George Meredith
Richard Feverel
George Meredith

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Fünfzehntes Kapitel.

Ferdinand und Miranda.

Er war auf dem Eiland der viel umstrittenen Bermudas gelandet. Die Welt lag in Trümmern hinter ihm, Raynham in ferne Nebel eingehüllt, ein Phantom im Vergleich zu der lebensvollen Wirklichkeit dieser weißen Hand, die ihn hierher gezogen hatte, tausende von Meilen in einem Augenblick. Horch, wie Ariel in den Lüften sang! Wie herrlich glänzt der Himmel! Welche Wunder umstrahlen sein verzaubertes Haupt! Und o Wunder! 143 Schöne Flamme! in deren Lichte sich die Herrlichkeit des Daseins zum ersten Male enthüllt . . .

Göttliche Miranda! Prinz Ferdinand liegt dir zu Füßen!

Oder ist es Adam, dem im Schlafe eine Rippe genommen ist, die nun so verwandelt ihn das Paradies sehen und verlieren läßt? . . .

Mit solch glühenden Blicken sah sie der Jüngling. Für ihn war sie die erste Frau.

Und sie – die ganze Menschheit war ihr Kaliban, diesen fürstlichen Jüngling ausgenommen.

Das sprachen ihre Blicke, als sie so einander gegenüber standen; er bleich, sie errötend.

Sie war in der Tat wunderbar lieblich und würde für schön gegolten haben neben vielen Rivalinnen. An einer verzauberten Küste konnte ein Jüngling, der nach einem System erzogen und so scharf angespannt war wie ein Pfeil auf der Bogensehne, mit ihr auf- und davonfliegen. Die sanften Rosen ihrer Wangen, die Klarheit ihrer Augen zeugten für die Reinheit ihres Körpers, und ihre Haltung offenbarte Gesundheit und Fröhlichkeit. Hätte sie mit andern Bewerberinnen vor Sir Austin gestanden, so hätte dieser gebildete Humanist ihr zur Vollendung seines Systems den Handschuh seines Sohnes zugeworfen. Der große Sommerhut, der über ihrer Stirne nickte, schien eins zu sein mit dem lose herabhängenden Haar, und diese von feurigen Lichtern durchwobenen Locken, die doch kaum Locken waren, sondern leicht gewellt sich nur an den Spitzen kräuselten, fielen als sonniger, rötlicher Strom an ihrem Rücken beinahe bis zur Taille hinab; eine wundervolle Vision für den Jüngling, dem das Ganze als eine Blume der Schönheit erschien, ohne daß er die einzelnen Züge erkannte. Und doch zeigten sich in ihrem Antlitz Farbentöne, aus denen 144 er viel hätte lesen können. Ihre vollen, dunkeln Augenbrauen hoben sich kräftig gegen die durchsichtig zarte Stirne ab, trafen sich in schön geschwungenen Bogen in der Mitte und verlängerten sich zu einer langen, geraden Linie nach den Schläfen hin; man sah, daß dieses Mädchen geformt war, um die Bilder der Erde in sich aufzunehmen, und erkannte an der geschmeidigen Beweglichkeit ihrer Brauen, daß dieses wundervolle Geschöpf ihre Anlagen gebrauchte und für den, der sie erblickte, keine Statue bleiben würde. Unter den dunkeln Brauen schossen leichtgewölbte Wimpern hervor, die den großen, freimütigen, blauen Augen einen dunkeln Glanz, eine geheimnisvolle Tiefe verliehen – mehr als der Verstand jemals würde ergründen können: für Prinz Ferdinand deshalb reicher als alle irdische Weisheit. Denn wenn die Natur zum Künstler wird und auf einem schönen Antlitz Gegensätze der Farbe hervorzaubert, wo ist dann der Weise oder wo das Orakel, das an Tiefe des Ausdrucks dem leichtesten Blicke solcher Augen gleich käme? Aber auch Prinz Ferdinand war schön. Sein dünner Ruderanzug zeigte seine kräftige, ritterliche Gestalt. Sein leicht gelocktes Haar, das von Lady Blandish sehr bewundert wurde, fiel seidenweich an den Schläfen herab über den beinahe unmerkbar leicht nach oben gerichteten Bogen seiner Augenbrauen und gab seinem Profil eine kühne Schönheit, der seine stumme Schüchternheit einen erhöhten Reiz verlieh. Ein scharf gespannter Pfeil, der weit mit ihr davon fliegen konnte.

