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Unter denienigen Ergözlichkeiten, welche eine Erfindung der neuern Jahrhunderte sind, und die man weder im alten Rom, noch in dem, so gern sich freuenden, Athen kante, behaupten die Masken-Bälle einen ansehnlichen Rang. Freilich fallen die Urtheile über das innere Verdienst dieser Erfindung sehr zwiespaltig aus. Strenge Moralisten haben eine ungeheure Menge von Vorwürfen und Besorgnissen dagegen ausgeschüttet; schlaue Weichlinge haben sie mit nicht minder mannichfachen und wizzigen Gründen vertheidigt. Das Recht hat wahrscheinlich ieder Theil auf seiner Seite, sobald der Gegentheil – übertreibt. Daß Masken-Bälle, zuweilen besucht, ergözzen; daß sie, wenn anständige Personen sich einer anständigen Verkleidung bedienen, durch Neuheit und Abwechslung des Anblicks, durch Reizung unsrer Neubegier, durchs Aufgebot unsrer Errathungskraft, und durch tausend kleine Zufälligkeiten uns zu unterhalten vermögen; daß sie zu manchem Scherz, zu mancher wizzigen Erfindung, selbst zu einer leichten, erlaubten Satire, und zu mancher kleinen anmuthigen Verwirrung Anlaß geben können; dies alles möchte doch selbst kaum Sankt Cato läugnen können, wenn er noch einmal auf die Oberwelt zurück kehrte. Daß hingegen aber auch dieser Zeitvertreib schon oft zum Zeitverderb überging; daß er schon so mancher Ausschweifung hülfliche Hand bot; schon oft das erste Saamenkorn, der nur alzubald aufschossenden Ueppigkeit ausstreute; manche unbewachte Tugend zum Straucheln, manche strauchelnde zum Falle brachte; ia, daß er nicht selten in die frechste, offenbarste Zügellosigkeit ausartete; alles, alles dies sind freilich sehr harte, und zum Unglück sehr leicht erweisliche Anklagen. Oft, und weit öfterer als ich wünschte, habe ich mich von allen diesen, bald mit, bald ohne Gürtel, durch den Augenschein überführt. Doch nie ward ich dadurch so starr im Innersten meines Herzens verwundet, als beim Schicksaal eines iungen, anfangs so glücklichen, und des Glücks so werthen Paares, das unbekant mit den Trügereien der sogenanten feinern Welt – doch nein! ich will ohne weitere Vorbereitung lieber sofort zur Erzählung selbst gehen; nur verzeihe man mir, wenn ich hier zum erstenmal etwas poetisch klingende Namen wähle. Es geschieht, damit man die spielenden Personen desto minder enträthsele. Denn die Begebenheiten selbst sind, leider, nichts weniger als erdichtet.
Alexis und Mathilde waren ieder das einzige Kind zweier nachbarlichen Gutsbesizzer, die ohnweit Newcastle lebten. In Jahren nicht alzuweit von einander entfernt, und, wenn auch nicht ganz, doch gröstentheils, zusammen erzogen, hatten sie sich gegenseitig schon zu einer Zeit geliebt, wo sie von dem, was man Liebe nent, noch kein Wörtchen wußten; und als sie es zu verstehen anfingen (ein Verständnis, das gewöhnlicher Weise nicht alzulang ausbleibt!) wuchs ihre Neigung fast mit iedem Tage. Ihre Eltern sahen dies, und trugen selbst dazu bei, ihre Zärtlichkeit durch die Aussicht auf eine künftige genauere Verbindung zu stärken. Alexis und Mathilde, er im zwanzigsten, sie im achtzehnten Jahre, betrachteten sich als förmliche Verlobte; das Ziel ihrer Wünsche war, wie sie glaubten, höchstens noch auf einige Monate aufgeschoben, als unglücklicherweise ein Streit auf der Fuchsiagd die beiden Junker nicht nur heftig, sondern auch unversöhnlich entzweite. Sie waren zwanzigiährige Freunde, hatten sich nie, selbst bei Erbschaften nicht, mit einander überworfen; die Ursache ihres iezzigen Zankes war eine wahre Kleinigkeit; dennoch brachen sie für ihr übriges Leben zusammen, und waren thöricht genug, diesen nichtswürdigen Zwist auch auf ihre Kinder übertragen zu wollen.
