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Neuntes Kapitel.
Der Kreis Lucinda

(Ein Intermezzo)

 

»Herbei, herbei! Herein, herein!
Ihr schlotternden Lemuren, –
Aus Bändern, Sehnen und Gebein
Geflickte Halbnaturen.«

Goethe.

 

In Dr. Wallentins Organisation bildete sich ein Arbeitsausschuß, dem auch die Geschwister angehörten. So kamen sie viel hinaus in die Villa im Grunewald und lernten nach und nach auch die andern Mitglieder der Familie kennen. Eine fröhlich-freundschaftliche Beziehung entspann sich zwischen Olga und Manfreds jüngerem Bruder, – dem mittleren der drei, Dr. Justus Wallentin. Justus und seine schöne Frau, Inge Brénhoff, fanden Gefallen an ihrer klaren Art, an der Logik ihres Wesens, die unbestechlich ihre Wege ging, was immer sich auch auf ihnen verwirrend aufpflanzen mochte. Justus war Rechtsanwalt und Helfer seines Bruders. In seinen scharfen, klugen Augen glänzte das Weiße wie blankes Porzellan, darüber zog sich die Stirn, mit immer gespanntem, interessiertem Ausdruck. Inge, seine Frau, eine Dichterin des jungen Schwedens, war eine große, schlanke Blondine mit hellen Augen, die mutig in die Welt strahlten. Sie galt in Schweden als die Vertreterin der radikalen Bewegung im Frauenlager und als die erklärte Bekämpferin der erotischen Doppelmoral. Durch ihr Wirken war sie, gleich den Geschwistern, mit der alten Frau Wallentin in Berührung gekommen. Der »Bund« hatte sie seinerzeit zu einem Vortrag nach Berlin geladen, und bei diesem Berliner Aufenthalt hatten sich Justus und das schöne Mädchen gefunden.

Eines Tages war Olga wieder bei Manfred Wallentin. Sie hatten in längerer Aussprache festgelegt, in welchem Umfange und in welcher Weise das Material, das die Bewegung der Frauen betraf, in dem neuen Blatt vertreten sein sollte.

Manfred deutete auf einen großen Stoß von Zeitungsausschnitten.

»Es ist unmöglich, mit alledem fertig zu werden. Das alles geht uns an, müßte geordnet und bearbeitet sein.« Dieses Ausschnittmaterial war zudem aus Zeitungen verschiedener Sprachen. Manfred hatte schon öfter erwähnt, daß er eine weibliche Kraft, die dem Bureau ganz zur Verfügung stände, für diese und ähnliche Arbeiten aufnehmen möchte; so groß die Verlockung für Olga war, sich ihm zu jeder Hilfe bei seinem Werk anzubieten, so konnte und wollte sie doch nicht ihre Korrespondenz im Stich lassen, auch war sie nicht sprachkundig genug, um diesen Platz vollkommen auszufüllen. Inge, die Schwägerin, half fleißig, aber sie war nebstdem Gattin, Hausfrau im entfernten Berlin und vor allem Schriftstellerin, die den größten Teil ihrer Zeit über ihrem eignen Werk verbrachte. Da war Olga ein Gedanke gekommen: hier war ein Platz für Eva, – Eva Nestor. Seit sie in Genf lebte, hatten sie schon mehrere Briefe gewechselt, und erst vor kurzem hatte Eva sie gebeten, für sie eine Annonce aufzugeben, durch die sie in Berlin eine passende Stellung suchen wollte, von der sie mit ihrem Kinde leben konnte. Olga hatte dies noch nicht getan, weil sie noch nicht ganz klar wußte, was sie eigentlich für Eva suchen sollte. Hier war ein Platz für sie. Heute hatte sie Manfred diesen Plan mitgeteilt, hatte ihm Eva geschildert. Erfreut, bat er sie, ihr gleich zu schreiben. Da sie ihm Evas Lage nicht vorenthielt, setzte er auch gleich die Höhe des Gehaltes fest. Sorglos konnte nun Eva mit ihrer Kleinen leben, und sie würde diesen Platz vortrefflich ausfüllen, – das wußte Olga.

