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Vom Glasenschlagen. – Ein Dieb im Logis. – Vor Gericht. – Das Urteil.
Nach einer Fahrt von vier Wochen gelangte der »Senator Merk« in den Nordostpassat. Der Wind war mäßig, trotzdem lief das Schiff, das jetzt alle Leesegel stehen hatte, eine gute Fahrt, und jeder Tag brachte es in wärmeres Wetter. – Paul und Towe hielten zusammen wie Kletten, was eigentlich auch nicht zu verwundern war. Während der Nachtwachen, in denen es, solange man in der Passatgegend ist, fast nichts zu tun gibt, hockten sie fast immer beieinander, entweder auf der Back, oder auf der Vorluk, oder auf den Reservespieren an der Reling. Towe ward nie müde, von den schönen Tagen zu reden, die er im Pfarrhause verlebt hatte, und dabei kam er auf dem kürzesten Wege stets auf Katje und die Hühnerzucht, die er mit ihr betreiben wollte, wenn sie erst verheiratet wären.
So saßen sie auch in einer sternklaren Nacht auf dem vorderen Ende der Spieren auf der Steuerbordseite. Es war in der ersten Wache, von acht bis zwölf, und soeben hatte es drei Glasen geschlagen.
Zur Aufklärung für diejenigen meiner jungen Leser, die den Ausdruck Glasen nicht verstehen, sei hier folgendes eingeschoben: Glas ist ein Schlag an die Schiffsglocke, der den Ablauf einer halben Stunde seit Beginn der Wache bedeutet und für den Dienst an Bord maßgebend ist; die Wache dauert vier Stunden, ist also um acht Glasen zu Ende. In früherer Zeit dienten Halbstunden-Sandgläser als Zeitmesser, daher rührt der Name.
Die Glockenklänge waren kaum verhallt, da sahen unsere Freunde einen Mann aus der Logiskappe kommen, dessen Gebaren ihnen auffiel. Er sah sich lauschend und wie scheu um, schlüpfte mit langen hastigen Schritten zum Ankerspill und versteckte etwas unter einem Pallen. In der Mitte der achteckigen hölzernen Welle des Ankerspills befindet sich ein starker gußeiserner Ring, der Pallkranz, außen mit Zähnen versehen, in welche die Pallen oder Sperrklinken eingreifen, um beim Aufhieven des Ankers die Rückwärtsdrehung der Welle zu verhindern. Towe stieß Paul an und flüsterte ihm zu, sich schlafend zu stellen. Der tat wie ihm geheißen, obgleich er nicht wußte, was Towe im Sinne hatte. Der Mann stieg dann auf die Back hinauf und fragte den daselbst am Fockstag lehnenden Ausguck, ob es schon drei Glasen geschlagen habe. Als er Bescheid erhalten hatte, sagte er mit stark ausländisch klingender Betonung: »Ich hatte nichts gehört; um vier Glasen beginnt mein Rudertörn; ich habe auf der Vorluk geschlafen. Jetzt will ich mir noch eine Pfeife anzünden, ehe ich achteraus muß.«
Er sprang von der Back herab und ging wieder ins Logis.
»Junge, Junge!« sagte Towe und schlug sich erregt auf das Knie. »Dat is de verdammte Griek! Ick heww mi dat dacht; ick will aber nix nich seggen, ehr ick dat nich genau weten do.«
»Wat hest du?« fragte Paul erstaunt.
»Ick vertell di, wenn de Keerl achterut is. Nu mußt du aber ümmer noch so tun, als ob du slafen tätest, dormit dat he nix nich marken doon deit.«
Als es vier Glasen schlug, wurden der Mann am Ruder und der auf dem Ausguck abgelöst.
