zu der Prae-Harvey-Periode zurückgekommen sein wirst!« murmelte Adrian und schrieb weiter.

Sir Austin und Lady Blandish wußten, jede weitere Bemerkung würde dazu führen, daß er ihnen das Innere seiner Maschinerie enthüllte, deren äußerer Anblick schon quälend genug war: so hielten sie sich diskret zurück. In seinem traurigen Zustand nahm Hippias das als 649 schweigende Zustimmung und fuhr in seiner Verzweiflung fort. »Es ist Tatsache. Ihr habt es jetzt auch erkannt. Kein Mensch kann mäßiger leben, als ich, und doch wird es immer schlimmer. Mein System ist organisch gesund – glaube ich. Ich tue alles, was möglich ist und doch wird es schlimmer. Die Natur kann nie vergeben! Ich gehe zu Bett.«

Der Dyspeptiker ging ungetröstet fort.

Sir Austin nahm seines Bruders Gedanken auf. »Ich glaube, nur ein Wunder kann uns helfen, wenn wir sie beleidigt haben.«

»Nur ein Quacksalber kann uns befriedigen,« sagte Adrian und versiegelte ein Couvert von amtlicher Größe.

Ripton saß und klagte seine Seele der Feigheit an, während sie so sprachen. Lucys letzter Blick quälte ihn. Er nahm allen Mut zusammen und trat zu Adrian, der nach einigen geflüsterten Worten langsam aufstand und achselzuckend mit ihm aus dem Zimmer ging. Als sie gegangen waren, sagte Lady Blandish zu dem Baron: »Er kommt nicht.«

»Morgen denn, wenn nicht heute Abend,« erwiderte er, »aber ich sage, er wird noch heute kommen.«

»Sie wünschen wirklich, ihn mit seiner Frau vereint zu sehen?«

Die Frage veranlaßte den Baron mißfällig die Augenbrauen in die Höhe zu ziehen.

»Das können Sie fragen?«

»Ich meinte nur,« sagte die wenig edelmütige Frau, »wird Ihr System keine weiteren Opfer von den beiden verlangen?«

Als er schließlich antwortete, sagte er: »Ich halte sie in jeder Beziehung für eine hervorragende Person. Ich gestehe, ich hätte kaum hoffen können, eine zu finden, die ihr gleich käme.«

650 »Damit geben Sie auch zu, daß Ihre Wissenschaft nicht alles zustande bringen kann.«

»Nein, es war anmaßend – über einen gewissen Punkt hinaus,« sagte der Baron und meinte etwas sehr Tiefes damit

Lady Blandish sah ihn an. »Ach,« seufzte sie, »wenn wir doch unserer eignen Weisheit immer treu blieben!«

»Sie sind sehr sonderbar heute abend, Emmeline.« Sir Austin hielt in seinem Auf- und Abschreiten inne und blieb vor ihr stehen.

War sie nicht wirklich ungerecht? Hier war ein Sohn, der ihn beleidigt hatte und dem er freiwillig vergab. Hier war eine junge Frau von bescheidener Herkunft, die er freiwillig in seiner Familie aufnahm, und der er gestattete, die Rechte ihrer Stellung wahrzunehmen. Wer würde mehr getan haben – oder nur so viel? Diese Dame zum Beispiel würde, wenn sie in derselben Lage gewesen wäre, dagegen angekämpft haben. Alle Leute von Stellung, die er kannte, würden dagegen gekämpft haben, ohne dabei noch so besondere Gefühle zu haben wie er. Aber während der Baron so dachte, überlegte er nicht, was für eine besondere Erziehung sein Sohn erhalten hatte. Er stellte sich auf den gewöhnlichen Standpunkt der Väter und vergaß das System, sobald es seine Prüfung bestehen sollte. Daß er falsch gegen seinen Sohn gewesen wäre, konnte man nicht sagen, aber er war falsch gegen das System. Andere erkannten es deutlich, er aber mußte seine Lektion allmählich lernen.

Lady Blandish sah ihn voll an; dann streckte sie die Hand auf den Tisch aus und sagte: »Nun, nun!« dabei spielte ihre Hand mit einem halb offnen Paket, das auf dem Tisch lag, und zog ein kleines Buch heraus, das sie erkannte: »Ha! was ist das!« sagte sie.

651 »Benson hat es heute morgen zurückgeschickt,« teilte er ihr mit. »Der dumme Mensch hatte es mitgenommen – aus Versehen, muß ich wohl annehmen.«

Es war nichts anders als das alte Taschenbuch. Lady Blandish blätterte in den Seiten und kam auf spätere Eintragungen. Sie las: »Ein Verfasser von Sprichwörtern – was ist er anders, als ein beschränkter Kopf, dessen Aussprüche durch noch beschränktere verbreitet werden.«

»Dem kann ich nicht zustimmen,« bemerkte sie. Er war nicht in der Stimmung zu disputieren.

»War Ihre Demut geheuchelt, als Sie das schrieben?«

Er sagte nur: »Überlegen Sie, welche Sorte von Leuten durch festgesetzte Aussprüche beeinflußt werden. Ein Sprichwort ist ein Haus, das auf dem halben Weg zu einer Idee liegt, so fasse ich es auf; und die Majorität bleibt zufrieden auf dem halben Wege stehen; kann der Besitzer des Hauses diese Gesellschaft sehr schmeichelhaft finden?«

Sie fühlte, wie ihr weiblicher Verstand sich wieder unter seiner Herrschaft neigte. Es mußte Größe in einem Manne sein, der so von seiner eignen besondern und bewundernswerten Fähigkeit sprechen konnte.

Weiterhin las sie: »Wer ist unter uns ein Feigling? – Derjenige, der über die Mängel der Menschheit spottet.«

»Ach, das ist wahr! Wie ich das bewundere!« rief die dunkeläugige Dame und strahlte vor geistigem Entzücken.

