George Meredith
Richard Feverel
George Meredith

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Siebzehntes Kapitel.

Guter Wein und gutes Blut.

Die Unterhaltung zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Klienten wurde wieder aufgenommen.

»Wäre es möglich,« rief Mr. Thompson, »könnten Sie wirklich einwilligen, ihn wiederzusehen und ihn bei sich zu empfangen, Sir Austin?«

»Natürlich,« erwiderte der Baron, »warum nicht? Ich 168 bin durchaus nicht überrascht. Wenn das Zusammensein mit ihm für meinen Sohn keine Gefahr mehr in sich birgt, soll er mir ebenso willkommen sein wie vorher. Er hat die Schule besucht. Ich wußte es, ich erwartete es. Die Resultate Ihrer Erziehungsgrundsätze, Mr. Thompson!«

»Es ist eins der schlimmsten Bücher dieser verabscheuungswürdigen Sorte!« rief der alte Anwalt und schlug das farbige Titelblatt auf, von dem aus die schamlose Miß Random den Beschauer bestrickend anlächelte, als ob sie ganz sicher erwartete, daß sie auf dem Felde der Schönheit die Zeit und ihre Veteranen schlagen würde. »Pah!« Er schlug das Buch mit einer Energie zu, die er gerne auch gebraucht haben würde, um ihr öffentlich in das Gesicht zu schlagen. »Von heute an soll er von Brot und Wasser leben – ich werde sein Taschengeld verkürzen! Wie konnte er in den Besitz eines solchen Buches kommen! Wie konnte er nur –! Und was für Ideen er in seinem Kopfe hat! Wie schlau er sie vor mir zu verbergen gewußt hat! Er spielt mit dem Laster! Sein Gemüt ist im Zustande äußerster Verderbnis! Ich hätte glauben können – ja, ich habe auch geglaubt – ich hätte immer wieder glauben können, daß mein Sohn Ripton ein moralischer junger Mann wäre!« Der alte Anwalt erging sich weiter in Ausrufen darüber, wie Väter getäuscht würden, und versank dann in einen beklagenswerten Zustand tiefen Sinnens.

»Der junge Mann ist unter die Leute gekommen,« sagte Sir Austin. »Seine Anwendung juristischer Ausdrücke ist sehr amüsant. Sie haben recht, er spielt mit dem Laster; die Neulinge darin erscheinen ebenso schlimm, wie die Erfahrenen; und die Vergnügungen eines jungen Sünders werden denen eines alten Wüstlings häufig ähnlich sehen. Den Hungrigen, sowie den Übersättigten 169 reizt das Extrem. Sie sind über die Entdeckung dieses Zustandes an Ihrem Sohne erstaunt. Ich habe sie erwartet, obgleich, wie ich Sie versichern kann, ich nicht diesen plötzlichen und unwiderleglichen Beweis dafür erwartet hätte. Aber ich wußte, daß das Samenkorn in ihm lag und habe ihn deshalb in letzter Zeit nicht nach Raynham eingeladen. Die Schulerziehung und die Verderbnis, die sie mit sich bringt, wird früher oder später ihre Früchte tragen. Ich könnte Ihnen raten, Thompson, was Sie mit ihm tun sollten, was mein Plan sein würde.«

Mr. Thompson, als Mann von Welt, murmelte, daß er es sich zur Ehre anrechnen würde, Sir Austin Feverels Rat zu hören, war aber im stillen als echter Engländer entschlossen, nur seinem eigenen zu folgen.

