George Meredith
Richard Feverel
George Meredith

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtunddreißigstes Kapitel.

Eine Zauberin.

Man kann es sich wohl vorstellen, daß ein frühzeitig gealterter, geschmeidiger kleiner Mann, ein Dichter in schlechten Verhältnissen, ein heruntergekommener Schmetterling, der an ein enttäuschtes Tintenfaß gefesselt ist, nicht sehr viel Energie entwickeln wird, um seine frühere Geliebte zurückzuhalten, wenn ein kräftiger junger Mann erscheint und in ihrer Person gebieterisch seine Mutter von ihm verlangt. Die Unterredung zwischen Diaper Sandoe und Richard war nur kurz. Die Frage wurde der armen, mutlosen Frau vorgelegt, die, da sie sah, daß für ihren Sohn gar keine Frage bestand, ihr Schicksal in seine Hände legte. Für sie war Diaper nur ein geringer Verlust; aber immerhin der Verlust der Gewohnheit, und das ist auch etwas für eine Frau, deren Leben hinter ihr liegt. Das Blut ihres Sohnes war so lange fern von ihr geflossen, daß das Gefühl ihrer Mutterschaft sie fremd berührte, und Richards ernste Freundlichkeit ihr als ein 522 schreckliches Gericht erschien, das über sie gekommen war. Ihr Herz hatte beinahe verlernt, mütterlich zu schlagen. Sie nannte ihn »Herr«, bis er sie bat, nicht zu vergessen, daß er ihr Sohn sei. Ihre Stimme klang ihm wie die eines kranken Lammes, so mühsam und schwach, mit einem so klagenden Ton. Als er sie küßte, war ihre Haut kalt. Ihre magere Hand fiel herab, wenn sein Druck nachließ. »Kann die Sünde einen Menschen so verfolgen?« fragte er sich und machte sich bittere Vorwürfe, daß sie ein Gefühl der Scham in ihm hervorrief, und tiefes Mitleid erfüllte sein Herz.

Diaper, dem Dichter, war poetische Gerechtigkeit zuteil geworden. Er dachte an alles, was er dieser Frau geopfert hatte – den behaglichen Aufenthaltsort, den Freund, die fröhlichen Streiche. Er mußte sie der Untreue anklagen, da sie ihn in seinem Alter verließ. Die Gewohnheit hatte ihrer Verbindung die Berechtigung verliehen. Er schrieb so pathetische Verse über den Bruch der Gewohnheit, wie andere über das Sterben der Liebe; und wenn wir alt sind, und die Hoffnung nicht mehr ihre goldenen Locken vor uns schüttelt, ist eine Wunde dieser Art für unsere Natur ebenso traurig. Ich weiß nicht, ob sie nicht vielleicht noch trauriger ist.

Richard besuchte seine Mutter Tag für Tag. Nur Lady Blandish und Ripton waren eingeweiht. Adrian ließ ihn tun, was er wollte. Er hatte es nur für richtig gehalten, ihm zu sagen, daß die öffentliche Beachtung, die er einer gewissen Dame schenkte, bei dem heutigen Zustande unserer Welt kaum weise wäre.

»Es ist für mich ein Beweis deiner moralischen Rechtlichkeit, mein Sohn, aber die Welt wird nicht so denken. Kein Charakter ist stark genug, um für zwei einzutreten – besonders nicht in einem protestantischen Lande. Aber selbst die Göttlichkeit, die einen Bischof umgibt, würde 523 ihn im Verkehr mit deiner Madam Danae nicht schützen. Laß die Frau fallen, mein Sohn. Oder erlaube mir, daß ich ihr sage, was du ihr mitteilen willst.«

Richard hörte ihn mit Verachtung an.

»Nun jedenfalls habe ich dir meinen ärztlichen Rat erteilt,« sagte Adrian und vertiefte sich wieder in sein Buch.

Als Lady Feverel soweit gekommen war, daß sie an den Beratungen teilnahm, die Mrs. Berry wiederholt über Richards eheliche Pflichten eröffnete, wurde eine neue Kette über ihn geworfen. »Bitte, bitte, beleidige nicht deinen Vater!« war das einzige, was sie immer wiederholte. Sir Austin hatte sich in ihrem Gemüt zu einem Rachegespenst gestaltet. Nur, wenn sie ihn so bat, flossen ihre Tränen.

Richard hatte Mrs. Berry gegenüber einmal erwähnt, daß Lady Blandish die einzige Freundin wäre, die er unter den Frauen hätte, und so machte sich Mrs. Berry in ihrem schwarzen Atlaskleide auf den Weg, um eine Unterredung mit ihr zu haben und eine Verbündete zu suchen. Nachdem sie sich über den Zweck des Besuches verständigt hatten, und nachdem sie ihre Ansichten über jung verheiratete Leute mehrmals wiederholt hatte, sagte Mrs. Berry:

»Gnädige Frau, wenn ich so frei sein darf zu sprechen, möchte ich sagen, die Sünde, die geschieht, ist die Sünde von denen, die zusehen. Und wenn jeder sich, wie es scheint, vor dem Vater des jungen Herrn zu fürchten scheint, dann sage ich – mit Ihrer Erlaubnis – sie haben gar keinen Grund, sich zu fürchten. Denn obgleich es beinahe zwanzig Jahre her ist, daß ich ihn kannte, und ich kannte ihn damals nur sechzehn Monate lang – nicht länger – dann sage ich doch, sein Herz ist so weich, wie das von einer Frau, was 524 ich Grund habe, zu wissen. Und das ist es. Das ist es, womit er alle Menschen getäuscht hat und mich auch. Weil er sein Gesicht verbirgt, daß sie denken müssen, sie haben es mit einem Mann von Eisen zu tun, und die ganze Zeit ist eine Frau dahinter verborgen. Und ein Mann, der wie eine Frau ist, der ist am allerschwersten zu behandeln. Wir können uns selbst verstehen, gnädige Frau, und wir können die Männer verstehen, aber einer von der Art – er ist wie etwas, was gar nicht natürlich ist. Dann sage ich – und ich hoffe, Sie werden mich entschuldigen – was man tun muß, ist, man muß ihn behandeln, wie eine Frau, und man muß ihm nicht seinen Willen lassen – welchen er selbst nicht mal weiß, und kein anderer Mensch kann ihn deshalb wissen. Lassen Sie das liebe junge Paar zusammen kommen, und gesund sein, gegen seinen Willen, sage ich; und dann geben Sie ihm Zeit, sich zu besinnen, grad' wie einer Frau; und besinnen wird er sich und wird ihnen seinen Segen geben und wir werden wissen, daß wir ihn glücklich gemacht haben. Er ist ärgerlich, weil die Ehe zwischen ihn und seinen Sohn gekommen ist, und grade wie eine Frau, will er nun das, was ist, so behandeln, als wenn es nicht wäre. Aber die Ehe ist heiliger, als er. Die ist schon lange, lange gewesen, ehe er war, und man kann hoffen, sie wird auch noch länger vorhalten, wenn die Welt nicht in Stücke geht – und ich wünsche ihm nichts Böses.«

Nun hatte Mrs. Berry das, was Lady Blandish gedacht hatte, nur etwas ungeschickter ausgedrückt. Die Dame unternahm es, Richard ernsthaft zuzureden, seine Frau kommen zu lassen. Er schrieb und bat sie zu kommen. Lucy besaß indessen ihren eignen Verstand, und Verstand ohne Erfahrung bedeutet nur geringe Klugheit. In Verfolgung ihres weisen Planes, die Familie von ihrem Wert zu überzeugen, und ein Mitglied nach dem andern zu 525 besiegen, hatte sie einen Briefwechsel mit Adrian angefangen, für den das einen eignen Reiz hatte. Adrian versicherte sie beständig, daß alles sehr gut ginge, die Zeit würde die Wunde heilen, wenn nur die beiden Schuldigen die Kraft hätten, geduldig zu bleiben: er bilde sich ein, er sähe Zeichen davon, daß der Baron weich würde: sie müßten nichts tun, um diese günstigen Symptome aufzuhalten.