An Alexis erging das strengste Verbot, Mathilden iemals wieder zu sprechen, Mathilden ward sogar ieder Gedanke an Alexis untersagt. Enterbung, Fluch, Einsperrung, ia wohl gar körperliche Züchtigung waren die Strafen, die auf ieden Uebertretungsfall gesezt wurden. Doch Befehle dieser Art äußern auf verliebte Herzen keine, oder grade entgegen gesezte Würkung. Was ging unsern iungen Leuten die Fuchsiagd und der Zwist ihrer Väter an! Ihre Liebe ward durch ienen Zwiespalt noch inniger, als iemals; und da ihnen iede öffentliche Zusammenkunft abgeschnitten war, so nahmen sie zu heimlichen, oft romantischen Mitteln ihre Zuflucht, um sich immer noch zu sehen und zu sprechen. Hohe Mauern wurden überstiegen, die dunkelsten, regnerichsten Nächte wurden durchwandelt. Je größre Schwürigkeiten sich im Weg stellten, ie mehr wuchs ihre wechselseitige Zärtlichkeit. Briefe, so heiß und schwärmerisch, wie sie nur iemals ein Dichter erfinden konte, wurden mit großer Mühe geschrieben und mit noch größrer Gefahr bestellt. Um die Geschichte von Hero und Leander zu erneuren, fehlte es nur an der Meerenge, nicht an beiderseitiger Stimmung. Zwei Jahre verflossen auf diese Art. Alles mindert sonst die Zeit; aber hier schien sie ihre gewöhnliche Kraft eingebüßt zu haben.
Endlich starb Alexis Vater; und da er ienem unseeligen Zwist der Beleidiger, mithin nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge, auch der unversöhnlichere Theil gewesen war, so blieben die nunmehrigen Versuche des iungen Mannes, den Vater seiner Geliebten auszusöhnen, nicht lange fruchtlos. Man sah ziemlich schnell ein, daß es Thorheit sei, eines gestorbnen Feindes halber, sein eignes lebendes Kind unglücklich zu machen. Mathildens Thränen, Alexis Bitten wurden erhört, und die beiden Liebenden – ein Paar.
Wenige Menschen waren wohl, seitdem die Erde sich um die Sonne dreht, so glücklich wie diese Neuvermählten. – Mathilde, Mathilde allein, war bisher in Alexis Herzen der Gegenstand aller Wünsche, Pläne und Hofnungen gewesen. Jezt hatte er sein Ziel erreicht; und nicht selten zwar pflegt die Denkungsart der Männer sich dann zu ändern, wann sie nun besizzen, wonach sie bishero strebten; doch diesmal blieb der Gatte noch unverändert der Liebhaber, ia fast möchte man sagen, der Anbeter. Im vollen, fast möchte man sagen, im übermäßigen Gefühl seiner Seeligkeit bot er oft dem Schicksaale selbst Troz, ihn unglücklich zu machen, so lange er Mathilden und ihre Liebe besizze. – Unbesonnener Jüngling, du vergaßest ohne Zweifel, daß die Flucht eines Stroms, das Umrollen eines Wagenrades, das Verdüstern eines Apriltages noch sehr gemäßigte Bilder sind, wenn man die Unstätigkeit menschlicher Freuden schildern will!