Er lehnte sich etwas vor, um sie mit der ganzen Kraft seiner Augen in sich aufzunehmen, und junge Liebe hat tausende von Augen.

Jetzt triumphierte das System wahrlich, noch kurz bevor es stürzen sollte; und wäre Sir Austin damit zufrieden gewesen, den Bogen anzuspannen, und hätte er 145 es dem Pfeil überlassen zu fliegen, wann er fliegen wollte, dann hätte er noch einmal auf seinen Sohn zeigen und zu der Welt sagen können, »zeige mir den, der ihm gleichkommt!«

Nur ein unschuldiger Jüngling hat die Kraft der Seele, ein solch starkes Glücksgefühl bei dem Anblick eines Mädchens zu empfinden, wie er es an sich erfuhr.

»Ach ihr Frauen,« sagt das Manuskript des Pilgers in einem seiner in einsamen Stunden geschriebenen Aphorismen, »ihr Frauen, die ihr es liebt, einen Wüstling zu eurem Helden zu machen, wie bald müßt ihr erkennen, daß ihr einen Bankrotteur an euer Herz gezogen habt, und daß das Gold der Fäulnis, das euch anzog, der Schlamm ist aus dem See der Sünde.«

Wenn diese beiden Ferdinand und Miranda waren, so war Sir Austin nicht Prospero und war nicht zur Stelle, oder ihr Schicksal hätte sich anders gestaltet.

So standen sie einen Augenblick, sahen sich an, und dann sprach Miranda, und sie kamen wieder zur Erde zurück und fühlten sich weniger überirdisch.

Sie sprach, um ihm für seine Hilfe zu danken. Sie gebrauchte ganz einfache, gewöhnliche Worte, und brauchte sie zweifellos zum Ausdruck ganz einfacher, gewöhnlicher Dinge; aber für ihn klangen sie wie Zauberworte, und die Wirkung, die sie auf ihn hatten, zeigte sich in der Zusammenhanglosigkeit seiner Antworten, die zu töricht waren, um hier wiedergegeben zu werden.

Dann waren sie wieder stumm. Dann schlug Miranda plötzlich in die Hände und rief, während unzählige, wechselnde Lichter auf ihrem lieblichen Antlitz spielten: »Mein Buch, mein Buch,« und lief nach dem Ufer. Prinz Ferdinand blieb ihr zur Seite. »Was haben Sie verloren?« sagte er.

»Mein Buch,« antwortete sie, und ihre entzückenden 146 Locken fielen über ihre Schultern und hingen über dem Strom. Dann wandte sie sich zu ihm:

»Ach, nein, nein, bitte lassen Sie, ich mache mir nicht so viel daraus, wenn ich es verliere.« Und in ihrem Eifer, ihn zurückzuhalten, legte sie halb unbewußt ihre sanfte Hand auf seinen Arm und nahm ihm alle Kraft der Bewegung.

»Wirklich, ich mache mir nicht so viel aus dem dummen Buch,« und zog, errötend, ihre Hand schnell zurück. »Bitte, lassen Sie!«

Aber schon hatte der junge Herr seine Schuhe fortgeschleudert, und so bald der Zauber der Berührung aufgehoben war, sprang er in den Fluß.

Das Wasser war noch unruhig und aufgerührt von seinem ersten Abenteuer, und obgleich er mit der Kühnheit einer Ente tauchte, so war das Buch doch verloren. Ein Blatt Papier, das bei den Brombeerranken auf dem Wasser schwamm und aussah, als ob Feuer schon einmal seinen Rand ergriffen hätte und als wenn es nun von einem feindlichen Element zu dem andern geflogen wäre, war alles, was er ergreifen konnte. Er kehrte ganz betrübt zum Ufer zurück, um zu hören, wie Miranda ihren Dank mit freundlichen Vorwürfen mischte.

»Lassen Sie es mich noch einmal versuchen,« sagte er.