Der weise Jüngling bemühte sich in der Tat, auf seine lässige Art diese Symptome hervorzubringen. Er schrieb und fühlte sich als Lucys Wohltäter. So antwortete Lucy ihrem Manne in einem fröhlichen Plauderton, aus dem er nichts weiter entnehmen konnte, als daß sie froh wäre in der Hoffnung auf glücklichere Zeiten, daß sie aber doch noch Furcht hätte. Dann zwang Mrs. Berry ihre Faust dazu, auch an die junge Frau zu schreiben. Die junge Frau antwortete, daß sie der Zeit vertraue. »Sie arme Märtyrerin,« schrieb Mrs. Berry zurück, »ich weiß, was Sie leiden müssen. Das sind die einzigen Leiden, die eine Frau niemals vor ihrem Manne verbergen sollte. Er denkt sich allerlei, wenn sie es aushalten kann, von ihm fort zu sein. Und Sie wollen auf die Zeit vertrauen! das ist ebenso gut, als wenn sie darauf vertrauen wollten, daß Sie sich ohne ihre gewohnten Kleider nicht erkälten würden.« Man konnte Lucys Festigkeit nicht erschüttern.

Richard gab es auf.

Er fing an zu denken, daß das Leben, das hinter ihm lag, das Leben eines Narren gewesen war. Was hatte er darin getan? Er hatte einen Heuschober in Brand gesteckt und sich verheiratet. Er verband diese beiden Taten in seinen Gedanken. Wo war der Held geblieben, den er aus Tom Bakewell hatte machen wollen! – ein Elender, den er gelehrt hatte, zu lügen 526 und zu intriguieren, und zu welchem Zweck? Großer Gott! wie unwürdig erschien seine Heirat, wenn ein Blitzstrahl aus dem Lichte seines höheren Strebens darauf fiel. Der junge Mann suchte Zerstreuung. Er gestattete seiner Tante, ihn in Gesellschaften zu führen, und da er bald davon genug hatte, machte er späte Abendbesuche bei Mrs. Mount, wobei er den Zweck, den seine Besuche haben sollten, ganz vergaß. Die männliche Art ihrer Unterhaltung, die er für Ehrlichkeit hielt, bildete von ihren schönen Lippen eine erfrischende Abwechslung.

»Nennen Sie mich Bella: ich werde Sie Dick nennen,« sagte sie.

Und nun blieb es bei Bella und Dick zwischen ihnen. Bella wurde in Richards Briefen an Lucy nicht erwähnt.

Mrs. Mount sprach mit voller Offenheit über sich. »Ich versuche nicht besser zu erscheinen, als ich bin,« sagte sie, »und ich weiß, daß ich nicht schlechter bin, als manche Frau, die ihren Kopf hoch trägt.« Um das zu bekräftigen, erzählte sie ihm Geschichten von vornehmen Damen mit gutem Ruf und goß etwas gesellschaftlichen Schmutz in seine Ohren.

Sie verstand ihn auch. »Was dir fehlt, mein lieber Dick, ist eine Tätigkeit. Du bist hingegangen und hast dich verheiratet wie ein – na – Freunde müssen nicht schlecht von einander reden. Tritt doch in die Armee ein. Versuche es mit dem Rennsport. Ich kann dir einen oder zwei Kniffe beibringen – Freunde müssen versuchen sich nützlich zu machen.«

Sie sagte ihm, was ihr an ihm gefiele. »Du bist der einzige Mann, mit dem ich jemals allein war, der nicht zu mir von Liebe spricht und mir Überdruß erregt. Ich hasse die Männer, die nicht vernünftig mit einer Frau reden können. – Bitte, warte einen Augenblick.« 527 Damit verließ sie ihn und kam bald darauf zurück mit einem:

»He, Dick! alter Junge! wie geht's?« und hatte sich als Herr angezogen, stand mit einem Arm in die Seite gestemmt, den Hut schief auf dem Kopfe und einen lustigen Fluch auf den Lippen, um dem Kostüm noch mehr Natürlichkeit zu verleihen. »Was hältst du jetzt von mir? Ist es nicht eine Schande, daß die Natur mich zur Frau gemacht hat, wo ich doch dazu geboren war, ein Mann zu sein?«

»Das weiß ich doch nicht,« sagte Richard, denn der Gegensatz zwischen ihrem Anzug und den strahlenden Augen und Lippen brachte ihr Geschlecht bezaubernd zur Geltung.

»Was? du meinst, ich mache es nicht gut?«

»Entzückend! ich kann aber nicht vergessen –«

»Nein, das ist zu schlecht!« schmollte sie.

Dann schlug sie ihm vor, daß sie Arm in Arm zusammen ausgehen wollten in die mitternächtlichen Straßen, und das taten sie, und lachten und amüsierten sich über die unverschämte Art, mit der sie ihr Augenglas gebrauchte, und die affektierte Übertreibung, mit der sie den vornehmen Gecken spielte.

»Sie bringen Männer auf die Polizei, Dick, wenn sie in Frauenkleidern gehn und vice versa, glaube ich. Du wirst für mich bürgen, alter Junge, wenn ich der Polizei meine Aufwartung machen muß, nicht wahr? Sag' nur, ich tu's, weil ich eine ehrliche Frau bin und die Unaussprechlichen nicht verbergen will, wenn ich sie doch nun einmal trage – wie es die andern tun,« sagte sie und würzte ihre Rede mit dazwischen gestreuten Ausrufen, wie sie dem Gecken zukamen.

Er fing an, diese Art Spaß sehr romantisch zu finden.

»Du bist ein Starker, mein lieber Dick! Du wirst keinen Polizisten an mich heranlassen? beim Jupiter!«

528 Und mit vielen Beteurungen versprach er ihr seinen Schutz, während sie mit ihren schlanken Fingern die Muskeln seines Armes untersuchte und sich etwas kräftiger darauf stützte. Es lag eine gewisse Anmut in ihrem Geckentum. Sie war ein schmucker Kavalier.

»Sir Julius,« wie sie den Anzug des Gecken nannte, wurde bei seinen Abendbesuchen bei Mrs. Mount häufig vorgeholt. Wenn er Sir Julius sah, dachte er an die Frau, und »vice versa«, wie Sir Julius gerne sagte.

Wurde je um einen Helden auf diese Art geworben?

Dann und wann blickte die Frau durch, wenn sie Sir Julius spielte. Oder sie saß und unterhielt sich und vergaß ganz und gar, daß sie diesen würdigen Stutzer darstellte.

Sie äußerte niemals einen selbständigen Gedanken, aber Richard hielt sie für die klügste Frau, die er je getroffen hatte.

Alle Arten von problematischen Gedanken kamen ihm. Sie war kalt wie Eis, sie haßte es, über Liebe zu sprechen, und sie war von der Welt geächtet.

Ein Gerücht verbreitete sich und kam zu Mrs. Dorias Ohren. Sie eilte zuerst zu Adrian. Der weise Jüngling glaubte, daß nichts daran wäre. Sie segelte dann zu Richard: »Ist es wahr? daß du öffentlich mit einer berüchtigten Frau gesehen bist, Richard? Sage es mir! Bitte, beruhige mich.«

Richard wußte von keiner Person, die auf Mrs. Dorias Beschreibung paßte, in deren Gesellschaft er gesehen sein könnte.

»Sage mir, ich bitte dich! Weiche mir nicht aus. Kennst du irgend eine Frau mit schlechtem Ruf?«

Die Bekanntschaft mit einer Dame, die von der Welt falsch beurteilt und schlecht behandelt wurde, gab Richard zu.

529 Dringend ernsten Rat erteilte Mrs. Doria ihrem Neffen, vom moralischen sowohl wie vom weltlichen Gesichtspunkte aus, wobei es innerlich immer in ihr rief: »Das lächerliche System! Diese schmachvolle Heirat!« Man versorgte Sir Austin in seiner Bergeinsamkeit mit ernstem Stoff zum Nachdenken.

Das Gerücht kam zu Lady Blandish. Auch sie sprach mit Richard darüber, und ihr gegenüber ließ er sich auf Erörterungen ein. Er mußte aber auf etwas hindeuten, was er bis jetzt ganz vernachlässigt hatte.

»Statt daß sie mir schadet, werde ich ihr Gutes tun.«

Lady Blandish schüttelte mit dem Kopf und drohte ihm mit dem Finger. »Diese Person muß sehr klug sein, wenn sie dich in der Täuschung läßt, Lieber.«

»Sie ist klug, und die Welt behandelt sie schmählich.«

»Hat sie sich bei dir über ihre Stellung beklagt?«

»Mit keinem Wort. Aber ich werde zu ihr stehen. Sie hat keinen Freund außer mir.«

»Mein armer Junge, hat sie dich das glauben machen?«

»Wie ungerecht Sie alle sind!« rief Richard.

»Wie unvernünftig und schlecht ist der Mann, der es zuläßt, daß er in solche Versuchung gerät!« dachte Lady Blandish.