Eine leise Wehmut beschlich ihr Herz, als sie in Manfreds Arbeitszimmer über diesem Plan einig wurden. Nun würde also nicht mehr sie, nun würde eine andere – Eva, – hier an diesem Tisch sitzen, der schräg gegenüber von Manfreds Schreibtisch stand; nun würden die Blicke einer anderen auf seinem Gesichte ruhen. Während sie so dachte, trug Manfred einige Notizen in ein Heft ein, und ihre heimlichen Blicke konnten sich nicht losreißen von dem Glanz seines Haares, der da über der dunklen Platte des Schreibtisches lag. Sie sah sein halbbelichtetes, geneigtes Gesicht, die Augen blieben unter den gesenkten Lidern; und klopfenden Herzens wartete sie darauf, daß er den Kopf heben und seinen Blick, dessen tiefes Strahlen sie immer wieder erschütterte, ihr zuwenden würde. Eine andere sollte hier sitzen … war es nicht gut so? Sie fühlte, daß sie sich nicht ruhig an die Arbeit verlieren konnte, – hier, in seiner Nähe.

Als sie Manfreds Arbeitszimmer verließ, ging sie hinüber, in den Salon der alten Frau. Frau Wallentin erwartete sie, wie immer, am Teetisch. Justus war da, und Inge, und auch Stanislaus wartete hier auf eine Unterredung mit Manfred.

Es war da noch eine Dame, die sie bisher nicht hier gesehen hatte. Diese Dame wurde als Frau Wallentin vorgestellt. Es war eine große, schlanke Erscheinung mit blassem, ovalem Gesicht, das einen gespannten, matten Ausdruck hatte, der an übernächtliche Ermüdung erinnerte. Ein irritierter, beinahe gekränkter Zug lag um den Mund. Das Gesicht mochte einst reizvoll gewesen sein; besonders rein war die Profillinie. Sie war schwarz gekleidet, das Kleid zeigte einen streng stilisierten Schnitt, die Ärmel flatterten weit, fast flügelartig. Auf dem Kopfe trug sie eine runde, schwarze Kappe, auf der zwei Rabenflügel, weit auseinandergefaltet, flach auflagen.

Während Olga zum Buffett ging, um von da eine Teetasse für sich zu holen, folgte ihr Justus und flüsterte ihr zu: »Lucinda«.

Frau Lucinda Wallentin verabschiedete sich bald. Bevor sie ging, lud sie die Geschwister dringend ein, sie zu besuchen. »Jeden Donnerstag Abend«, sagte sie mit ihrer flüsternden Stimme, die sich nie zu voller Kraft erhob.

Als sie gegangen war, sagte die alte Frau: »Das ist die Gattin meines Sohnes Manfred … vielmehr die einstige Gattin, denn sie sind jetzt geschieden.«

»Sie müssen wissen,« fügte Justus hinzu, »daß diese Scheidung nichts anderes bedeutet als eine Formalität; denn die beiden waren schon, bevor Manfred noch auf Reisen ging, auseinander. Lucinda legt aber großen Wert darauf, den Verkehr mit der Familie aufrecht zu erhalten, – sie hat auch eine Anhänglichkeit an meine Mutter, die von ihrer Entfremdung mit Manfred unberührt blieb.«

»Arme Frau«, dachte Olga. »Sie hat diesen Mann besessen und hat ihn wieder verloren.«