»Nein, gewiß nicht!« erwiderte sie und fügte die schreckliche Drohung hinzu, »ich laufe fort, wenn Sie es tun,« was die Wirkung hatte, ihn zurückzuhalten.

Ihr Auge fiel auf das mit Brandflecken versehene Blatt Papier, und sie rief mit leuchtenden Blicken: »Da, da! Sie haben ja, was ich haben wollte. Das ist es ja. Das Buch ist mir gleichgültig. Nein, bitte! Sie dürfen es nicht ansehen, bitte, geben Sie es mir!«

Bevor sie halb scherzhaft ihr Verbot ausgesprochen hatte, hatte Richard schon auf das Schriftstück geblickt und 147 den Greif zwischen zwei Weizenbündeln entdeckt, und darunter, oh, unaussprechliches Wunder! seine eigene Handschrift!

Er reichte es ihr hin. Sie nahm es und verbarg es an ihrer Brust.

Wer hätte denken können, daß, wo alles andere vernichtet wurde, Oden, Idyllen, Verse und Stanzen, dieses eine Sonett an die Sterne zu einem solch himmlischen Geschick bewahrt werden sollte, – zu einer alles übertreffenden Seligkeit.

Als sie schweigend über die Wiese wanderten, versuchte Richard sich die Stunde und Stimmung zurückzurufen, in welcher er dieses bemerkenswerte Gedicht verfaßt hatte. Die Sterne hatte er darin angerufen, die alles sahen und alles voraussahen, ihm zu sagen, wo seine Geliebte weile und so weiter; Hesperus war so liebenswürdig gewesen seine Frage zu beantworten und hatte sie in zwei Zeilen beschrieben:

»Durch das goldne Abendrot scheine ich so klar,
Wie ihr blaues Auge scheint durch ihr goldnes Haar.«

Und sicherlich gab es nie prophetischere Worte. Hier waren blaue Augen und goldenes Haar; und durch einen wunderbaren Zufall, der wie das Wirken einer göttlichen Hand erschien, war sie in den Besitz dieser Prophezeiung gelangt, die sie erfüllen sollte! Der Jüngling war zu erregt, um zu sprechen. Zweifellos hatte das junge Fräulein weniger zu denken, oder fühlte irgend eine kleine Last auf ihrem Gewissen, denn sie schien unruhig zu werden. Endlich hob sie ihr Kinn, um unter dem nickenden Rande ihres Hutes zu ihrem Begleiter aufzublicken – die Bewegung sah bezaubernd anmutig aus – und rief:

148 »Aber wohin gehen Sie eigentlich? Sie sind ja ganz naß. Lassen Sie mich Ihnen noch einmal danken, und dann, bitte, verlassen Sie mich, und gehen Sie gleich nach Hause sich umziehen.«

»Naß?« erwiderte der magnetisierte Träumer, mit dem Ausdruck des zartesten Interesses, »hoffentlich doch nur ein Fuß. Ich werde Sie allein lassen, während Sie Ihre Strümpfe in der Sonne trocknen.«

Darauf konnte sie nicht umhin, schüchtern zu lachen.

»Nicht ich, sondern Sie. Sie wollten doch versuchen, das dumme Buch für mich zu holen, und sind nun ganz naß. Fühlen Sie sich nicht sehr unbehaglich?«

Er konnte ihr ganz aufrichtig versichern, daß er das nicht täte.

»Und fühlen Sie wirklich nicht, daß Sie naß sind?«

Das täte er wirklich nicht, und er sprach die Wahrheit.

Sie verzog ihr Brombeermündchen höchst belustigt, und ihre blauen Augen blitzten fröhlich unter den halb geschlossenen Lidern.

»Ich kann nicht anders,« sagte sie und ein glockenhelles, harmonisches Lachen tönte an sein Ohr. »Bitte, verzeihen Sie mir!«

Er lächelte auch, weil er sie bewunderte.

»Nicht zu fühlen, daß Sie im Wasser waren, gleich nachdem Sie herausgekommen sind!« rief sie lachend, da sie sah, daß er ihr nicht zürnte.

