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Zweiter Teil

1. Kapitel.

Das Pfarrhaus zu Westerstrand. – Im Rettungsboot. – Die Schiffbrüchigen.

 

»Hast du soeben den Kanonenschuß gehört, Vater? Horch! Noch einer! Und noch einer! Da ist ein Schiff aufgelaufen! Bei diesem Nordweststurm kann es nur auf den Muschelsand geraten sein, und wenn es da sitzt, dann ist es verloren. Adieu, liebste Mutter, ich muß mit in das Rettungsboot! Halte alles bereit für die Schiffbrüchigen, die wir an Land bringen!«

»O Paul, bleibe hier!« flehte die Mutter. »Es sind genug Leute da ohne dich! Bleibe hier, mein Sohn, der Sturm ist fürchterlich!«

»Wieder ein Schuß! Ich muß hinaus! Adieu alle!«

Paul umarmte und küßte die Mutter, riß hastig Ölrock und Südwester von der Wand und eilte hinaus in die Sturmnacht, aus der in diesem Augenblick abermals ein Notschuß windverweht herüberdröhnte.

*

In den letzten Tagen des Jahres 1892 wütete in dem deutschen Meere, wie wir die Nordsee von Rechts wegen nennen müßten – die Engländer haben ihr längst diesen Namen gegeben – ein schreckliches Unwetter, das am Altjahrsabend am verderblichsten tobte. An den Küsten und auf den Inseln von Schleswig und Ostfriesland ist jene Sturmzeit noch heute unvergessen.

Wenn im Winter der Orkan mit Schnee und Schlossen über die nächtliche See schnaubt, an den Türen und Fensterladen rüttelt und klappert, durch den Schornstein herabfährt und Rauch und Funken aus dem offenen Herd in die Wohnungen der Menschen treibt, dann erinnert sich der und jener wohl noch des Silvesterabends von 1892, an dem man im trauten Familienkreise vor dem prasselnden Feuer des weiten Kamins gesessen und der Mitternachtsschläge vom Turme des Kirchleins geharrt hatte, um mit einem guten Wort das alte Jahr zu beschließen und mit gegenseitigen Segenswünschen das neue zu beginnen.

Draußen auf der See aber kämpfte zur selben Zeit gar manches Schiff im wilden Schneesturm mit dem schwarzen Verhängnis, und noch ehe der Morgen anbrach, hatten viele brave Seeleute ihre letzte Ruhe tief unter den zornigen Wogen gefunden.

Auch im Pfarrhause der Insel Westerstrand hatte an jenem Abend der Pastor Krull mit seiner Frau, seinen beiden Töchtern und seinem Sohne Paul, einem kräftigen Jüngling von über sechzehn Jahren, vor dem Kaminfeuer in der weiten Küche gesessen, die, nach der alten Sitte an unsrer Wasserkante, vielfach zugleich als Wohnraum diente.

Obgleich die Jahreswende Anlaß genug zu allerlei Betrachtungen bot, wollte eine Unterhaltung dennoch nicht recht zustande kommen, da alle mit Besorgnis dem donnernden Tosen der Brandung und dem Geheul und Geschmetter des Sturmwindes lauschten, der das alte Haus in seinen Grundfesten zu erschüttern schien. – Dann kamen die Notschüsse. Paul eilte hinaus, der Pastor versah sich gleichfalls mit Ölrock und Südwester, und nun schritten beide, mit aller Macht gegen den Sturm ankämpfend, zum Strande hinab, wo eine Anzahl Männer bereits im Begriff war, das Rettungsboot zu Wasser zu bringen. Draußen in der schwarzen Finsternis über der See, in der Gegend des Muschelsandes zeigte sich ein gelbes, verwehtes Licht, das Notsignal eines Fahrzeugs.

Als der Pastor und sein Sohn sich dem Bootschuppen näherten, erweiterte sich ihr Sehkreis ein wenig, weil der schneeweiße Schaum der Brandung einen gewissen Lichtschein verbreitete, der um so merkbarer war, als sich die Gischtmassen der donnernden Fluten bis weit in die See hinaus erstreckten.

Ein Teil der Rettungsmannschaft, die aus lauter Freiwilligen bestand, hatte seefertig ihren Platz in dem auf der Gleitbahn stehenden Boot eingenommen. Auch die Masten waren bereits aufgerichtet, was unter dem Dache des Schuppens nicht hatte bewerkstelligt werden können.

»Een Mann fehlt noch!« rief der Bootssteurer.

»He kümmt all!« antwortete Pauls kräftige Stimme. »He is all dor!«

»Wokeen is dat?« rief der Bootssteurer zurück.

»Uns' Pastohr sin Paul!« antworteten mehrere aus der Menge der am Strande Stehenden zugleich.

»De is good. Mak en beten to, Paul!«

Paul faßte des Vaters Hand.

»Auf Wiedersehen, lieber Vater,« sagte er. »Wir werden bald wieder zurück sein. Da, sieh, es ist nur eine kurze Strecke bis zu dem Schiffe.«

»Es geht um Leben und Tod, mein Sohn. Gott behüte dich!«

Gleich darauf saß Paul auf seinem Platz im Boote. Jetzt rief der Bootssteurer vorschriftsmäßig: »Alle Mann an Bord?«

»Alle Mann an Bord!« kam die kräftige Antwort.

»Alle Korkwesten an?« war die nächste Frage.