»Lassen Sie ihn,« fuhr der Baron fort, »das Laster in seiner ganzen Nacktheit sehen. Suchen Sie seinen Ekel zu erregen, so lange er sich noch einige Unschuld bewahrt hat. Wenn man das Laster allmählich kennen lernt, so erfaßt es schließlich den ganzen Menschen. Mein Rat, Thompson, wäre, führen Sie ihn durch alle Lasterhöhlen der Stadt.«

Mr. Thompson kniff die Augen zu: »Ich werde ihn bestrafen, Sir Austin, fürchten Sie nichts. Ich bin dem Laster gegenüber nicht nachsichtig.«

»Das meine ich nicht, Thompson. Sie verstehen mich falsch. Er sollte sanft angefaßt werden. Glauben Sie denn wirklich, er würde das Laster hassen lernen, wenn Sie ihn, um der Sünde willen, zum Märtyrer machen? Sie müssen die Würde, die Ihnen das Alter verleiht, ablegen und zu seinem Mentor werden; lassen Sie ihn sehen, wie unbarmherzig und unvermeidlich das Laster seine Strafe in sich trägt; begleiten Sie ihn in die Höhlen –«

170 »Hier in der Stadt?« rief Mr. Thompson ganz entsetzt.

»Hier in der Stadt,« sagte der Baron.

»Und verlassen Sie sich darauf,« fügte er hinzu, »so lange die Väter sich nicht dazu entschließen, besser ihre Pflicht zu tun, werden wir das sehen, was wir jetzt in den großen Städten sehen und in den Dörfern hören müssen, was Tod und Verderben in unsere Häuser bringt und kommenden Generationen ein Erbteil von Kummer und Schande hinterläßt. Ja,« rief er aus, indem er immer erregter wurde, »hätte ich nicht die Pflichten meinem Sohne gegenüber und die Hoffnungen, die ich seinetwegen hege – wenn ich das Elend sehe, das wir einer unschuldigen Nachkommenschaft aufhäufen – für die durch unsere Sünde der frische Hauch des Lebens vergiftet wird, – ja, dann würde ich selbst – Ich würde einen andern Namen annehmen! Denn wohin treiben wir? Welches Haus ist noch wirklich rein? Was können uns die Ärzte und Juristen nicht alles erzählen?«

Mr. Thompson machte eine zustimmende Bewegung.

»Und was soll daraus werden?« fuhr Sir Austin fort. »Wenn die Sünden der Väter durch die Söhne noch vermehrt werden, ist dann schließlich nicht Verderben das Ende aller Dinge? Und wird nicht das Leben, das eine Gabe des Himmels ist, schließlich zum Spielball des Teufels? Wäre es nicht um meines Sohnes willen, so würde ich meinen Namen ablegen. Ich möchte ihn nicht vererben, wenn diejenigen, die auf meinem Grabe wandeln, ihm fluchen müßten.«

Das war ja eine schreckliche Ansicht von dem menschlichen Dasein. Mr. Thompson fühlte sich unbehaglich. Es lag eine Würde in dem Benehmen seines Klienten, eine Kraft in seiner Rede, die jeden Widerspruch und die Auflehnung jahrelanger, behaglicher Ehrbarkeit zum 171 Schweigen brachte. Mr. Thompson ging regelmäßig zur Kirche. Er bezahlte seine Steuern, ohne zu sehr, oder besser gesagt, ohne mehr als andre Leute darüber zu murren. Allem Anscheine nach war er ein guter Bürger, liebevoll zu seinen Kindern, seiner Frau treu, auf den Wegen der Frömmigkeit einem schönen Platz im Himmel zuwandernd, auf Wegen, die mit Besserem, als tausend Pfund jährlichem Einkommen, gepflastert waren. Und nun kam hier ein Mann, der ihn von innen heraus erforschte, und obgleich das eine wenig anständige, ungewöhnliche, um nicht zu sagen, unenglische Mode war seine Mitmenschen in Augenschein zu nehmen, fühlte sich Mr. Thompson doch dadurch beunruhigt. Wie aber, wenn sein Klient übertrieben hätte? Dem, was er sagte, lagen Tatsachen zugrunde; er hatte Ripton entlarvt. Seit Riptons Bloßstellung fürchtete er eine persönliche Anwendung des Textes, über den sein Klient redete. Vielleicht war das zum Teil die heimliche Quelle seines Zornes gegen den schuldigen Jüngling.