»Es ist wahr,« sagte er, und mußte selbst über seine Ernsthaftigkeit lachen; und dies gemeinsame Lachen ließ sie das Fremdsein vergessen und tat für ihr Vertrautsein das Werk von Monaten. Besser als Empfindsamkeit öffnet Lachen das Herz der Liebe; öffnet das ganze Herz ihrem vollen Köcher, statt ein Eckchen hier und da einem einzelnen Pfeile. Segne die günstige Gelegenheit, britischer Jüngling! lache, und behandle die Liebe als einen 149 ehrlichen Gott, und tändele nicht mit der Schminke der Empfindsamkeit. Diese beiden lachten und ihre Herzen riefen einander zu: »Ich bin es, ich bin es!«

Sie lachten und vergaßen die Ursache ihres Gelächters, und die Sonne trocknete seinen leichten Ruderanzug, und sie schlenderten nach dem Amselwalde und standen und lehnten an einem Gitter und blickten auf den Schaum des Wehrs und die vielfarbigen Ringe, die der Strudel bildete.

Richards Boot war unterdessen das Wehr hinabgeschossen und drehte sich, mit dem Kiel nach oben, den Strom hinab in dem strudelnden Stauwasser.

»Wollen Sie es gehen lassen?« fragte das junge Mädchen, es neugierig betrachtend.

»Es kann nicht mehr aufgehalten werden,« erwiderte er, und hätte hinzufügen können: »Was kümmere ich mich jetzt darum.«

Sein altes Leben wirbelte dahin, zusammen mit dem Boote, tot, ertränkt. Sein neues Leben war bei ihr, ein göttliches Leben.

Der Rand ihres Hutes hing tief herab. »Sie müssen wirklich nicht weiter kommen,« sagte sie leise.

»Und wollen Sie gehen, ohne mir zu sagen, wer Sie sind?« sagte er kühn, als ihn die Furcht erfaßte, daß er sie verlieren könnte. »Und wollen Sie mir nicht sagen, ehe Sie gehen« – sein Antlitz glühte – »wie Sie zu jenem Papier kamen?«

Sie wählte lieber die leichtere Frage zur Beantwortung. »Sie sollten mich kennen, wir sind einander schon vorgestellt worden.« Ihre offenherzige Freundlichkeit war sehr lieblich.

»Wer sind Sie denn, ums Himmels willen? Sagen Sie es mir doch? Ich hätte Sie doch nie vergessen können?«

150 »Das haben Sie doch, wie ich glaube,« sagte sie.

»Unmöglich, daß wir uns je getroffen und ich Sie vergessen hätte!«

Sie sah zu ihm auf.

»Erinnern Sie sich an Belthorpe?«

»Belthorpe, Belthorpe!« wiederholte Richard, als ob er sein Gedächtnis anstrengen müßte, um sich eines solchen Ortes zu entsinnen. »Meinen Sie den Bauernhof des alten Blaize?«

»Und ich bin des alten Blaize Nichte.« Sie machte ihm einen kleinen Knix.

Der magnetisierte Jüngling starrte sie an. Welcher Zauber konnte dies göttlich schöne Geschöpf mit dem alten Kerl in Verbindung bringen.

»Wie ist dann – wie ist Ihr Name?« sagten seine Lippen, während seine Augen hinzufügten: »Oh, wunderbares Geschöpf, wie kam es, daß du die Erde so reich gemacht hast?«

»Haben Sie denn die Desboroughs von Dorset auch vergessen?« sie blickte seitwärts unter dem Rande ihres Hutes zu ihm auf.

»Die Desboroughs von Dorset?« jetzt ging ihm ein Licht auf. »Und das ist aus Ihnen geworden? Aus dem kleinen Mädchen, das ich damals sah?«

Er trat dicht an sie heran, um jeden Zug dieser wunderbaren Erscheinung zu erforschen. Über die durchdringende Glut seiner Blicke konnte sie nicht mehr mit Lachen hinweggehen. Unter seinem tiefen, sinnenden Blick geriet ihre Gesprächigkeit in Verwirrung; sie sprachen beide leise und waren beide befangen.

»Sie sehen,« flüsterte sie, »wir sind alte Bekannte.«

Richard dessen Blicke noch fest auf sie gerichtet waren, erwiderte: »Sie sind sehr schön!«

Die Worte entschlüpften ihm. Vollkommene 151 Einfachheit ist unbewußt kühn. Ihre überwältigende Schönheit traf sein Herz, und wie eine Saite bei leisestem Anschlag ertönt, so antwortete sein Herz dieser Berührung.

