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Motto:
»Freiheit ist eine kräftigere Herzstärkung als Tokayer.«
Schopenhauer.
Immer, wenn Olga nach Berlin gekommen war, so war ihr, wenn der Bahnzug die äußersten westlichen Vororte durcheilte, freier zumute geworden. Mit fröhlichen Augen hatte sie aus dem Fenster des Coupés die Villenkolonien, die zur Weltstadt gehören, begrüßt, und auch diesmal war dieses bekannte Wohlgefühl in ihr aufgestiegen, als die Perrontafel mit der Aufschrift »Groß-Lichterfelde« mit Eilzugsgeschwindigkeit am Coupéfenster vorüberraste und sie im funkelnden Vormittagslicht jener sonnigen Oktobertage, an denen das Berliner Klima so reich ist, draußen die Villen, die Gärten, die freien Felder des Vorortes und die dunkle Linie des Grunewaldes vorüberfliegen sah.
»Wechsle den Ort und du wechselst das Glück«, hatte Cousin Diamant getoastet. Und wahrhaftig, sie konnte es brauchen. Gespannt, gequält, oft voll mühsam unterdrückter Ungeduld, so war ihr in letzter Zeit immer öfter zumute gewesen. Und sie hatte oft das Gefühl gehabt, als müsse sie irgend etwas zerschlagen, etwas, das sie von ihrem Schicksal fern hielt, das ihr verwehrte, sich frei den Dingen zuzuwenden mit dem Willen, das Gute in ihnen aufzufinden. Und sie wußte nicht, was es war. Der Gedanke, ihre gebundenen Willensgeister in eine Stätte zu verpflanzen, wo sie sich freier tummeln, wo sie in irgendeiner Weise ihrer Wirkung zuwachsen konnten, war immer stärker in ihr geworden. So hatte sie sich für Berlin entschlossen. Eigentlich programmlos kam sie in die Weltstadt, die ihr wie ein wunderbar weites Asyl für die »Obdachlosen« erschien, – für die, die nicht in irgendeiner Tradition wurzelten, die keinem geliebten Boden verpflichtet waren, die keine andere Nationalität verkörperten, als die des Weltbürgers deutscher Sprache und nichts wollten, als sich tummeln und ihre Kräfte regen. Bedrängt von Verwandtenfürsorge, beengt von schematischen Konventionen, begrenzt und beobachtet, mißtrauisch belächelt, zu Verformungen gezwungen, die sie belästigten, – so hatte sie in Wien gelebt, und darum hatte die Luft dieser als so anmutig und gemütlich geltenden Stadt sie bedrückt; und immer hatte sie gedacht: da draußen im Reiche, in dieser großen Hauptstadt, da sind die Wege weiter. Da finden sich Wäge- und Prägestätten für Willenskräfte, und da kann man besser – untergehen, weniger begafft, wenn es zum Bestehen nicht reicht. Mit derselben Gleichgültigkeit, mit der diese weite Stadt deinen Untergang duldet, läßt sie dir auch alle ihre Wege offen, die zu deinem Ziele führen. Rühre dich, werde oder vergehe, so spricht diese Stadt. Nicht wie jene andere, die sie verlassen hatte, die da sprach: – friste dich …
Es war ihr geglückt, für einige österreichische Blätter zu zeitweiliger Berichterstattung über die deutsche Frauenbewegung, wenn auch auf unverbindliche Art, aufgefordert zu werden. Sie sollte Versammlungen und Kongresse besuchen und darüber referieren. So unverbindlich dieses Engagement auch war, – es war doch ein kleiner Verbindungsweg, der aus der Isolierung hinüberleitete in die Fülle des Zusammenklangs sozialer Kräfte und sie gerade hineinführte in die Sphäre, mit der sie sich durch Strömungen bedeutender Art verbunden fühlte. So war ihr Programm dieses: äußerlich die Wege zu suchen, die für diese Bewegung die wichtigsten Bahnen bedeuteten, genaue Kennerschaft auf diesem Gebiet zu erwerben und so, neben äußerer Tätigkeit, mehr und mehr auch zu innerer Deutlichkeit über ihre eigene Stellung zu diesem Phänomen zu gelangen, über die Gründe ihrer Auflehnung gegen so manches Dogma jener neuen Anschauung, welche mit der Frau als einem selbstverantwortlichen und selbsttätigen Wesen rechnete, und über ihre Ahnungen, die sie manchmal mehr beunruhigten, als befreiten. Der Schwerpunkt der ganzen Frage schien ihr nicht im Brotkampf zu liegen, – wenn auch dieser Kampf unvermeidlich war. Es schien ihr vielmehr, als bedürfte es einer sozialen Gestaltung, die vor allem mit dem Muttertum rechnete, – freilich noch in einem anderen Sinn, als dies bisher geschehen war, wonach die hohe, wirtschaftliche Belastung des Mannes vorausgesetzt und damit die Frau zur Unfreien und Werbenden gemacht wurde. Der Kern der ganzen Frage lag für sie in dem noch ungelösten Problem einer Vereinigung des der Frau, insbesondere der Mutter, notwendigen Schutzes mit der ihr ebenso notwendigen Freiheit der Selbstbestimmung. In dieser Synthese sah sie die wichtigste Aufgabe der Bewegung. Zag lagen diese Gedanken in ihr, warteten auf das entscheidend Gestaltende, das ihnen Wachstum und Deutlichkeit bringen sollte.