Sie erfuhr an demselben Abend, woran diese Ehe gescheitert war. Als sich Manfred und Lucinda kennen lernten, – im Hörsaal für Philosophie – waren sie so nahe aneinander, als junge Menschen, die ihre wahre Gravitation noch nicht wissen und die eine Neigung zueinander fassen, es sein können. Dann waren sie allmählich gewachsen – und jeder in einer anderen Richtung. Zusammen gedachten sie in ihren Studien weiter zu gehen und rückten nur immer ferner voneinander ab. Beide glaubten an einen sinnvollen Weltplan, nur hieß er für Lucinda »Bestimmung, Fatum,« – für Manfred »Notwendigkeit«; wo sie Zwecke sah, erkannte er Ursachen. Und in aller Zwecklosigkeit sah er dennoch ein Erhabenes, weil in seinen Folgen Berechenbares. Diese seine Überzeugung von der Zwecklosigkeit, aber strengen Folgerichtigkeit allen Geschehens, von dem Fehlen eines absichtsvollen Weltgeistes, – ließ sie schauern und fliehen. Ihm bedeutete der Naturgeist – Gott, erhaben in seiner Kälte und Absichtslosigkeit, in seiner ehernen Folgerichtigkeit, die denen, die ein Vertrauen zur Logik der Tatsachen gewannen, ein sicheres Welt- und Lebensgefühl übermittelte; sie konnte nicht bestehen, ohne an Determinationen zu glauben, die apriorisch die Erscheinungen schoben.

So erzählte die alte Frau Wallentin von den Kämpfen, die Manfreds und Lucindas Jugend erfüllt hatten. Mehr und mehr hatte sich ihrer beider Wahl als ein Irrtum enthüllt. Dazu kam noch eines: Lucindas Unvermögen zur Produktion der stärksten weiblichen Gefühle. Frauenliebe war ihr fremd. Nur in eine geistige, von den Nerven abgestimmte Beziehung konnte sie überhaupt zu Menschen geraten; aber Affekte der Leidenschaft, des Gemütes oder der Sinnlichkeit vermochte sie in sich nicht zu erzeugen, – eine Erscheinung, die indirekt auf eine Verbildung des sympathischen Nervensystems zurückgeführt wurde. Dazu kam noch ihre Vorliebe zu solchen, die gleich ihr, an einem Defekte litten, der sich in einer Verbildung des geistigen und seelischen Lebens kund gab, die ein Manko oder eine Wucherung in ihrem innersten Nerven- und Seelenleben bargen.

Als Olga dies hörte, war sie verblüfft: dieser Zustand bedeutete ja eine Reinkultur dessen, was ihr Cousin Diamant – in freier Bildung des Begriffes – als – – lemurisch bezeichnet hatte.

Sie müßte Lucindas Einladung annehmen, meinte Justus; in ihrem Salon würde sie erst sehen, – wie notwendig Manfreds Werk sei, – wie notwendig es ist, die Gesetze festzulegen, die die Entstehung von mehr normalen, tauglich-ganzen Menschen gewährleisten.

»Die Überladung der Gesellschaft mit Minderwertigen, Lächerlichen, in ihren vitalsten Instinkten Zerbrochenen, – dort, im Salon Lucinda, finden Sie sie aufs lebendigste veranschaulicht.« So lockte sie Justus. »Freilich ist dort nur eine gewisse Auslese jener Minderwertigen und Verbogenen zu finden, – nämlich die intellektuelle Auslese. Die brutalen, gefährlichen Entartungen, – Verbrecher und Ganznarren – finden Sie natürlich dort nicht; nur jene, die, in ihrem Instinktleben lädiert, dabei dennoch – zu denen gehören, deren Leben unter dem Zeichen irgendeiner geistigen Strebung steht. Kommen Sie doch am Donnerstag, ich führe Sie dahin, – Sie werden Wunder sehen! Wir bleiben nicht lange, – ist auch nicht nötig. Ich führe Sie im Flug durch den Salon Lucinda, – erkläre Ihnen alles und alle, denn ich kenne sie; ich führe Sie, – wie Mephisto den Faust durch die Walpurgisnacht!«

Bis spät nachts dachte Olga über diese Einladung nach. Schon im Bette liegend, wollte ihr das Bild Lucindas und ihres mutmaßlichen Kreises nicht aus dem Sinn … »Warum nicht hingehen«, dachte sie, – »auf nach Lemuria!« – – –

Es war ein Donnerstag, und sie standen vor dem Eingang eines eleganten Mietshauses am Kurfürstendamm, wo Lucinda wohnte. Sie erwarteten Justus. Stanislaus hatte seine Braut mitgebracht, worum er gleich bei der Einladung gebeten worden. Da kam auch Justus mit Inge, die schon von fern ihnen zulachte.