»Nu is't Tid,« sagte Towe und stand schnell auf. »Mensch, Paul, ick heww dat jo all lang mußt! Du schast sehn, ob ick nich recht heww.«
»Mensch, Towe, du sprichst in Rätseln.«
»Ach wat, Snack! Du mit din Hochdütsch! Weetst du nich ebenso good as ick, dat so lang as wie nu all in See sünd, binah jeden Dag een von uns wat verloren un nich wedderkregen het, hüt de un morgen de? Weetst nich, wo oft dor Zank un Strid nah kamen is? Toerst wer den Sleswiger sin gollen Ring weg; dünn verlör de Flensburger sin engelsches Taschenmetz; nahsten wer den annern sin sine nickelsche Tobaksbüß tom Düwel. Dünn säd ick to mi, dat is een von de Utlandschen, de de Sacken stahlen het.«
»Und du meinst –?« begann Paul.
»Ja, ich mein', Herr Krull,« spottete Towe, »wenn ick doch mit Gewalt Hochdütsch reden soll. An Bord von deutschen Schiffen ist man nicht gewohnt, seine Seekist' zuzuschließen, dat doon de Engländers, de Spaniolen un so'n Volk. Der Spitzbube hat's daher bei uns bequem gehabt.«
»Und du meinst, der Gazzi sei der Spitzbube?«
»Dat mein' ick nich, dat weet ick.«
»Dann laß uns nachsehen, was er da auf dem Spill versteckt hat.«
»Töw noch en beten, Paul. Wir müssen noch einen Zeugen haben. Ick gah' un hol' Heik Weers, de just von den Utkiek kamen is. To em het de Griek seggt, dat he up de Vörluk slapen harr.«
Heik Weers erschien an Deck, und jetzt gingen die drei zum Ankerspill.
»Nu föhl mal ünner de Pallen,« sagte Towe zu Paul, »verlich finnst du da wat.«
Paul tastete hin und her, dann rief er mit unterdrückter Stimme: »Hier habe ich etwas!« und brachte eine silberne Taschenuhr zum Vorschein.
»Dat is Julius Lassen sin',« sagte Heik Weers. »Probeer mal, ob dor nich noch mehr verstaut is.«
Nach kurzem Suchen holte Paul noch eine Uhrkette, einen Ring und mehrere andere Gegenstände hervor.
»Heww ick dat nich seggt?« rief Towe. »Wat makt wi nu mit düssen slechten Menschen?«
»Uphangen!« entschied Heik Weers.
»Öwer Bord smieten,« sagte Towe.
»Wenn ich hier raten kann, dann berichten wir die Sache dem Obersteuermann; der mag mit dem Kaptein darüber reden,« sagte Paul.
Man kam überein, die Gegenstände vorläufig wieder unter die Palle zu legen, darauf sollte Paul achteraus gehen und dem Steuermann mitteilen, was er wußte.
Jaspersen stand bei der Besanswant und schaute in Gedanken versunken über die nächtliche See hinaus. »Nun, was gibt's?« fragte er, als Paul in zwei Sprüngen die Achterdeckstreppe heraufkam. Dann hörte er ruhig an, was dieser ihm zu berichten hatte.
»Hm,« sagte er, »Towe Tjarks müßte eigentlich wissen, was da zu tun ist. Er kennt doch das Verfahren, das in solchen Fällen zur Anwendung kommt. Durch solch ein Volksgericht an Bord wird dem Kerl viel wirksamer Ehrlichkeit beigebracht, als durch ein Jahr Gefängnis an Land. Ein Dutzend oder zwei mit dem Tamp und dann für den Rest der Fahrt das Großboot als Koje. Natürlich muß zuvor seine Schuld durch ein regelrechtes Verhör festgestellt werden.«
»Das wird Towe schon bestroppen,« nickte Paul.
»Wartet damit aber bis es Tag geworden ist,« gab Jaspersen dem Abgehenden noch mit auf den Weg. »Während der Nacht will ich keinen Lärm an Deck haben.«
Paul setzte die beiden Matrosen, die ihn auf der Vorluk sitzend erwarteten, von dem Vorschlag des Steuermanns in Kenntnis.