Und dann war noch manches in ihr, das sie selbst betraf, so manche Unruhe, von der sie sich hier frei machen wollte, mit all der Kraft, mit der sie das Schicksal bedacht hatte. Da war die Angst vor der Armut, die sie sich selbst kaum eingestand, die Angst vor irgendeinem obskuren Schicksal, das den Willen kleinlich in eine Ecke drückte. Da war die Sehnsucht, irgend einmal festen Grund unter die Füße zu bekommen, irgendeinen Platz im Leben deutlich zu besetzen, irgendwo Zugehörigkeit zu erwerben, Besitzrechte, Pflichten. Sonderbar erschien es ihr manchmal, daß sie mit ihrem persönlichen Schicksal so vollkommen in der Luft hing, daß es sich ihr noch in keiner Weise geoffenbart hatte. Ihre äußere Existenz lastete auf den Schultern eines Greises; aber sie trug nicht die finstere Sicherheit des Bruders in sich, die düstere Überzeugung – zu erben. Sie war länger zu Hause geblieben als er und teilte seinen Optimismus über die Lage des Vaters nicht. Auch die für ihre Großjährigkeit versicherte Summe, deren Zinsen ihr der Vater auszahlte, hatte er ihr nicht ausgeliefert; sie wagte nicht, danach zu fragen, aber sie fürchtete, daß auch dieser kleine Betrag in seinem Geschäft angelegt war. Sie wußte, daß der alte Mann weniger und weniger seinen Besitz mit der starken Hand zusammenzuhalten vermochte, die notwendig war, ihn vor Räubern zu schützen. Und so war immer die Bangigkeit in ihr, vielleicht auch das Wenige zu verlieren, das sie bis jetzt hatte, ohne irgendwie zur Selbsterhaltung gerüstet zu sein, – in die typische Elendsituation der »allgemein gebildeten« Frau gestürzt zu werden, die dann eine Stelle sucht, als Gesellschafterin »oder« Erzieherin »oder« Kontoristin »oder« Reisebegleiterin, die bettelnd vor den Wohnungen der Stabilen, Gesicherten steht, um ihnen irgendwelche sehr ersetzbare und wenig notwendige Dienste zu leisten. Lähmende Furcht überkam sie, wenn sie an solche Möglichkeiten dachte. Ach, – nur so viel erringen mit freier Arbeit, um in einem Stübchen bescheidenster Art sich täglich einmal satt zu essen, – aber frei bleiben, reinlich für sich, ohne auf das Sklavenbrot in fremden Familien angewiesen zu sein oder in der Tretmühle eines Geschäftshauses verbraucht zu werden.