Während sie über die breite Treppe des Vorderhauses hinaufgingen, fragte Justus: »Sie haben gewiß von den Polizeihunden gehört, nicht wahr?« Und, als man bejahte, fuhr er fort: »Natürlich, – die Welt ist jetzt voll von deren Ruhm. Von diesen genialen Züchtungsprodukten biologisch hochwertiger Paarungen habe ich unter der Bezeichnung reden hören: »Hunde von Blut und Passion.«

Man war zwei Treppen hoch gestiegen und stand still, um Atem zu schöpfen.

»Und diese Bezeichnung trifft den Nagel auf den Kopf. Sie werden gehört haben, wie diese Tiere von Blut und Passion selbst dann, wenn Schüsse und Keulenhiebe sie bedrohen, nicht abzuschrecken sind von den Taten, zu denen ihre genialen Instinkte, ihre hochentwickelten Sinne sie führen.«

Man stand oben im Flur der dritten Etage.

»Und wissen Sie, warum ich Ihnen das sage? Weil Sie jetzt das gerade Widerspiel davon sehen werden. Sie werden hier Wesen sehen, – scheinbar ohne Blut, ohne Passion, ohne echten Affekt und erschreckbar selbst durch jeden Alarmschuß, den das Leben abgibt.«

Er hatte inzwischen geklingelt, und ein Diener öffnete. Man legte in der Garderobe ab. Trotz der vorgerückten Jahreszeit schien der Jour Lucindas sehr gut besucht, denn die Garderobe war voll von Hüten, Schirmen, Stöcken, leichten, sommerlichen Umhüllen.

Sie traten in einen großen Salon, der eine Art von Ateliereinrichtung hatte. Verschiedene antike Stücke waren da zusammengestellt, verschleierte Ampeln beleuchteten die Szenerie. Auf einem Sockel, in der Mitte des Saales, thronte ein indisches Götzenbild, von grotesker Scheußlichkeit, mit glühenden Smaragdaugen. An einer Wand hing, allein für sich, ein riesiges Pentagramm, aus schwarzem Tuch geschnitten. Der Diener ging herum und reichte auf einem Tablett Gläser, die mit einer grünlichen Flüssigkeit, in der ein Strohhalm steckte, gefüllt waren. »Man trinkt hier Absinth«, flüsterte Justus.

Lucinda stand in einer fernen Ecke des Salons und nickte den Eintretenden flüchtig zu.

»Es darf Sie nicht wundern, wenn sie Ihnen nicht entgegenkommt, das tut man hier nicht. Jeder bleibt sich selbst überlassen, und es ist seine Sache, Anschluß zu finden oder auch nicht; es bilden sich hier zumeist Kreise, in die Aufnahme zu finden man versuchen kann; jeder kann das halten, wie er will; in dieser Beziehung ist man hier gänzlich ungeniert.«

Lucinda war diesmal in einem weißen Gewand, von mönchischem Schnitt, das mit einem schwarzen Strick gegürtet war. Das Haar hing in zwei Zöpfen, die seitlich über den Ohren geflochten waren, vorn über die Schultern herunter. Um die Stirn war eine schwarze Binde gelegt und fest um den Kopf gespannt. Ein großer, dunkler Edelstein, von tropfenförmiger Gestalt, – es mochte eine schwarze Granate sein, – war an die Binde genäht und hing auf der Stirn bis zur Nasenwurzel herab.