Noch ein Ausspruch schien sich direkt auf ihn zu beziehen. »Es gibt keinen traurigeren Anblick und keinen schlimmeren Widerspruch, als ein weiser Mann, der der Gewalt seines Gefühle ausgeliefert ist.«

»Das muß er geschrieben haben,« dachte sie, »als er sich selbst ein Beispiel dafür war – was für ein seltsamer Mann er ist!«

652 Trotz ihrer Auflehnung war Lady Blandish noch bereit, sich zu unterwerfen. Sie war einmal schon beinahe besiegt gewesen, aber wenn sie besiegt worden war durch einen großen Geist, den sie verehrte, so konnte doch nur ein großer Charakter sie für die Dauer fesseln. Die Herbstblume blüht für die erhabenste Mannheit und wird zur rachsüchtigen Blume in geringeren Händen. Trotz alledem war es nur nötig, daß Sir Austin erfolgreich war, und die Treue dieser Dame war für immer sein. Die Prüfung stand nahe bevor.

Sie sagte noch einmal: »Er kommt heute Abend nicht,« und der Baron, auf dessen Gesicht soeben ein nachdenklich freudiger Ausdruck erschien, erwiderte ruhig: »Er ist da.«

Man hörte Richards Stimme in der Vorhalle.

Das ganze Haus war in Aufregung bei der Rückkehr des jungen Erben. Berry, der jede Gelegenheit aufsuchte, die ihn in die Nähe seiner Bessy führte, nun, da ihre erzwungene Kälte ihren Wert erhöhte – »So ist der Mann!« sagte sich die gutmütige Frau – Berry kam zu ihr herauf und verkündete die Nachricht in feierlichem Ton und mit einschmeichelnder Gebärde. »Das ist das Beste, das du seit langer Zeit gesagt hast,« erwidert sie und läßt ihn stehen, ohne ihn zu belohnen, und eilt zu Lucy, um ihr die Segensnachricht zu bringen.

»Der Himmel sei gepriesen!« damit trat sie in das Nebenzimmer, »nun werden wir doch noch alle glücklich werden. Die Männer sind wieder zu Verstand gekommen. Ich könnte Ihre heilige Jungfrau anrufen und Ihr Kreuz küssen, Sie Liebe!«

»St,« ermahnt sie Lucy und summt leise über dem Kinde auf ihrem Schoß. Die winzigen, offenen Händchen, ganz verschlafen, ballten sich, die großen, blauen Augen schreckten auf, und zitternd mit klopfendem Herzen, hörend und doch durstend mehr zu hören, bedeckte die 653 junge Mutter den Kleinen mit ihren Locken und versuchte ruhig zu werden, und wiegte ihn hin und her und untersagte Mrs. Berry auch das leiseste Flüstern.

Richard war da. Er war unter seines Vaters Dach, in dem alten Heim, das ihm so schnell fremd geworden war. Er war seiner Frau und seinem Kinde nahe. Er konnte sie beide in seine Arme schließen, und nun überfiel den jungen Mann die Fülle der Angst und der Wahnsinn seines Tuns: nun kostete er erst ganz das harte irdische Elend.

Hatte Gott nicht zu ihm gesprochen im Sturm? Hatte ihn nicht eine Hand vom Himmel heimwärts gewiesen? Und er war gekommen; hier stand er nun: von allen Seiten hörte er Glückwünsche: der Becher des Glückes wurde ihm hingereicht, und er wurde gebeten, daraus zu trinken. Welches war nun der Traum? sein Werk für den morgigen Tag oder dieses? Hätte er nicht eine bleierne Last wie eine Kugel in seiner Brust gefühlt, so hätte er denken können: das Morgen und der Tod, der darin wartete, wären der Traum. Ja, er war wach. Nun erst klärte sich die Wolke der Phantasiegebilde: er sah sein wirkliches Leben und die Farben wahrer, menschlicher Freude: und morgen mußte er vielleicht seine Augen vor ihnen schließen. Jene bleierne Kugel zerstreute alles Unwirkliche.

Sie standen um ihn herum in der Vorhalle, sein Vater, Lady Blandish, Mrs. Doria, Adrian, Ripton, Menschen, die ihn alle lange gekannt hatten. Sie schüttelten ihm die Hand, sie begrüßten ihn mit Worten, deren Wert und Bedeutung er früher nie erkannt hatte. Nun, da er es tat, wurde sie ihm zum Hohn. Da stand Mrs. Berry im Hintergrund und knixte, da war Martin Berry und verbeugte sich, da war Tom Bakewell und grinste. In mancher Beziehung war ihm der Anblick dieser Gesichter der liebste.

654 »Ach, meine alte Penelope!« sagte er und durchbrach den Kreis der Verwandten, um zu ihr zu gehen. »Tom! wie geht's dir?«

»Gott segne Sie, Mr. Richard!« winselte Mrs. Berry und flüsterte dann strahlend, »jetzt ist alles in Ordnung. Sie ist oben zu Bett und wartet auf Sie, wie neugeboren.«

Mrs. Doria war am aufgeregtesten. Sie hielt sich in seiner Nähe und forschte eifrig in seinem Gesicht und in jeder Bewegung, wie jemand, der an Masken gewöhnt ist. »Du bist blaß, Richard!« Er schützte seine Ermüdung vor. »Was hielt dich zurück, Lieber?«

»Geschäfte,« sagte er. Sie zog ihn energisch von den andern fort.