»So is dat good un richtig,« sagte Heik Weers befriedigt. »Un Julius Lassen, den de Uhr tohören doot, de schall de Richter wesen, un wi annern wi sünd de Gesworenen. So kümmt allens in de Reih'.«
Dem Griechen sollte, wenn er um acht Glasen vom Ruder kam, nichts von dem gesagt werden, was über ihm schwebte. Julius Lassen aber wurde geweckt und aufgefordert, in seiner Kiste nachzusehen, ob ihm etwa seine Uhr fehle.
»Meine Uhr?« fragte er, und klappte den Deckel auf. »Wahrhaftig, Lüd, se is weg! Junge, Junge! Twintig Johr fohr' ick nu all to See, un noch nie nich het mi een wat stahlen! De Griek, seggt ji, is dat west? Den brek ick de Knaken, sowie he von't Roor kümmt!«
»Nee, Julius,« sagte Towe, »dat lat man nah, töw man ruhig bet morgen fröh Klock söben, dunn ward Gerichtssitzung afhollen. Dennso schast du din Recht woll kregen.«
Die ganze Steuerbordwache war damit einverstanden. Nach Ablauf seines Rudertörns kam der Grieche in das Logis. Er ahnte nicht, wovon hier soeben noch geredet worden war, und kroch mit größter Seelenruhe in seine Koje. Hier tastete er eine Weile am Kopfende des Lagers herum, wo er, nach Matrosenart, allerlei von seinen Habseligkeiten verstaut hatte. Endlich stieß er eine Verwünschung aus und sagte:
»Da hat mir einer meinen Tabak gestohlen, ein ganzes Pfund! Hören die Diebereien an Bord dieses Kastens denn gar nicht auf? Ich wollte nur, ich könnte den Kerl fassen! Der sollte noch lange an mich denken!«
»Morgen fröh kannst du uns mehr dorvon vortelln, Maat,« knurrte Towe. »Jetzt wüllt wi slapen.«
Gleich darauf schnarchten alle Mann der Backbordwache in schönster Harmonie. – Kurz vor sieben Glasen wurden sie durch Julius Lassens grimmige Stimme, der wie ein wütender Löwe im Logis herumrumorte, aus dem Schlafe geweckt.
»Dunnerlüchting, Manu, wat schall dat bedüden?« rief ihm einer der andern ärgerlich zu. »Holl din Snut, süs kriegst 'n Seestäwel an Kopp!«
»So? Min Snut holln schall ick, wenn een von de Backbordwach' min goode sülwerne Uhr stahlen het?« entgegnete Lassen giftig.
»So? Een von de Backbordwach' seggst du? Kann dat nich ok een von ju Stüerbordwach' west sin? Dor is de Griek, den hewwen se hüt nacht en Pund Tobak stohlen, as he seggen ded. Dat kann doch man een von ju dahn hewwen, in de Tid, wo he sin Roortörn wohrnehmen ded. He seggt ok, he wüßt de Mann, de't dahn het.«
»Denn büst du woll so good, Gazzi, un nennst uns düssen Mann,« wendete Lassen sich jetzt an den Griechen. »Meine Frau hat mich die Uhr mitgegeben, darum muß ich ihr wiederhaben. Also wer is dat west?«
»Das kann ich nicht sagen,« erwiderte Gazzi. »Ich habe nur so meinen Verdacht.«
»Du, Julius,« nahm jetzt Towe Tjarks das Wort, »ick kenn' de Spitzbow.« – »Wokein is he?« riefen alle auf einmal.
Towe sprang mit einem langen Satz auf den Griechen zu, packte ihn am Halse und zog ihn aus der Koje. – »Düsse is't!« rief er.
Gazzi riß sein Messer aus der Scheide, ehe er aber davon Gebrauch machen konnte, hielt Heik Weers ihm den Arm fest.