An den ersten Salon schloß sich noch eine Flucht von Zimmern, die alle ähnlich möbliert waren; nirgends sah man ein modernes Möbelstück. Alte, zum Teil sehr kostbare Stücke aus vergangenen Epochen füllten die Räume. Das letzte Zimmer hatte keine Einrichtung. Die Wände waren mit schwarzem Samt, der Boden mit einem weichen, schwarzen Veloursteppich bespannt. Die Decke schien in Flammen zu stehen: sie war mit einem blutroten, schleierartigen Gewebe verhängt, hinter dem rote Lichter magisch glühten. Einige Gestalten, in wallenden Gewändern, hielten sich da an den Händen und bildeten einen Kreis, in dessen Mitte eine in rote Schleier gehüllte Frau einen phantastischen Tanz vollführte … Im übrigen saßen und standen die Gäste in Gruppen herum.

Seltsam unwirklich schien Olga das Ganze … es sah dem Lebendigen ähnlich, – aber so, wie etwa die Vorgänge, die sich auf der Leinwand des Kinematographen abspielen …

Die Neuangekommenen gingen zwanglos durch die Zimmer. »Sehen Sie dort unter der großen Palme, umgeben von ›Freunden‹, jenen dicken, blassen Herrn mit dem langen, wirren Haar, im Frack? Es ist – der Dichter des Schreckens und – des guten Tons.«

»Wie ist das zu verstehen?«

»Er schildert Visionen, in denen grauenhafte Vorgänge der menschlichen Seele, durch absonderliche Vorkommnisse gespenstiger Art, dargestellt sind; daneben verherrlicht er in langen, philosophischen Artikeln gewisse Gepflogenheiten des guten Tons, der Konvention. Zum Beispiel hat er neulich ein langes Feuilleton über die Sitten geschrieben, die den Frack und die Schleppe als Gesellschaftstoilette vorschrieben; – – sein Kreis fußt auf der Überzeugung, daß es vor allem die Reize der verschiedenen Torturen sind, aus welchen die höchsten, menschlichen Offenbarungen kommen. Man bedauert in diesem Kreis die Abschaffung der wirklichen Tortur und macht flagellantische Übungen; böse Lästerzungen haben dafür einen anderen Namen … Diese Gesellschaft bildet einen geschlossenen Zirkel, der sich die ›Gestrengen‹ nennt. Dann gibt es noch eine andere Sekte, deren Mitglieder diesen Salon besuchen. Sie nennen sich die ›Gläubigen‹ und sitzen dort auf jenem Divan – dicht unter dem Pentagramm.« Eine Schar weiß gekleideter Männer und Frauen lagerte hier auf Schemeln, Matten und Kissen.

»Es ist eine Sekte, die sich zur Wiederbelebung mystisch religiöser Ritualien zusammengefunden hat. Wohl gemerkt: es handelt sich nicht etwa um alte religiöse Ideen, – sondern um religiöse Gebräuche, die hier, in geheimnisvollen Sitzungen, geübt werden; sie machen – bei Musik – gymnastisch-religiöse Übungen; ihr Programm ist die Wiederbelebung jener Kulte, die von Körperverrenkungen begleitet sind.«

Im nächsten Salon saß, in der Mitte des Zimmers, ein junger Herr. Er trug einen Samtrock, eine kostbare Brokatweste und gestreifte Hosen; ein Backenbart umrahmte sein gerötetes Gesicht. Der Herr hatte drei Tischchen vor und neben sich. Auf dem mittleren lag ein Prachtband, aus dem er Gedichte vorlas. Auf dem Tischchen links stand ein Glas Absinth und ein Armleuchter mit sieben brennenden Wachslichtern; auf dem Tischchen, das er zur rechten Seite hatte, lagen noch mehr Prachtbände aufgestapelt.

»Dieser Herr liest hier seine Gedichte im Manuskript«, erklärte Justus.