Ohngefähr vier oder fünf Monate mochten sie zusammen verbunden seyn, als Mathilde einst im Gespräch mit ihrem Gatten, den iedem Frauenzimmer, zumal einer Engländerin sehr natürlichen Wunsch äußerte: London, wovon sie schon so viel gehört, durch den Augenschein kennen zu lernen. Alexis, voll Aufmerksamkeit selbst gegen ihre kleinsten Winke, erwiederte sogleich: »Er habe schon längst sie fragen wollen, ob sie vielleicht einen Theil des nächsten Winters in der Hauptstadt zuzubringen wünsche? Jezt, da er im Voraus ihre Antwort wisse, werde er sofort seine Einrichtung darnach treffen; und da der September Monat sich schon zu Ende neige, könne sie versichert seyn, spätestens in fünf oder sechs Wochen die Pauls-Kirche und Ranelagh besucht zu haben.« – Mathilde dankte ihm mit holden Lächeln und wenigstens zehn Küssen für seine bereitwillige Güte; schon mit nächstem Posttage ward nach London wegen Miethung eines Quartiers geschrieben. Anfang Novembers trafen sie selbst ein.
Da ich den iungen Alexis schon damals, als er noch zu Westmünster studierte, durch die Anempfehlung einer seiner Vettern gekant hatte, auch noch iezt dann und wann Briefe mit ihm wechselte; da er übrigens hier nur wenig Bekantschaft hatte, und seit seinen Studien nie wieder nach London gekommen war, so mocht' ich einer der Ersten seyn, den er iezt besuchte, und um mancherlei Rath bei seiner Einrichtung ansprach. So wie ich des andern Tages diesen Besuch erwiederte, führte er mich auch bei Mathilden auf. Mehrmals hatte er mir schriftlich ihre körperliche Schönheit und ihre geistige Milde mit höchster Lobeserhebung geschildert; auch im gestrigen Gespräch hatte er es mündlich wiederholt; aber eben, weil dieses Lob sich gar so hoch verstieg, war es von mir als Schwärmerei, oder wenigstens als ein günstiges Vorurtheil der Liebe betrachtet worden, iezt ward ich überrascht, da ich es für eine bloße Schilderung der Wahrheit erfand. Ich mag durchaus nicht ihre Wohlgestalt beschreiben. Körperliche Reize, die für's Auge so schnell und warm würken, bleiben stets in Worten kalt. Aber nicht gerechnet, daß sie für eine vollkomne Schönheit gelten konte, war auch eine so holde Einfalt, eine so ungeschmückte Unschuld, eine so natürliche Anmuth in ieder ihrer Mienen, Reden und Bewegungen, daß man sie nicht zwei Minuten lang sehen konte, ohne sie zu bewundern; vielleicht auch nicht, ohne sie zu lieben!
Ich ward von nun an oft ihr Gesellschafter; und da der Wunsch, London in seiner Herrlichkeit und seinen tausendfachen Abwechslungen kennen zu lernen, der einzige Grund der ganzen Reise gewesen war, so unterließ Alexis nicht, seine Gemahlin überall herum zu führen, und ihr alles zu zeigen, was des Anschauens würdig schien. Unter andern erinnere ich mich noch mit Rührung desienigen Augenblicks; wo sie in der Westmünster-Abtei die Denkmäler merkwürdiger Personen betrachtete, und nachdem sie bei manchem schon gefühlvoll und treffend ihr Urtheil geäußert hatte, am Grabmal Eleonorens stehen blieb: iener edlen Prinzessin, die selbst das tödtliche Gift aus der Wunde ihre Gemahls aussaugte, und sein Leben durch Aufopferung ihres eignen rettete. Mathilde schwieg hier einige Augenblicke, und rief dann mit einer Wärme, die gewiß ganz aus innerster Fülle des Herzens kam: »O wie beneidenswerth glücklich war diese Königin, daß sie einen so unläugbaren Beweis der ehlichen Liebe abzulegen vermochte!« – Und doch würden wohl, warf ich ihr ein, wenig Frauenzimmer, wenn sie im Fall von Eleonoren sich befänden, wie Eleonore handeln! – Ihre Wange röthete sich hier höher; ihr Auge funkelte; und mit einem Grad von Lebhaftigkeit, wie ich ihn noch niemals bei ihr erblickt hatte, erwiederte sie: »Leider dürfte es vielleicht so Unwürdige geben! Aber alsdann haben sie auch nie das Glück der wahren Liebe empfunden; und nie über die Würde einer Verbindung nachgedacht, deren besserer Theil der Mann und der Gemahl gewiß ausmacht.«