»Nee, min Jung',« sagte er. »So wat is auf deutschen Schiffen nich Mode.«
Man band dem tückisch die Zähne fletschenden Menschen die Hände zusammen und stieß ihn die Treppe hinauf an Deck, wo sich inzwischen die gesamte Mannschaft versammelt hatte.
Eine umgekehrte Waschbalje diente als Richterstuhl, auf dem Julius Lassen, als der am meisten Geschädigte, Platz nahm.
»Man führe den Gefangenen vor!« befahl er ernst und streng.
Zwei Matrosen brachten den Delinquenten herbei.
»Bekennst du di schüllig ore nichtschüllig?« fragte der Richter.
Der Grieche schwieg verstockt.
»Na töw man, min Jung', wir werden dich die Zunge schon noch lösen. Towe Tjarks, mach' deine Aussage.«
Towe berichtete, was er in der vergangenen Nacht beobachtet hatte; darauf wurde der Ausguckmann vernommen und zum Schluß mußte auch Paul sein Zeugnis abgeben.
»Ihr habt alles gehört, Maaten,« wendete der Richter sich jetzt an die Geschworenen, die im Halbkreise herumstanden; »wat seggt ji? Is der Angeklagte schüllig, ore is he nicht schüllig?«
»Schüllig!« riefen alle wie aus einem Munde.
»Hest du dat hört, Maat?« sagte der Richter zu dem Delinquenten. »Deine Schiffsmaaten haben dir schüllig befunden. Jetzund muß ich dein Urteil sprechen. Am liebsten täte ich dir kielholen lassen, aber dat darf ich nich, un so verurteile ich dir hiermit zu drei Dutzend, die dich mit dat End von den Klüverneerholer aufgezählt werden sollen. Außerdem darfst du dir niemals wieder ins Logis sehen lassen. Wenn du aber gestehen tust, dennso soll dich ein Dutzend erlassen werden.«
Er wartete auf die Antwort des Verurteilten, der aber blieb hartnäckig stumm. – »Fort mit ihm, Maaten!« rief der Richter. »Lascht em äwer dat Spill! Wi wüllt em sin Ler gewen, he schall sick nich wedder an uns' Eigendum vergriepen!«
Der Grieche wurde von vier Matrosen gepackt, über das Ankerspill gezogen und darauf festgebunden. Jetzt ergriff ihn die Angst, er flehte laut jammernd um Gnade, er wolle auch in seinem ganzen Leben nicht wieder stehlen.
»Aha,« sagte Lassen, »ick heww dat jo wußt, dat de Vogel noch ganz fein singen kunn. Also weil er bekannt hat und auch nie nich wieder stehlen will, so soll ihm ein Dutzend erlassen werden. Wat seggt ji, Maaten?«
»Einverstanden!« antwortete Towe für alle. »Twee Dutz sünd ok reichlich noog.« – Zwei Mann, die Matrosen Geert und Hajung wurden zu Profosen ernannt und vollzogen die Exekution mit bestem Willen und Nachdruck. Der Grieche heulte erbärmlich, aber es half ihm nichts.
Darauf warf man sein Bettzeug und was ihm sonst noch gehörte aus dem Logis, und befahl ihm, in dem mittschiffs stehenden Großboot, über dem die Jolle wie eine Art Dach festgezurrt war, Quartier zu machen.
Während der ganzen Zeit war der Kapitän mit dem zweiten Steuermann auf der Luvseite des Achterdecks auf und ab geschritten; beide hatten von dem, was da vorn vorging, gar keine Notiz genommen. Bei solchen Vorkommnissen wird die Mannschaft in ihrem Tun niemals gestört.
Es schlug acht Glasen; der Rudersmann wurde abgelöst, die Backbordwache ging an ihre Arbeit, die Steuerbordwache holte sich ihr Frühstück aus der Kombüse und suchte dann die Kojen auf.