»Richard, ist es vorüber?« Er fragte, was sie meinte. »Das schreckliche Duell, Richard.« Er sah sie finster an. »Ist es schon gewesen? Ist es vorüber, Richard?« Da sie nicht sogleich eine Antwort erhielt, sprach sie weiter – ihre Aufregung war so groß, daß die Worte stoßweise aus ihrem Munde kamen. »Stelle dich nicht, als ob du nicht verstehst, Richard! Ist es vorüber? Willst du auch sterben, wie mein Kind gestorben ist? – wie Klara? Ist nicht einer in der Familie genug? Denk' an deine liebe, junge Frau – wir haben sie alle so lieb! – an das Kind! – deinen Vater! Willst du uns alle töten?«

Mrs. Doria hatte zufälligerweise etwas von Riptons Mitteilungen an Adrian aufgefangen und hatte darauf weiter gebaut mit der starken Kraft einer geschlagenen Seele.

Sehr erstaunt darüber, wie diese Frau es erraten haben konnte, sagte er ruhig: »Es ist alles arrangiert, die Angelegenheit, die du meinst.«

»Wirklich? Ist das wahr, Lieber?«

»Ja.«

»Sage mir,« – aber er riß sich von ihr los und sagte: 655 »Du wirst morgen das Nähere darüber hören,« und sie ließ ihn gehen, da sie sich im Augenblick nicht den doppelten Sinn seiner Worte klar machte.

Er hatte zwölf Stunden lang nichts gegessen und bat ihm etwas zu geben, aber er wollte nur trocknes Brot und Rotwein annehmen, was auf einem Teebrett nach dem Studierzimmer gebracht wurde. Ohne irgend welche Erregtheit zu zeigen, sagte er, daß er etwas essen müsse, ehe er die jüngste Hoffnung von Raynham sehen wollte. So saßen sie und er zerbrach das Brot und aß große Bissen, spülte sie mit Wein herunter und sprach, wovon die andern sprechen wollten. Sein Vater fühlte sich trotz seiner Weisheit Jahre hinter ihm zurück; er war so ganz verändert, er sprach überlegt, benahm sich wie ein Mann von dreißig. Er hatte in der Tat alle die Eigenschaften erlangt, die dazu nötig sind, um ein großes Elend zu verbergen. Aber mochten die Dinge liegen, wie sie wollten, jetzt war er hier.

Einmal im Leben waren Sir Austins Aussichten in die Zukunft durch eine Nacht begrenzt.

»Willst du jetzt zu deiner Frau gehen?« hatte er gefragt, und Richard hatte in wunderbar gleichgültigem Ton geantwortet. Der Baron hielt es für besser, daß sie bei diesem Wiedersehen allein sein sollten, und hatte Lucy sagen lassen, sie möchte oben bleiben. Die andern fühlten, daß man Vater und Sohn jetzt allein lassen müßte. Adrian trat zu Richard und sagte: »Ich kann diesen peinvollen Anblick nicht länger ertragen, du Hungerprinz! Du magst dich selbst in dem Glauben betrügen, daß du jetzt eine Mahlzeit einnimmst, aber verlaß dich darauf, deine Nachkommenschaft – und sie droht zahlreich zu werden – wird sich gegen dich erheben und diesen Tag bitter beklagen. Die Natur vergibt niemals. Ein verlornes Mittagessen kann nie wieder ersetzt werden! Gute Nacht, 656 mein lieber Junge. Und hier – tue mir den Gefallen und nimm dies von mir an,« er reichte Richard das große Kuvert, das die Bogen enthielt, die er an dem Abend beschrieben hatte.

»Ein Beglaubigungsschreiben,« rief er in humoristischem Ton und schlug Richard auf die Schulter. Ripton hörte noch die Worte: »Fortpflanzer – Art,« hatte aber keine Ahnung, was sie bedeuten sollten. Der Blick des weisen Jünglings sagte: »Du siehst, wir haben hier alles für dich in Ordnung gebracht,« und er verließ das Zimmer mit diesem ungewöhnlichen Schimmer von Ernsthaftigkeit.

Richard reichte ihm und Ripton die Hand. Dann sagte Lady Blandish Gute Nacht und lobte Lucy und versprach für beider Glück zu beten. Die beiden Männer, die wußten, was über ihm schwebte, sprachen noch draußen zusammen. Ripton wollte eine bestimmte Versicherung erlangen, daß das Duell nicht ausgefochten werden würde, aber Adrian sagte: »Dazu ist morgen Zeit genug. Er ist sicher, so lange er hier ist. Morgen werde ich der Sache ein Ende machen,« und darauf scherzte er mit Ripton und machte Anspielungen auf seine Abenteuer mit Miß Random, welche, wie Adrian meinte, zu mancherlei ähnlichen Verwicklungen geführt haben müßten. Richard war ja nun da, und so lange er da war, mußte er außer Gefahr sein; so dachte Ripton und ging zu Bett. Mrs. Doria überlegte ebenso und hielt ihn ebenso für außer Gefahr, so lange er da war. Dieses eine Mal in ihrem Leben dachte sie, es wäre besser, sich nicht auf ihren Instinkt zu verlassen, da sie fürchtete, unnütze Störungen zu erregen, wo Frieden herrschen sollte. So sagte sie ihrem Bruder keine Silbe von ihren Befürchtungen. Sie sah nur tiefer in Richards Augen, als sie ihn küßte und lobend über Lucy sprach. »Ich habe in ihr eine zweite Tochter gefunden, Lieber! Ach, wenn ihr beide doch glücklich würdet!«

657 Jetzt wurde Lucy von allen gelobt. Sein Vater fing sofort davon an, sobald sie allein waren. »Die arme Helen! Deine Frau ist ein großer Trost für sie gewesen, Richard. Ohne sie wäre Helen, glaube ich, ganz in ihren Schmerz versunken. Ein solch liebliches, junges Wesen, das solch geistige Fähigkeiten besitzt und ein solches Gefühl für ihre Pflichten, habe ich nie vorher angetroffen.«

Er wünschte durch diese Lobeserhebungen über Lucy seinem Sohne eine Genugtuung zu geben, und noch vor wenigen Stunden hätte er damit Erfolg gehabt. Nun hatte es die entgegengesetzte Wirkung.