Alle leblose und stehende Merkwürdigkeiten, der Stadt sowohl als der umliegenden Gegenden, hatte Alexis bereits seiner Mathilde gezeigt, als die Reihe nun auch an die lebenden, veränderlichen Ergözzungen kam. Die winterliche Jahrzeit fing an, das Füllhorn ihrer mannichfaltigen Vergnügungen auszustreuen. Bälle, Konzerte, Schauspiele, Opern und Maskeraden begannen nun, die sogenante feinere und große Welt, alle die zahlreichen, oder vielmehr fast zahllosen Schwärme iunger Herrn und Damen nach der Mode, die unbeschäftigte und doch reichere Klasse des Publikums, die Legionen von Weichlingen, Müßiggängern, Söhnen und Töchtern der Freude an sich zu ziehen. Daß auch mancher rechtschafne Mann dem Strom der Gewohnheit nachgab; mancher Verständige unter iene Schaaren sich mischte, um Erholung und Vergnügen beim Anschauen fremder Thorheiten zu finden, versteht sich von selbst; und daß Mathilde, wiewohl sie nicht zum eitlem Theil ihres Geschlechts gehörte, auch für Neugierde brante, diese so oft gerühmten Herrlichkeiten der Hauptstadt näher zu betrachten, ist eben so natürlich. Von einigen dieser Zeitvertreibe, von Ball, Komödien und Konzerten wußte sie wenigstens etwas. Herumstreifende Tonkünstler und wandernde Schauspieler-Gesellschaften hatten die Stelle einer Händelischen Musik und der Theater zu Drurylane und Coventgarten, nicht gänzlich, doch nothdürftig vertreten. Doch Oper und Maskenball waren ihr ganz fremd, und sie wünschte umso mehr den blos historischen Begriff davon in einen anschauenden zu verwandeln.
Als ich daher eines Morgens sie besuchte, fand ich sie in voller Arbeit sich einen Schäferhut und Schäferstab mit Bändern auszuschmücken, und sie erzälte mir mit sichtlicher Zufriedenheit: daß sie Alexis heute Abend auf die Redoute zu führen gedenke. Ich gab der Kleidung, die sie gewählt, weil sie so gut zu ihrer Jugend und ihrer Unschuld passe, meinen Beifall; ward aber doch bei mir selbst neugierig, zu beobachten: welchen Geschmack wohl ein so ganz unverdorbnes Herz an diesen rauschenden Ergözlichkeiten finden werde. Ich hätte dazu eine ofne nahe Gelegenheit gehabt, denn Alexis, der wenige Minuten drauf ins Zimmer trat, lud mich beinah dringend ein, ihn an einen Ort, wo er selbst kaum dreimal in seinem Leben gewesen, zum Begleiter zu dienen; doch ich blieb meiner Denkungsart getreu, wählte das Versteckt-Beobachten; entschuldigte mich mit Geschäften, und war gleichwohl pünktlich an der gehörigen Stelle.
Das Gedränge war sehr gros; doch da ich die Meldung meines Paares mir genau gemerkt hatte, so erkante ich Mathilden bald an ihrer Schäfertracht, Alexis an seinem blauen Domino. Zwar hatte Erstere, ganz ohne Koquetterie, eine Maske vor, die keinen einzigen Reiz ihres Gesichts verrieth. Doch ihr treflicher Wuchs, ihr schönes langgerolltes Haar, ihre ganze Art sich zu tragen, und ein gewisses Etwas, das sich unmöglich sagen, doch desto stärker empfinden läßt, machte gleichwohl, daß sie viel bemerkt, und der Gegenstand mannichfacher Forschbegier ward. Vorzüglich gab eine Maske, die als Jäger gekleidet war – ein Anzug, der sich, wie ich nachher sah, nur alzugut mit seinen Plänen vertrug! – auf iede ihrer kleinsten Bewegung acht. Wohin nur Mathilde sich wandte, verlohr er sie keinen Augenblick aus dem Gesicht; doch da sie sich immer fest an ihren Alexis anschloß, so fand er nie Gelegenheit auch nur ein Wort mit ihr zu sprechen. Ich hingegen, ihr stets so nahe als möglich, freute mich heimlich über die kunstlosen und doch treffenden Bemerkungen, welche sie über eine Frölichkeit fälte, die ihr an Unsinn zu grenzen, wo nicht gar damit zu verfließen schien. – Das Gewimmel der buntscheckigsten Gewänder, die Freimüthigkeit, mit welcher ganz Unbekante sich anredeten und unterhielten, das Mishellige zwischen so mancher Maske und dem Betragen ihres Eigenthümers, das Getöse, Gedränge, Gelächter, vermischt mit Tanz und Musik, alles dies dünkte einer so still auf dem Lande erzogenen iungen Dame mehr ein Traum der Fantasie, als ein Auftritt in der würklichen Welt zu seyn; und nachdem sie kaum eine Stunde in diesem Wirwarr sich befunden hatte, stimte sie bereits fürs Nachhausegehn.