Mr. Thompson schüttelte sein Haupt und erhob sich mit schmerzlich verzogenem Gesicht und einem bedauernden Achselzucken langsam von seinem Stuhle. Er wollte augenscheinlich etwas sagen, ging aber nachdenklich zu einem Wandschrank, öffnete die Tür, nahm ein Tablett und eine Flasche Portwein heraus, füllte ein Glas für seinen Klienten, lud ihn höflich zum Trinken ein, füllte ein zweites Glas für sich selbst und trank.

Das war seine Antwort.

Sir Austin trank niemals Wein vor dem Essen. Da Thompson Miene gemacht hatte, sprechen zu wollen, wartete er auf das, was er sagen würde.

Als sein Klient nicht trank, erkannte Mr. Thompson, daß die Beredsamkeit dieser Portwein-Antwort keine Wirkung hatte.

172 Nachdem er das kostbare Getränk langsam geschlürft und sein Aroma mit richterlicher Weisheit wieder und wieder geprüft hatte – man hätte glauben können, daß er die ganze Menschheit dabei abzuwägen hätte – seufzte er und sagte, indem er die Lippen über dem köstlichen Getränk spitzte:

»Ich fürchte, Sir Austin, die Welt ist in einem sehr bösen Zustand.«

Sein Klient sah ihn mit einem wunderlichen Blick an.

»Aber das,« fügte Thompson unmittelbar darauf hinzu, und der Ausdruck seiner Augen konnte es nur schlecht verbergen, wie warm er sich innerlich zu dieser Tatsache beglückwünschte, – »aber dieser Wein ist, wie Sie mir zugeben müßten, denke ich, Sir Austin – wenn ich Sie nur zu einem Versuch überreden könnte, – eine sehr gute Sorte!«

»So ist doch noch etwas auf der Welt gut, wie ich sehe, Thompson,« murmelte Sir Austin, ohne das behagliche Schmunzeln von dem Gesichte seines juristischen Ratgebers zu vertreiben.

Der alte Rechtsanwalt setzte sich, um sein Glas auszutrinken, und sagte, daß man einen solchen Wein nicht überall bekommen könne.

Sie schwiegen dann eine Weile. Einer von ihnen fühlte innerlich triumphierende Erregung, als ob bacchantische Scharen plötzlich die ernsthaften Gebiete der Gesetzeskunde überschwemmt und in Besitz genommen hätten; um dabei einen anständig niedergeschlagenen Gesichtsausdruck zu bewahren, und sich in gleicher Stimmung mit seinem Gefährten zu erhalten, mußte er grinsen wie der melancholische Clown im Zirkus.

Mr. Thompson strich sich das Haar aus der Stirne. Der Baron saß und wartete. Mr. Thompson seufzte und leerte sein Glas. Er kämpfte mit dem Wechsel der 173 Stimmung, der ihn befallen hatte. Er versuchte nicht alles im rosigen Lichte zu sehen. Er versuchte traurig zu sein, und es gelang ihm nicht. »Es geht sehr zurück,« sagte er, indem er sich bemühte eine Bemerkung zu machen, die dem Gesichtsausdrucke seines Klienten entspräche und zeigte, daß er mit ihm übereinstimmte.

Der Baron nickte.

»Nach dem, was mein Weinhändler darüber sagt,« fuhr Mr. Thompson fort, »kann gar kein Zweifel mehr darüber herrschen.«

Sir Austin starrte ihn an.

»Entweder ist es die Beere oder der Boden oder sonst irgend etwas,« fuhr Mr. Thompson fort. »Alles, was ich sagen kann, ist, daß für unsere Söhne die Aussichten schlecht sind. Meiner Meinung nach, wäre es Pflicht der Regierung, eine Kommission auszusenden, zur Untersuchung der Ursache. Es wird für England zu einer öffentlichen Kalamität. Ich bin erstaunt – man hört heute sehr betrübt von dieser ungewöhnlichen Krankheit des Weines sprechen, und keiner scheint es für seine Pflicht zu halten, zu handeln und alles, was möglich ist, zu tun, um sie aufzuhalten.« Er sah seinen Klienten an mit der Miene eines Mannes, der sich bewußt ist, als Ankläger gegen ein fürchterliches, öffentliches Verbrechen aufzutreten. »Keiner rührt sich. Die Gleichgültigkeit der Engländer wird sprichwörtlich werden. Bitte, versuchen Sie ihn, Sir Austin! Bitte, erlauben Sie mir! Solch ein Wein muß zu jeder Stunde des Tages bekömmlich sein. Tun Sie mir den Gefallen! Mir sind zwei Gläser drei Stunden vor Tisch zugemessen. Magenstärkend! Ich finde, es bekommt mir ganz überraschend gut, es macht mich zu einem ganz andern Menschen. Ich hoffe, er wird vorhalten, so lange wir leben. Er muß es! Was sollen wir ohne ihn tun! Ohne solchen Wein 174 kein Gesetz! Keiner von uns Rechtsanwälten könnte ohne ihn leben. Unsere Beschäftigung trocknet das Blut aus.«