»Du beglückwünscht mich zu meiner Wahl, Vater?« Richard sprach ruhig, aber die Ironie in seinen Worten war bemerkbar; er konnte nicht anders sprechen, die Bitterkeit seines Herzens war zu groß.

»Ich halte dich für sehr glücklich,« sagte sein Vater. Bei seiner großen Empfindlichkeit für Ton und Wesen erstarrte seine Aufwallung väterlicher Gefühle. Richard kam ihm nicht entgegen. Er lehnte gegen den Kamin, blickte auf den Boden und hob die Augen nur, wenn er sprach. Glücklich! sehr glücklich! Er durchdachte die letzte Zeit seines Lebens, er erinnerte sich, wie klar er es erkannt hatte, daß sein Vater Lucy lieben müßte, wenn er sie nur erst sähe, er erinnerte sich an seine Bemühungen, sie dazu zu bewegen mit ihm zu kommen, und ein scharfer, elender Zorn umdüsterte sein Gehirn. Aber konnte er dieses sanfte Herz tadeln? Wen sollte er tadeln? Sich selbst? Nicht allein. Seinen Vater? Ja und nein. Die Schuld lag hier und lag dort, sie war überall und nirgends, und der junge Mann warf sie auf das Schicksal und zürnte mit dem Himmel und wurde unruhig.

»Richard,« sagte sein Vater und trat dicht an ihn heran, »es ist spät heute abend. Ich möchte nicht, daß Lucy noch länger in Erwartung bleibt, oder ich hätte mich 658 vollständig mit dir ausgesprochen, und ich glaube – oder ich hoffe es wenigstens, du würdest mir recht gegeben haben. Ich hatte Ursache zu glauben, daß du nicht nur mein Vertrauen verletzt, sondern mich gröblich betrogen hattest. Es war nicht so, jetzt weiß ich es. Ich hatte mich geirrt. Ein großer Teil unseres Mißverständnisses wurde dadurch hervorgerufen. Aber du warst verheiratet – warst noch ein Knabe: du wußtest nichts von der Welt, wenig von dir selbst. Um dich für dein späteres Leben zu retten, – denn es gibt eine Zeit, wenn reife Männer und Frauen, die jung geheiratet haben, der Versuchung stärker zuneigen, als in der Jugend – obgleich sie ihr nicht so ausgesetzt sind – um dich davor zu retten, bestimmte ich, daß du Selbstverleugnung kennen lernen solltest und auch etwas von deinen Mitmenschen beiderlei Geschlechtes, ehe du dich in einem Verhältnis festsetztest, das sonst hätte gefährlich werden können, wie vortrefflich die Frau auch sein mochte, die deine Gefährtin war. Mein Erziehungssystem für dich würde ohne dies mangelhaft gewesen sein, und du würdest die Wirkung davon empfunden haben. Das ist nun vorüber. Du bist ein Mann. Die Gefahren, denen deine Natur zugänglich war, sind, wie ich hoffe, jetzt zu Ende. Ich wünsche, daß du glücklich wirst, und ich gebe euch beiden meinen Segen und bete zu Gott, daß er euch beide führen und stärken möge.«

Es kam Sir Austin nicht in den Sinn, daß seine Worte nicht aufrichtig sein könnten. Aber, ob sie nun wahr waren oder nicht, für seinen Sohn waren sie wertlos. Was er von überwundener Gefahr und von Glück sagte, klang ihm wie Hohn.

Kalt nahm Richard die ausgestreckte Hand seines Vaters.

»Wir wollen zu ihr gehen,« sagte der Baron, »vor ihrer Türe will ich dich verlassen!«

659 Ohne sich zu rühren, seinen Vater fest anschauend, mit einem harten Ausdruck in seinem Gesicht, das sich dunkler färbte, sagte Richard: »Darf ein Gatte, der seiner Frau untreu geworden ist, zu ihr gehen, Vater?«

Es war schrecklich, es war grausam, Richard wußte es. Er bedurfte keines Rates in dieser Sache, da sein Entschluß vollständig gefaßt war. Gestern noch würde er auf seinen Vater gehört und sich allein angeklagt haben, und getan haben, was getan werden mußte, demütig vor Gott und vor ihr: jetzt in der Rücksichtslosigkeit seines Elends hatte er ebensowenig Mitleid mit irgend einem andern wie mit sich selbst. Sir Austins Augenbrauen waren finster zusammengezogen.

»Was sagtest du, Richard?«

Sein Verstand hatte es klar aufgefaßt, aber das – das Schlimmste, was er hören konnte, – dies, was er einst gefürchtet und bezweifelt, und worüber er sich wieder beruhigt hatte, und was er abgetan glaubte – konnte das sein?

Richard sagte: »Ich habe dir alles schon gesagt, nur nicht in denselben Worten, als wir uns trennten. Was sonst, denkst du, hätte mich von ihr fern halten können?«

Durch sein gefühlloses Wesen aufgebracht, rief sein Vater:

»Was bringt dich denn jetzt zu ihr zurück?«

»Das bleibt zwischen uns beiden,« war die Antwort.

Sir Austin sank in seinen Stuhl. Nachdenken war unmöglich. Er sprach mit zornigem Herzen: »Du wirst es nicht wagen, sie zu dir zu nehmen, ohne –«

»Nein, Vater,« unterbrach ihn Richard, »das werde ich nicht. Fürchte nichts.«

»Du liebtest also deine Frau nicht?«

»Ob ich sie liebte?« ein schwaches Lächeln glitt über Richards Antlitz.

