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Sechstes Kapitel.
Finsternis

 

»So du hundert Meter gehest ohne Liebe,
gehst du in deinem eignen Sterbehemd,
zu deinem eignen Begräbnis.«

Walt Whitman.

 

Die indischen Puris haben nur ein Wort für gestern, heute und morgen. Und so wie dem wunschlos Weisen die Zeit nur ein ungegliedertes Einziges ist, das zu überwinden er eingesetzt wurde, – so dem, dem das Leid die wechselnde Gestalt der Stunden und Tage verwischt. Nichts geschieht in solchen Tagen, auch dann nicht, wenn sie ihre Forderungen mit fest gegen die Erde gestemmten Beinen uns in den Weg stellen, nichts geschieht für unser Bewußtsein, – als daß wir älter werden und täglich dem Dunkel näher kommen. Wozu die Pein, denkt dann das leidende Herz, wozu die Freude, wozu die Tat, da dieses Dunkle dich bald verschlingt, wie alle, alle …

Die Mächte der Finsternis griffen nach dem getäuschten, einsamen Mädchen. Sie umklammerten sie mit bohrenden Fingern und erschütterten sie bis zu den Wurzeln, aus denen die starke und edle Fügung ihres Wesens erwachsen war. Die gleichende Kraft ihrer Seele, das Schwergewicht, das die Natur ihr, vor vielen anderen, gegeben, das die Gaben ihres Herzens und ihrer Vernunft niemals verflattern ließ, sondern immer stärker und dauernder das Passende zusammengefügt, das triebhaft Wuchernde ausgeschieden hatte, – diese gleichende, schwerende Kraft war aufgehoben, die strengen Bande ihres Seins gelockert und gelöst und ihre Seele preisgegeben dem »dunkelnächtigen Getier«, – den Dämonen, die sie immer enger umzingelten.

Da waren sie alle, die dunklen Gesellen, und stritten um die Herrschaft auf der neu erstürmten Feste. Da war der Zweifel, – an sich selbst und an denen, auf die man vertraut; da war das Übelwollen und sein stärkerer Bruder, der Groll; da war die beleidigte Liebe, mit dem finster verzerrten Gesicht, das sie ihrem Todfeinde, dem Haß, so erschreckend ähnlich machte; da war die Buße und Selbsterniedrigung, der giftrot schillernde Hohn und die Furcht, die gespenstig fahle. Und sie lagerten sich um ihr Herz und drängten hinein, – bis der Dämon mit dem Medusenantlitz, der Liebeshaß, triumphierend als der Mächtigste darin saß …

Und er zog die Gedanken aus ihrem hellen Reich hinab, in das nächtliche Herz, spannte sie in seinen Dienst, ließ sie unendliche Lasten immer aufs neue wälzen und heben und peitschte sie wirbelnd im Kreise, bis sie der Wirrnis so nahe waren, daß keiner mehr von sich und vom anderen wußte. – – –

*

Werner hatte sich seit jenem Abend nicht wieder blicken lassen, und sie wußte, daß er eine andere liebte und daß sie ihn verloren hatte. Zuzeiten, wenn die Besonnenheit sich über den Aufruhr ihres Herzens schwang, fragte sie sich, warum sie darüber verbittert und verzweifelt war, warum der Groll in ihr wühlte. Aber wie sehr sie sich auch selbst zusprach, wie einer fremden, zweiten Person, die sie von der Notwendigkeit dieses Geschehens zu überzeugen hatte, – es nützte nichts. Die Stunden, wo sie, fahlen Gesichtes, zusammengekauert, frierend, trotz voller Heizung und warmer Tücher, in einer Ecke saß und die bösen Gefühle in ihr hin und her strömten, vom Gehirn zum Herzen und wieder dahin zurück, – häuften sich mehr und mehr. Sie saß da, eine Beute trostloser Gedanken, verwühlt in bohrendes Grübeln und hielt im Geiste jene furchtbarste Zwiesprache, die der machtlos Verirrte mit seinem entdoppelten, zerspaltenen Selbst führt.

Verklagte sie mit dem einen Ich den Mann, bezichtete ihn elender Gefühlsschwäche, des Unvermögens zur Gestaltung und Festigung eines guten Empfindens, der Beeinflußbarkeit von jedem neuen Reiz, der sein Hirn traf, der Beirrbarkeit der Anschauung, der Direktionslosigkeit, des Mangels an seelischem Orientierungsvermögen, an wegeweisenden, heilen Instinkten, der Triebschwäche, die das Begehren mißleitet und hemmt, kurz des Mangels an starker Menschlichkeit, an ungebrochener Männlichkeit, – so ging sie mit sich selbst nicht schonungsvoller um. Sie nannte sich eine Stümperin, die plump geradeaus ging, die zu schwer und zu ahnungslos war, aus den gewundenen Wegen des Irrgartens der Liebe herauszufinden ins beglückende Freie, – dahin, wo es keinen Zweifel mehr gab, kein quälendes Suchen nacheinander, – wo die Sonne der vollen Gewißheit schien, der ruhenden Zuversicht, der Geborgenheit. Dort war die Heimat, der das Weib zustrebte, – von allem Anfang an bis zu allem Ende, – mochte sich seine Stellung zur Welt durch die Jahrtausende immer wieder verändern, mochte es Sklavin oder Herrin sein, als Traumwesen dämmern oder wachsamen Auges am Strome stehen, mochte es, pflanzenhaft verwurzelt, in seinen Trieben weben oder frei sich sein Teil nehmen am Rechte der Selbstbewegung, – dort, unter jener Sonne friedvoll erfüllter Gefährtenschaft war immer seine Heimat, dorthin, durch alles hindurch, führte sein Weg.

Mit halben Gefühlen, bedrückt von Zweifeln, hatte sie dieses Verhältnis begonnen. Sie war hineingeraten, fast gegen ihren Willen und Vorsatz. Aber dann hatte es sie immer fester gefaßt, – es war ihr gegangen, wie den Frauen zumeist: so, daß sie erst »über der Situation« gestanden, dann mehr und mehr in sie hineingeraten, und sich schließlich von ihr überwältigen lassen. Die »Situation« ist die Liebe …

Vielleicht, so grübelte sie, hatte sie zu viel verlangt – und darum nichts erlangt? Vielleicht auf falsche Art gegeben, – so gegeben, daß sich darin zeigte, daß sie selbst etwas wollte und brauchte? Hatte gegeben, hingegeben, wie ein Mensch, der in Abhängigkeit geraten ist, – anstatt stolz zu spenden?

Zum erstenmal zeigte sich ihr, wie unter vergrößernder Linse, das, was sie bisher für ein Einziges und Einheitliches gehalten, als hundertfältig zusammengesetzt und gegliedert. Das eigene, leidvolle Erlebnis hatte ihr das Auge geschärft für diese geheimnisvollen, vielfältigen Windungen, die den Boden der Menschenseele durchziehn und im Liebeskampf bestimmend wirken. Schonungslos fragte sie sich, was sie denn, mit bangen Ahnungen von Anfang an, dazu getrieben, sich in die Gefahr zu stürzen. Ja, es war mehr als Ahnung, es war, zu Anfang, manchmal ein erschreckend klares Wissen gewesen, – daß dieses Erlebnis ein Abbiegen von ihrem Wege sei; freilich, der Weg war versandet und einsam, und um die Biegung herum lockte das ewige Grün. – – –

Und der Groll ihrer bittersten Stunden wechselte mit der wehen Sehnsucht, ihn wiederzusehen. Zärtlichkeit hatte sie gelabt, – nun dürstete sie.

Durfte sie ihn beschuldigen, sie verraten zu haben? Sie gab sich die Antwort: Verrat kann nur begangen werden an dem, der alles gab. Sie, ja sie hatte gegeben – aber nicht alles, was sie zu geben hatte. Niemals hatte sie ihr Wesen sich auflösen gefühlt in Werners Nähe, und sie wußte, daß das große Fühlen, dieses bis an die Wurzeln Erschütternde, nie über sie gekommen war, – nie, dieses Erbeben, das die restlose Wonne begleitet und das der Jubel des Herzens übertönt: – er ist's, er ist's! …

Und so hielt sie zwischen Groll und Weh und Sehnsucht – Abrechnung mit sich selbst. Sie beschuldigte sich des verirrten, selbstsüchtigen Wollens, an dessen Unreinheit, Verschwommenheit und Schwächlichkeit sie nun scheiterte. Gerecht und billig war, was ihr geschah, – so sagte sie sich, während sie tatenlos in ihrer Ecke zusammengesunken saß und fror und grübelte, und die Gespräche, hinter ihrer Stirn, sich endlos spannen. Sie sah ihr blasses, wie erloschenes, verweintes Gesicht im Spiegel und fand es häßlich. Sie litt unter der zunehmenden Kürze der Tage, dem Mangel an Sonne. Unmöglich schien es ihr, ihre berufliche Arbeit zu leisten und, wie sie es bisher getan, ihre kleine Wohnung in Ordnung zu halten; auch zum Mittagessen auszugehen war ihr unerträglich. Sie ertappte sich auf leisem Gemurmel: … »der Intellekt ist ein Stück weiter als der Wille, – als die moralische Kraft, – das ist's – – – darum ist alles verzerrt …«

So suchte sie einen geistigen Schlüssel zu ihrem Erlebnis, weil sie nicht vermochte, es rein als Erfahrung zu bewältigen, – wie der Organismus der Einfachen, für den es geheißen hätte: darüber hinweg – oder daran zugrunde.

Mit stachelnder Selbstverhöhnung rief sie sich die Hindernisse in Erinnerung, die sie bisher überklommen hatte, – um ihren Weg zu gehen, wie sie geglaubt. Sich allen hemmenden Anklammerungen entziehen, sich herauswinden aus allem, was einen lahm legen wollte, – das war, unbewußt vielleicht, der Antrieb ihres Tuns gewesen. Nun wurde sie selbst auf diese Art erledigt. Sie hatte sich hartnäckig und energisch aus ihrer heimatlichen Umgebung losgemacht. Das Bild des einsamen Greises, der ihr Vater war, stieg vor ihr auf und erfüllte ihr geschwächtes Gewissen mit Bangen. Und der drohende Schatten war nicht allein, – die Erinnerung an Koszinsky kam dicht hinter ihm vor ihre erschreckte Seele … Der hatte sich an sie klammern wollen, daß sie ihm helfen möge, – aber sie – sie hatte ihn fortgeschoben, – er taugte ihr nicht auf ihrem Wege. Nun war er ein Lebendigtoter.

Immer dichter drängten sich die Halluzinationen der Gewissensangst. Vergebens rief die Stimme ihrer Vernunft in das chaotische Wogen ab und zu ihr bannendes Wort: »Du hast getan, wie du mußtest und solltest!« Vergebens, – denn das auf den Tod verwundete Geschlecht hatte die Seele zum Tummelplatz gemacht für die Fiebervisionen der Buße.