Er wollte nicht das Versprechen geben, sie nicht mehr zu besuchen oder öffentlich anzureden. Die Welt, die sie verurteilte und ausstieß, wäre nicht besser als sie – nein, schlimmer, durch ihre elende Heuchelei. Er kenne die Welt jetzt, sagte der junge Mann.

»Mein Kind! die Welt mag sehr schlecht sein. Ich werde sie nicht verteidigen. Aber du hast an jemand anders zu denken. Hast du vergessen, daß du eine Frau hast, Richard?«

»Ja! jetzt sprechen sie alle von ihr. Da ist zuerst meine Tante: ›Vergiß nicht, daß du eine Frau hast!‹ Denken 530 sie denn, ich liebte irgend eine andre außer Lucy? Das arme, kleine Ding! Soll ich, weil ich verheiratet bin, die Gesellschaft der Frauen aufgeben?«

»Der Frauen? Richard!«

»Ist sie vielleicht keine Frau?«

»Nur zu sehr!« seufzte die Verteidigerin ihres Geschlechts.

Adrian wurde nachdrücklicher in seinen Warnungen. Richard lachte ihn aus. Der weise Jüngling spottete über Mrs. Mount. Darauf beehrte Richard ihn mit einer Warnung, die an Nachdrücklichkeit der seinen nicht nachstand, und sie an Aufrichtigkeit übertraf.

»Wir wollen uns nicht streiten, mein lieber Junge,« sagte Adrian. »Ich bin ein Mann des Friedens. Außerdem haben wir für einen Kampf nicht das rechte Verhältnis zueinander. Reite dein Roß zum Ziele der Tugend! Alles was ich sage ist, daß ich überzeugt bin, es wird dich abwerfen, und daß es besser ist, mit den Kindern der Sonne zusammen langsamen Schritt zu gehen. Du hast ein sehr nettes, kleines Wesen zur Frau – na, guten Abend!«

Es war unerträglich für Richard, sich fortwährend die Welt und seine Frau vorwerfen zu lassen; es war eine Gedankenverbindung ungefähr nach der Art seiner Verbindung von Heuschober und Heirat. Der reizende Sir Julius, der immer lustig, immer ehrlich war, zerstreute seine düstere Laune.

»Du bist ja größer geworden!« diese Entdeckung machte Richard eines Tages.

»Natürlich bin ich es. Besinnst du dich nicht, daß du eines Tages sagtest, ich wäre solch ein kleines Ding, wenn ich aus meiner weiblichen Hülle käme?«

»Und wie hast du es gemacht?«

»Ich bin gewachsen, dir zuliebe.«

531 »Na, wenn du das tun kannst, dann kannst du alles.«

»Das könnte ich auch.«

»Das würdest du?«

»Auf Ehre!«

»Dann« – sein Plan fiel ihm wieder ein. Aber die Unmöglichkeit, mit Sir Julius ernsthaft zu sprechen, ließ ihn verstummen.

»Dann – was?« fragte sie.

»Dann bist du ein tapferer Bursche.«

»Das ist alles?«

»Ist das nicht genug?«

»Nicht ganz. Du wolltest etwas sagen. Ich sah es in deinen Augen.«

»Du sahst, daß ich dich bewundere.«

»Ja, aber ein Mann muß nicht den andern bewundern.«

»Ich glaube, ich bildete mir ein, du wärest eine Frau.«

»Was? wenn ich mir die Absätze an meinen Stiefeln einen halben Zoll habe höher machen lassen?« Sir Julius drehte einen Absatz um und brach in ein silbernes Gelächter aus.

»Ich reiche auch jetzt noch nicht viel über deine Schulter,« sagte sie und trat neben ihn, um ihre Größe an ihm zu messen, und sah listig zu ihm auf.

»Du mußt noch mehr wachsen.«

»Fürchte, ich kann's nicht, Dick! Die Schuhmacher können's nicht leisten.«

»Ich werde dir zeigen, wie du es kannst.« Und er hob Sir Julius leicht in die Höhe, trug den schönen Herrn vor den Spiegel und hielt ihn dort genau in die Höhe seines eignen Kopfes. »Genügt das?«

»Ja! Aber da kann ich doch nicht bleiben?«

»Warum kannst du das nicht?«

»Warum kann ich's nicht?«

532 Jetzt hätte er es wissen müssen – es donnerte an die verschlossenen Türen seines Innern, daß er mit dem Feuer spiele. Aber da die Türe verschlossen war, hielt er sich innerlich für sicher.

Ihre Augen trafen sich. Er setzte sie sofort nieder.

Sir Julius, so entzückend er auch war, verlor seinen Reiz. Als sie das erkannte, nahm die kluge Frau wieder ihre eigne Hülle an. Die Erinnerung an Sir Julius, die sie noch umgab, verdoppelte ihre weibliche Anziehungskraft.

»Ich hätte Schauspielerin werden sollen,« sagte sie.

Richard meinte, nach seiner Erfahrung hätten alle natürlichen Frauen den gleichen Wunsch.

»Ja! ach dann! wenn ich es geworden wäre!« seufzte Mrs. Mount und blickte auf das Muster des Teppichs.

Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Du bist nicht glücklich, so wie du bist?«

»Nein.«

»Darf ich zu dir sprechen?«

»Ja!«

Ihren Kopf zur Seite geneigt, mit listigem Seitenblick zu ihm aufschauend, so saß sie und lauschte seinen Worten. Als er fort war, sagte sie sich: »Alte Heuchler reden so: aber ich habe noch nie gehört, daß ein junger Mann es getan hätte, der nicht dabei gleichzeitig seine Liebe erklärte.«

Bei ihrem nächsten Zusammensein zeigte sie sich ruhiger, bedrückt, wie jemand, der viel nachgedacht hat. Er pries ihre Schönheit. – »Beschäme mich nicht noch mehr,« bat sie.

Aber es blieb nicht nur bei dieser Laune. Unerschrockener Trotz, der zu ihrer kühnen Schönheit so gut paßte, ließ ihre kecken, glänzenden Augen wild leuchten, wenn sie ausrief: »Glücklich? Wer wagt es zu sagen, 533 daß ich nicht glücklich wäre? Denkst du, ich werde zucken, wenn die Welt mich peitscht? Glaubst du, ich kümmere mich um das, was sie sagen oder tun? Laß sie mich töten, sie werden mir keinen Schrei entlocken!« und den jungen Mann mit ihren blitzenden Augen anfunkelnd, als wenn in seiner Person alle ihre Feinde verkörpert wären, rief sie: »Da, nun kennst du mich!« – Das war eine Laune, die ihr sehr gut stand und die ihr Werk unterstützte. Sie hätte eine Schauspielerin werden sollen.

»Das darf nicht weiter so gehen,« sagten Lady Blandish und Mrs. Doria übereinstimmend. Ein gemeinsamer Zweck führte sie zusammen. Sie beschränkten ihr Gespräch darauf und waren einer Meinung. Mrs. Doria beschloß, zu dem Baron zu reisen. Beide Damen wußten, daß es ein gefährliches Unternehmen war, das leicht verhängnisvoll werden konnte. Sie beschlossen es, weil es ihnen etwas zu tun gab, und etwas zu tun ist immer besser, als nichts zu tun. »Tue es,« sagte der weise Jüngling, den sie als Dritten ins Vertrauen gezogen hatten. »Tue es, wenn du ihn sein Leben lang zum Einsiedler machen willst. Sie werden nichts zurückbringen, meine Damen, als seinen toten Körper – das ist mehr ein hellenischer, als ein römischer Triumph. Er wird dich anhören, er wird dich bis zur Bahnstation begleiten – er wird dich in den Wagen heben – und dann, wenn du auf seinem Platz dich an seiner Seite zeigst, wird er dir eine tiefe Verbeugung machen und sich in seinen ihm vertrauten Nebel zurückziehen.«

Adrian sprach ihre eignen Gedanken aus. Sie wurden unsicher, gaben es wieder auf.

»Sprich du mit ihm, Adrian,« sagte Mrs. Doria. »Sprich einmal ernsthaft mit dem Jungen. Es wäre beinahe besser, er ginge zu dem kleinen Ding zurück, das er geheiratet hat.«

534 »Beinahe besser?« Lady Blandish machte große Augen. »Das habe ich seit länger als einem Monat geraten.«

»Die Wahl zwischen zwei Übeln,« sagte Mrs. Doria kopfschüttelnd mit sauersüßem Gesicht.

Beide Damen erkannten, daß es da einen Punkt gab, über den ein Streit möglich war, und mit heroischer Anstrengung beschlossen beide, ihn zu vermeiden und den Mund zu halten. Was noch mehr war: sie hielten Frieden, trotz Adrians Schlauheit.