Neben dieser Angst vor der Armut überwallte sie so manches Mal ein heißer Gram über ihr erdrücktes Frauenschicksal, dieses eisige Nichts, das ihre Wünsche schwer umschloß, daß sie hart und starr eingekapselt blieben, wie feste, grüne, unerschlossene Knospen, denen kein Sonnenstrahl dazu verhilft, sich zu öffnen und zu blühen. Manchmal tauchten ihr Zusammenhänge auf, die ihr plötzlich die Gründe dieser seltsamen Lage deutlich erscheinen ließen und die merkwürdig mit jenen Ahnungen zusammentrafen, die ihr, unabhängig von ihrem persönlichen Erleben, die tiefsten Motive der Frauenbewegung erhellten. Aber sie fürchtete sich, über ihr persönliches Schicksal zu grübeln. Noch war sie stark genug, diese dunkeläugigen, düster umwallten Fragen fortzudrängen, wenn sie sich, wie Phantome, an sie herandrängten. Noch war sie stark genug, zu sagen: rege dich, rühre die Hände, greife nach dem Nächsten, wenn diese Dämonen dich bedrängen. Und sie schob sie immer wieder von sich, mit starker Hand, in der der Wille noch wirkte.
*
Eine Menge peinlicher Beschwerden erwarteten sie bei den ersten Versuchen ihrer Niederlassung. Mit ihren knappen Mitteln konnte sie nur schwer ein besseres Mietszimmer finden, und in der Berliner »möblierten Wirtin« lernte sie eine Spezies kennen, die sie bald fürchtete. Da wurde jeder Handgriff, jede Kanne heißen Wassers, jede abgespülte Teetasse separat auf Rechnung gesetzt. Dann mußte sie Tag für Tag ausgehen und in den Restaurationen nach billigen Menus suchen, die noch immer für sie viel zu teuer waren. Auch Stanislaus hatte erst nach längerem Aufenthalt in Berlin eine Stube gefunden, deren Wirtin ihm ein genießbares Essen zu einem erschwinglichen Preise bot. Bei dieser Frau konnte Olga nicht mehr unterkommen, auch liebte sie die Gegend nicht, das weite Straßenmeer von Charlottenburg mit seinen langen und breiten Straßenzügen und den riesigen Plätzen, bei deren Überquerung man müde wurde. Viel besser gefiel es ihr in den westlichen Villenvororten, und sie beschloß, so bald als möglich in eines jener landhausartigen Mietshäuser zu ziehen, die mit ihren einfachen Fassaden und der raumgebenden, offenen Bauweise, welche zwischen Haus und Haus Gartenflächen legt, so anziehend wirkten. Freilich war sie, wenn sie da hinauszog, dem Tiergarten entrückt, in dessen Nähe sie vorderhand wohnte. Alle ihre Wege »nach der Stadt« wie sie, nach Wiener Art, immer noch die Hauptstraßen Berlins nannte, nahm sie zu Fuß durch den Tiergarten, und dieser große, wunderbare Park, der da mitten im Herzen der Weltstadt wie eine grüne Zuflucht liegt, entzückte sie, wie niemals eine Wiener Parkanlage. Sie liebte diesen reichen, wechselvollen Baumbestand, diese gebogenen Fußwege, diese zahlreichen Wasserflächen, die die Luft so zart, so durchsichtig und frisch erhielten, ja, sie liebte vor allem diese Luft, dieses Klima von Berlin und besonders die Atmosphäre des Tiergartens. Und daß er so mitten drin in der Stadt lag, schien ihr das Schönste. Denn was hat man von einem Park, dachte sie, zu dem man erst eine lange Reise unternehmen muß.