Und sprach die Stimme: »Wer sonst hätte dir am Wege helfen sollen, wenn nicht du selbst? Nur indem du dich hieltest gegen alles und alle, konntest du weiter, – in die Nähe deiner wahren Pflichten,« – so stöhnte sie sich die Antwort zu: »Aber dann habe auch die Kraft, die Folgen zu tragen – ohne Reue!«

»Feige wärest du gewesen,« sagte die verteidigende Stimme, »wärest du vor dem Erlebnis, das deiner reifen Weiblichkeit gebührte, gewaltsam geflohen.«

»Feige bist du,« erhob sich die zornige Antwort, – »weil du nun, zu Tode geschwächt, zerbröckelt, gedemütigt bist, – wo du ruhiger und stärker weiter müßtest.«

Bis in die Nächte hinein drängten sich die schreckhaften Bilder. Ihre Träume bekamen eine Lebendigkeit, vor der ihr graute. Sie sah sich auf einer Wanderschaft im Wiener Wald. Hochsommer war's, und der dichte Laubwald stand in bleierner Schwüle. Sie suchte ein entlegenes Dorf und war vom Wege abgekommen. Das charakteristische Scenarium der Wiener Waldlandschaft entrollte sich hier, zu ihrem Entsetzen. Immer neue Talmulden und Hügelketten breiteten sich vor ihr aus, so oft sie stöhnend eine Höhe überklommen hatte. Immer dichter verschlangen sich die belaubten, sich hoch oben bogenförmig ineinander verflechtenden Äste; niedriges Gestrüpp hemmte den Weg und schlug ihr ins Gesicht. Wie eine ferne Vision stieg in diesem von Hitze dampfenden Laubwald – die Vedute der märkischen Landschaft, die sie liebte, vor ihr auf. Während sie sich, keuchend, weiter rang, vom glühend heißen Sirokko umstrichen und fühlte, wie der Schweiß auf ihrem ganzen Körper immer stärker ausbrach, – dachte sie an die weiten Seen, in deren dunklem Glanz milde das Sonnenlicht spielte, dachte an die Erquickung dieser durchfeuchteten Luft im märkischen Kiefernwalde … Sie dachte an das Haus der alten Frau Wallentin, die sie manchmal besucht hatte, an dieses Haus im Park, mit den pinienartigen Kiefern, – wie an ein ewig verlorenes Bild. Aber sie mußte weiter, durch eine von Hitze verbrannte Hecke hindurch, die sich ihr immer enger an den Leib drängte und ihr Kleid in Stücke riß … Schweißgebadet und zitternd erwachte sie.

Bei Tage quälten sie böse Erinnerungen. Es kam ihr ins Gedächtnis, wie sie einmal, in einer Wiener Vorstadt, in einem bescheidenen Schusterladen ein Paar schöne, gute Schuhe gekauft hatte. Sie kaufte sonst nur in großen Geschäften, aber der billige Preis und die schöne Form der Schuhe lockten sie. Sie trat ein, ließ sich ihre Schuhe vom Schuster, einem alten Mann mit sanftem Gesicht, aufschnüren. Seine Augen hatten erfreut aufgeleuchtet, als die Kundin den Laden betrat. Während er ihr die neuen Schuhe probierte, wurde ihr klar, daß sie so viel, wie die Schuhe kosteten, jetzt gerade doch nicht ausgeben durfte. Sie begann, etwas vom Preis herunterzuhandeln. Es glückte ihr. Sie erhielt die Schuhe. Aber als sie ihm das Paket abnahm, sah sie, daß der alte Mann enttäuscht und niedergeschlagen aussah …

Ohne jeden bewußten Zusammenhang erinnerte sie sich eines Bahnhofsgedränges, in das sie einmal geraten war, – und wie sie dabei, zum Waggon drängend, wie die anderen, einem Buckligen, der neben ihr stand, unbewußt die Ellbogen so fest an die verwachsene Brust gebohrt, daß jener laut aufgeschrieen hatte und ihr klagend, mit weinerlicher Stimme, zurief, er sei eben erst von einer schweren Krankheit aufgestanden …

Warum quälten sie diese Bilder der Buße? – –

*

Schwer und beladen, ging sie über die Straße. Sie schlich gebeugt, in ihrer alten, schwarzen Jacke, dicht an den Gittern der Vorgärten entlang. Manchmal blieb sie stehen, atmete erschöpft; sie ging, als zöge sie die Schwere der Erde nieder. Sie fuhr in die Stadt, um da Besorgungen zu erledigen. Als eine Wüste an Verlassenheit erschien ihr auf einmal das große Berlin, dessen Gleichgültigkeit sie zuerst so deckend und schirmend empfunden. Und was ihr an den Menschen, mit denen sie hier zu tun hatte, früher als beruhigende Sachlichkeit wohlgetan, empfand sie jetzt als Mangel an Wärme und an lebhaftem Gefühl. Und diese Restaurants, – wie hatten sie ihr nur anfangs gefallen können? Sie wich den weiten Speisesälen mit den Plüschmöbeln aus und trat gegen Nachmittag, als es schon zu dämmern begann, in das kleine, schlecht ventilierte Lokal eines vegetarischen Speisehauses, das in einer breiten, vom Verkehr überfüllten Geschäftsstraße des alten Westens lag. Die Luft war hier muffig und dumpf, und es roch nach fetten Gemüsen. Außer ihr waren nur noch wenige Leute hier, einsam an ihren Tischen, wie sie. Ein altes, verwelktes Mädchen saß da, das schäbige Hütchen nach Männerart tief in die Stirn gedrückt, auf der kein Löckchen sich kräuselte, – wohl eine Lehrerin, da sie einen Stoß Hefte neben sich hatte; dann eine alte Dame in Schwarz, die ganz vertieft war in die Lektüre eines theosophischen Blättchens, das hier aushing, und ein dürftig gekleideter junger Mensch, anscheinend ein Student, der eine Portion Gemüse mit Heißhunger verschlang und einen ganzen Korb voll Brot dazu aß.

Die Lampe wurde schon angesteckt, als sie ihr Gericht erhielt. Sie aß und griff dann müde nach einer Zeitung, die neben ihr auf dem Stuhle lag. Das Feuilleton feierte einen Gedenktag, der dem amerikanischen Apostel, dem Dichter Walt Whitman galt. Sie las, worüber er geschrieben, und sie fand auch den Satz: »So du hundert Meter gehest ohne Liebe, gehst du in deinem eigenen Sterbehemd, zu deinem eigenen Begräbnis.«

Da erschrak sie, – und das Blatt entglitt ihren erkalteten Fingern. – – –

*

Eine Schreckensbotschaft rüttelte sie auf. Sie kam aus Wien, von Eva. Im Hause von Gustav Diamant, dem Professor und Krebsforscher, bereitete sich eine Katastrophe vor. Professor Diamant war nicht nur in bezug auf die Frühdiagnose und die Behandlung des Krebses zu neuen Methoden gelangt, sondern er trat auch als Verfechter der sogenannten parasitären Theorie auf. Er behauptete, im Widerspruch zu der großen Mehrheit seiner Kollegen, daß das Karzinom durch einen Parasiten hervorgebracht werde. Seit Jahren machte er Tierexperimente. Es war ihm gelungen, Krebsgeschwülste von einem Tier auf das andere, besonders bei Mäusen, zu übertragen. Die meisten Forscher betrachteten aber auch diesen Vorgang nicht als Infektion, sondern als Fortzüchtung, Transplantation. Das schlimmste aber war nicht die wissenschaftliche Ablehnung seiner Hypothese, – sondern die furchtbare Tatsache, daß er, Gustav, sich selbst krank fühlte, – und den Verdacht eines Krebsleidens an sich selbst ausgesprochen hatte. »Er behauptet,« schrieb Eva, »mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen zu müssen, daß schmerzhafte Druckzustände im Kopf Symptome des schrecklichen Leidens wären und sieht in sich selbst ein Opfer seiner Untersuchungen und einen Beweis für seine Theorie. Er nimmt mit Bestimmtheit an, sich die Krankheit durch Infektion zugezogen zu haben.« Und sie schilderte die ergreifende Tragik seiner Haltung, berichtete, wie der Mann, der sich für todgeweiht hielt, sein Schicksal heroisch trug, in der Hoffnung, daß sein eigener »Fall«, wie er es kaltblütig nannte, das entscheidende Licht in die noch ungelöste Frage bringen und die Wissenschaft überzeugen werde. »Ich habe den Eindruck,« schrieb Eva, – »daß Gustav unter dem Bann eines Gedankens, der sich seiner mehr und mehr bemächtigt, sich zu einer furchtbaren Opferung vorbereitet. Er meint, – es überlief mich kalt, als er davon sprach, – daß gerade in dem Stadium, in dem die Krankheit, seiner Diagnose nach, sich bei ihm befindet, – die mikroskopische Untersuchung von Geschwulstteilen die volle Klarheit geben müsse. Er bedauerte«, schrieb sie, – »in seiner gewohnten kühlen, trockenen Art, daß der Sitz des Leidens nicht in der Bauchhöhle oder in der Niere sei, – denn diese könne man freilegen, und den Patienten dennoch retten, – sondern im Gehirn …«

Ein Schauer kroch unter Olgas Haar und hob es hoch. Sie stürzte ans Telephon, sie wollte Stanislaus rufen. Aber wie sollte sie das, da er telephonisch nicht erreichbar war? Sofort mußte es geschehen, denn einer von ihnen mußte nach Wien. Sie entschloß sich, Werner anzurufen. Sie vergaß es in diesem Augenblick, vergaß es vollständig, wie sie zu ihm stand. Jetzt war er ihr nur der nächste, der Stanislaus, in dessen Nähe er wohnte, schnell holen konnte.

Sie rief ihn an, in seinem Verlagsbureau. Als er ihre Stimme erkannte und sie sich nannte, antwortete er mit fremdem, eisigem Ton, durch den Furcht und Abwehr durchklangen. Aber als er ihre Gleichgültigkeit für ihn selbst aus dem Gespräch erfuhr, – in dem sie ihm kurz mitteilte, was man ihr aus Wien geschrieben und ihn bat, Stanislaus sofort aufzusuchen und zu ihr zu senden, – da wurde seine Stimme voll und warm, und er sprach zu ihr mit innerster Teilnahme, wie einer, der ihr ein Freund war.

In einer Viertelstunde rief er sie an. Er berichtete, er sei soeben in Stanislaus' Wohnung gewesen, aber er habe ihn nicht gefunden. Die Wirtin hatte ihm gesagt, Stanislaus hätte vor etwa einer halben Stunde ein Telegramm erhalten und sei fortgestürzt, zu seiner Schwester. Ob er selbst nicht kommen solle?