»Nun, dann werde ich also noch einmal mit ihm sprechen,« sagte er. »Ich werde versuchen, die Maschine wieder auf das rechte Geleise zu bringen.«

»Befiehl es ihm.«

»Ich denke, freundliche Mittel sind die einzigen, die auf Richard Eindruck machen,« sagte Lady Blandish.

Adrian sprach mit Richard und unterließ dabei, soweit es ihm möglich war, alle Neckereien: »Du willst diese Frau bessern, Richard. Ihr Wesen ist offenherzig, – schön und frei – die üblichen Charakterzüge. Wir wollen uns nicht damit aufhalten zu ergründen, auf welche Art sie diese besondere Ehrlichkeit des Benehmens, die dir so gefällt, gewonnen hat. In ihren Kreisen ist sie nicht ungewöhnlich. Du weißt, Mädchen können nicht ebenso sein wie Jungens. In einem gewissen Alter können sie nicht ganz natürlich sein. Es ist ein böses Zeichen, wenn sie nicht erröten und sich nicht verstellen und hier und da affektieren. Das verliert sich, wenn sie Frauen werden. Aber eine Frau, die wie ein Mann spricht und alle diese ausgezeichneten Tugenden hat, die du bewunderst – wo hat die das alles gelernt? Sie sagt es dir. Du billigst doch sicherlich nicht die Schule? Was liegt also darin? Bessere sie, natürlich. Die Aufgabe ist deiner Anstrengung wert. Aber wenn du es dir vorgenommen hast, es zu 535 tun, dann tue es nicht öffentlich und versuche es nicht grade jetzt. Darf ich fragen, ob deine Frau dieses Unternehmen teilt?«

Richard wich der Frage aus. Der weise Jüngling liebte es, nicht lange allein zu reden, und da er seinem Gewissen Genüge getan hatte, sagte er nichts weiter.

Die liebe, sanfte Lucy! Der arme Liebling! Richards Augen wurden feucht. Ihre Briefe klangen in der letzten Zeit trauriger. Und doch bat sie ihn niemals, zurückzukommen, sonst wäre er gegangen. Sein Herz schlug ihr entgegen. Er teilte Adrian mit, daß er nicht länger auf seinen Vater warten wolle. Adrian nickte ruhig dazu.

Die Zauberin bemerkte, daß ihr Ritter eine bewölkte Miene hätte und daß seine Gedanken nicht bei dem waren, was er sagte.

»Richard – ich kann dich jetzt nicht Dick nennen – ich weiß wirklich nicht warum –« sagte sie, »ich möchte dich etwas bitten.«

»Sage es. Ich hoffe, ich darf dich doch noch Bella nennen?«

»Wenn du es gern tust. Was ich sagen will, ist dieses: wenn du mich triffst – um es kurz zu sagen – bitte, zeige nicht, daß du mich kennst.«

»Und warum nicht?«

»Muß ich dir das noch erst sagen?«

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Sieh mal: ich möchte dich nicht kompromittieren.«

»Ich sehe keine Gefahr, Bella.«

»Nein,« sie streichelte seine Hand, »es besteht auch keine. Das weiß ich. Aber,« die Augen wurden bescheiden niedergeschlagen, »andere Leute sehen die Gefahr,« schüchtern hoben sich die Augen wieder.

»Was gehen uns die Leute an?«

536 »Gar nichts. Mich nicht. Nicht soviel!« sie schnippte mit den Fingern.

»Aber du gehst mich etwas an.« Ein langer Blick folgte dieser Erklärung.

»Du bist töricht, Bella.«

»Nur nicht ganz so oberflächlich – das ist alles.«

Er stritt nicht mit seiner gewöhnlichen Heftigkeit. Adrians kurze Frage hatte Eindruck gemacht, wie es der weise Jüngling auch beabsichtigt hatte. Er hatte es instinktiv vermieden, zu Lucy von dieser Dame zu sprechen. Aber was für ein edles Geschöpf war diese Frau!

So trafen sie sich im Park und Mrs. Mount fuhr an ihm vorüber. Die Heimlichkeit gab ihrer Vertrautheit einen neuen Reiz.

Adrian war mit dem Erfolg seiner Beredsamkeit sehr zufrieden.

Obgleich diese Dame nie einen eignen Gedanken aussprach, so irrte sich Richard doch nicht, wenn er sie für klug hielt. Sie verstand es, die Abende heiter zu gestalten, und kein Abend war dem andern gleich. Man konnte in ihrer Gegenwart vergessen, daß sie eine Frau war, bis einem plötzlich die Tatsache überraschend zum Bewußtsein gebracht wurde. Sie durchschaute einen Mann mit einem Zucken ihrer halb geschlossenen Augenlider. Sie erkannte die Stimmung, die sich in ihm vorbereitete, und konnte sich ihr anpassen. Wozu hat eine Frau Gedanken nötig, wenn sie soviel kann? Schärfe der Auffassung, Anpassungsvermögen, Zartheit der Behandlung, das sind die Eigenschaften, die eine Schmarotzerpflanze nötig hat.

Liebe würde den Jüngling verscheucht haben: sie verbannte sie von ihren Lippen. Vielleicht war sie auch wirklich der Liebe überdrüssig. Sie spielte mit seiner höheren Natur. Sie verstand instinktiv, was ihm am 537 fremdartigsten und anziehendsten an einer Frau sein würde. Schillernd, wie die Schlange des alten Nil, spielte sie die gefallene Schönheit, humoristische Gleichgültigkeit, sorglose Kühnheit, Hochmut im Verderben. Und während sie so spielte – was meint ihr? – tat sie es so gut, weil sie es halb ernsthaft nahm.

»Richard! seit ich dich kenne, bin ich nicht mehr, was ich war. Du wirst mich doch nicht ganz aufgeben?«

»Niemals, Bella!«

»Ich bin nicht so schlecht, wie man mich schildert.«

»Du bist nur unglücklich.«

»Nun, da ich dich kenne, glaube ich es selbst, und bin dabei doch glücklicher.«

Jetzt erzählte sie ihm ihre Geschichte, jetzt, da der sanfte Glanz der Reue ein himmlisches Zwielicht darüber zu verbreiten vermochte. Die Geschichte einer Frau: man verstehe wohl, mit Auslassung einiger Kapitel. Für Richard blieb sie noch düster genug.

»Liebtest du den Mann?« fragte er. »Du sagst, daß du jetzt niemanden liebst.«

»Ob ich ihn liebte? Er war ein Edelmann und ich war die Tochter eines Handwerkers. Nein. Ich liebte ihn nicht. Ich habe es später empfunden. Und nun würde ich ihn hassen, wenn ich ihn nicht verachtete.«

»Kann man sich in der Liebe täuschen?« sagte Richard, mehr zu sich selbst, als zu ihr.

»Ja. Wenn wir jung sind, können wir uns sehr leicht täuschen. Wenn es so etwas wie Liebe wirklich gibt, dann entdecken wir es erst, nachdem wir hin und her gestoßen sind und die Welt uns rauh angefaßt hat. Dann finden wir den Mann, oder die Frau, die zu uns passen: – und dann ist es zu spät! wir können ihn nicht mehr besitzen.«

»Sonderbar,« murmelte Richard, »sie sagt grade das, was mein Vater sagt.«

538 Laut sagte er: »Ich könnte dir vergeben, wenn du ihn geliebt hättest.«

»Sei nicht zu hart, du ernster Richter! Wie soll ein Mädchen das wissen?«

»Du fühltest Zuneigung zu ihm? er war der erste?«

Sie hielt es für besser, das zuzugeben. »Ja. Und der erste, der zu einem Mädchen von Liebe spricht, muß ein Narr sein, wenn er sie nicht täuscht!«

»Und deshalb nennt man die erste Liebe Unsinn?«

»Ist sie es denn nicht?«

Er wies die Behauptung zurück. »Ich weiß, daß es nicht so ist, Bella.«

Trotz alledem hatte sie ihm einen weiteren Blick auf die Welt eröffnet und einen kühleren. Er dachte nur gering von den Mädchen. Eine Frau – eine vernünftige, tapfere, schöne Frau schien im Vergleich mit ihnen so unendlich viel edler als jene schwachen Geschöpfe.