»Alle an!«

»Segel klar zum Heißen?«

»All klar!«

»Ankerleine klar?«

»All klar!«

»Dann in Gottes Namen – los!«

Unter dem Heck des Bootes stand ein Mann bereit, das Bändsel durchzuschneiden, welches das Fahrzeug noch an der Kette festhielt.

»Los is!« schrie der Mann.

Man hörte das Klirren der fallenden Kette, das Boot begann zu gleiten, erst langsam, dann schneller, endlich sauste es in rasender, aber geräuschloser Fahrt die Gleitbahn hinunter, während zu gleicher Zeit einige der Männer die Fock setzten, die übrigen aber sich bereithielten, an der Ankerleine zu holen, sobald das Boot sich im brandenden Wasser befinden würde. – Die dichtgereffte Fock schlug und knatterte, als müsse sie demnächst in dünnen Fetzen davonfliegen, während die Raa am Maste emporstieg; der Sturm schmetterte gellend in die betäubten Ohren der Bemannung, eine Wolke brüllenden Schaumes umtoste sie, als das Boot in die Brandung hineinschoß, im nächsten Moment saßen alle Mann knietief im Wasser, dann sprang das Boot auf die Höhe des nächsten Rollers, unwiderstehlich vorwärtsgerissen von den eisernen Fäusten der Männer von Westerstrand, die mit Macht an der Leine holten, die an dem weit draußen im tiefen Wasser liegenden Anker befestigt war. – Inzwischen war auch das dichtgereffte Großsegel gesetzt worden, die Männer ließen die Ankerleine los und das Boot schoß dicht am Winde über Backbordbug in die wilde See hinaus. –

Lange vorher schon war das Boot den Blicken des Pastors und der andern am Strande stehenden Leute in der Finsternis entschwunden gewesen. – »Laßt uns nach der Leeseite des Bootschuppens gehen und dort den Herrgott bitten, unsere Leute gesund wieder an Land zu bringen und auch den Schiffbrüchigen beizustehen,« sagte der Pastor zu den andern.

»Jowoll, Herr Pastohr, dat wüllt wi doon,« war die Antwort, und die kleine Schar, alte Männer, Frauen und Knaben, folgte ihrem Seelenhirten, der auf der windgeschützten Seite des Schuppens ein kurzes Gebet für die Bootsmannschaft und für alle in dieser schrecklichen Nacht um ihr Leben ringenden Seefahrer emporsandte.

Dann kamen lange und bange Stunden des Wartens. Nur wenige verließen den Strand; die meisten blieben in Lee des Bootschuppens und lauschten den Worten der alten Fischer, die gegenseitig ihre Vermutungen darüber austauschten, wie das Rettungsboot wohl mit dem Sturme fertig werde, welche Gefahren es zu bestehen habe, ob es überhaupt an das Schiff herankommen könne und ob zuletzt nicht alles doch vergebens sein werde.

Endlich begann es im Osten zu dämmern; der erste Morgen des neuen Jahres brach an. Das Boot war noch immer nicht zurück. Bald tönte die Glocke des Kirchleins durch den Wind. Pastor Krull hielt den Frühgottesdienst ab. Die andächtige Gemeinde war nur klein, einige alte Fischer und die Frauen derer, die im Rettungsboot auf der stürmischen See waren. – Gerade als der Segen gesprochen wurde, kam ein Mann in schweren Stiefeln und triefendem Ölzeug eilig in die Kirche herein, und rief mit schallender, freudiger Stimme: »De Boot is torügg! Se sünd all an Land!«

Da ward es lebendig in dem sonst so stillen Gotteshause. Einige Bänke fielen polternd um, und alles eilte in größter Hast hinaus. Der Pastor folgte schnellen Schrittes. Am Bootschuppen kam Paul auf ihn zugesprungen und faßte seine Hand.

»Prosit Neujahr, lieber Vater!« rief der Jüngling atemlos. »Weißt du, wen wir geborgen haben? Keppen Jaspersen, mit dem ich die letzte Reise gemacht habe. Ein glücklicher Zufall bei all dem Unglück, nicht wahr?«

»Ist sonst niemand gerettet?« forschte der Pastor bestürzt.

»Ja, noch ein Matrose. Keppen Jaspersen ist bedenklich verletzt, wie ich fürchte; er hat eine böse Kopfwunde. Laß ihn nur sogleich ins Pfarrhaus schaffen. Wenn ich etwas gegessen habe, erzähle ich dir alles. Der Matrose ist einer von der rechten Sorte, ohne ihn lebte der Kapitän jetzt nicht mehr. Auch er muß mit heim zu uns.«

Eine halbe Stunde später befand sich der Verwundete, Kapitän Jasper Jaspersen, Führer des gestrandeten Vollschiffes »Hammonia«, in sauberem Bett und wohldurchwärmtem Zimmer unter der sachkundigen und liebevollen Pflege der Frau Pastorin und ihrer ältesten Tochter Gesine. Auf Westerstrand war kein Arzt; daher hatte schon mancher kranke oder verletzte Schiffbrüchige in dem gastlichen Pfarrhause Hilfe und treue Pflege gefunden.

Der andere Überlebende, ein ostfriesischer Matrose namens Towe Tjarks, fühlte sich bald bei Speise und Trank in der Küche sehr wohl. Paul hatte den Mägden mitgeteilt, daß dieser des Kapitäns Lebensretter sei, und so bewunderten sie in dem kraushaarigen, rotbärtigen, herkulisch gebauten Manne, der etwa dreißig Jahre zählen mochte, einen Helden.


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