Sie wußte genug. Sie bat ihn, nicht zu kommen. Kaum hatte sie den Hörer angehängt, als es klingelte. Stanislaus trat ein, mit verstörtem Gesicht, das zerknitterte Telegramm in der Hand:

gustav hat sich erschossen steht mir bei edda

*

In jenen schweren, schmerzlichen Tagen, die nun folgten, erblaßte ihr eigenes Weh. Das, was sie erlebt, – es hatte ja nicht die letzte, die hoffnungslose Nacht über sie gesenkt, die dort über einen gekommen war. Das Grauen vor dem Selbstmord griff an ihr Herz, – und alles in ihr lehnte sich auf gegen diese Tat, die die letzten Ziele selbst setzte, die das dunkle Tor, das zu seiner Zeit sich dem Wanderer ladend erschließt, gewaltsam aufstieß … Nur einen Grund gab es für solches Tun: hoffnungsloses Siechtum. Aber war das wirklich Diamants Schicksal gewesen? Hatte er selbst sich für unheilbar gehalten, oder, – sie wagte nicht, es auszudenken, – hatte er an mögliche Heilung geglaubt, er, der so manchen von demselben Leiden geheilt, – und trotzdem die Tat getan, – – die Geschwulst in seinem Gehirn darzubieten, – als Triumph für seine Theorie? … Aber über dieser vernichtenden Frage lagerte das Schweigen. Ob er sich für heilbar oder unheilbar gehalten, verlautete nie. Er hatte keine Zeile darüber hinterlassen, kein Wort mit jemandem darüber gesprochen. Hier war sein Geheimnis.

Stanislaus war nach Wien gereist. Olga kam nicht mit, denn sie fühlte sich jetzt arm an Kraft, sie hatte nichts zu geben. Bangen Gemüts erwartete sie seine Rückkehr. – Sie war ruhiger geworden in diesen Tagen. Ihr eignes Leid hob nicht mehr so sehr seine düstere Gestalt vom hellen Tage ab, – denn noch Dunkleres hatte sich darum gelagert.

Und sie glaubte, überwunden zu haben.

Aber als eines Morgens Werner sie zum Telephon rief und sie drängend um eine Unterredung bat, – da merkte sie, daß die dumpfe Stille, die sich über den Aufruhr gelegt, noch nicht dicht und tief genug war. Sie fühlte, als sie seine bittende und warme Stimme hörte, wie erst ein erstarrender und dann ein glühender Hauch ihren Körper überflog, wie das Herz stillstand und der Puls sank, wie das Blut, dumpf aufrauschend, an ihre Stirne schlug. Das »Du«, mit dem er sie ansprach, beleidigte sie, und sie hätte es am liebsten zornig zurückgewiesen. Und während sie seine Bitte ablehnte, fühlte sie, daß sie log, – daß sie selbst ihn sehen und sprechen wollte.

Da sie sich nicht nachgab, so schrieb er ihr:

»In einer großen Not nach Ausdruck hat der Mensch die Sprache erfunden. Entsetzen faßt einen manchesmal darüber, wie hilf- und machtlos dieses Symbol ist. Wie alle Worte und Begriffe versagen, um Gefühle zu klären und wie, wie wir sehen, keinerlei Klärung, Aufklärung, Erklärung durch Worte etwas erzielt, – die nicht durch übereinstimmende Gefühle gegeben ist. Fast könnte es scheinen, als vermöchte dieses Symbol, die Sprache, nichts, als vorhandene Ahnung zu klären, Gleiches Gleichem zu nähern, Ungleiches noch weiter zu trennen … Und doch muß man trachten, voneinander zu erfahren, – was es auch sei. Erfahren – das ist das höchste erreichbare Ziel, damit sich finde und stärke, was seiner Wesenheit nach zusammengehört.

Unser wesentlich Letztes, Olga, gehört zusammen. Fürchte nicht, daß ich zur Umkehr locke, daß ich zurückbiegen will, was auseinander kam. Ich würde Dich nicht kennen, wenn ich solches versuchte, oder ich würde Dich wissentlich betrügen. Nein, ich sage Dir, wie ich in jenem ersten Briefe sagte: dies wird kein Liebesbrief. Aber schrieb ich Dir damals nicht auch, – verlasse mich nicht, was immer geschehen mag, auch dann nicht, wenn ich eines Tages schuldig werde an Dir? – – –

Und so komme ich jetzt, ein Schuldiger und doch noch Fordernder, – von dem zu holen, was ich Dich bat, mir ewig zu wahren. Keine und keinen wüßte ich, dem ich dieses Unversiegliche so vertrauen wollte, wie Dir. Nun, da wir geschieden sind, nun weiß ich genau, was das Unvergängliche ist zwischen uns. Und ich kann nicht eher ruhig werden, bevor nicht auch Du friedlichen Herzens bist und erkennst, daß unser vermeintliches Irren doch eine volle Frucht trug, – daß uns also doch eine uns verborgene Wahrheit führte. Denn die Früchte des Irrtums sind leer und taub. Das aber, was wir nun heimsen sollen, ist echte und edle Nahrung. Laß mich kommen, damit ich nicht Worte hier aufbauen muß, damit wir uns verstehen durch unsere Nähe, – nun, da wir aus einer Gasse, die nicht ins Freie führte, zurückgefunden haben auf den Weg.«

Sie lachte schmerzlich auf, da sie gelesen hatte; … und sie konnte nicht verhindern, daß die Tränen wieder heiß aus ihren Augen stürzten … Er hatte ihr reifes Weibtum begehrt, – und hatte es erhalten. Nun wollte er – wie sagte man doch – ihre »Freundschaft!«

Noch einen Tag lang bäumte sich ihr beleidigtes Geschlecht. Dann war sie ergeben. Mochte denn auch dies noch getan werden.

*

So saßen sie sich denn gegenüber und sie sah, wie schwer er nach Worten suchte. Er war bleicher und schmäler geworden, der sanfte Glanz war nicht mehr in seinen Augen, aber in der Tiefe seines Blickes brannte eine Flamme, die sie bisher nicht gekannt.

Er sagte ihr, daß ihm sein Gewissen ihr gegenüber keine Ruhe ließe.

Sie hatte sich vorgenommen, sich in strenger Zucht zu halten, ihm weder beleidigt noch gebrochen, weder scharf und bitter, noch etwa klagend zu begegnen. Mit starkem Geiste mußte hier gelöst und gehoben werden.

Und so fragte sie, warum er denn ein böses Gewissen habe. Was geschehen sei, war notwendig und darum gut.

Er lächelte wehmütig: »Weißt du nicht, daß ich zu denen gehöre, die auch, wenn sie das Richtige und Notwendige tun, – oder erleiden, – nicht ruhig sind? Immer quält sie der Gedanke: vielleicht hätte es doch auch anders getan – oder erlitten – werden müssen.«

»Es ist gefährlich und unfruchtbar, seinem Ich auf diese Art nachzuspüren. Was geschieht, ist darin beschlossen. Wir entrinnen uns selbst doch nicht.«

»Aber man weiß so wenig von diesem Ich, in dem alles beschlossen ist, wie du mit Wahrheit sagst. Und das ist das Schaurige daran. Denn was ich von mir weiß, das bin nicht Ich, – mein Ich, jenes, das mein Schicksal macht,« – ein hilfloses Lächeln glitt über sein Gesicht, – »ist dort, wohin ich nicht ausblicken kann. Und diese vergebliche Suche ist's, an der man sich verbraucht.«

Er atmete tief, und sein Kopf sank. In diesem Augenblick empfand sie, daß er weinte, wenn auch keine Träne in sein Auge kam. Sie wußte nun, daß er in schweren Banden war.

»Erzähle«, sagte sie.

Und er erzählte. Es kam aus ihm heraus, ohne jeden Rückhalt. Er sprach vom Tode seiner Liebe zu ihr, als spräche er zu einer dritten Person, die das alles nicht betraf. Mit jener naiven Grausamkeit dessen, der übervoll ist von sich und seinem beständigen Kampf, berichtete, klagte er, – warb er um Trost.

Draußen lagerte sich die Nacht in die Nebel. Wie eine Decke fiel der Schnee über sie, weich, dicht und feucht. Die Finsternis drang immer tiefer in den Raum, in dem die beiden saßen, und verhüllte ihnen ihre Gestalten. Olga entzündete ein Lämpchen auf dem Schreibtisch, das sein Licht unter grünem Schirm sammelte und es schwach in jene Ecke entließ.

Er sprach von der plötzlichen Wandlung seines Herzens. Eines Morgens wachte er auf – und liebte nicht mehr. Es war »abgerissen«, – so nannte er es. Er begriff nicht, warum, und litt darunter. Dieses Magische kam über ihn, und alles war aus. Da trat in dieser Dämmerung seiner Seele, strahlend hell, jene andere Frau. Und er sprach von seiner Leidenschaft, – er schilderte, wie sie jedes andere Gefühl in ihm übertäubte. Nur der Gedanke wuchs und wuchs in ihm, diese Liebe zu erfüllen. Er berichtete auch von seiner Hoffnung. Er glaubte, daß er nicht unerwidert liebe.

Scharf und grell, wie eine moderne Lichtmaschine, die Überhelle verbreitet, so leuchtete er hinein in das Chaos seiner Gefühle. Ein einziges Mal unterbrach ihn Olga. Sie fragte ihn, ob er seiner Gefühle diesmal denn so sicher sei, ob er nicht glaube, sich zu täuschen. Da sagte er ihr, – er hätte nur einen Wunsch: sich zu binden mit allen Fesseln. Er wollte kein »Freier« mehr sein. Er wünschte, daß sein Wille ewig so gebunden bliebe, wie jetzt.

Sie fragte ihn, ob er dann an Ehe dächte, und er sagte, daß es seiner Wünsche höchstes Ziel wäre, die geliebte Frau frei zu wissen von den sie jetzt fesselnden Banden und sich ihr zu verschreiben auf Leben und Tod. Da rüttelte der Gram an ihrem Herzen und ließ sie erschauern, und Scham überflammte sie, weil er solches von ihr niemals begehrt hatte.

Und dann sprach er davon, daß die Frauen die Größeren und Stärkeren wären. Und als sie wehmütig den Kopf schüttelte, da faßte er ihre Hand und sah ihr ins Auge: »Nie bist du mir so groß erschienen, – nie so weit die Grenzen deiner Persönlichkeit, – als eben jetzt, – heute.« – – Und er fuhr fort: »Glaube mir, wenn ich dir sage, daß wir zusammen bleiben müssen, – auch weiterhin.«

Sie senkte den Kopf. »Und wenn es keine Freude für mich ist?«

»Du kannst es jetzt noch nicht als Freude empfinden; aber ich glaube, daß es gar nicht von deinem freien Willen abhängt, ob wir verbunden bleiben oder nicht. Für Menschen unserer Art ist es bezeichnend, – daß sie immer wieder zusammentreffen. Die Leidenschaft kann da eine kurze Unterbrechung bringen. Dann zieht sich der betroffene Teil für eine Weile schmerzlich zurück … Aber der Kreis, der Menschen unserer Art verbindet, schließt sich immer wieder, – trotz aller Kreuz- und Quersprünge darin. Glaube mir das!«

Einen Augenblick meinte sie den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie hob die Hand an die Augen, und über ihre Lippen stahl sich flüsternd das Wort: »Einsam, einsam«. Und dieses Wort durchflog die Wälle seiner Selbstsucht und schlug da eine schwere Bresche.