»Im Manuskript? – Das sind ja dicke Bände?«

»Ja, diese Gedichte gelangten nicht zum Druck, – die Zeit ist nicht reif dafür. Das Innere der Prachtbände sind weiße Blätter, auf denen die Gedichte eigenhändig vom Verfasser niedergeschrieben sind.«

Die Gesellschaft setzte sich in die Nähe des Dichters und hörte dem Vortrag zu. Die alltäglichsten Worte waren da seltsam verbogen. Hatte die eine Zeile eine lange Reihe von Versfüßen, so war die nächste nur von einem Ausruf gebildet. Zwischendurch gab der Dichter Kommentare. »Der Reim ist, wie Sie wissen, eine gemeine – oh, eine gemeine Sache, darum wird der Dichter ihm aus Leibeskräften ausweichen …« Nicht weit von dem Dichter saß eine schöne, junge Frau, die ihm mit großen, hingegebenen Augen lauschte.

»Viktoria,« sagte der Dichter und räusperte sich, »ein Glas Tee.«

Die schöne, junge Frau stand eilends auf, winkte dem Diener und brachte das Gewünschte.

»Das ist seine Frau«, erklärte Justus.

»Wie ist es möglich,« sagte Olga, »daß dieses herrliche Geschöpf so – hingegeben lauscht?«

»Das hat einen geheimnisvollen Grund«, sagte Justus.

»Wollen Sie uns den nicht anvertrauen?«

Justus neigte sich vor und flüsterte, hinter der [vorgehaltenen] Hand: »Sie ist dumm.«

In einer andern Gruppe saßen junge Damen mit glatt gescheitelten Haaren, die über den Ohren in riesigen Schnecken lagen, mit weit aufgerissenen, extatisch funkelnden Augen, von dürftigem, fast schwindsüchtigem, körperlichen Habitus. Zwischen ihnen ein junger Mann, der ein Buch vor sich liegen hatte, das er Seite für Seite mit ihnen durchging. Die Damen machten sich Notizen. »Kiebitze der Literatur«, erklärte Justus. »Selbst steril, verfolgen sie, bis in die kleinste Zuckung, das Schaffen der anderen.«

Einsam in einer Ecke saß eine lange, hagere, düster drapierte Gestalt. Erst bei näherem Hinblicken merkte man, daß es eine Dame war. Ein riesiger, schwarzer Kater saß auf ihrem Schoß, und sie streichelte ihn, während sie vor sich hinstarrte.

»Eine archaistische Malerin«, erklärte Justus. »Sie haust allein in einer Villa, mit allerlei abenteuerlichem Getier, Katern, Uhus, Affen, man spricht sogar von Schlangen. Sie hat einen Kreis von Anhängern, die sich zur Bekämpfung der konstruktiven Perspektive in der Malerei und zur gesellschaftlichen Rehabilitierung der Perversionen zusammengetan haben … sie stellen eine Sezession aus dem Zirkel der ›Gestrengen‹ dar.«

Man ging weiter, in das nächste Zimmer. »Dort drüben«, Justus deutete in eine Ecke, in der eine Gruppe von Divans stand, auf denen Gestalten lagerten, – »sehen Sie in jener üppigen Blondine im weißen, griechischen Kleid eine Dame, deren Ehrgeiz es ist, – Hetäre zu sein. Sie wird von der jüngeren Literatur adoriert. Sie akzeptiert aber nur Liebhaber, die unter unmißverständlichem Panier ihr nahen. Die Herren, die um sie herumliegen, sind augenblicklich ihre Günstlinge. Es sind dies: ein Anarchist (jener Herr mit dem wirren Bart, der die Hand, als Faust geballt, in der Hosentasche hält), ein Nazarener (der junge Mann mit den dünnen, braunen Locken und dem verklärten Blick), ein Wanderdichter (jener stattliche, stramme Bursche, der keine Einkünfte hat, weil er nichts tut, als seine Gedichte abzufassen, und der daher als Logierbesuch bei seinen verschiedenen Bekannten lebt, was ihm den Namen Wanderdichter eintrug), und schließlich ist da noch ein vierter Freund jener göttlichen Aspasia –«

»Und wer ist dieser Herr? Er gleicht nicht den anderen Freunden der Dame?«

»Aber er ist ihre Voraussetzung: es ist ein wohlsituierter Weinhändler aus dem Osten.«