Trotz ihres Alleinseins in ihren ersten Berliner Wochen fühlte sie sich doch nicht einsam. Auch den Bruder, der mit der Fertigstellung seines Buches beschäftigt war, sah sie nur selten. Sie hatten verabredet, daß sie vorderhand voneinander nicht mehr Notiz nehmen wollten, als gute Bekannte, die zufällig in derselben Stadt sind, daß keiner dem anderen durch seine Anwesenheit Verpflichtungen auferlegen sollte. Und er hatte ihr erklärt, daß es mit der Zeit hier in Berlin ein ganz anderes Ding sei, als in Wien. Die Menschen verteidigten hier ihre Zeit viel schärfer. Durch die großen Entfernungen sei die Zeit hier ein kostbares Gut, auf das man sehr gut achten müsse, damit es einem nicht unter den Fingern zerränne. Die Leute, die hier arbeiten wollten, hatte er gesagt, die säßen nicht täglich nachmittags im Kaffeehaus und machten einander nicht wöchentlich ein paarmal Besuche. »Mitten im Gewimmel verkapselt sich jeder, der etwas leisten will, in eine viel dichtere Einsamkeit, als du es von Wien aus gewohnt bist.« – Und in diesen ersten Wochen dachte sie manchmal an den pathetischen Pankratius, wie er mit seinem tiefen Baß weintrunken verkündet hatte: »Der moderne Prophet geht in die Wüste der Weltstadt.«
Und so lernte sie es, allein zu sein und auch Mußestunden allein zu genießen. Neugierig durchstreifte sie manchmal die Straßen und immer hatte sie das fröhliche Gefühl: allein, allein, – keine Seele erwartet dich, niemand kritisiert deine Kleidung, findet dich zu wenig modern kostümiert, zu wenig »adrett«, zu bequem. Du hast hier keine überflüssige, zeit- und geldraubende steeple-chase eines konventionellen Geschmackes mitzumachen, kannst hier umherlaufen, wie du bist und als was du bist. Und sie summte so manches Mal, mitten im Getriebe der Straße, ein altes Couplet vor sich hin, das sie draußen, in Grinzing, von Volkssängern gehört hatte:
»Und sollte auch mein Hemd
Durch tausend Löcher schimmern,
So hat sich doch kein Mensch, –
kein
Mensch darum zu kümmern.
Und sollte ich dereinst
Auch in der Hölle wimmern,
So hat sich doch kein Mensch, –
kein
Mensch darum zu kümmern.« – – –
Wenn sie ordentlich gebummelt und sich ganz berauscht hatte an diesem Gefühl der Geborgenheit, das ihr die Fremde der Weltstadt gab, dann landete sie gern im »Erfrischungsraum« eines großen Warenhauses, vergönnte sich da Kaffee und Kuchen und setzte sich dann ins Lesezimmer des Hauses. Eine Menge Zeitungen standen da zur Verfügung. Am liebsten saß sie am Fenster, – an einem jener hohen Fenster, die von außen wie ohne Brüstung scheinen, durchgehend aus Spiegelscheiben bestehen, über alle Stockwerke hinweg nur durch die Zwischendecken getrennt sind und wie Schaufenster wirken. Dort saß sie, hoch oben im dritten Stock, bequem in einen großen Klubfauteuil gedrückt, und blickte hinunter, in die jetzt schon zeitig beleuchtete Straße, in der das Leben auseinanderfloß und sich doch wieder verknüpfte, mit scheinbar nie stillstehender Hast und doch ohne Gedränge, doch geordnet, als wäre hier alles auf Geleise geleitet, auf denen es seiner Bestimmung und seinem Ziele zurollte. Diese große, elegante Korsostraße des Westens gefiel ihr gut, wie sie, von modernen Mietspalästen flankiert, breite Trottoire bot, – Bürgersteige hieß es hier, – neben denen blanke Asphaltstriche liefen, auf denen sich der Wagenverkehr mit gedämpftem Geräusch abwickelte, die wieder von je einem Geleise für die elektrische Bahn begrenzt waren; und ganz in ihrer Mitte wurde die Straße zur Doppelallee, die auf der einen Hälfte ein breiter Fußpfad, auf der andern ein Reitweg war. Ein Ziergitter, von Weinranken und roten Geranien umschlungen, wie man sie hier auch im Herbst noch als hängende Riesenbuketts auf den Balkonen sah, zog sich, in geschmeidiger Linie, zwischen den Bäumen. Tunnelartige Höhlen, aus denen die Hoch- und Untergrundbahn, die streckenweise unter der Erde blieb, aus der Tiefe heraufkam, durchbohrten das Niveau der Straße. Wie herausgeschleudert aus der Versenkung schoß sie auf ihre Brücke hoch in die Luft, während ihr eine andere entgegenkam, von der Höhe heruntersauste und unter dem Pflaster verschwand.