Scheu erfaßte er ihre Hand: »Das ist jetzt dein Los. – Gehe nur weiter, – immer weiter!«

*

In der Nacht, die diesem Gespräch folgte, kam das Bewußtsein ihrer Verlassenheit wieder aus der Tiefe herauf. Riesenhaft, schwer, kalt und hart wie Erz, fahl wie der Tod, – so stand es über ihr. Jammer durchfraß ihr Inneres, und eine schwählende Begier kam über sie, – eine Begier, hinaus auf die Gasse zu laufen und sich dem ersten Besten in die Arme zu werfen. Plötzlich hatte sie die Vision der nächtlichen Friedrichstraße, – sie sah sie, wie sie den Tag vortäuschte, mit ihrem Menschengewühl, im Lichte der Bogenlampen. Und diese Vision genügte, um sie vor Ekel frieren und zittern zu machen. Aber – verzehrend, versengend, – jagte es sie aus dem Bett.

Mitten im Zimmer stand sie. Im großen Spiegel sah sie sich selbst, im Mondlicht irrend, als weißen gespenstigen Schatten. Das Bett in der Ecke leuchtete herüber; die Decke hatte sie mit zu Boden gerissen, als sie heraussprang, und so sah sie das weiße Laken fest ausgespannt, und es schien ihr starr, wie ein Bahrtuch und das ganze Lager wie ein Totenbett. Endlich legte sie sich auf den Divan nieder; noch grübelnd, verfiel sie in Halbschlaf. Sie sah sich auf der Erde kauern, vor einer schwarzen, verhüllten Gestalt, und jeden Augenblick erwartete sie, getreten zu werden. Und sie spürte die Furcht und die Erniedrigung im Traum. – Wie gelähmt, vermochte sie am anderen Morgen nicht den Tag zu beginnen und suchte ihr Bett auf.

Nein, sie hatte sich getäuscht, sie kam darüber nicht weg. Verlassen und einsam – für ewig … Und sie war keine von den Frauen, die, mit trockenen Lippen, still und allein durchs Leben gingen und irgendeiner fremden Sache fleißig und nüchtern dienten, mit kühlem Kopf und selbstlos resigniertem Gemüt. Nein, so war sie nicht. Sie – sie war eine Fordernde, eine Begehrende; und gerade darum war sie gezüchtigt worden … Sie lehnte sich auf, sie stöhnte unter ihrem Geschick. Geistig lösen und heben –, das hatte sie noch gestern gewollt. Und heute, da sie sich hier, bei hellem Tag, ohne krank zu sein, ohne Schlaf zu suchen, auf ihrem Lager hin und her warf, – wie stand es heute mit ihrer Macht, geistig zu lösen und zu heben? Überrädert war sie. Wie konnte sie je wieder aufstehen, heil, mit gesunden, regen Gliedern?

Und dabei war sie sich doch klar geworden, daß Werner für sie nicht der war, der die letzten Bande ihres Wesens gelöst hatte. Er war es nicht – und doch verzweifelte sie, da sie ihn verlor, – denn die Verlassenheit öffnete sich vor ihr, wie ein dunkler Abgrund, gespenstisch und unentrinnbar, wie das Grab. – – –

Am selben Tag kam Stanislaus zurück. Er war erstaunt und besorgt, als sie ihm erst nach zweimaligem Läuten, in eine Decke gewickelt, mit hängendem Haar, öffnete, und als er sah, daß sie aus dem Bett kam.

»Es ist nichts«, sagte sie und kleidete sich hastig an, während er in ihrem Arbeitszimmer wartete. Auch der staubbedeckte Schreibtisch mit den unberührten Papieren, den uneröffneten, dicken Manuskriptbriefen, den ungelesen aufgehäuften Zeitschriften, sagte ihm mehr als genug. Er beschloß, diesmal nicht zurückzuweichen und mutig an die Wunde zu rühren.

Sie kam herein, und ungeduldig und angstvoll fragte sie ihn, wie die Dinge in Wien ständen.

Er berichtete, daß gestern Gustavs Begräbnis war.

Und er erzählte von der Panik, die er da angetroffen hatte. Mit dem Tode Gustavs war Eddas ganze Existenz zusammengestürzt.

»Vermögen hat der Professor, wie du weißt, nie gehabt. Was er verdiente – und darüber hinaus, – wurde verbraucht. Versichert war er nicht. Die einzige Geldquelle war seine tägliche Arbeit. Alles, was die Ordination, die Visiten, die Kollegien und die glänzend bezahlten Operationen einbrachten, – das alles mußte hineingeschüttet werden in den Rachen, der alles verschlang: den Hausbrauch.«

»Aber Eddas Vermögen?«

»Ja, – hier liegt der Hase im Pfeffer. Damit hat der arme Gustav auch gerechnet. In seinem Testament bittet er sie um Verzeihung, daß er ihr den Ernährer nehme … er empfiehlt ihr, von den Zinsen ihres bei ihrem Bruder angelegten Vermögens bescheiden zu leben, – bis sie in anderer, besserer Obhut sei, als die seine war.«

»Nun – und?«

»Ja – die Sache liegt so: der Bruder Vinzenz scheint bedenklich zu wackeln. Er hat die Zinsen, die Edda immer persönlich einkassierte, schon in letzter Zeit sehr unregelmäßig bezahlt; Gustav wußte nichts davon. Sie verlangte nun jetzt, er solle ihr das Vermögen herauszahlen, – und das kann oder will er nicht.«

»Wie soll das nun werden mit ihr?«

»Ich habe ihr geraten, vor allem dem Moloch ihres Haushalts keine weiteren Opfer zu bringen. Verkaufen, auflösen, einschränken.«

»Und dann?«

»Dann – muß sie einen Erwerb suchen. Und da für sie Arbeit zu finden in Wien besonders schwer sein dürfte, so soll sie nach Berlin kommen. Hier wird sich schon etwas Passendes für sie bieten.«

»Sie kann zeichnen,« sagte Olga bekräftigend, – »sehr gut und sehr originell Moden zeichnen, aber –« forschend wandte sie sich dem Bruder zu, – »du erzählst mir diese Geldgeschichten, die zwar wichtig für Edda sind, – indessen« – –

»Ich kann mir wohl denken, was du sonst noch erfahren willst; … was ich da zu berichten habe, – ist so schwer zu fassen, daß ich kaum weiß, wie ich es schildern soll.«

Eine Weile blieben sie stumm, dann fragte Olga mit leiser Stimme:

»Was sagt man über Gustavs Tod?«

»Das Motiv ist ja allbekannt, – – – aber – du willst wissen, – wie nun die Wissenschaft Stellung nimmt zu – zu seiner Krankheit?«

Sie nickte stumm.

»Man hat ihn seziert«, berichtete Stanislaus; seine Stimme wurde plötzlich flüsternd und hob doch jedes Wort scharf heraus.

»Natürlich,« sagte sie, – »und man hat gefunden, daß er recht hatte? Man hat das Karzinom untersucht, – vielleicht sogar den Parasiten gefunden?«

Eine lange Pause folgte diesen Fragen …

»Man hat – sein Gehirn – – untersucht,« – Stanislaus stockte.

»Nun – und?«

»Und hat gefunden, – daß es ein Irrtum war.«

»Ein Irrtum – seine Theorie? Nun, darüber werden seine Kollegen wohl noch lange weiter streiten, das dachte ich mir. Also an seinem eigenen Karzinom war auch nicht mehr zu erkennen, als an anderen Krebsgeschwülsten?«

»Es ist noch anders, als du glaubst, – aber –« er sah sie fest an – »das ist ein Geheimnis, hörst Du?«

»Was für ein Geheimnis, was meinst du?« fragte sie.

Stanislaus schwieg, als sammle er sich für das, was er zu berichten hatte; … endlich sagte er: »Sein Famulus – wie heißt er doch?«

»Du meinst den Pankratius – Pankratius Kaff?«

»Ja den … also der hat mit einem anderen Arzt, – einem Freund und Kollegen von Gustav, einem Professor, der in dem ganzen Kampf auf Gustavs Seite war, – die Sektion vorgenommen, und sie haben gefunden,« – seine Stimme formte die Worte mit spitzer Eindringlichkeit, – »sie haben gefunden – daß – daß überhaupt kein Karzinom und auch kein Tumor da war – – –.«

In erstarrendem Schweigen saßen beide.

»Wie ist das zu verstehen?« sagte sie endlich.

»Das ist nicht anders zu verstehen, als daß Gustav, der doch ein tüchtiger Arzt war, der als hervorragender Diagnostiker sich wiederholt bewährt hat, – sich in seinem eigenen Fall so tief verirrt hat, daß man nicht mehr weiß, ob man diesen Irrtum nicht als fixe Idee bezeichnen soll.«

»Kein Karzinom, – kein Tumor, – überhaupt keine Geschwulst –« flüsterte Olga, – »was sonst?«

»Nichts – nichts … ein etwas blutarmes Gehirn, – eine nicht bedeutende Degeneration des Nervensystems, konstitutioneller Art, – wie mir gesagt wurde; es hat sich um ein Druckgefühl im Kopf bei ihm gehandelt, um Schwindelzustände; und nicht eine Geschwulst war die Ursache, – sondern Nervosität, – Erschöpfung, hervorgerufen durch Überarbeitung. Es soll das richtige ›Ringgefühl‹ gewesen sein, an dem er litt, das manche Neurastheniker auch um den Leib herum spüren; andere wieder im Kopf; zu denen gehörte er; … vier Wochen völliger Rast und guter Erholung, und die Symptome, die er – verkannte, – wären fort gewesen.«

In langem Schweigen verblieben beide. Nach einer Weile nahm Stanislaus das Abendblatt vom vergangenen Tag, das unberührt auf den anderen Zeitungen lag, zur Hand.

»Im Abendblatt von gestern, da muß vom Begräbnis berichtet sein.«

Und kaum hatte er das Blatt entfaltet, so fand er die gesuchte Nachricht unter den Telegrammen.

»… Der Selbstmord des verdienstvollen Forschers hat schmerzliches Aufsehen erregt. Am offenen Grabe sprach, außer den ersten Kapazitäten der Wiener Fakultät, auch Professor Vacheron vom Institut Pasteur in Paris, neben anderen ausländischen Kollegen des Verstorbenen. Unter allgemeiner Spannung, –« so lautete das Telegramm des Wiener Korrespondenten, »trat dann auch Professor Petersen vom Krebsinstitut in Kopenhagen an das offne Grab und feierte den zu früh Verstorbenen als den Begründer der experimentellen Krebsforschung. Die Witwe, deren Schönheit viel bemerkt wurde, stammt aus hochangesehener Wiener Fabrikantenfamilie. Sie lebte mit dem großen Gelehrten in glücklichster Ehe und brach unter dem unerwarteten Unglück beinahe zusammen. Beileidsdepeschen aus allen Teilen der zivilisierten Welt trafen im Trauerhause ein. Die amerikanische Kolonie, unter der der verstorbene Forscher zahlreiche Schüler besaß, hatte eine Deputation zum Begräbnis entsandt.«

Olga unterbrach sein Vorlesen: »War Mr. Macpherson auch unter der amerikanischen Deputation?«

»Du meinst den Amerikaner, der damals abends mit im Champagnerkeller war?«

»Ja, den langen Amerikaner, Mr. Macpherson, den der Kaff in Wien herumführte.«

»Von Mr. Macpherson war die Rede; aber er war nicht beim Begräbnis, er ist längst wieder in Amerika.«

»Sage doch,« fuhr Olga nachdenklich fort, »wie ist das möglich, – daß man hier den Toten so feiert als Begründer der Krebsforschung, – da doch – –« sie stockte.