Ein einsamer, junger Mann vergnügte sich in einer Ecke damit, buntfarbige Glaskugeln in die Luft zu werfen. »Dieser Mann hat eine interessante Geschichte«, erzählte Justus. »Hören Sie: Er ist der Sohn eines vielfachen Millionärs, und er ist an einem sonderbaren Leiden erkrankt. Es überkam ihn ein Zustand völliger Wunschlosigkeit – es gab nichts mehr in der Welt, was diesem jungen Mann noch wünschenswert schien. Darüber verfiel er in schwere Melancholie. Zeitweise hat er die Vorstellung, als wäre er in einen luftleeren Raum gebannt und muß dann eine Heilstätte aufsuchen; nach einigen Wochen wird er dann immer wieder, auf seinen Wunsch, entlassen, da er ja nicht gemeingefährlich ist. – Das Spiel mit gläsernen Kugeln, – diese Illusion des Farbigen und Glänzenden, – ist das einzige, was ihm blieb.«

In diesem Augenblick rauschte eine hohe Frauengestalt durch den Saal, in schwarzen, schleppenden Gewändern.

Olga erschrak, das war, – das war ja die Baronin …

»Diese Dame ist zum Kabarett zurückgekehrt, – ihr Gatte, ein ältlicher Aristokrat, wurde kürzlich im Duell erschossen. Seitdem tritt sie, wie früher, als ›Diseuse‹ im Kabarett ›die Unterwelt‹ auf …«

Bei einem Kreise, in dem es laut und gesprächig zuging, saß, etwas abseits, ein jüngerer Herr, der eine große Schale mit Nüssen vor sich hatte, die er schweigend knackte und verzehrte. Ein großer Stoß von Nußschalen häufte sich vor ihm auf einem Tisch.

»Dieser Herr wird ›der tiefe Schweiger‹ genannt. Er mischt sich fleißig in Gesellschaft, gibt aber nirgends seine Meinung ab. Das hat ihm den Ruf großer Weisheit eingetragen. Im übrigen geht von ihm die Märe, daß er ein kolossales Werk – zwar nicht schreibt, aber – denkt: ›die Metaphysik der Ellipse‹; die letzten Lebensrätsel sollen in dem, was er darüber – denkt, gelöst sein … Im Gegensatz zu ihm sehen Sie dort diesen jungen Mann, der begeistert von seiner Arbeit erzählt. Er hat kürzlich ein dickes Buch veröffentlicht, in dem er ein durchaus neues, philosophisches System darstellt. Das Buch ist mit den merkwürdigsten Zeichnungen, die der Laie überhaupt nicht versteht, ausgestattet.«

»Und was ist das für ein System?«

»Dieser Mann hat eine merkwürdige Dreiheit im Weltall beobachtet, die sich schon in der Gestalt des Menschen ausdrückt. Er sieht drei Symbole am Körper des Menschen: Antlitz, Herz und Hinterteil. Im Gesichte sieht er die Reflexionsfläche, im Herzen die große Leitungszentrale und in jenem anderen Körperteil die magische Sammelstelle der Schwerkraft. Von überall her strömen ihm Beweise, die diese Offenbarung bestätigen. Er hat dieses System durchaus komplett aufgebaut. Nachdem er nun das philosophische Werk veröffentlicht hat, schreibt er noch an einem dreiteiligen Roman, in dem diese Idee in menschlichen Schicksalen symbolisiert werden soll.« – – –

Man ging weiter. »Sehen Sie dort jenes hagere Paar,« fuhr Justus fort, – »Mann und Weib? Diese beiden Leute haben sich in einem Sanatorium für Magenkranke kennen gelernt. Sie sind philosophische Prediger, und sie predigen: Brechung des Willens, – Befreiung vom Triebleben …«

»Wo haben sie sich kennen gelernt?« fragte Stanislaus, der nicht genau verstanden hatte.

»In einem Sanatorium für Magenkranke. Sie leiden beide an schweren Verdauungsstörungen.« Man ging weiter.