Sie war am besten in ihrer Rolle sanfter Auflehnung gegen böse Ungerechtigkeit. »Was soll ich tun? Du sagst, ich solle anders sein. Wie kann ich das? Was soll ich tun? Werden die tugendhaften Leute mir gestatten, mein Brot zu verdienen? Ich könnte nicht einmal die Stelle eines Stubenmädchens bekommen! Sie würden mich nicht nehmen – ich sehe ihre witternden Nasen! Ja: ich könnte in ein Krankenhaus gehen und hinter einem Schirm singen. Verlangst du von mir, daß ich mich lebendig begrabe? Ich habe doch Blut! ich kann doch nicht zum Stein werden. Du sagst, ich wäre ehrlich, und ich will es auch sein. Ich muß dir sagen, daß ich mich an Luxus gewöhnt habe, und daß ich ihn nicht mehr entbehren kann. Ich hätte heiraten können – viele würden mich genommen haben. Aber wer heiratet eine solche, wie ich es bin, wenn er nicht ein Narr ist? Und einen Narren hätte ich nicht heiraten können. Den Mann, den ich heirate, muß ich 539 achten können. Er könnte mich nicht achten – ich würde wissen, daß er ein Narr ist, und ich würde schlimmer dran sein als jetzt. Wie ich jetzt bin, – mögen doch die Leute ihre frommen Gesichter machen – ich lache über sie!«

Und so weiter und noch schlimmere Dinge. Beschuldigungen gegen Ehefrauen: ein schreckliches Triumphieren über die allgemeine Sündhaftigkeit der Ehemänner. Diese schöne Geächtete brachte ihn beinahe zu der Ansicht, daß das Recht auf ihrer Seite wäre, so scharf durchdrangen ihre Pfeile das Heiligtum der Gesellschaft und enthüllten ihre ganze Verderbtheit.

Mrs. Mounts Haushalt wurde sehr geschickt geführt: es kam niemals etwas vor, das sein Gefühl hätte verletzen können. Der junge Mann fragte sich, wo der Unterschied läge zwischen ihr und den Damen der Gesellschaft. Wie niedrig erschien auch ihm diese Schar verbündeter Heuchler! Er war bereit, ihnen um ihretwillen den Krieg zu erklären. Sein Casus belli würde sich, wenn er in Worte gekleidet worden wäre, sonderbar genug ausgenommen haben. Weil die Welt sich weigerte, die Dame durch das Anerbieten einer Stubenmädchenstelle zur Tugend zu verlocken, warf er ihr den Fehdehandschuh hin. Und doch hatte die Dame diese Aussicht auf eine Rückkehr zur Keuschheit verächtlich zurückgewiesen. Dann mußte also die Form der Herausforderung lauten: Weil die Welt sich weigert, den Luxus der Dame zu unterstützen für nichts! Aber was bedeutete das? In andern Worten, sie wollte den Sohn des Teufels empfangen, ohne ihm ihre Dienste zu leisten. Solch eine Abmachung erscheint kaum gerecht der Welt gegenüber oder dem Teufel gegenüber. Die Helden werden erst beide besiegen müssen, ehe eine solche Abmachung getroffen werden kann.

Die Helden haben indessen nicht die Gewohnheit, ihre Kriegserklärungen in Worte zu fassen. Mit eingelegter 540 Lanze lassen sie die Herausforderung ertönen und gehen zum Angriff vor. Gleich den Frauen verlassen sie sich auf den Instinkt und pfropfen darauf den Muskel des Mannes. Die sich bequem zur Wehr setzenden Scharen werden weit zurückgeschlagen, bestehende Einrichtungen werden zerstört, man weiß nicht weshalb, Köpfe werden niedergeschlagen, die keine Ahnung davon haben, warum es geschieht. Es ist der Instinkt, der zuschlägt: Sicherlich liegt etwas Göttliches im Instinkt. Doch nun, wo der Krieg erklärt: ist, wo sind die feindlichen Heerscharen? Der Held kann doch nicht einen Angriff auf die Damen und Herren des Ballsaales machen und die Quadrille stören?

Er besaß genügende Zurückhaltung, um nicht in dem Gerichtshof zum Angriff zu blasen; er konnte auch nicht gut in das Parlament gehen mit einer Trompete, obgleich eine Rauferei mit den direkten Vertretern der Nation die richtige Methode gewesen wäre. Es war auch unmöglich für ihn, in jedes Haus und in jeden Laden einzutreten und mit dem Hausherrn zu kämpfen in Angelegenheit der Mrs. Mount. Wo war denn aber sein Feind? Jedermann war sein Feind und jedermann war nirgends! Sollte er Volksversammlungen einberufen? Der blaue Rock des Polizisten und die unbestimmte Furcht vor dem Lächerlichen stellten sich seinen Plänen entgegen. Ach, der arme Held unserer Tage!

Nichts lehrt einen starken Mann seine Ohnmacht so sehr erkennen, als wenn er gegen die leere Luft schlägt.

»Was kann ich tun für diese arme Frau?« rief Richard, nachdem er bis zur Erschlaffung mit seinem gespenstischen Feinde gekämpft hatte.

»Ach, Rip! alter Rip!« redete er seinen Freund an, »ich werde verrückt. Ich wünschte, ich wäre tot! Wozu bin ich gut? Elend! Selbstsüchtig! Alle, die mich kennen, sind über mich unglücklich! Ich folge meinen Neigungen 541 – ich veranlasse die Leute mir zu helfen, indem sie lügen, so toll sie können – und ich bin selbst ein Lügner. Und wenn ich es erlangt habe, schäme ich mich meiner. Und jetzt, wenn ich etwas Selbstloses sehe, das ich tun könnte, dann grinst mich jeder an – ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll – wie ich handeln soll – und ich lache über mich selbst wie ein Teufel!«

Es war nur Freund Riptons Ohr, das ihn hörte, so hatten seine Worte wenig Wirkung; aber Ripton meinte, er hätte wenig Ursache, sich zu schämen, daß er die Schönheit der Erde gewonnen hätte und besäße, worauf Richard wie gewöhnlich sagte: »Das arme kleine Ding!«

Er focht seinen Kampf gegen die leere Luft, bis er ganz erschöpft war. Sein letzter Brief an seinen Vater brachte ihm keine Antwort. Nun, sagte er, habe ich mein äußerstes versucht. Ich habe versucht, gehorsam zu sein, mein Vater will nicht auf mich hören. Etwas kann ich tun – ich kann zu meiner lieben, kleinen Frau gehen und sie glücklich machen, und sie wenigstens vor einigen der Folgen meiner Übereilung bewahren.

»Es bleibt mir nichts Besseres mehr!« stöhnte er. Sein großer Ehrgeiz mußte unter Dach gebracht werden, er mußte sich, gleich der Katze am häuslichen Herde, wärmen! Der Held war sich nicht bewußt, daß sein Herz ihn dazu trieb. Sein Herz stand jetzt nicht in offner Gemeinschaft mit seinen Verstande.

Mrs. Mount hörte, daß ihr Freund ginge – gehen wollte. Sie wußte, er ging zu seiner Frau. Weit davon entfernt, ihn abzureden, sagte sie edelmütig: »Gehe – ich glaube, ich habe dich zurückgehalten. Laß uns noch einen Abend zusammen haben und dann gehe: für immer, wenn du willst. Wenn das nicht, dann bis zu einem späteren Wiedersehen. Vergiß mich. Ich werde dich nicht vergessen. Du bist der beste Junge, den ich jemals 542 kennen gelernt habe, Richard. Du bist es, bei meiner Ehre! Ich schwöre dir, ich möchte mich nicht zwischen dich und deine Frau eindrängen, um einem von euch auch nur eine unglückliche Minute zu bereiten. Wenn ich mich ändern kann, dann will ich es und dann werde ich an dich denken.«

Lady Blandish hörte von Adrian, daß Richard nun wirklich zu seiner Frau wollte. Der weise Jüngling verschleierte bescheiden sein Verdienst bei dieser Sache, indem er sagte: »Ich konnte es nicht ansehen, daß die arme kleine Frau noch länger dort allein gelassen werde.«

»So! Ja!« sagte Mrs. Doria, der gegenüber man die bescheidene, kleine Rede wiederholte. »Ich glaube, es ist das Beste, was der arme Junge jetzt tun kann.«

Richard verabschiedete sich von ihnen, um seinen letzten Abend bei Mrs. Mount zu verbringen.

Die Zauberin empfing ihn in großer Toilette.

»Kennst du dieses Kleid? Nein? Es ist das Kleid, das ich trug, als ich zum erstenmal mit dir zusammen war, nicht als ich dich zum erstenmal sah. Ich glaube, ich habe dich bemerkt, mein Herr, lange, ehe du dich herabgelassen hast, von meiner bescheidenen Person Notiz zu nehmen. Als wir das erstemal zusammen waren, tranken wir Champagner, und ich beabsichtige, unsere Scheidestunde mit demselben Getränk zu feiern. Willst du mit mir trinken, alter Junge?«

Sie war fröhlich. Sir Julius machte sich ab und zu bemerkbar. Er war niedergeschlagen und überließ ihr die Unterhaltung.