»Der war er,« sagte Stanislaus, »er hat die hervorragendsten Tierexperimente gemacht, die ganz Neues brachten. Hier steht es ja, – höre weiter, was Professor Petersen sprach:

»Ihm ist es nach rastloser, theoretisch-hypothetischer Forschung als erstem gelungen, aktiv und passiv Mäuse zu immunisieren und zu heilen, und ich habe auf seiner Klinik auch bei Menschen Erfolge gesehen, die, – neben manchen Versagern – nur durch die ungewöhnlich sichere und frühe Diagnose erzielt werden konnten.«

Stanislaus ließ das Blatt sinken.

»Neben manchen Versagern«, flüsterte Olga … »Weiß man denn – das Resultat – der Sektion?«

»Das soll Geheimnis bleiben«, erwiderte Stanislaus und sah sie ernsthaft an. – – –

*

Der Bruder blieb zum Abendessen bei ihr. Sie holte aus ihrer kleinen Speisekammer Wurst, Brot und Butter und kochte Tee. Er bewunderte, wie immer, ihr hübsches Junggesellinnenheim, wie er es nannte, und ließ ihr trauriges Kopfschütteln unbeachtet.

»Hast du Frau Lore, – ich meine Fräulein Wigolski, – nicht gesehen?«

Sie gab zu, in den letzten Tagen nicht gearbeitet zu haben und auch sonst mit Lore nicht zusammen gekommen zu sein.

»An Lore hättest du dich aber halten müssen in dieser Zeit,« sagte er, »nur an sie; sie wäre dir zur Seite gestanden.«

Als sie sah, daß er so unvermittelt an ihr Erlebnis rührte, ging sie darauf ein, es so mit ihm zu besprechen, als hätte sie sich ihm längst anvertraut.

Er meinte, Werners Gefühlsumschwung überrasche ihn nicht; er sei einer, der von Weib zu Weib müsse, und zwar nach ähnlichen Gesetzen, wie jene es waren, die Hegel geformt: so, daß immer These und Antithese aufeinander folgten. Nur die gegensätzlichsten Typen würden ihn anziehen, und so würde er zwischen den Extremen seiner eigenen Begier hin und her schwanken. Aber warum sollte sie sich von dieser wilden Beweglichkeit seiner Natur aus den Angeln heben lassen? Warum die natürliche Schwerkraft ihres eigenen Wesens ins Unrecht setzen?

Seine Ratschläge wiesen sie auf völlige Lösung. Neuen Büchern, neuen Menschen, neuen Hoffnungen sollte sie sich eröffnen und, da der Verkehr mit einfachen, starken und organisch weisen Naturen das Heilsamste in solchen Kämpfen, wie in jeder Lebenslage sei, so hätte er gedacht, daß sie sich Loren anvertrauen würde. Er wenigstens empfange im Verkehr mit solchen Menschen etwas wie Ahnungen seiner eigenen Kraft und wie die Hoffnung eines endlichen Einklangs aller Strömungen des Willens und des Intellektes. »Nur ein Mensch, der solche Gefühle in uns löst,« sagte er mit Nachdruck, »ist unser echter Gesellschafter. Werner aber hat das Gegenteil an dir getan,« fuhr er fort; »er hat von Anfang an deine Kräfte nicht nur nicht gelöst, sondern im Gegenteil gehemmt, ins Stocken gebracht, angezweifelt und damit paralysiert. Dieses Panikhafte des Entwurzelten, das sein eigenes Geschick ist, hat er auch über dich gebracht.«

Es schien ihr, als ob Stanislaus mit diesem Worte eine Schuld auf Werner wälzen wollte, und unabweislich kam das Gefühl über sie, ihn vor dem Bruder zu verteidigen, sich selbst zu beschuldigen. Und sie breitete die Ergebnisse der zerfleischenden Selbstverwühlung ihrer letzten Tage vor ihm aus. Sie schilderte, wie sie den Boden unter den Füßen verloren, und sprach von den Qualen ihrer Tage und Nächte, aber nur, um ihre eigene Haltlosigkeit daran zu schildern; sie erzählte von der schwarzen Angst, in der sie sich verloren hatte.

Nachdenklich erwiderte er, ob sie denn dieses Erlebnis für einen Zufall halte, und, ohne ihre Antwort abzuwarten, sprach er davon, daß auch in diesem erschütternden Auf und Nieder der menschlichen Gefühle ein periodisches Gesetz vorwalte. »In Abständen, deren Spatien seit Urzeiten festgelegt sind, – sowie die Perioden, in denen sich Jahr und Tag, Werden und Vergehen, Blühen und Welken abspielen, – in solchen Spatien, deren Höhepunkte miteinander im Zusammenhang stehen wie die höchsten Flächen kommunizierender Gefäße, erneuern sich Hoffnung und Entsagung, Verzweiflung und Lebenskraft. Alles kommt und geht in Takt und Rhythmus, und was du für Unordnung und Chaos hältst, ist nur der Auftakt zu neuer Einheitlichkeit. Darum, wenn wir dieses wissen, kann es nicht allzu schwer sein, aus der Verschüttung sich selbst wieder zu erheben.« Und nachdenklich flocht er in seine Rede die ewigen Zeilen: »Denn so lang du das nicht hast, – Dieses Stirb und Werde, – Bist du nur ein trüber Gast, – Auf der dunklen Erde.«

Aufmerksam, hingebend hatte sie gehorcht. Es schien ihr, als hätte sie ihn niemals besser überblickt, als wäre sie bislang vor ihm gestanden wie vor dem Gestrüpp eines Baumes, den man, auf seinen Wurzeln stehend, nicht in seiner Form erkennen kann. Nun aber hatte sie erhöhten Grund unter den Füßen, und sie sah den Baum, ein wenig von der Höhe, ein wenig von der Weite; sie sah, wie rund und voll seine Krone war, wie geschlossen und dennoch frei sein Geäste, sie sah das frische, dichte Blattwerk, das ihr von unten nur wie Gestrüpp erschienen war, glänzend und wohlgereiht an den Zweigen, und sie sah die Knospen, die aus dem Holze hervordrängten und Früchte versprachen.

»Ich glaube, ich habe dich verstanden«, sagte sie mit leiser, aber fester Stimme. »Nur so lange, meinst du, können wir uns empören, uns aufbäumen und verzweifeln, als wir glauben, Zufälligem ausgeliefert zu sein, von irgendeinem unberechenbaren, feindlichen Willen niedergetreten zu werden. Sobald wir aber, – so meinst du doch wohl, – die logische Notwendigkeit unseres Erlebens begreifen, dann müssen wir es als ein Verdientes und Gerechtes empfinden.« Fragend sah sie ihn an.

Er nickte ihr zu. »So ist es.«

»Aber du hast eines vergessen«, sagte sie.

»Und das wäre?«

»Das ist jene Ergebung, zu der zu gelangen eines gehört, was über aller Vernunft und aller Logik steht, – und«, sie zögerte einen Augenblick, »was mir fehlt.«

Er blickte sie fragend an und wartete darauf, daß sie ihr Bekenntnis vollende. Sie fuhr fort:

»Ich habe oft darüber nachgedacht, was wohl das Wort des Evangeliums bedeuten mag: ›So dir jemand einen Streich auf die linke Backe gibt, reiche ihm auch die andere dar.‹ Und ich weiß, daß dieses Wort nur der verstehen kann, der das eine hat, was zu jeder Ergebung gehört: die Demut, – die mir fehlt.«

»Du irrst,« fiel er ihr ins Wort, »auch der Sinn dieses Spruches ist logisch erschließbar, und selbst die Gnade der Demut kann über ein Herz kommen, das die Dinge restlos vernünftig anschaut.«

»Und wie willst du diesen Spruch mit Vernunft erschließen?«

Er schob die geleerte Teetasse zurück und sah sie voll an.

»Der logische Sinn ist so augenfällig, daß ich darüber staune, daß er es für dich nicht ist. Die Mahnung kann natürlich nichts anderes bedeuten, – als: laß es nicht als Übel gelten, was jener tut, – denn«, er suchte nach Ausdruck, – »denn – der Augenblick tut das mit ihm, – sein unsterblich Teil ist nicht dabei. Dieses Unsterbliche aber«, seine Stimme hob sich energisch, »dieses sollst du schauen. Und zum Zeichen, daß du sein Ewiges nicht vergessen hast, – trotzdem er selbst es verleugnet, – so hebe seine eigene Tat auf – und«, seine Stimme war stark und streng geworden, »reiche ihm auch die andere Wange dar. Damit sprichst du zum Schicksal: wie es ist, ist es gut.« Überzeugt sah er sie an.

Einen Augenblick hatte Olga die Empfindung, als wäre sie bei dieser seltsamen Zwiesprache mit dem Bruder von unsichtbaren Händen erfaßt und gerüttelt worden. Wie gelähmt war das lebendigste Organ ihrer Seele, – ihre Vernunft, – in ihr gelegen, und in wuchernder Wildnis war das Zaubergeranke der Triebwelt immer dichter darüber gewachsen. Der Bruder aber hatte sie gefaßt und hatte sie gerüttelt, – wie man einen Menschen rüttelt, der eben ertrinken wollte und den man aus dem Wasser rettete … Sie hatte zutiefst begriffen, was er ihr, in knappen Andeutungen, gegeben. Sie verstand auf einmal, – daß Resignation und Demut wohl Erscheinungen der Gnade sind, aber keiner überirdischen Gnade. Sie verstand, daß es Begnadung der höchsten Vernunft war, zu sagen: wie es ist, ist es gut … Aus der neuen Bewegung, die endlich die Erstarrung in ihr gelöst hatte, hob sich, mit junger Kraft, der Antrieb, der einzig das Leben erhält: das Vertrauen zu dem eigenen Schicksal, die Überzeugung, daß es nach logischen Gesetzen abgelebt wird, daß der Sinn der eigenen Bestimmung sich unweigerlich erfüllt. Sie begriff, daß der Kampfplatz, auf dem ihre Kräfte sich würden bewähren müssen, nicht draußen, sondern drinnen lag. Mit blitzartiger Schnelle dachte sie in diesem Augenblick daran, daß es Menschen gab, die ihr Schicksal sofort verstanden, die seine Hand sogleich erkannten, sowie sie von ihr berührt wurden. Solch eine war Eva Nestor und auch Lore Wigolski. Jene waren mit Widerständen, die sich um sie türmten, fertig geworden, ohne einen Tropfen ihrer Kraft einzubüßen, sie aber hatte sich beim ersten Zusammenstoß beinahe verblutet, – weil sie mit sich noch nicht fertig gewesen, wie jene anderen, die in besserem Gleichgewicht geboren waren.