660 »War dir denn diese – diese andere Person so lieb?«

»So lieb? Wenn du mich fragst, ob ich auch nur eine Neigung für sie empfand, dann kann ich dir sagen: keine.«

Ach, niedrig menschliche Natur! Dann wie? Dann warum? Tausend Fragen standen auf in dem Gemüt des Barons. Bessy Berry hätte sie beantworten können, jede einzelne.

»Armes Kind! armes Kind!« redete er Lucy in Gedanken an und schritt auf und ab in dem Zimmer. Als er an sie dachte und an ihre tiefe Liebe zu ihrem Sohne – ihr treu vergebendes Herz – schien es ihm, als wenn ihr dieses Elend erspart werden müßte.

Er schlug Richard vor, sie zu schonen. Ungeheuer groß wäre der Unterschied zwischen Männern und Frauen in dieser einen Sünde, sagte er und unterstützte seine Ansicht mit Zitaten aus der Medizin und Moral. Er ließ sich von seiner Beweisführung so weit bringen, daß man, wenn man ihn hörte, hätte denken können, er achtete diese Sünde bei Männern in der Tat nur gering. Seine Worte waren überflüssig.

»Sie muß es erfahren,« sagte Richard finster. »Ich werde jetzt zu ihr gehen, Vater, wenn du erlaubst.«

Sir Austin hielt ihn zurück, beschwor ihn, widersprach sich selbst, brachte alle seine Grundsätze durcheinander, ließ alle seine Theorien unsinnig erscheinen. Er konnte seinen Sohn nicht dazu bewegen, in seinem Entschluß schwankend zu werden. Schließlich, nachdem sie sich Gute Nacht gesagt hatten, erkannte er, daß das Glück von Raynham von Lucys Gnade abhinge. Er hatte keine Furcht vor ihrem sanften Herzen, aber es war sonderbar, daß es dahin hatte kommen müssen. Wen sollte er anklagen – die Wissenschaft oder die menschliche Natur?

Er blieb in dem Studierzimmer zurück und sann nach über diese Frage, zuweilen empfand er Verachtung gegen 661 seinen Sohn, und dann wieder ergriff ihn ein ungewohnter Zweifel an seiner eignen Weisheit: er war sehr beunruhigt und sehr bemitleidenswert, selbst wenn er von seinem Sohne den Schlag verdient hatte, der ihn in solches Elend stieß.

Richard ging direkt zu Tom Bakewell, weckte ihn aus tiefem Schlaf und sagte ihm, daß er sein Pferd satteln und ihn in einer Stunde an dem östlichen Parkgitter erwarten sollte. Tom konnte sich einzig und allein dem Heldentum nähern, wenn er seinem Herrn ein treuer Sklave war, und indem er das war, handelte er nach seiner Auffassung von dieser hohen und ruhmreichen Menschenart. Er stand auf und steckte seinen Kopf heroisch in kaltes Wasser. »Das Pferd wird fertig sein, Herr,« sagte er.

»Tom, wenn du mich nicht mehr hier in Raynham sehen solltest, wird dir dein Geld weiter ausgezahlt werden.«

»Ich möcht' lieber den gnäd'gen Herrn sehen, als das Geld,« sagte Tom.

»Und du wirst immer aufpassen und sehen, daß ihr kein Leid geschieht, Tom?«

»Mrs. Richard, Herr?« Tom schreckte auf. »Gott helfe mir, Mr. Richard –«

»Keine weiteren Fragen, du wirst tun, was ich sage.«

»Ja, Herr, das werd' ich. Tat es auf der Insel Wight.«

Schon allein der Name der Insel erregte Richards Blut und er mußte auf und ab gehen, ehe er an Lucys Tür klopfen konnte. Jene schändliche Verschwörung, der er seine Erniedrigung und sein Elend verdankte, machte es ihm, wenn er daran dachte, kaum noch möglich, menschlich zu fühlen.

Die sanfte geliebte Stimme antwortete auf sein 662 Klopfen. Er öffnete die Tür und stand vor ihr. Lucy war ihm auf halbem Wege entgegengekommen. In dem Augenblick, der verstrich, ehe sie in seinen Armen war, hatte er Zeit zu erkennen, wie sie sich verändert hatte. Er hatte eine mädchenhafte Gestalt verlassen, er sah eine Frau, eine blühende Frau – denn wenn sie auch zuerst blaß war, sobald sie ihn erblickte, überzog tiefe, warme Farbe ihr Antlitz und ihren Hals und ihren Busen, der halb durch das lose Morgengewand durchschien, und das Gefühl ihrer großen Schönheit ließ sein Herz heftiger schlagen und alles vor seinen Augen verschwimmen.

»Mein Liebling,« riefen sie beide und klammerten sich aneinander und ihr Mund preßte sich fest auf den seinen. Sie sprachen nichts weiter. Seine Seele versank in ihrem Kuß. Er stützte sie, da ihre Kraft sie zu verlassen drohte, und neigte sich, beinahe ebenso schwach wie sie über sie und preßte sie fester und immer fester an sich, bis sie wie ein Körper waren, und während ihr Kuß alles Erinnern auslöschte, genoß er frei den Segen ihrer Umarmung. So viel gewährte ihm der Himmel. Er führte sie zu einem Stuhl und kniete zu ihren Füßen, mit beiden Armen sie umschlingend. Ihre Brust hob sich, ihre Augen ließen nicht von ihm, ihr Strahl erschien wie das Licht auf einer wogenden Welle. Dieses junge Geschöpf, das gewöhnlich so freimütig und natürlich war, verging vor Schüchternheit in den Armen ihres Gatten, eine frauenhafte Schüchternheit in dem Strom frauenhafter Liebe, zehnmal verführerischer als die Schüchternheit des Mädchens. Unendlich viel schrecklicher und schwerer schien der Verlust jetzt, als von ferne – fern an dem Horizont der Erinnerung – die schreckliche Wirklichkeit wieder vor ihm auftauchte.