Miß Desborough machte den Versuch, diese schreckliche Deutlichkeit scherzhaft zu nehmen, aber seine Blicke, denen sie nicht widersprechen konnte, hemmten ihre Worte. Etwas in ihr, ein rebellisches Gefühl ihres Herzens lehnte sich gegen ihn auf; sie wandte sich ab. Aber Bewunderung, die so leidenschaftlich ausgesprochen wird und von dem ausgesprochen, der eines Mädchens erster Traum war, – von dem sie manche lange Nacht geträumt und den ihre, noch in der Knospe liegenden Gedanken mit einem silbernen Strahlenkranz umgeben hatten – Bewunderung von ihm ist eine Münze, die das Herz nicht zurückweisen kann, auch wenn es wollte. Sie beschleunigte ihre Schritte.

»Ich habe Sie beleidigt,« sagte eine tödlich verwundete Stimme hinter ihr.

Daß er das denken konnte, war zu schrecklich.

»Ach, nein, nein, Sie könnten mich gar nicht beleidigen.« Sie wandte ihm ihr süßes Gesicht voll zu.

»Warum, – warum verlassen Sie mich dann?«

»Weil,« brachte sie zögernd hervor, »weil ich gehen muß.«

»Nein, Sie müssen nicht gehen. Warum müssen Sie gehen? Ach gehen Sie nicht.«

»Ich muß wirklich,« sagte sie und zog an dem Rande des widerspenstigen Hutes; und sein Stillschweigen als Zustimmung zu ihrem vernünftigen Entschluß auffassend, blickte sie ihn schüchtern an, hielt ihre Hand hin und sagte: »Leben Sie wohl!« als ob das die natürlichste Sache von der Welt wäre.

Die Hand war vom reinsten Weiß – weiß und duftend wie die glimmernde Blüte einer Maiennacht. Es war die Hand, die ihren Schatten vorausgeworfen hatte in 152 der vergangenen Nacht, über die er sein Haupt ehrfurchtsvoll gebeugt, die er geküßt hatte, bereit für solche Kühnheit jede Buße zu tun, keine wäre für solche Seligkeit zu schwer gewesen.

Er nahm ihre Hand, hielt sie fest und blickte in ihre Augen.

»Leben Sie wohl!« sagte sie noch einmal, so unbefangen wie möglich, und drückte leise seine Hand zum Zeichen des Abschieds.

Das veranlaßte ihn, ihre Hand nur noch fester zu umschließen.

»Sie werden doch nicht gehen?«

»Bitte lassen Sie mich,« bat sie, ihre liebliche Stirne leicht runzelnd.

»Sie werden doch nicht gehen?« mechanisch zog er die weiße Hand näher an sein klopfendes Herz.

»Ich muß,« stammelte sie traurig.

»Sie werden doch nicht gehen?«

»Ach, ja, ja!«

»Sagen Sie mir, wünschen Sie zu gehen?«

Die Frage war schwer zu beantworten. Ein oder zwei Sekunden zögerte sie, und dann sprach sie die Unwahrheit und sagte: »Ja.«

»Sie wünschen zu gehen?« Er sah mit unsicheren Blicken in ihre Augen.

Ein schon schwächeres Ja antwortete ihm.

»Sie wünschen, mich zu verlassen?« Er atmete schwer bei diesen Worten.

»Ich muß wirklich.«

Ihre Hand wurde noch fester umschlossen.

Plötzlich ging ein beunruhigender, wundersamer Schauer durch ihre Gestalt. Von ihm zu ihr strömte er und zurück von ihr zu ihm. Hin und her eilten die elektrischen Boten der Liebe von Herzen zu Herzen, klopften 153 an, bis es stürmisch gegen das Gitter seines Gefängnisses anschwoll und nach seinem Gefährten rief. Sie standen zitternd, im Einklang, ein liebliches Paar unter dem schönen Morgenhimmel.

Als er wieder sprechen konnte, sagte er: »Werden Sie gehen?«

Aber sie konnte noch nicht antworten und versuchte nur stumm ihre Hand zurückzuziehen.