Sie wollte nun noch erfahren, ob Stanislaus es verurteilte, daß sie sich in diese Gefahr begeben, daß sie mit dem Feuer so gefährlich gespielt hatte, trotz aller warnenden Mahnungen ihrer Seele.

»Mädchen,« sagte er, »wie sehr hast du die Orientierung verloren! Nun siehst du gar ein Unrecht darin, daß du dich in den Frühling hinauswagtest? Wie feige müßte man sein, sollte einen die Gefahr schrecken, wenn auch nur ein einziger solcher Frühlingstag winkt. Ich war einmal in Dresden«, fuhr er fort, »und natürlich auch in dem berühmten Zwinger, dem großen Barockpalast. Die weiten, wundervollen Gärten standen gerade in voller Blüte, und man bekam da hübsche Ansichtskarten, die den »Zwinger im Frühling« darstellten. Später habe ich oft an diese Worte denken müssen, nur daß ich sie verkehrte – auf den Kopf stellte: denn überall, wo ich um mich blickte, sah ich, wie die Blüte gehemmt, wie die frohen Triebe der Jugend gefesselt waren, überall sah ich – den Frühling im Zwinger. Wohl dir, daß du einen einzigen Frühling diesem Zwinger entronnen bist!«

»Wenn du so denkst, dann mußt du auch meinen Gram begreifen darüber –, daß ich diesen Frühling verloren, – verloren, – vielleicht verscherzt habe.«

»Dieser Ausspruch läßt erkennen, daß du noch immer glaubst, daß es irgendwie in deiner Macht gelegen hätte, das Verhältnis zu erhalten und zu einem glücklichen Ende zu führen. Das ist aber falsch, durchaus falsch; denn so wenig praktische Erfahrung ich auch habe,« er lächelte, während sich sein Gesicht mit dunkler Röte überzog, – »so bestimmt kann ich dich versichern, daß man sich die Liebe von niemandem erobern oder verscherzen kann. Denn die Zellen lieben sich und nicht die Willen, die Zellen ziehen sich an oder stoßen sich ab! – – Auch ist zwischen zweien immer ein bestimmter Vorrat zu verbrauchen. Du kannst ihn nicht erneuern, um länger zu fesseln, und du kannst keine Bande lösen, solange dieses Quantum nicht verbraucht ist … Warum aber sollst du«, fuhr er lebhaft fort, »an solchen Erfahrungen verlieren, anstatt zu gewinnen, einschrumpfen, anstatt zu wachsen? Warum dich verbittern und verringern lassen?«

»Weil sich nicht leugnen läßt, daß bei solchen Erfahrungen, sie mögen nun erlaubt sein, im höheren Sinne, oder nicht, und sie mögen so logisch und notwendig sein, wie sie wollen, – Verschiedenes angeflogen kommt, was beschmutzt und erniedrigt.«

»So? Du magst recht haben. Aber dann mußt du dich erst recht rühren, mußt dich fleißig um deine eigene Achse drehen, darfst das, was dir angeflogen kam, nicht auf dir fest und starr werden lassen. Du willst doch leben bleiben, oder nicht?«

Da rüttelte er schon wieder, sie fühlte, wie es ihr durch und durch ging.

»Ja, ich will leben!« rief sie mit leidenschaftlicher Inbrunst.

»Nun, wenn man überhaupt leben bleiben will, dann muß man sich auch rühren. Sich benehmen wie eine Leiche und doch leben bleiben wollen, doch – wie soll ich sagen, – weiter konsumieren, – das geht nicht an, das erscheint mir geradezu inkorrekt.«

Da lachte sie, und sie hörte dieses Lachen, und sie fühlte es auch. Sie fühlte, wie diese Welle von Fröhlichkeit plötzlich aus ihrer Seele herausschoß, wie ein starker Sprudel, Schlacken und Steine mitreißend und herausschleudernd.

Er sprach weiter. »Wenn du in diesen Tagen so verstimmt warst, so war es – weil dich der Mut verließ. Es gibt keinen andern Grund für uns Menschen, zusammenzubrechen. Jede Art von Trauer, von Angst, ja selbst von physischer Schwäche, die zum Zusammenbruch führt, ist Mutlosigkeit, Mutlosigkeit des Körpers oder der Seele; und nicht an Todesangst leiden wir so sehr wie an dieser bleichen Furcht vor dem Leben. Diese Angst aber ist der Todfeind des Menschen. Da kenne ich ein tiefes Wort von Maxim Gorki: ›Sobald die Menschen sich fürchten, verfaulen sie, wie die Birken im Sumpf.‹ – Darum heißt es gerade im kritischen Moment, gerade wenn es schief geht, – sich doppelt zusammenraffen und so handeln, als ob wir sehr mutig wären. Die Menschen stürzen und verfaulen am ersten, wenn sie sich nach einer Katastrophe verkriechen, sich seelisch verlumpen.« Ernsthaft sah er sie an: »Man muß sich erziehen, so zu handeln, – als ob alles glatt gegangen wäre. Das ist eine Suggestion, die man dem Schicksal gibt, – und das Schicksal ist suggestibler, als wir glauben.« Er ging auf und ab und fuhr nachdenklich fort:

»Du leidest jetzt? Das ist nur richtig und begreiflich. Warum aber dich unter deinem Leid verkriechen? Dieses Leid ist eine Frucht, die du ernten mußtest, – das ist immer noch besser,« fügte er leiser hinzu, »als wenn auf deinem Acker überhaupt nicht gesät worden wäre.«

Er zog aus der Tasche seines Rockes ein Heft der »Jugend« und warf es auf den Tisch.

»Da, – das war heute nacht, im Bahnzug, meine Lektüre, und da ist etwas drin, was für dich paßt. Hör' gut zu!« Und er las ihr vor:

» Die Zeche« E. R. Gehre

Und hast du's verschuldet, daß Reue dich zwickt –
Nur nicht um die Zeche herumgedrückt!
Und krallt dir Vergeltung durch Panzer und Hemd,
Eine Bärenbrust büßend entgegengestemmt!
Sei lederzäh, keine wimmernde Puppe!
Ei, wer sie verzehrte, berappt auch die Suppe.
Wie den Kellnern nach eingenommenen Mahlen,
Ruf' ehrlich dem Schicksal: »Bitte! Zahlen!«

*

So sprach Stanislaus an diesem Abend zu seiner Schwester, und noch als er ging, mahnte er sie eindringlich: »Also vergiß nicht, – sei lederzäh, keine wimmernde Puppe! Eine Bärenbrust – du weißt schon.«

Er ging und nahm die Gespenster mit; ihr Heim war frei. Sie irrte nicht mehr darin, wie eine hilflose Gefangene. Die Dämonen waren wie ausgeräuchert. Was für Kräfte waren es doch, die das Gift aus ihr herausgeholt hatten? Die Welt war ihr in Finsternis gehüllt gewesen, wie in einen undurchdringlichen, schwarzen Mantel. Nun aber schien es ihr, als wäre der Mantel abgeglitten.

Ruhig und friedlich ging sie zu Bett. Zum erstenmal dachte sie wieder an ihre Freunde. Sie wollte Lore bald wiedersehen. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie von Erika wochenlang nichts gehört hatte. Sie hatte sich auch nicht um sie bekümmert. Wie, wenn sie ihr helfen könnte, wie heute der Bruder ihr geholfen? Freilich hatte die dort dem Schicksal noch mehr zu bezahlen als sie, – mehr vielleicht, als sie besaß, – war überverschuldet, vielleicht bankerott. Und an den anderen dachte sie, dessen Zeche auch nicht im reinen war. Weder Erika noch Koszinsky wußten von ihrer neuen Wohnung. Koszinsky war verreist, auf der Tournee mit seiner Kapelle, aber Erika hätte sie nicht ganz vergessen dürfen, auch wenn sie sich selbst nicht meldete. Sie beschloß, ihr am nächsten Tag zu schreiben.

Der nächste Tag kam. Olga hatte, nach langer Zeit, tief und traumlos geschlafen. Sie erhob sich und fühlte ihre Kraft und fühlte, daß sie des Lebens froh war. Sie ordnete ihre Wohnung und wirbelte all den Staub auf, den sie in den letzten Tagen hatte liegen lassen. Dann setzte sie sich an ihren Arbeitstisch und öffnete die angesammelte Post. Sie beschloß, Lore noch für den heutigen Tag zu sich zu rufen. Auch erinnerte sie sich, daß sie den Brief an Erika sofort schreiben müßte. Da klingelte es, es war der Telegraphenbote. Von Edda, dachte sie, und riß das Telegramm eilig auf. Sie erschrak, als sie das Bild der geschriebenen Worte erfaßt hatte, sie erschrak tief. Das Telegramm war von der alten Wirtschafterin des Vaters. Es meldete seine schwere Erkrankung und forderte sie auf, nach Hause zu kommen.

Dorthin also sollte sie jetzt. Ihre erste Verwirrung klärte sich schnell. Sie erkannte, daß es notwendig war, daß sie zu dem Vater reiste, wenn er, schwerkrank, sie rief. Diese verlassene Heimat, dieser Greis, das war mit ihr verbunden, das ging sie an. Alles in ihr drängte zu schneller Erfüllung ihrer Pflicht. Ihr bangte vor Taten oder Unterlassungen, die die Reue mit sich führten. Sie begann sofort, zu packen. Einen Augenblick dachte sie daran, ihr ganzes Arbeitsmaterial mitzunehmen, gab aber diesen Gedanken schnell auf und beschloß, für die Zeit ihrer Abwesenheit die Redaktion ihrer Zeitung in Lores Hände zu legen.

Nachdem sie eingepackt hatte, fuhr sie zu Stanislaus, um ihm die neue, trübe Nachricht zu bringen und das Nötige mit ihm zu besprechen.

*

Zu eben dieser Zeit, da Olga daran dachte, sich nach Erika umzusehen, suchten auch die Gedanken Erikas wieder den Weg zu ihr. Es waren keine besonderen Gründe, die Menschen, die einander nahegekommen waren, hier wochenlang trennten, – es war Berlin. Wer in dieser riesigen Maschinerie seinen Platz hatte, mit dem machte der Apparat seine Bewegungen, und in seinen weitausgreifenden Umdrehungen entfernten sich jene Teile, die sich eben noch berührt hatten, nicht selten weit voneinander. In Berlin hatte jeder einen ausgefüllten Tag, selbst Müssiggängern wäre hier die Zeit nicht immer reichlich geworden. Dazu taten schon die großen Entfernungen das Ihre. Wer nun aber hier einem Erwerb nachging, wer irgendwie in der Kette eingeschaltet war, der konnte nur nach genauer Berechnung zu Begegnungen gelangen.

Erika saß fest in dem Räderwerk, und ihre Tage vergingen wie Umdrehungen, von denen eine der anderen gleicht, – »Mahle, Mühle, mahle.« Aber während sie mit der äußersten Schicht ihres Wesens das Gewinde, dessen Bedienung ihr zufiel, um Brot zu erlangen, regelmäßig und sorgfältig abhaspelte, wuchs in ihrem Innern alles weiter, was sie dahin verpflanzt hatte. Hier war üppiger Boden für wilde Schößlinge, die wurzellos aufsproßten, keimlos und unfruchtbar, groteskes, gezacktes Gewächse, jenen Kakteen zu vergleichen, die nur mit dem Blattstiel in der Erde stecken und blinde Triebe hervorbringen und wuchernde Säfte.