Sie verlieren? dieses verlieren? Er sah aus, als ob Gott es bestätigen sollte.

Dieselben süßen blauen Augen! die Augen, die er so 663 oft gesehen hatte in dem dahinsterbenden Glanz des Abends; auf ihm weilten sie, unruhig, zitternd und glänzend, aber treu; ihr Strahl, wie das Licht auf einer wogenden Welle.

Und ihm treu! treu, gut, glänzend wie die Engel des Himmels. Und sein war sie! eine Frau – seine Frau! Die Versuchung, sie in seine Arme zu nehmen und zu schweigen, war übermächtig: der Wunsch, an ihrem Herzen zu sterben, so stark, daß seine ganze Lebenskraft danach strebte. Noch einmal zog er sie an sich, aber dieses Mal tat er es, wie ein Räuber einen kostbaren Schatz ergreift – frohlockend, aller Welt zum Trotz. Nur einen Augenblick. Lucy, deren reine Zärtlichkeit jetzt die erste wilde Leidenschaft des Wiedersehens überwunden hatte, beugte ihren Kopf aus seiner Umarmung zurück und flüsterte beinahe stimmlos, während ihre Augenlider bebten: »Komm und sieh ihn – den Kleinen!« und dann in freudiger Hoffnung auf das Glück, das sie ihrem Gatten geben und mit ihm teilen wollte, und zitternd und zweifelnd, wie er dabei fühlen würde, errötete sie und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und sie versuchte das Gefühl des Fremdseins abzuwerfen, das ein Jahr der Trennung, der Mißverständnisse und der Ungewißheit ihr gebracht hatte.

»Liebster! Komm und sieh ihn. Hier ist er.« Sie sprach deutlicher jetzt, wenn auch nicht lauter.

Richard hatte sie losgelassen, und sie nahm seine Hand und er ließ sich von ihr auf die andere Seite des Bettes führen. Sein Herz fing an heftig zu schlagen bei dem Anblick des kleinen Bettchens, das mit rosigen Vorhängen und weißen Spitzen gleich milchweißen Sonnenwolken bedeckt war.

Es dünkte ihm, als müsse er seine ganze Manneskraft verlieren, wenn er in das Antlitz des Kindes sähe.

664 »Halt an!« rief er plötzlich.

Lucy wandte sich zuerst zu ihm und dann zu dem Kinde, da sie fürchtete, daß es aufgestört worden wäre.

»Lucy, komm zurück!«

»Was ist dir, Liebster?« sagte sie, beunruhigt durch den Ton seiner Stimme und den Druck, den er, ohne es zu wissen, ihrer Hand gegeben hatte.

Ach, Gott! wie schwer war die Prüfung! daß er morgen dem Tod ins Auge blicken und von seiner Geliebten fortgerissen werden mußte – von seinem Weib und seinem Kind; und daß, ehe er fortging, ehe er es wagen durfte sein Kind zu sehen und sein Haupt reuevoll an der Brust seiner jungen Frau ruhen zu lassen – zum letzten Male vielleicht – er ihr Herz durchbohren und das Bild zertrümmern mußte, das sie sich von ihm gemacht hatte.

»Lucy!« Sie sah, wie er sich in Qualen wand, und ihr Gesicht wurde bleich wie seines – sie beugte sich zu ihm, um mit ganzer Seele nur zu hören.

Er hielt ihre beiden Hände, damit sie ihn ansehen und die schreckliche Wunde nicht schonen sollte, die er jetzt ihren Augen bloß legen mußte.

»Lucy! Weißt du, warum ich heute nacht zu dir gekommen bin?«

Sie bewegte ihre Lippen und wiederholte seine Worte.

»Lucy, hast du es erraten, weshalb ich nicht früher gekommen bin?«

Sie schüttelte das Haupt mit weit offnen Augen.

»Lucy! ich kam nicht, weil ich meiner Frau nicht wert war! Verstehst du mich?«

»Liebster,« ihre Stimme zitterte klagend und sie hing sich zusammengekauert an ihn, »was habe ich getan, daß du mir so gezürnt hast?«

»Ach, du Geliebte!« rief er und die Tränen stürzten 665 ihm aus den Augen. »Ach, du Geliebte!« war alles, was er sagen konnte, während er ihre Hände mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte.

Sie wartete, beruhigt, aber voller Angst.

»Lucy, ich blieb fern von dir – ich konnte nicht zu dir kommen, weil . . . Ich wagte nicht zu dir zu kommen, mein Weib, meine Geliebte! Ich konnte nicht kommen, weil ich ein Feigling war: weil – höre mich – das war der Grund: ich habe mein Ehegelübde gebrochen.«

Wieder bewegten sich ihre Lippen. Sie versuchte den unklaren, körperlosen Sinn zu fassen. »Aber du liebst mich, Richard? Mein Gatte, du liebst mich?«

»Ja! Ich habe niemals eine andere Frau geliebt und werde niemals eine andre lieben, außer dir!«

»Geliebter! Küsse mich!«

»Hast du verstanden, was ich dir gesagt habe?«

»Küsse mich.«

Er berührte nicht ihre Lippen. »Ich bin heute nacht zu dir gekommen, um deine Vergebung zu erflehen.«

Ihre Antwort war: »Küsse mich.«

»Kannst du einem so schlechten Manne verzeihen?«

»Aber du liebst mich ja, Richard?«

»Ja! das kann ich vor Gott beschwören. Ich liebe dich, und ich habe dich verraten und ich bin deiner nicht wert – nicht wert deine Hand zu berühren, zu deinen Füßen zu knien, dieselbe Luft mit dir zu atmen.«

Ihre Augen strahlten. »Du liebst mich! du liebst mich, Geliebter!« und wie jemand, der durch die Finsternis der Furcht gesegelt ist und das Tageslicht erreicht hat, sagte sie: »Mein Gatte! mein Geliebter! du wirst mich nie mehr verlassen? wir werden uns nie mehr trennen?«

Er atmete schwer. Um die Unruhe aus ihrem Antlitz zu verscheuchen, in dem ein neues Gefühl der Furcht aufstieg, berührte er ihren Mund. Dieser Kuß, in dem sie 666 aussprach, was ihre Seele zu sagen hatte, beruhigte sie, und sie lächelte glücklich danach und erinnerte ihn in ihrem Wesen an seinen ersten Eindruck von ihr, an dem Sommermorgen in dem Felde voller Wiesenspiräa. Er hielt sie an sich gepreßt und dann dachte er an ein heiligeres Bild: an Mutter und Kind: an die süßen Wunder des Lebens, die sie ihm enthüllt hatte.