»Leben Sie denn wohl!« sagte er, drückte seine Lippen auf die sanfte weiche Hand, küßte sie, senkte sein Haupt und wandte sich von ihr ab, bereit zu sterben.

Sonderbar, jetzt wo sie frei war, zögerte sie zu gehen. Sonderbar, daß seine Kühnheit ihm nicht Strafe brachte, sondern Erröten und schüchterne Zärtlichkeit und die süßen Worte: »Sie sind mir doch nicht böse?«

»Dir böse, Geliebte!« rief es in seinen Herzen. »Und du vergibst mir doch, holdes Wesen?«

»Es war sehr unhöflich von mir, fortzugehen, ohne Ihnen noch einmal zu danken,« sagte sie und bot ihm noch einmal die Hand.

Der zitternde Sang des Vogels tönte über ihm. Der liebliche Glanz des Himmels fiel in seine Seele. Er berührte ihre Hand, ohne seine Augen von ihr abzuwenden, ohne ein Wort zu sprechen, und mit einem leisen Lebewohl ging sie von ihm auf dem Pfade dahin, durch die tauigen Schatten des Hains, trat aus dem Walde hinaus und entschwand seinen Blicken.

Und mit ihr entschwand die romantische Verzauberung. Er blickte in leere Luft. Aber es war nicht mehr die Welt von gestern. Der wunderbare Glanz hatte eine Saat in ihm ausgestreut, die bereit war aufzugehen und sich zu Blüten zu entfalten unter ihrem Blick; und die lebhafte Erinnerung an ihre Stimme, ihr Gesicht, ihre Gestalt läßt diese Saat in seinem Herzen aufblühen und erfüllt 154 ihn mit sommerlichem Leuchten – mit dem Abglanz der verschwundenen Sonne.

Nichts sagte ihm, daß er mit außerordentlicher Geschwindigkeit um Liebe geworben und Liebe erklärt habe; er wußte es nicht. Sanft gerötete Wangen, süße Lippen! wunderbar liebliche Blumen! Augen voll sanftestem Feuer! wie konnten seine sehend gewordenen Augen euch erblicken und nicht darum bitten, euch behalten zu dürfen? Ja, wie war es möglich, daß er euch wieder gehen ließ? Und er stellte sich ernsthaft selbst diese Frage.

Morgen wird an diesem Platz eine Erinnerung haften – an dem Fluß und der Wiese und dem weiß schäumenden Wehr: sein Herz wird hier einen Tempel bauen; die Lerche wird die hohe Priesterin und die alte Amsel der schwarzrockige Chorist sein, und man wird ein heiliges Mahl von Brombeeren halten. Heut ist das Gras nur Gras und sein Herz wird von Vorstellungen umhergetrieben und findet nirgends Ruhe. Nur wenn seine Blume in ihrer zarten Unberührtheit in seinen Gedanken auftaucht, empfindet er einen Augenblick der Ruhe; aber so bald ihr Bild vor ihm erscheint, empfindet er auch mit bitterem Schmerz die Furcht, daß sie vielleicht niemals die Seine werden könnte.

Nicht lange dauert es, so erfährt er, daß ihr Name Lucy ist. Nicht lange, so trifft er Ralph und entdeckt, daß er ihm in einem Tage um eine Welt vorausgekommen ist. Er und Ralph und der Kurat von Lobourne vereinigen sich zu gemeinschaftlichen Spaziergängen und haben klassische Diskussionen über das Haar der Frauen, besprechen Tausende von entzückenden Locken, von Kleopatra angefangen bis zu denen der Borgias. »Schön, schön! sie sind alle schön!« seufzt der melancholische Kurat, »wie es die Frauen sind, die zu unserm Verderben geschaffen wurden. Ich denke, unser Land kann sich mit 155 Italien und Griechenland wohl messen.« Sein Sinn flattert zu Mrs. Doria, Richard errötet vor Lucys Bild, und Ralph, dessen Heldin dunkelglänzendes Haar hat, weicht von der Meinung der andern ab und will sich im Männerkampfe messen zum Ruhme dunkelhaariger Schönen. Sie machen sich gegenseitig keine Bekenntnisse, aber sie sind wunderbar freundlich miteinander, diese drei Kinder des Instinkts.

 


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