Mrs. Mount hielt sich einen Diener. Es war schon spät, als der Mann mit den Wadenstrümpfen zum Souper deckte. Es war für Richard Ehrensache, wenigstens den Versuch zu machen, etwas zu essen. Das Trinken geht immer noch leichter, dank unserer gütigen Mutter Natur, die es liebt, wenn ihre Kinder zu Narren werden. Der 543 Diener war gewandt, die Champagnerpfropfen erinnerten an das Geschützfeuer in Richmond.

»Wir wollen auf das trinken, Dick, was wir hätten sein können,« sagte die Zauberin. Ach, wie prächtig sah die Schiffbrüchige aus. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er es versuchte, den perlenden Wein zu trinken.

»Was! immer austrinken, mein Junge!« rief sie. »Man wird niemals sehen, daß ich das Signal der Trauer aufziehe. Wir müssen alle sterben und das Geheimnis ist nur, mitten auf der Jagd und ohne Reue zu sterben. Beim Jupiter! Hast du jemals von Laura Fenn gehört? ein prächtiges Mädel! schöner als deine bescheidene Dienerin – und wenn du es mir glauben willst, obendrein noch ein ›Fräulein‹ und infolgedessen, nehme ich an, noch viel liederlicher als die andern. Sie war auf der Jagd. Ihr Pferd warf sie ab und sie fiel direkt auf einen spitzen Pfahl. Er ging durch ihre linke Brust. Alle jungen Leute drängten sich um sie herum, und ein junger Mann, der in sie verliebt war – er sitzt jetzt im Oberhaus – ein reizender Kerl – sprang vom Pferde und fiel auf die Knie: ›Laura! Laura! mein Liebling, sprich noch ein Wort zu mir! – das letzte!‹ – Da drehte sie sich um, ganz blaß und blutig: ›Ich – ich werde bei dem Halali nicht dabei sein,‹ und gab den Geist auf. Heißt das nicht auf der Jagd sterben? Trink, auf das Beispiel von Laura Fenn! Was ist dir? Sieh mal! ein Mann wird blaß, wenn er hört, wie eine Frau sterben kann. Füllen Sie die Gläser, John. Nun? Sie werden auch schwach?«

»Es war so aufregend, gnädige Frau,« meinte John zu seiner Entschuldigung, und seine Hand zitterte, als er den Wein eingoß.

»Sie sollten nicht zuhören. Gehen Sie, und trinken Sie etwas Branntwein.«

544 Der Diener verließ das Zimmer.

»Mein tapferer Dick! Richard! wie siehst du aus!«

Sein blasses Antlitz sah sehr finster aus.

»Kannst du es nicht vertragen, von Blut zu hören? Es handelte sich doch nur um ein ungezogenes Frauenzimmer. Der Geistliche der Gemeinde verweigerte ihr nicht ein anständiges Begräbnis. Wir sind doch Christen! Hurra!«

Sie wurde immer fröhlicher und lachte laut. Ein düsterer Glanz umgab sie wie Höllenlicht.

»Stoß an, Dick! Trinke und erhole dich wieder. Was schadet's. Wir müssen alle sterben – die Guten und die Bösen. Asche zu Asche – Staub zu Staub – und Wein für lebende Lippen! Das ist Poesie – beinahe wenigstens. Unser Trinkspruch: ›Mögen wir nicht sterben, so lange wir nicht genügend getrunken haben.‹ Nicht schlecht, was? Ein bißchen gewöhnlich, vielleicht, beim Jupiter! Findest du mich schrecklich?«

»Wo ist Wein?« rief Richard. Er trank ein paar Gläser, rasch hintereinander, und starrte um sich. War er in der Hölle und eine verlorne Seele raste um ihn?

»Edel gesprochen! und edel gehandelt, mein braver Dick. Nun sind wir die rechten Gefährten. Ich wünschte, der Himmel hätte mich zu einem solchen Manne gemacht. Ach Dick! Dick! zu spät, zu spät!«

Ihre Stimme wurde leiser. Sie sah ihn von der Seite an.

»Hast du dieses gesehen?«

Sie zeigte auf einen mit Edelsteinen besetzten Anker, mit einem Tau von Haaren, den sie auf der Brust trug. Es war ein Geschenk von ihm.

»Weißt du, wann ich dir die Locke gestohlen habe? Du törichter Dick! Du schenktest mir einen Anker, ohne ein Tau. Komm und sieh.«

545 Sie stand vom Tische auf und warf sich auf das Sofa.

»Kennst du dein eignes Haar nicht wieder? Ich würde eine Locke meines Haares unter Millionen wiedererkennen.«

Etwas von der Stärke des Samson verließ ihn, als er sein Haar auf dem Busen der Delila betrachtete.

»Und du wußtest nichts davon? Du erkennst es kaum, nun da du es siehst? Was könnte eine Frau dir nicht alles stehlen! Aber du bist nicht eitel und das ist ein Schutz. Du bist ein Wunder, Dick, ein Mann, der nicht eitel ist. Setz' dich hierher!« Sie zog die Füße ein, um Raum für ihn auf dem Sofa zu machen. »Nun laß uns miteinander reden, wie zwei Freunde, die sich für immer trennen. Du trafst ein Schiff, wo Fieber an Bord herrschte, und du fürchtetest dich nicht, es zu besteigen und mitzufahren. Das Fieber ist nicht ansteckend, wie du siehst. Laß unsere Tränen zusammenfließen. Ha! Ha! Das sagte ein Mann einmal zu mir. Der Heuchler wollte sich gerne anstecken, aber er war zu alt. Wie alt bist du, Dick?«

Richard legte einige Monate zu.

»Einundzwanzig? So siehst du auch aus, du blühender Junge. Nun sage einmal: wie alt bin ich, mein Adonis? – Zwanzig, was?«

Richard würde sie für fünfundzwanzig gehalten haben.

Sie lachte laut. »Du sagst wenigstens keine Schmeicheleien, Dick. Es ist immer am besten, wenn man ehrlich ist; rate noch einmal. Du magst es nicht? Nicht fünfundzwanzig, oder vierundzwanzig, oder dreiundzwanzig – oder – sieh doch einer, wie er anfängt zu staunen; – zweiundzwanzig. Grade einundzwanzig, mein Lieber! Ich denke, mein Geburtstag ist einer dieser Tage – im nächsten Monat. Sieh mich doch näher an – näher. Habe ich eine Runzel?«

546 »Und wenn du sie hättest – in Gottes Namen . . .« er hielt plötzlich inne.

»Ich verstehe dich. Wann fing ich denn an zu leben? Im reifen Alter von sechzehn sah ich einen Edelmann in Verzweiflung wegen meiner Schönheit. Er schwor, er müsse sterben. Das wollte ich nicht. So, um den armen Mann für seine Familie zu retten, ging ich mit ihm durch. Ich glaube, man erkannte das Opfer gar nicht an, und er vergaß es auch bald, wenn er es überhaupt je anerkannt hatte. Das ist so der Lauf der Welt!«

Richard griff nach dem abgestandenen Champagner, leerte eine Flasche in ein Wasserglas und trank es herunter.

Der Diener John kam herein, um den Tisch abzuräumen, dann wurden sie nicht weiter gestört.

»Bella! Bella!« sagte Richard mit tiefer, trauriger Stimme, und ging im Zimmer auf und ab.

Sie lehnte sich auf ihren Arm, ihr Haar drückte sich gegen die gerötete Wange, ihre Augen waren halb geschlossen und träumerisch.

»Bella!« er ließ sich neben ihr nieder. »Du bist unglücklich?«

Sie blinzelte und gähnte wie jemand, der plötzlich aufgeweckt wird.

»Ich glaube, du sagtest etwas?« sagte sie.

»Du bist unglücklich, Bella. Du kannst es nicht verbergen. Dein Lachen klingt wie Tollheit. Du mußt unglücklich sein. Und noch so jung! Erst einundzwanzig!«

»Was schadet es? Wer macht sich etwas aus mir?«

Das große Mitleid, das aus seinen Augen strahlte, umfaßte ihre ganze Gestalt. Sie mißverstand es nicht und sah nicht Zärtlichkeit darin, wie es eine andre getan haben würde.