Sie plante Veränderungen; in ihrer neuen Stellung fand sie keine Ruhe. Sie hörte auch nicht auf, die Annoncen in den Zeitungen zu verfolgen und schrieb ihr regelmäßiges Quantum von Offerten. Schon war sie auf dem Sprunge, mit einem Ingenieur, der eine »Hausdame« suchte, in die Tropen zu gehen, wo er ein Flußgebiet regulieren und Brücken bauen sollte. Erika verfolgte solche Möglichkeiten fast bis zum letzten Abschluß, um sich dann, scheinbar ganz plötzlich, zu besinnen, daß sie hier ihre »Hoffnung« festhielt, daß hier ihr »Glück« wohnte. – – – Mit einem Teil ihres Wesens wagte sie die verschiedensten Versuche, Betäubung zu finden, wenn sich der Hunger meldete, der echteste Hunger, der nicht zu verleugnende, – der Hunger des jungen Weibes.

Dann folgte sie diesem Betäubungstrieb mit demselben automatischen Eifer, mit dem sie ihre Offerten schrieb und auf ewiger Stellensuche war. Sie machte Sonntags einsame Ausflüge in die Umgebung Berlins, kehrte dann nicht selten in irgendeinem ländlichen Wirtshaus ein, aus dem Musik herausklang, und saß da, ein weiblicher Sonderling, trank ein Gläschen Bier und mengte sich schließlich unter die Tanzenden. In ihrem Lodenrock und ihrer leinenen Hemdbluse, das Jägerhütchen auf dem Kopf, so drehte sie sich unter den Bauern. Sie tanzte mit allen Burschen, die sie neugierig aufforderten, und bemühte sich, an jedem etwas Besonderes zu sehen. Sie vergaß aber nie, wann der letzte Zug oder das letzte Schiff ging, die sie wieder nach Berlin zurückbrachten und enteilte, geheimnisvoll, wie Aschenbrödel.

Dann gab es Sonntage, wo sie keine Ausflüge machte; sie hatte noch eine andere Zufluchtsstätte in letzter Zeit gefunden. Sie ging zu den Versammlungen der Heilsarmee. Ernsthaft hörte sie dem Vortrag zu. Und mit einer Inbrunst, die sich von der ihrer Umgebung wenig unterschied, sang sie im Chorus mit:

»Und nach vollbrachtem Kampfe
Tragen wir die Kron'
Im neuen Je-ru-sa-lem.
Mit unserem treuen Jesus,
Mit unserem Gottessohn
Im neuen Je-ru-sa-lem.«

Und sie hatte sich sogar eine Brosche mit dem Bildnis des himmlischen Bräutigams angeschafft. – – –

Aber diese Mittel versagten. Die Stunden, wo die bleiche Verzweiflung sie umklammerte, wurden immer häufiger. »Ich bin krank,« dachte sie dann, »ich muß zum Arzte gehen.«

Eines Tages führte sie diesen Vorsatz aus. Sie hatte manches von einem besondern Verfahren gelesen, durch welches kranke Seelen geheilt, wankende ins Gleichgewicht gebracht werden sollten. Und es war eine Art von Neugierde, die sie immer heftiger trieb, sich diesem psycho-analytischen Verfahren zu unterwerfen. Wenn es wirklich wahr war, daß Unbewußtes, Unterbewußtes auf diese Art ans Licht gehoben würde, dann würde sie ja erfahren, was auf dem tiefen, dunklen Grunde lag, dessen Strömungen sie trieben. – Sie ging zu einem berühmten Psychiater.

Durch eine lange Flucht von Räumen, die in ihrer ausstellungsmäßigen Eleganz einen fast unbewohnten Eindruck machten, wurde sie von einem ältlichen, hageren Fräulein in schwarzseidenem Kleid bis an die Tür des Ordinationszimmers geführt. »Herein«, rief eine scharfe, helle Männerstimme auf ihr zaghaftes Klopfen.

Der Doktor saß an seinem Schreibtisch. Er funkelte sie mit seinen bebrillten Augen an und strich ein paarmal, mit gefalteter Stirn durch den grauen Knebelbart, ehe er sie Platz nehmen hieß. Dann machte er eine ermutigende Handbewegung und forderte sie auf, alles zu erzählen, was sie auf der Seele habe.

Eine Erleichterung kam über sie, daß sie endlich einmal wieder sprechen durfte. Sie mischte mit einem beinahe freudigen Gefühl die mannigfaltigen Farben, die sie für ihr Gemälde auf der Palette hatte. Der Doktor hörte genau zu.

»Sie haben,« – sagte er, als sie mit hastigen, beteuernden Worten geendet hatte, – »Sie haben – peinliche, geschlechtliche Erlebnisse verdrängt, ohne sie restlos bewältigt zu haben.« Er machte eine Pause. Sie hing atemlos an seinem Mund. »Sie haben sozusagen – die inneren Augen über diesen Erlebnissen zugedrückt, – nicht wahr?«

Sie senkte den Kopf.

»Es gilt, – Ihnen die Augen zu öffnen, – und das verdrängte Erlebnis in seiner wahren Gestalt ans Bewußtsein zu rufen. Da Sie gewisse Eindrücke nicht auf gründliche Art abreagieren konnten,« fuhr er nun geläufig fort, – »setzten sich diese in Vorstellungen um, die der Wirklichkeit nicht entsprachen.« Er begann sie nach einer besonderen Technik auszufragen, über wichtige und unwichtige Ereignisse, kreuz und quer, er zog in seine Fragen die Träume mit hinein und notierte sorgfältig, was sie ihm berichtete.

»Die Zwangsneurose, an der Sie leiden, hängt nicht selten auch mit Verlagerungen der geschlechtserregbaren Körperzonen zusammen«, sagte er, und untersuchte sie auch nach Art des Frauenarztes.

»So weit ist alles in Ordnung,« konstatierte er, »ich werde Sie also nur psycho-analytisch zu behandeln haben. Der Symptomkomplex ist deutlich; aber die hysterische Affektpsychose ist heilbar.« Er betonte das Wort. »Ich werde Ihnen ein paar Suggestionen geben.«

Er ließ sie dann in einem tiefen Fauteuil Platz nehmen, umklammerte ihre Arme und drückte sie fest an die Lehne des Sessels.

»Sie sind ganz ruhig, Sie werden müde werden, Sie werden schlafen wollen.«

Dabei begann er mit leisen, weichen Griffen über ihre Stirn zu streichen.

»Ihre Glieder werden schwer, – Sie sind müde, – Sie schlafen schon, – – Sie werden die Augen nicht wieder öffnen, bevor ich es nicht befehle. Sie werden gut aufhorchen jetzt!«

Seine Stimme stieg an, wurde noch heller und stärker.

»Sie sind im Grunde ganz gesund, – Sie haben nur durch Verschweigung und durch Verheimlichung Ihrer Unlustgefühle in der Ehe sich in einen krankhaften Zustand gebracht, – verstehen Sie? Ihre Psyche neigt zu Verheimlichungen vor sich selbst, zu Täuschungen, die Sie sich selbst vorspiegeln.«

Gedämpfter, milder fuhr er fort: »Sie haben die Neigung, sich interessant zu machen, und es wird Ihnen immer schwer, objektiv die Wahrheit zu sagen, – aber Ihr Charakter, Ihre Intelligenz sind intakt,« er sprach wieder scharf und überzeugt, – »darum werden Sie den Wahn aufheben.«

Und nun begann er, mit eindringlichen Worten, die ganze, aus der Luft gegriffene Phantasterei ihrer sogenannten großen Liebe ihr klar zu machen. Dann machte er eine lange Pause.

»Schlafen, – schlafen Sie«, sagte er leise und strich unaufhörlich über ihre Stirn.

Unendlich wohl taten ihr diese weichen Striche und diese Stimme, die erst so energisch hell gesprochen, und die sich dann in weichem Geflüster verlor …

»Sie sind jetzt wach, – obwohl Sie schlafen, Sie sind jetzt wahr, obwohl Sie schweigen«; raunte die Stimme. »Die Lüge, an der Sie sich selbst berauscht haben, ist fort. – Sie wissen jetzt ganz gut,« die Stimme stieg an, wurde kräftig, befehlend, »daß Sie zu dem betreffenden Herrn in Wahrheit gar keine Beziehungen haben, – gar – keine – Beziehungen! – Sie öffnen die Augen!«

Er strich ihr fest über die geschlossenen Lider, »Sie erwachen, – Sie stehen auf!«

Die Sitzung war beendet, der Arzt entließ sie. Sie sollte wiederkommen, wenn sie ihn brauchte.

Es war ihr leicht und frei zumute, als sie hinaustrat. – – – Dieses Gefühl der Leichtigkeit blieb ihr noch einige Tage. Sorgsam bewahrte sie alles im Gedächtnis, was der Arzt gesagt hatte. Es war also ein Wahn, ein Selbstbetrug, eine Phantasterei gewesen, das Ganze, das sagte sie sich nun stündlich vor.

Aber während ihr Verstand immer wieder den Inhalt dieser Vorstellungen betrachtete, wuchs aus jenem dunklen Grunde, mit dessen Strömungen sie verbunden war, ein Schwarzes und Namenloses. Die Kur war glänzend geglückt, der große Psychiater hatte den Wahn verdrängt, was zurückblieb, war – die Wahrheit.

Und sie sah nun die Wahrheit. Sie sah, wo sie stand, sie sah die Sackgasse, in die ihr Leben eingelaufen war. Wie hohe, graue Mauern umstarrte sie die Hoffnungslosigkeit. Großer Gott, wohin war sie geraten! Wo war ein Ausgang? Nirgends, nirgends; denn ein Zurück gab es nicht, auch graute ihr jetzt noch deutlicher wie bisher vor ihrer früheren Heimat, aus der sie entlaufen war. Warum, o Allmächtiger, hatte sie sich dort zugrunde richten lassen, warum mußte erst diese wahnwitzige Ausgeburt ihrer kranken Seele kommen, um sie von da herauszuführen, – als es viel zu spät war. Mit Schrecken und Grauen trat sie jetzt die täglichen Sklavendienste an, zu denen sie verurteilt war. An die Galeere geschmiedet, hoffnungslos, auf ewig. Es gab kein Wunderbares, an dessen Phantom sie sich, wie früher, bis zu wilden Rauschzuständen betäuben konnte. Es gab nichts als die Öde für sie, für immer und ewig. Ja, der Wahn war »verdrängt«, – sie sah klar.