Der Auftritt mit Ripton hatte ihn aller Kraft beraubt, der Wein hatte sie ihm wiedergegeben, und Dankbarkeit gegen den Wein begeisterte seine Zunge. Er war der Überzeugung, daß sein Klient, der sehr seltsame Ideen, obgleich unzweifelhaft durchaus korrekte, moralische Ansichten hatte, gut daran täte, ein Glas Wein zu trinken.

»Es war dieser selbe Wein, Sir Austin – ich glaube, ich irre mich nicht, wenn ich das sage – derselbe Wein, den Ihr verehrter Herr Vater, Sir Pylcher Feverel, jedesmal zu trinken pflegte, wenn er meinen Vater konsultieren kam, als ich noch ein Knabe war. Und ich besinne mich, wie ich eines Tages hereingerufen wurde und Sir Pylcher mir selbst ein Glas eingoß. Ich wünschte, ich könnte jetzt Ripton hereinrufen und dasselbe tun. Aber nein! Keine Nachsicht in solch einem Falle! – Der Wein würde ihm allerdings nichts schaden; ich fürchte, es wird nicht viel bleiben, womit er seine Gäste wird bewirten können. Ha! ha! – Da Sie nun aber vor Tisch keinen Wein trinken, Sir Austin, wünschte ich nur, ich könnte Sie dazu überreden, mir eines Tages die Ehre Ihres Besuches in meinem kleinen Landhause zu geben – ich habe da einen Wein – er kommt diesem gleich – dann, glaube ich, würden Sie –« Mr. Thompson wollte eigentlich sagen, er glaube, sein Klient würde dann zu einer ähnlich fröhlichen Ansicht über die Entartung seiner Mitmenschen gelangen, wie sie sein Rechtsanwalt durch den Genuß von gutem Wein gewonnen hatte, aber er faßte diese Ansicht in den Worten zusammen – »dann würden auch Sie ihm Ihren Beifall nicht versagen.«

Sir Austin stellte mit einem sauersüßen Gesichtsausdruck Betrachtungen über seinen Rechtsbeistand an.

175 Es war ihm klar: Thompson vor dem Portwein und Thompson nach dem Portwein, waren zwei ganz verschiedene Menschen. Ihn jetzt belehren zu wollen, war zu spät; vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, den praktischen Nutzen aus ihm zu ziehen, dessen er bedurfte.

Er schrieb mit einem Bleistift auf ein neben ihm liegendes Blatt Papier: »Zwei Zinken einer Gabel; die Welt liegt dazwischen – Portwein und Geschmack – eines von beiden versagt zuerst – und die Welt geht unter;« und dann folgte die mysteriöse Bemerkung: »Portweinbrille.« Dann sagte er: »Ich werde Sie gerne heute abend begleiten, Thompson,« Worte, die den beglückten Rechtsanwalt vollständig verklärten. Dann steckte er den Entwurf eines bedeutenden Aphorismus in seine Tasche, damit er dort Gestalt und Form annähme wie zahllose andre, die sich auch noch in ähnlichem Zustande befanden.

»Ich kam, um meinen Rechtsanwalt zu besuchen,« sagte er zu sich selbst, »ich habe, wie es scheint, ein verkleinertes Abbild der Welt gesehen.«

 


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