Alexis gewöhnt, ihre Empfindung auch zur seinigen zu machen, stand wahrscheinlich im Begrif, nach wenig Minuten ihren Wunsch zu erfüllen, als er unvermuthet, kaum drei Schritte weit von sich, einen iungen Mann mit der Maske in der Hand erblickte, und bei dessen Erblickung ausrief: »Um Himmels Willen, meine Theure, dort ist Herr Fremann. Ich wußte nicht einmal, daß er in der Stadt sei; aber seine Gegenwart ist mir unendlich lieb. Ich muß doch zu ihm mich durchdrängen, und ihn fragen: wo er wohnt. Wie wär's, wenn du dich indeß ein paar Augenblicke niederseztest, und wartetest, bis ich wieder käme? Das Mitgehen möchte dir schwer werden!« Mathilde war dies zufrieden; ließ sich auf einen ohnweit davon stehenden Sessel nieder, und Alexis verfolgte seinen Freund, den er eben an der Thüre eines andern Gemachs erreichte, und ihn hinein begleitete. – Ich zweifelte keinen Augenblick, daß der so aufmerksame Jäger diese günstige Gelegenheit nüzzen, und Mathilden anreden würde; aber er verlohr sich mir in diesem Augenblick auch aus dem Gesichte, und schien gleichsam verschwunden zu seyn. Gleichwohl blieb die schöne Schäferin nichts weniger, als vernachläßt. Wohl dreißig fremde Masken drängten sich um sie herum, sprachen mit ihr; sagten ihr bald Lobeserhebungen, bald fade, obschon wizzig seyn sollende Einfälle vor; vorzüglich nahte sich eine Figur zu ihr, die ebenso abentheuerlich, als widerwärtig aussah. Es war eine Person von mäßiger Größe, aber von so ungeheurer Dicke, daß wohl drei ordentliche Männer in ihrem Umkreis Raum gehabt hätten. Seine Füße glichen Kirchenpfeilern, und wenn er sie fortsezte, ließen sie einen Zwischenraum, daß ein mäßiger Knabe, ohne anzustoßen, durchkommen konte. Als ein türkischer Bassa gekleidet, trug er einen hohen Turban, unter welchem zwei abscheulich grosse Ohren hervor guckten; sein schnaufender Athem, und der bäurische Akzent seiner Sprache waren noch kleine Zusäzze seiner Annehmlichkeit. Diese reizende Maske – und ich habe nachher erfahren, daß es ein übel berüchtigter Wirth aus der City war! – sezte sich endlich gar neben Mathilden, und redete sie in einem Tone an, wie die iunge Lädy ihn gewiß noch nie gehört hatte. Pöbelhafte Scherze derbe Zweideutigkeiten, sogar unverschämte Anträge folgten eines auf das andre. Ob ein Dritter diesen Elenden dazu angereizt hatte, oder ob er blos seiner eignen, nichtswürdigen Denkungsart gemäß handelte, weiß ich nicht; daß aber die schamhafte Mathilde dadurch in höchste Verlegenheit kam, versteht sich von selbst. Sie achtete freilich den zudringlichen, verächtlichen Schwätzer keiner Antwort werth; doch Unkunde des Orts und der Gesellschaft mehrte ihre Besorgnis. Sie rückte immer weiter und weiter; doch ihr Plagegeist rückte nach und verstärkte noch seine Unverschämtheit. Sie stand wohl zwanzig mal in den wenigen Minuten auf, sah sich nach ihrem Alexis um, wäre gern fortgegangen, und wagte doch nicht einen Schritt allein zu thun; sezte sich wieder, hob sich wieder empor; kurz befand sich in einem so lästigen, des Mitleids so würdigem Zustande, daß ich eben im Begrif stand, meinen Gürtel abzubinden, und mich dann zu ihrem Beschüzzer anzubieten, als plözlich – der blaue Domino wieder erschien. Freudig sprang sie bei diesem Anblick auf, ging ihm ein Eckchen entgegen, faßte ihn bei der Hand, und lispelte: »O Lieber, wie froh bin ich, dich wieder zu haben. Ich ließe dich hier um vieles Gold nicht mehr eine Sekunde lang von mir!