*

An einem schönen Sonntagnachmittag machte sie sich auf, Olga aufzusuchen. Es war ihre letzte Zuflucht. Sie fuhr aus dem Osten, der am Sonntag seine Stimme nicht hatte, die Stimme der Arbeit, aus diesem Osten, mit seinen grauen Proletarierhäusern, zwischen denen sie nun seit Monaten lebte, mit seinen Butterläden und Destillen, mit seinen breiten, staubigen Alleen, mit seinen Fabrikschloten und eisernen Krähnen fuhr sie hinüber, in das schönere Berlin. Als sie von der Höhe der Stadtbahn die grüne Quadriga des Brandenburger Tores und die goldleuchtende Statue der Göttin hoch oben auf dem Siegesdenkmal sah, die ihren Kranz triumphierend zum Himmel schwingt, da schien es ihr, als käme sie aus einer Verbannung, ein fremder Gast. Es dämmerte schon, als sie am Bahnhof Tiergarten ausstieg. Sie wollte, nach langer Zeit, wieder einmal zu Fuß durch den Tiergarten gehen, bis hinüber zum Gartenufer. Sie dachte immer noch, Olga wohnte in der stillen Seitenstraße in der Nähe des Lützowplatzes.

Es war ein klarer, milder Wintertag ohne Schnee, die Luft hatte etwas Erquickendes in ihrer reinen Frische. Sie kam zum Landwehrkanal, auf dem die kleinen Dampfer mit der Schlepperflottille lagen und blieb einen Augenblick auf der Brücke stehen und sah in das Wasser, das unter der Freiarchenbrücke tobend aus der Schleuse strömt. Plötzlich dachte sie, daß alle Not ein Ende hätte, – wenn – wenn sie es nur wagte; es brauchte ja nur einen einzigen, kleinen Schwung. Sie erschrak vor der Gefahr dieses Gedankens und eilte hastig fort. Aber ihr Gehirn arbeitete weiter. – – »Ich werde einen Zettel hinterlassen, wenn ich Olga nicht finde, und darauf werde ich schreiben: ›Ich konnte nicht anders.‹« Sie wiederholt immerwährend diese pathetische Formel. »Ich konnte nicht anders, – ich konnte nicht anders, – wenn ich Olga nicht finde. – – –«

Aber warum sollte sie sie denn nicht finden? Da war sie schon in der Straße, in der sie wohnte. Das Treppenhaus war schon erleuchtet, aber die Fenster von Olgas Zimmer waren dunkel. »Finsternis«, dachte sie, und es wallte wieder schwarz in ihr auf, und ihr war, als sei sie nun an der Grenze ihres Lebens. Aber hinauf, hinauf.

Während sie dem Haustor zuschritt, folgte ihr jemand dicht auf den Fersen. Und diesmal war es keine Wahnvorstellung, sondern Wirklichkeit. Beim Haustor bemerkte sie ihn. Und gleich zuckte die alte Idee in ihr auf: »Er läßt mich beobachten.« Wieder vermengten sich Wahn und Klarheit. Sie ging weiter, stieg langsam die Treppen hinauf. Der ihr auf den Fersen folgte, blieb unten im Hausflur stehen.

Er war aus einer Nebenstraße auf den Lützowplatz getreten, als er auf dem breiten Weg, der quer über den Platz führt, Erika vor sich gehen sah. Er erkannte sie sogleich, nach der Schilderung, an ihrer Lodenjoppe, ihrem Jägerhütchen. Ihre Bewegungen erschienen ihm charakteristisch, es war etwas Hastendes und doch Tapferes darin. Da wandelte sie, – die Äffin halb, halb Heldin war, und hatte denselben Weg wie er. Koszinsky war von seiner Tournee zurückgekehrt, und diese Stunde führte ihn, wie Erika, zu Olga. So mußte er ihr auf dem Fuße folgen, bis sie in das Haustor eintrat; unwillkürlich blieb er unten stehen; er erwog, ob er hinaufgehen sollte, trotzdem jene da war. Da hörte er, wie sie oben läutete. Er hörte die Stimme der Wirtin, die ihr an der Tür mitteilte, daß Fräulein Diamant längst nicht mehr hier wohne; und die die neue Adresse nannte, draußen im Vorort, in Friedenau.

Und da kam sie auch schon über die Treppe zurück; langsam und schwer ging sie; im Schatten des Treppenhauses verborgen, sah er, im Licht der elektrischen Lampen, voll ihr Gesicht, und er erschrak über das, was darin eingezeichnet war. Sie trat aus dem Hause, und er folgte ihr. Folgte ihr, quer über den Lützowplatz, über den breiten Weg. Nun trat sie in die dunkle Allee längs des Kanals. Sie bog ab, nach links, ging mit immer schnelleren Schritten bis hinunter zur Freiarchenbrücke, – dort stand sie zögernd still. Dann ging sie auf die Brücke. In der Mitte blieb sie stehen und beugte sich über die Brüstung. Und auch er stand, wie gefesselt, verborgen in der Dunkelheit. Nachdem sie eine Weile bewegungslos gestanden und ins Wasser gestarrt, ging sie weiter, – bog nun auf der anderen Seite des Ufers nach rechts hinauf. Ihr Gang wurde leichter, sie hastete vorwärts. Jetzt ging sie so schnell, daß er Mühe hatte, ihr zu folgen; sie lief ja beinahe, hier in der Finsternis. Längst waren sie an jenen Stellen des Kanals vorbei, wo die Böschung weich und niedrig, mit Rasen bewachsen, abfällt; hier war schon der steinerne Quai, von dem, in bestimmten Entfernungen, Treppen zum Wasser hinunterführen.

Und da – auf einmal – da setzte sie über das niedrige Gitter und lief flugs auf die Treppe zu. Ehe er recht begriff, ob er auch richtig gesehen, war sie unten. Er sah im Schein der Laterne die erhobenen Arme, er hörte den klatschenden Aufschlag, mit dem der Körper ins Wasser fiel. Da war auch schon sein Mantel zur Erde geworfen, er folgte ihr, – aber nicht auf dem Wege über die Treppen, er lief direkt über die glatte, steinerne, gewölbte Böschung, lief mit den großen Sprüngen des Militärs und sprang, mit gestreckten Armen, ihr nach. Und kaum schlug er ins Wasser, so sah er auch schon, dicht neben sich, ihren Kopf auftauchen, vollbelichtet vom Schein der Laterne, – sah das Gesicht, – unkenntlich geworden vom Krampf der Todesangst. Sie war ein einziges Mal erst untergetaucht, als er sie erfaßte. In der Sekunde, da sie unter Wasser gewesen und dann wieder an die Oberfläche gekommen war, hatte sie den Himmel gesehen mit den schimmernden Sternen – – – leben, leben! Da erfaßte sie eine Hand. War das die Rettung?! – – – Sie umklammerte seinen Hals, sie umschlang ihn mit den Beinen, und er fühlte, wie sie beide untergehen mußten, auf diese Art. Er rief ihr zu, sich ruhig aufs Wasser zu legen und sich ihm zu überlassen, aber sie umstrickte ihn nur um so wilder. Schon erwog er, ob er nicht zu dem letzten verzweifelten Mittel, das die Rettung möglich machte, greifen und ihr jenen Schlag auf den Kopf geben sollte, der Ertrinkende in Betäubung versetzt und es dem Schwimmer dann möglich macht, sie herauszuziehen. Aber es kam nicht so weit. Plötzlich lockerten sich ihre ihn fest umschnürenden Glieder. Sie war bewußtlos geworden. Da kam es über ihn wie Glück, – nun konnte es gelingen. Neue Kräfte strömten ihm in die Glieder, stählten und streckten sie. Er machte kräftige Tempi mit den Beinen und dem einen Arm, faßte sie mit der anderen Hand im Genick, an den Kleidern, und schleifte sie behutsam übers Wasser. Keinen Augenblick sank ihr Kinn bis in die Flut, so fest und stark hielt er sie hoch.

Und sie nahmen alles mit, diese dunklen Wasser, alle Sünden der Vergangenheit. Der Mensch, der da mit zwei Beinen und einem Arm die schwarze Fläche teilte und mit dem anderen Arm seine Beute hielt, dem der Krampf schon langsam in diesen Arm kroch, und der nun glücklich die Stufen wieder erreicht hatte, – für den war dieses nächtliche Bad ein heiliger Zauber, wohl heiliger noch, als es die Wasser des Jordans waren, wenn sie die Sünden der Getauften mit sich nahmen und sie fortspülten, ins Meer der Vergessenheit. – – –

Er trug sie über die Stufen hinauf und legte sie bei der Laterne, die das Bild ihres Kampfes beschienen hatte, zur Erde.

Sie hatte nicht viel Wasser geschluckt. Dennoch reinigte er mit dem vom Taschentuch umwickelten Finger kräftig den Rachen. Dann setzte er sich auf das niedrige Geländer der Rasenfläche und legte die leichte Gestalt quer über seine Knie, auf den Bauch, so daß Kopf und Rumpf nach unten hingen. Das Wasser tropfte ab. Er drückte regelmäßig gegen ihren Rücken. Nachdem er dies rhythmisch einige Minuten lang getan hatte, legte er sie auf die Erde nieder, holte den Mantel, der ein Stück weiter unten so da lag, wie er ihn abgeworfen hatte, schob ihn ihr als Rolle unter den Kopf. Dann führte er ihre Arme langsam nach oben – führte sie wieder zurück und drückte sie kräftig aber schonend gegen den Brustkorb. Zischend hörte er die Luft in die Lungen einströmen.

Als er diese Bewegungen etwa dreißigmal ausgeführt hatte, begann sie zu atmen und schlug die Augen auf.

Nun zog er den Mantel vorsichtig unter ihrem Kopf weg und hüllte sie hinein. Dann hob er die leichte Gestalt, ohne Mühe, auf seine Arme. Während er mit ihr weiterging, fielen ihr die Augen wieder zu, und er fühlte, wie sie zitterte.

Niemand war in der ganzen Zeit durch die nächtliche Allee gekommen. Der Himmel schien glänzend, wie schwärzlich-violettes Glas und wölbte sich über den Bäumen. Der abnehmende Mond lag, als blanke Sichel, schräg zwischen unzähligen Sternen.

Die nächste Brücke führte hinüber auf den Lützowplatz. Dort standen Automobile. Er blieb diesseits, im Dunkel, und pfiff. Sofort kam eine Autodroschke heran. Er stieg ein und bettete sie bequem. Keinen Augenblick dachte er daran, irgend jemand zu alarmieren. Er brachte sie zu sich, auf seine Stube, entkleidete sie vorsichtig und hüllte sie in einen Bademantel; dann trug er sie in sein Bett, rieb ihre eisigkalten Glieder, bis sie warm wurden; aber er duldete nicht, daß sie sprach. In nassen Kleidern, wie er war, nur mit dem trockenen Mantel darüber, entzündete er einen Spirituskocher auf dem Tisch und kochte Punsch; sorgfältig hielt er die Tasse an ihre Lippen und ließ sie in kleinen Schlucken davon trinken. Dann hieß er sie schlafen. Erst als er ihre tiefen Atemzüge hörte und ihre Stirn feucht wurde von Schweiß, während die Wangen sich röteten, zog er sich um. Dann trank er ein Glas Punsch und legte sich in warmen, trockenen Kleidern auf das schmale Sofa zum Schlafen nieder. – – –


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