»Wer sich etwas aus dir macht, Bella? Ich tue es. 547 Was anders macht mich denn jetzt so elend, als daß ich dich hier sehe, und keinen Weg weiß, dir zu helfen! Barmherziger Himmel! es scheint zu viel, machtlos dabei stehen zu müssen, wenn solches Elend vor sich geht!«

Ihre Hand zitterte in seiner, unter der Leidenschaft der Qual, die seine Gestalt durchbebte.

Unwillkürlich traten Tränen in ihre Augen. Sie sah schnell zu ihm auf, und dann wieder zu Boden, zog ihre Hand aus der seinen und wischte die Tränen fort.

»Bella! Dein Vater lebt noch?«

»Er ist Leinenhändler, Lieber. Er trägt ein weißes Halstuch.«

Die Erwähnung dieses Kleidungsstückes veränderte sofort den Ton der Unterhaltung; er sprang auf und zertrat beinahe den Schoßhund der Dame, der jämmerlich quietschte und heulte und die glühendste Zärtlichkeit seiner Herrin hervorrief. Es klang nun: »Ach, mein süßer, kleiner Mumpsy, will er keinen häßlichen, großen, dicken, schweren Fuß auf seinem seidenweichen Fellchen haben? – na still – still – still; und das soll er auch nicht – still – still, soll er auch nicht; und er weint und weiß, wo er hinkommen muß, und wer traurig ist darüber – still – still – still; und nun wird er ganz glücklich gemacht, seine Herrin macht ihn wieder ganz glücklich, still – still – still . . .«

»Ja!« sagte Richard wütend, von dem andern Ende des Zimmers, »das Glück deines Hundes liegt dir am Herzen.«

»Natürlich liegt ihr das am Herzen,« wurde Mumpsy in kindischen Tönen in sein seidenweiches Fell hinein versichert.

Richard sah sich nach seinem Hute um.

Sofort wurde Mumpsy auf das Sofa gesetzt.

»Nun,« sagte die Dame, »mußt du kommen, und 548 Mumpsy um Verzeihung bitten, ob du es nun mit Absicht getan hast oder nicht, denn kleine Hunde können das nicht unterscheiden, wie sollten sie auch? Und nun denkt der arme Mumpsy, du bist ein großer, schrecklicher Nebenbuhler, der mit Absicht versucht, ihn ganz flach zu nichts zu zertreten, unter dem Vorwande, daß du ihn nicht gesehen habest; und er zittert, der arme, kleine Liebling! Und ich kann meinen Hund lieben, mein Herr, soviel ich will; und das tue ich auch; und ich will nicht, daß er schlecht behandelt wird, denn er ist keinmal eifersüchtig auf dich gewesen, und er ist ein Liebchen und ist zehnmal treuer als die Männer und ich liebe ihn fünfzigmal mehr. So und jetzt komm zu ihm.«

Zuerst glitt ein Lächeln über Richards Gesicht; dann lachte er ein melancholisches Lachen und gab ihrer Laune nach und ging zu dem Sofa, um Mumpsy um Verzeihung zu bitten.

»Der liebe Hund! ich glaube, er sah, daß wir anfingen, uns zu langweilen,« sagte sie.

»Und brachte sich absichtlich zum Opfer? Das edle Tier!«

»Ja, wir wollen tun, als wenn wir es glaubten. Laß uns fröhlich sein, Richard, und nicht wie alte Philister von einander scheiden. Wo ist all deine Lustigkeit geblieben? Du kannst doch schwatzen, warum tust du es nicht? In einer von meinen Rollen hast du mich noch nicht gesehen – nicht Sir Julius: warte ein paar Minuten.« Sie lief hinaus.

Ein weißes Antlitz erschien hinter einer flackernden Flamme. Ihr schwarzes Haar war über ihre Schultern gebreitet und fiel halb über ihre Stirne. Sie bewegte sich langsam ihm entgegen, heftete ihren unheimlichen Blick auf ihn und zeigte mit dem Finger nach der Region der Hexen. Grabestöne begleiteten die Vorstellung. Er hörte nicht darauf hin, er dachte nur, was für eine 549 gefährlich bezaubernde und außerordentlich schreckliche Hexe sie wäre. Etwas in der Art, wie ihre Augenlider arbeiteten, schien ihn an irgend ein vergessenes Bild zu erinnern; aber ein Schleier hing über dem Bilde. Etwas Ähnliches konnte es nicht geben, denn dieses war schön und teuflisch zugleich und das war, wenn er sich recht erinnerte, die Schönheit der Seraphime.

Sein Nachsinnen und ihre Vorstellung wurden durch einen Schrei unterbrochen. Der brennende Spiritus, den sie auf einem Teller trug, war übergeflossen und auf den Boden gelaufen. Sie hatte Geistesgegenwart genug, den Teller sogleich auf den Tisch zu stellen, während er die Flamme auf dem Teppich austrat. Dann schrie sie wieder, sie glaubte, sie hätte Feuer gefangen. Er fiel auf die Knie, umfaßte ihre Röcke und zog seine Arme verschiedene Male an ihr herunter.

Noch auf den Knien liegend blickte er zu ihr auf und fragte sie: »Fühlst du dich jetzt sicher?«

Sie beugte ihr glühendes Antlitz nieder, bis die Spitzen ihres Haares seine Wangen berührten.

»Fühlst du dich sicher?« sagte sie.

War sie wirklich eine Hexe? Es lag Zauberei in ihrem Atem, Zauberei in ihrem Haar, dessen Enden ihn wie kleine Schlangen stachen.

»Wie findest du, daß ich es spiele, Dick?« sie warf sich lachend zurück.

»Wie du alles tust, Bella,« sagte er und atmete tief.

»Genug! Ich will keine Hexe sein, ich will keine Hexe sein: sie mögen mich zu Asche verbrennen, aber ich will keine Hexe sein!«

Sie sang, schüttelte ihr Haar und stampfte mit den Füßen.

»Ich mag schön aussehen! Ich muß gehen und mich wieder ordentlich machen.«

550 »Nein, zieh' dich nicht um. Ich sehe dich gerne so.« Er blickte sie an mit einer Mischung von Erstaunen und Bewunderung. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß du dieselbe Person bist – nicht einmal, wenn du lachst.«

»Richard,« ihre Stimme klang ernst, »du wolltest mit mir von meinen Eltern sprechen.«

»Wie wild und furchtbar du aussiehst, Bella!«

»Mein Vater, Richard, war ein sehr achtbarer Mann!«

»Bella, du wirst mich wie ein Geist verfolgen.«

»Meine Mutter starb, als ich noch ein kleines Kind war, Richard.«

»Stecke dein Haar nicht wieder auf, Bella!«

»Ich war das einzige Kind.«

Sie schüttelte traurig das Haupt und blickte nach dem Kamin. Er folgte ihrem verträumten, gespannten Blick und fing an, ihre Worte zu verstehen.

»Ja, sprich mir von deinem Vater, Bella. Sprich mir von ihm.«

»Soll ich dich als Geist verfolgen, und an dein Bett treten und rufen: ›Es ist Zeit?‹«

»Liebe Bella, wenn du mir sagen willst, wo er wohnt, werde ich zu ihm gehen. Er wird dich bei sich aufnehmen. Er wird sich nicht weigern – er wird dir vergeben.«

»Wenn ich dir als Geist erscheine, dann kannst du mich nicht vergessen, Richard.«

»Laß mich zu deinem Vater gehen, Bella – laß mich morgen zu ihm gehen. Ich will meine Zeit für dich opfern. Es ist alles, was ich dir geben kann. Ach, Bella! laß mich dich retten!«

»Ich gefalle dir also am besten in diesem unordentlichen Zustand, du unartiger Junge! Ha! Ha!« und sie trat von ihm fort und tanzte im Zimmer umher, ihr Haar flog, und dann warf sie sich lang auf das Sofa hin.

Er fühlte sich schwindlig, verzaubert.

551 »Wir wollen von alltäglichen Dingen reden, Dick,« rief sie ihm vom Sofa aus zu. »Es ist unser letzter Abend; unser letzter? Ach ja! Es stimmt mich sentimental. Wie geht es diesem Mr. Ripson, Pipson, Nipson? – ich weiß, es ist nicht höflich, aber ich kann solche Namen nicht behalten. Weshalb hast du Freunde von der Art? Er ist kein vornehmer Mann. Besser als das, meinst du? Nun für mich ist er etwas zu unbedeutend. Warum sitzest du so weit fort? Komm gleich her zu mir. So – ich werde mich ganz manierlich hinsetzen, dann hast du Raum genug. Erzähle mir etwas, Dick!«

Er dachte über die Tatsache nach, daß ihre Augen braun wären. Wenn es ihr beliebte, konnten sie hochmütig funkeln, und wenn es ihr beliebte, einen sanftschmachtenden Ausdruck haben. Die Aufregung hatte ihre Wangen dunkel gerötet. Er war jung und sie war eine Zauberin. Er ein Held und sie ein Irrlicht.