« – Sie wolte weiter reden, vielleicht auch fragen; aber er bat sie ganz leise, ihm nur zu folgen. Sie war willig dazu, und in wenig Augenblicken verschwanden sie aus dem Saale.
Mein Haupt-Geschäfte war nun vollendet; ich stand daher im Begrif, mich auch bald zu entfernen; war froh, daß Mathilde wieder ihren Gatten habe, und meines Beistands nicht bedürfe; und wolte nur noch ein paar Sekunden ein andres in einer Ecke sizzendes, verliebtes Paar beobachten, als ich schnell zu meinem Erstaunen den Alexis mit nun auch abgenommener Maske zu eben der Thüre, wodurch er sich zuerst entfernt, wieder eintreten, und dem Orte, wo Mathilde gesessen, zueilen sah. Bestürzung und Erstaunen mahlten sich in seinen Gesichtszügen, als er sie hier nicht erblickte. Beide mehrten sich noch, als er blizschnell seine Augen im ganzen Saale herum laufen ließ, und Mathilden nirgends wahrnahm. Ganz ohnedran zu denken, wie sehr er sich lächerlich mache, redete er von den Umstehenden einen nach den andern an: Ob sie nicht eine grüne Schäferin mit Silber gesehen, und wo sie hingekommen sei? Niemand ertheilte ihm gnügende Antwort. Er durchstrich den Saal von einer Ecke zur andern, und wiederholte seine immer banger werdende Frage. Schon wolte ich zum zweitenmal aus meiner Hülle hervortreten, als eine Lädi, billiger als die übrigen, ihm zur Antwort gab: »Die Dame, wornach Sie fragen, mein Herr, ging eine Minute vor Ihnen mit einem Herrn in blauen Domino weg, der dem Ihrigen volkommen glich!« – »Gott! Gott! welch ein unglückliches Misverständnis kann hier obwalten!« rief er aus; nahm sich nicht einmal Zeit der Lädi zu danken, und stürzte zur Thür hinaus; begleitet von verschiednen Spöttereien der zuhörenden Masken, und – von meinem Mitleiden.
Ich eilte ihm nach, so schnell ich konte, und fand ihn an der Hausthüre, schon umringt von einem ganzen Schwarm Lohnkutscher, Heimleuchter und Bedienten, bei welchen er abermals seine Nachfrage der verlornen Schäferin halber, verschwendete. Er bot Hände voll Gold iedem zur Belohnung an, der ihm hinlängliche Nachricht gäbe, und hundert Pfund demienigen, der sie selbst wieder schaffen könne; die Kerls hätten gern beides verdient, aber es war ihnen nicht möglich. Einer behauptete zwar, er habe eine solche Dame mit einem solchen Herrn in eine Kutsche steigen sehen; doch wie diese leztere gestaltet gewesen, wem sie zugehört, und wohin sie gefahren? davon ließ sich keine Wahrscheinlichkeit, geschweige Gewisheit erlangen. – Alexis, der das Gedränge um sich herum immer vergrößert, und doch nirgends eine Aussicht geöfnet sah, riß sich endlich los, eilte eine Gasse hinunter; lehnte sich endlich an den Pfeiler eines Eckhauses, sprach zwei bis drei Minuten kein Wort, blickte aber, indem er die Hände rang, mit einer Miene gen Himmel, die mein Herz blutend machte.