Hatte er nicht sein Gewissen freigesprochen? Wenigstens glaubte er, daß die Schmerzen, die noch auf ihn warteten, ihm das Recht gaben, so zu denken. Jetzt folgte er ihrer führenden Hand. Lucy flüsterte: »Du mußt ihn nicht stören – du mußt ihn nicht berühren, Lieber!« und behutsam zog sie die Decke von der kleinen Schulter. Ein Arm des Kindes lag auf dem Kissen, die kleine Hand war offen. Sein Kindermund war wie schmollend aufgeworfen, die dunkeln Augenwimpern lagen auf den vollen Wangen; Richard bückte sich tiefer zu ihm nieder, begierig nach einer Bewegung spähend, zum Zeichen, daß er lebte. Lucy flüsterte: »Er schläft wie du, Richard – einen Arm unter dem Kopf.« O, großes Wunder! die Regung einer alles umfassenden Zärtlichkeit war in Richard. Er atmete schnell und leise, und beugte sich tiefer nieder, bis Lucys Locken, da sie sich an ihn geschmiegt hatte und sich mit ihm neigte, über die rosa Polsterung des Bettchens fielen. Ein Lächeln glitt über die runden Wangen; der kleine knospende Mund war in lebhafter Bewegung. Die junge Mutter flüsterte errötend: »Er träumt von mir,« und die einfachen Worte ließen Richard besser erkennen als seine Augen, was das bedeutete. Dann fing Lucy an in leiser Kindersprache zu summen, und die kleinen Finger bewegten sich und es schien, als wenn der Kleine seine behagliche Stellung ändern wollte, es sich aber mit einem friedlichen, kleinen Seufzer anders überlegte und es noch aufschöbe. Lucy flüsterte: »Er ist 667 solch ein großer Bursche. Ach, wenn du ihn wach sehen wirst, er ist dir so ähnlich, Richard.«

Er hörte nicht gleich, was sie sagte: es schien, als ob ein Stück Himmel hier in seinem Ebenbilde herabgefallen wäre: je menschlicher das Vorhandensein des Kindes ihm wurde, desto himmlischer erschien es ihm. Sein Sohn! Sein Kind! würde er ihn jemals wach sehen? Bei diesem Gedanken faßte er die Worte auf, die Lucy vorher gesprochen, und schreckte aus seinem Traume auf: »Wird er bald aufwachen, Lucy?«

»Ach, nein! noch nicht, Lieber, noch mehrere Stunden nicht. Ich wollte ihn für dich wach halten, aber er war so schläfrig.«

Richard trat von dem Bettchen zurück. Er fühlte, daß wenn er die Augen seines Knaben sehen und ihn einmal an sein Herz drücken würde, er nicht die Kraft haben würde, ihn je wieder zu verlassen. Dann sah er noch einmal auf ihn nieder und kämpfte wieder, um sich von ihm loszureißen. Zwei Seelen kämpften in seiner Brust, oder vielleicht dauerte der Kampf zwischen Gott und Teufel noch immer fort. Er war gekommen, um sein Kind zu sehen und mit seiner Frau Frieden zu machen, ehe es zu spät war. Durfte er nicht bei ihnen bleiben? Durfte er nicht jene teuflische Verpflichtung von sich weisen? Wurde ihm nicht hier ein himmlisches Glück geboten? – Wenn der törichte Ripton es nicht aufgeschoben hätte, ihm von seiner Unterredung mit Mountfalcon zu erzählen, hätte alles gut werden können. Aber der Stolz sagte, es wäre unmöglich. Und die Beleidigung tauchte wieder vor ihm auf. Denn warum mußte er so erniedrigt und so befleckt vor seiner Geliebten erscheinen? Eine tolle Freude verdunkelte von neuem sein Gehirn in der Aussicht, Rache nehmen zu können an dem Schurken, der ihm diese Falle gestellt hatte. Wenn er bliebe, könnte er das 668 nicht. So kam er zum Entschluß und schob die Schuld auf das Schicksal. Der Kampf war vorüber, aber ach, der Schmerz!

Lucy sah, wie heiße Tränen über sein Antlitz strömten und auf das Bettchen des Kindes fielen. Sie staunte über ein solches Übermaß der Empfindung. Aber als seine Brust sich hob und ein furchtbar tödlicher Schmerz ihn ergriffen zu haben schien, sank ihr Herz und sie versuchte ihn in ihre Arme zu schließen. Er wandte sich von ihr fort und trat zum Fenster. Der Halbmond schien über dem See.