Ihre Augen waren jetzt schmachtend, in rosiger Umgebung.

»Du willst mich doch noch nicht verlassen, Richard? noch nicht?«

Er hatte noch gar nicht daran gedacht, Abschied zu nehmen.

»Es ist unser letzter Abend – ich vermute, es ist die letzte Stunde, die wir zusammen in dieser Welt verleben – und in der andern möchte ich dich nicht treffen, denn der arme Dick müßte dann in einen sehr, sehr unangenehmen Ort kommen, um seinen Besuch zu machen.«

Er griff nach ihrer Hand, als sie so sprach.

»Ja, das muß er! das ist wahr! das läßt sich nicht ändern: man sagt, daß ich hübsch wäre.«

»Du bist bezaubernd, Bella.«

Sie sog seine Huldigung begierig ein.

»Nun, wir wollen das zugeben. Seine Hoheit da 552 unten liebt bezaubernde Frauen, höre ich. Er hat Geschmack! Du kennst noch nicht alle meine Künste, Richard!«

»Ich würde mich über nichts Neues mehr wundern, Bella!«

»Dann höre und staune.« Ihre Stimme ertönte in einigen lebhaften Koloraturen. »Glaubst du nicht, daß er mich da unten zu seiner Primadonna machen wird? Es ist Unsinn, wenn sie behaupten, da unten würde nicht gesungen. Und die Luft wird sehr gut für die Stimme sein. Gar keine Feuchtigkeit, wie du weißt. Du hast mein Klavier gesehen, weshalb hast du mich noch niemals gebeten, zu singen? Ich kann italienisch singen. Ich hatte einen Lehrer – der mir den Hof machte. Ich verzieh ihm, wegen des Klavierstuhles – auf dem Klavierstuhl können die Männer nicht anders, die armen Dinger!«

Sie ging zum Klavier, schlug einige Akkorde an und sang:

»Mein Herz, mein Herz – ich glaub', es bricht.«

– nämlich weil ich solch ein leichtsinniges Frauenzimmer bin, sonst wüßte ich keinen Grund. Nein – ich hasse sentimentale Lieder. Das will ich nicht singen. Tideldum – tideldum – tideldum – wie albern doch die Frauenzimmer waren, als wir von Richmond kamen!

Einst hat liebliche Romantik
Dich umschwebt so süß und mild,
Aller Glanz der Welt war einstmals
Nur der Rahmen um dein Bild.

Ach, zu schön! – und die Erinnrung
Ruft mein Herz zurück – doch nein!
Gebt den Winden nur die Asche
Dieses Feuers, das nicht rein!

Hm! das gefällt mir auch nicht so sehr. Tum – te tum – accanto al fuoco – Ach nein! Ich will nicht 553 glänzen, Dick – und ich will mich auch nicht blamieren – so will ich das lieber nicht versuchen.

Wäre jetzt ein glücklich Weib,
Bin es nicht um deinetwegen.
Wiegt' ein Kind jetzt auf den Knien,
Das nicht Schande, sondern Segen.

Das pflegte ich einst zu singen, mein süßer Richard, als ich noch ein Mädchen war, und wußte gar nicht, was es bedeutete. So etwas muß man nicht in Gesellschaft singen. Wir sind – ach, wir sind so anständig – selbst wir.

Wenn ich einen Gatten hätte, weißt du was ich täte?
Ließ ihn werben stets aufs neue.
Denn der Mann, der nicht mehr wirbt,
Hält nicht leicht die Treue.

Denn so sind die jungen Männer – die Männer, so sind die jungen Männer!«

Nach diesen Spielereien sang sie mit lieblicher Stimme eine spanische Ballade. Er war in einer Stimmung, in der die Einbildungskraft alles verschärft und belebt. Schon die Andeutungen der Musik genügten. Der Dame in der Ballade war Unrecht geschehen. Siehe! Es war die Dame vor ihm: ein sanftes Hifthorn blies; der schwache Duft der Nachtblumen umwehte ihn; er sah die Sterne groß und dicht gesät über der dürren Heide; die Dame lehnte verzweifelt am Fenster und machte ihrem verlassenen Herzen Luft.

Die Helden wissen gar nicht, wie viel sie dem Champagner verdanken.

Die Dame wanderte nach Venedig. Er folgte ihr mit einem Sprunge auch dorthin. Auch in Venedig war sie nicht glücklich. Er war darauf vorbereitet, daß alle Frauen 554 überall unglücklich waren. Aber ach! bei ihr zu sein! In geisterhafter Bewegung durch die lebensvollen Straßen zu gleiten, an Häusern vorbei, die sich mit sagenhafter Dunkelheit umhüllen; unter geschnitzten Brücken hindurch: vorbei an Palästen voller Leben in der Todesstille; vorbei an großen, alten Türmen, ungeheuren Plätzen, glitzernden Kais; und weiter und vorwärts immer mit ihr in die silberne Unendlichkeit des wogenden Meeres.

War es der Champagner? War es die Musik? oder die Poesie? Etwas von den beiden ersteren wahrscheinlich: am meisten aber die Zauberin, die mit ihm spielte. Wie viele Instrumente kann eine kluge Frau nicht in demselben Augenblicke spielen! Und diese Zauberin war nicht zu klug, sonst hätte er den Zauber vielleicht empfunden. Sie war nicht länger nur darauf aus, ihn zu gewinnen, oder er hätte das Manöver entdecken müssen. Sie hatte ihn gern – sie hatte keinen lieber. Sie wünschte ihm alles Gute; sie hatte erreicht, was sie wollte. Aber er war schön und er wollte sie verlassen. Grade was sie an ihm liebte, hätte sie ihm beinahe gern genommen, oder den Versuch gemacht, es ihm zu nehmen; grade wie man den Wunsch hat, einen hübschen Schmetterling zu fangen, ohne seine bunten Flügel zu verletzen. Man möchte dem unschuldigen Insekt kein Leid zufügen, man möchte es nur ganz genau betrachten und sich an seiner Schönheit erfreun, es besitzen und sich an dem beglückenden Bewußtsein erfreuen, daß man es zerdrücken könnte, wenn man wollte.

Er wußte, welcher Art diese Dame war. In Sevilla oder in Venedig, sie war gezeichnet. Die Pfade des Mondes wandelnd, wurde ihre Schönheit doch nicht von dem Lichte des Himmels durchleuchtet. Ihre Sünde war vorhanden: aber indem er davon träumte, sie zu retten, war 555 er nachsichtig gegen die Sünde – ertränkte sie in tiefer Trauer.

Ihr Verstummen und das Rauschen ihrer Kleider erweckten ihn aus seiner Träumerei. Sie schwebte leicht zu ihm nach dem Sofa. Sie ließ sich zu seinen Füßen nieder. »Ich bin heut abend fröhlich und sorglos gewesen, Richard. Natürlich war ich es mit Absicht. Ich mußte lustig sein, wenn mein bester Freund mich verlassen will.«

Ihre zauberhaften Augen glänzten lebhaft.

»Du wirst mich nicht vergessen? und ich werde versuchen – versuchen . . .«

Ihre Lippen zuckten. Sie fand ihn so sehr hübsch.

»Wenn ich mich ändere – wenn ich mich ändern kann . . . Ach, wenn du wüßtest, in welchem Netz ich mich befinde, Richard!«

Bei diesen Worten nun, als er auf ihre blasse Lieblichkeit niederblickte, war es kein göttlicher Kummer, sondern ein verzehrendes Feuer der Eifersucht, das sich in seiner Brust entzündete und ihn mit schrecklichen Qualen durchzuckte. Er beugte sich tiefer nieder über ihr blasses, bittendes Antlitz. Ihre Augen zogen ihn immer tiefer nieder.

»Bella! Nein! nein! versprich es mir! schwöre es mir!«

»Verloren, Richard! verloren für immer! gib mich auf!«

Er rief: »Niemals will ich das!« und umschlang sie mit seinen Armen und küßte leidenschaftlich ihre Lippen.

Sie schauspielerte jetzt nicht, als sie ihr halb abgewendetes Haupt zur Seite neigte und mit einer Art mädchenhafter Scham an seinem Arm verbarg, seufzend, weinend sich an ihn klammernd. Es war bittere Wahrheit.

Kein Wort der Liebe zwischen ihnen!

Ward je in dieser Laun' ein Held gewonnen? 556

 


 << zurück weiter >>