»Und wenn sie nun (brach er plözlich aus:) iezt schon zu Hause wäre!« Er eilte, indem er dies sprach, einem Fiaker zu, der eben ledig nach dem Redouten-Gebäude zurück fuhr; gab doppelt, was der Kutscher begehrte, und befahl ihm, dafür so hurtig als möglich zu fahren. Es geschah. Nicht mit gleicher Hofnung, doch in der Absicht, zu sehen, was er weiter vernehmen würde, stieg ich hinten auf, und fuhr mit. Die Hausthüre war noch offen; der Bediente des Alexis saß in Erwartung seiner Herschaft vor demselben. Er stuzte sichtlich bei der Frage: Ob Mathilde schon heim sei? Da er sie natürlich verneinen muste, flog Alexis mit dem Befehl, ihn allein zu lassen, in ein Unterzimmer, warf sich auf einen Stuhl, und lüftete seinen unsäglichen Schmerz durch den Ausruf: »Ha, ich Sinnloser, kont' ich wohl hoffen, daß sie ihrem Räuber entflohen, oder selbst von ihm hieher gebracht seyn werde? o nein, nein! der Bösewicht wird seine Beute auch zu sichern verstanden haben. Verflucht sei er! verflucht der Tag, wo ich nach London kam, verflucht derienige, der zuerst einen Masken-Ball erfand!« Er riß, indem er dies sprach, den Domino von sich herab, trat ihn mit Füßen, und fuhr noch einige Augenblicke mit ähnlichen Verwünschungen fort, wie sie die Verzweiflung ihm eingab. Dann schellte er seinem Bedienten.
»Wilhelm, rief er ihm beim Eintritt entgegen: Ich kann es dir nicht länger verschweigen. Ein schändlicher Verräther, der sich in eben einen solchen Domino, wie ich ihn trug, verkappte, hat mir meine Frau entführt. Find' ich sie nicht straks wieder, so ist sie verloren für immer! Eile! flieg augenblicklich in iede Taverne, in iedes öffentliche Haus, was dir vorstößt. Beschreibe ihre Kleidung und ihre Gestalt! Frage überall, ob man nicht einen blauen Domino mit solch' einem Frauenzimmer fahren sah. – Thu es sofort; ich will zum nächsten Friedensrichter laufen, und einen Durchsuchungs-Befehl für alle verdächtige Häuser auswürken.«
»Gott im Himmel, welch ein Unglück! Aber in welchem Theile der Stadt, Herr, werd' ich wohl am ersten etwas von ihr erfahren?«
»Ach, das weiß ich so wenig, wie du! Aber überall muß man nachforschen. Eile, lauf, fliege, guter Wilhelm! frage bei iedem Lohnkutscher nach, der dir aufstößt. Ich will dich auf Lebenslang glücklich machen, wenn du sie auskundschaftest. Aber fort – fort iezt! Ein Augenblick Verzug kann ihren Untergang und auch den meinigen bewürken.«
Der Bediente gehorchte, ohne ein Wort zu erwiedern; doch seine Miene verrieth schon, wie wenig Nuzzen er sich von seinem Suchen verspreche. Auch Alexis ging fort, um den Schuz einer obrigkeitlichen Person anzuflehen. Ich hingegen, unvermögend ihnen beizustehen, begab mich nun heim, und brachte den grösten Theil der übrigen Nacht mit einer fruchtlosen Bedaurung des unglücklichen Alexis und der vielleicht noch unglücklichern Mathilde zu, und hätte allerdings gern in diesen Stunden das Todes-Urtheil aller Masken-Bälle unterschrieben.