»Sieh!« sagte er, »erinnerst du dich, wie wir dort ruderten an einem Abend und den Schatten der Zypressen sahen? Ich wünschte, ich hätte heute abend früher kommen können, und wir hätten rudern können und ich hätte dich noch einmal singen hören.«

»Liebster,« sagte sie, »würde es dich glücklich machen, wenn ich jetzt mit dir ginge? Ich bin bereit.«

»Nein, Lucy, Lucy, du bist tapfer!«

»Ach, nein! ich bin es nicht. Früher dachte ich, ich wäre es. Ich weiß jetzt, daß ich es nicht bin.«

»Ja! gelebt zu haben – mit dem Kinde an deinem Herzen – und niemals eine Klage geäußert zu haben! – Du bist tapfer. Ach, meine Lucy! mein Weib! du, die du mich zum Manne gemacht hast! Ich habe dich feige genannt. Ich erinnere mich. Ich war der Feigling – ich, der elende eitle Narr! Geliebte! ich werde dich jetzt verlassen. Du bist tapfer und du wirst es ertragen. Höre: in zwei oder drei Tagen kann ich vielleicht zurück sein – zurück sein, um zu bleiben, wenn du mich aufnehmen willst. Versprich mir ruhig zu Bett zu gehen. Küsse das Kind von mir und erzähle ihm, daß sein Vater ihn gesehen hat. Er wird bald sprechen lernen. Wird er bald sprechen, Lucy?«

669 Ein schrecklicher Verdacht machte sie sprachlos, sie konnte nur mit beiden Händen seinen Arm fest umklammern.

»Du willst gehen?« stieß sie dann hervor.

»Für zwei oder drei Tage. Nicht länger – hoffe ich.«

»Heut abend?«

»Ja. Jetzt!«

»Jetzt gehen? mein Gatte!« ihre Kräfte verließen sie.

»Du wirst tapfer sein, meine Lucy!«

»Richard! Mein geliebter Mann! Du willst gehen? Was führt dich von mir fort?« Aber sie fragte nicht weiter, sie fiel auf ihre Knie und bat in Mitleid erregenden Tönen, er möchte doch bleiben – möchte sie nicht verlassen. Dann zog sie ihn zu dem kleinen Schläfer und bat ihn an seiner Seite zu beten, und das tat er, stand aber plötzlich, mitten aus dem Gebete, auf und nachdem er wenige halbgebrochene Laute gemurmelt hatte – sie betete mit scharf angespannten Nerven, betete in dem Glauben, daß das, was sie zu der vermittelnden Mutter Gottes da oben sagte, ihn fester halten würde, als menschliche Hände. Auch konnte er nicht gehen, so lange sie so kniete.

Und er schwankte. Er hatte nicht mit ihrem schrecklichen Leid gerechnet. Sie trat zu ihm, ganz ruhig. »Ich wußte, du würdest bleiben.« Und seine Hand fassend und sie in ihrer unschuldigen Weise liebkosend, sagte sie: »Bin ich denn so anders geworden, als die, die du einstmals lieb hattest? Du wirst mich doch nicht verlassen, Lieber?« Aber die Angst kehrte wieder zurück und ihre Lippen zitterten, als sie sprach. Er war beinahe besiegt durch ihre liebliche Weiblichkeit. Sie zog seine Hand an ihr Herz und preßte sie an ihre Brust:

»Komm, ruhe an meinem Herzen,« flüsterte sie mit einem heilig süßen Lächeln.

Er schwankte noch stärker und neigte sich über sie, aber die ganze Kraft der Hölle zusammenrufend, küßte er sie 670 plötzlich, rief ein Abschiedswort und eilte zur Türe. In einem Augenblick war alles vorüber. Sie rief seinen Namen, klammerte sich wild an ihn, aber er flehte sie an tapfer zu sein, denn er wäre entehrt, wenn er nicht ginge. Dann schüttelte er sie von sich ab.

Mrs. Berry wurde durch ein ungewöhnlich langes, klagendes Weinen des Kindes aufgeweckt, welches zeigte, daß niemand es tröstete, und da sie auf ihre Frage, ob sie eintreten dürfte, keine Antwort erhielt, war sie kühn genug, unaufgefordert einzutreten. Da sah sie Lucy mit dem Kinde auf ihrem Schoß auf dem Fußboden sitzen, bewußtlos: – sie hatte es aus dem Schlaf genommen und hatte versucht, mit ihm ihrem Manne zu folgen, als ihr stärkstes Mittel ihn zu bezwingen, und war ohnmächtig zusammengebrochen.

»Ach Gott! Ach Gott!« stöhnte Mrs. Berry, »und grade wo ich denke, daß sie so glücklich sind!«

Sie wärmte und liebkoste das Kind, und allmählich gelang es ihr auch, Lucy wieder zum Bewußtsein zu bringen, und da hörte sie, was sie in diese Lage gebracht hatte.

»Gehen Sie zu seinem Vater,« sagte Mrs. Berry. »Ja, ja, ja, mein Kleinchen, mein Süßerchen! Gehen Sie, meine Liebe, und alle Pferde aus Raynham müssen hinter ihm her. Dahin bringen uns die Männer! Ja, ja, ja, mein Kleiner! Oder Sie nehmen das goldene Kleine und ich gehe.«

Der Baron klopfte selbst an die Türe.

»Was bedeutet das?« sagte er. »Ich hörte ein Geräusch und einen Schritt die Treppe hinabgehen.«

»Mr. Richard ist fort, Sir Austin! Ist von seiner Frau und seinem Kinde fortgegangen. Eia – popeia – Ach, du meine Güte, was für Kummer ist über uns gekommen!« und Mrs. Berry weinte und sang dem Kinde vor und der Kleine schrie heftig und Lucy schluchzte und 671 nahm ihn auf den Arm und sang ihm vor mit einem bittern Zug um die Lippen, und ihre Tränen strömten auf ihn herab. Und wenn der wissenschaftlich gebildete Menschenkenner bis zu seinem Todestage den Anblick dieser beiden treuen Frauen vergessen kann, wie sie mit ihren elenden Herzen trällerten, um das Kind zu beruhigen, dann kann nur sehr wenig Menschliches in ihm sein.

Kein Schlaf herrschte länger in Raynham in jener Nacht.

 


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