»Diese zwei langen, schlanken Burschen da drüben sind Zwillinge, ein Malerpaar; gänzlich arme Jungens. Sie konnten ihre Studien nur fortsetzen und Maler werden, weil sie in bürgerlichen Kreisen eine ganz seltene Gastfreundschaft genossen; eine ganze Schar von Leuten sorgte für sie und hielt sie über Wasser.«

»Wieso erfreuten sie sich solcher Beliebtheit?«

»Diese beiden Brüder sind Mystiker. Will man sich auf billige Art mit dem Sirius in Verbindung setzen, – so verhelfen sie einem dazu. Das Bürgertum, das es liebt, ab und zu in höhere Sphären gehoben zu werden, ohne doch zu aufreizenden Konflikten oder zu schwerem Kopfzerbrechen genötigt zu sein, – schätzt die Richtung, in der sich diese beiden bewegen, über alles.«

»Jene hübsche, junge Dame dort«, er deutete weiter, »hat erst kürzlich ein schweres Unglück zu verwinden gehabt – und sucht hier Trost.«

»Was ist ihr zugestoßen?«

»Ihr Geliebter hat sie verlassen.«

»Und warum das?«

»Er entdeckte bei ihr einen Pickel auf der linken Lende; es war im Frühling.«

»Dieser Pickel war wohl das Anzeichen einer bösen Krankheit?«

»I bewahre, ein ganz harmloser Pickel, wie man sie im Frühling dutzendweise hat, aber ihr Geliebter war eine so feinfühlige Natur, daß er über diesen Pickel nicht hinweg kam; er verließ sie.«

Sie waren beim Tanzsaal angelangt. Einsam drehte sich darin ein Fräulein, das aussah, wie die Verkörperung des letzten Erschöpfungsseufzers einer zum Ende ihrer Kraft gelangten Epoche. Ein junger Mann mit finsterem Gesichtsausdruck sah ihr zu.

»Sind Sie zufrieden, Gregers?« flötete die tanzende Dame.

»Nicht intensiv genug«, antwortete der Finstere, der, in vernachlässigter Kleidung, mit langen Haaren und wirrem Bart dastand.

»Er nennt sich Gregers, obwohl er Grünemann heißt. Sein Ehrgeiz aber ist – ein anderer Gregers Werle zu sein und überall auseinander zu sprengen, was Menschen verbunden hält. Der Dreizehnte bei Tisch zu sein, das betrachtet er als seine Mission; Situationen, in denen es nichts zu sprengen gibt, erscheinen ihm höchst banal.«

Eine Dame trat an den Flügel. Sie sang mit voller, tiefer, gut geschulter Stimme; aber es war schauerlich, sie anzusehen; denn ihr Kopf glich einem Totenschädel, über den nur die Haut gespannt war. Herrlich war ihr Gesang, – aber ihr weit geöffneter Mund, aus dem die Töne drangen, bot einen erschreckenden Anblick.

»Was bedeutet das alles?« fragte Olga.

»Wir haben heute den dreizehnten Mai,« erklärte Justus, mit einer Stimme, die plötzlich prophetisch erhoben klang, – »das ist jener Tag, den die Römer feierten, um die Seelen jener wesenlosen Geister, die als Gespenster umherirrten und die Lebenden beunruhigten, – zu beschwören … es ist heute das Fest der Lemuren …«

Olga war es, als sei jede Kraft in ihr vernichtet, als wäre jede Energie verzehrt, – als hätte diese Atmosphäre sie in sich aufgesogen … Der Angstschweiß stand ihr auf der Stirn. »Was bedeutet das?« fragte sie nochmals. Wieder erhob sich die Stimme des Justus zur Deutung, aber die Sängerin mit dem Totenkopf sang immer lauter, immer stär–ker – – – bis Olga erwachte.

Sie rieb sich die Augen, sprang aus ihrem Bett; eilig zog sie die Jalousien hoch. Draußen strahlte die Maiensonne, und ihr Gold floß in breiten Strömen in den jungen Morgen …


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