*
Von Stanislaus kam eine gute Nachricht. Sein Buch war vollendet, und er bat die Schwester, jetzt über ihn zu verfügen. Er hatte sie, solange er in diese Arbeit versponnen war, auf sich selbst verwiesen. Nun war das Werk vollbracht, er war erleichtert und lobte im Stillen ihre brave Zurückhaltung. Er bat sie nun, ihn bald aufzusuchen. Sie war froh, sich ihm anschließen zu dürfen, und froh vor allen Dingen, zu hören, daß die große Arbeit vollendet war.
Stans Stübchen trug nicht mehr so sehr den Stempel des Provisorischen. Man sah, daß er hier schon längere Zeit wohnte. Eine große Büste Schopenhauers und jenes Bildnis des schon mit Wahnsinn geschlagenen Nietzsche, mit dem erschütternden, gebrochenen Blick, nahmen dem Zimmer seinen Charakter als möbliertes Wechselquartier. Neben dem Nietzsche hing freilich ein gewöhnlicher Druck, der »Die Jagd nach dem Glück« darstellte.
»Warum hast du das dagelassen?« fragte Olga.
Stan lächelte. »Ich habe eine Vorliebe für primitive Genrebilder, die, in populärem Geschmack, typische Vorstellungen veranschaulichen.« So standen sie beide vor dem Bild und besahen es gedankenvoll.
»Es hätte wohl auch ›Überritten‹ heißen können«, meinte Olga.
Das Roß, das das Glück trug und mit wehender Mähne und irrsinnigen Augen dahinraste, ließ Menschenleiber hinter sich und unter sich liegen, und mit den Hufen seiner Vorderbeine berührte es fast den stolzen Körper einer Frau, die niedergestreckt, aber noch mit begierig erhobenem Arm, auf dem Boden lag.
Stanislaus führte sie zu seinem Schreibtisch, einem bequemen Möbel, das einen beträchtlichen Teil des kleinen Zimmers in Anspruch nahm, und zeigte ihr freudig die ordentlich aufgeräumte Platte.
»Da war bis vor wenigen Tagen ein Wirrwarr von Papieren und Büchern, an denen nicht gerührt werden durfte. Aber jetzt habe ich endlich – buchstäblich – tabula rasa gemacht. Heute habe ich geräumt«, sagte er, »und den Tisch abgestäubt. Das ist die Ernte«, und er wies auf einen großen, sauber aufgeschichteten Manuskriptstoß, eine Maschinenabschrift seines Werkes. »Und hier«, er deutete auf einen zusammengescharrten Haufen beschriebener und durchgerissener Zettel, »ist der Abfall. Weißt du, was eine der – reinsten Freuden des Schriftstellers ist? Das Zerreißen und Wegwerfen dieser Zettel. Es ist, wie wenn man ein Gerüst einreißen darf, weil endlich der Bau fertig ist. Das hier«, – er deutete auf den Papierkorb, – »ist mein bester Freund.« Und er nahm den großen Stoß zerrissener Zettel und stopfte ihn, mit vergnügtem Lächeln, seinem Freunde in den Schlund. »Ich habe die gute Idee gehabt,« erzählte er, »mich auch in letzter Zeit von meinem Herrn im Grunewald, zu dem ich sonst fast täglich gehe, um ihm vorzulesen, zu beurlauben. Und in den vierzehn Tagen, die er mir als Pause bewilligt hat, konnte ich meinen Gedanken freie Audienz geben, – eine feine Sache das.«
»Hast du denn schon einen Verlag für das Buch?« fragte Olga.
»Ich habe beinahe abgeschlossen«, erwiderte er.
Sie setzten sich auf das ripsbezogene, grüne Familiensofa, hinter den runden Tisch, und er erzählte von den Verlagsverbindungen, die er angeknüpft hatte. Ein polemisch-essayistisches Buch, wie das seine, war kein so beliebter Verlagsartikel wie ein guter Roman. Und nun dieses Buch, das alle Torheiten, alle Verirrungen der Moderne registrierte, – und das doch an ihre Zukunft glaubte, aus dem neben einer Kritik, die die Stoffe fast mit chemischer Präzision auseinander löste, doch eine große Liebe sprach, eine Liebe zu diesen Ringenden, die an ihrer Übergangsmission litten, – dieses Buch hatte es nicht leicht.
Nun wußte er es in den Händen eines vornehmen Verlages und sollte eine für seine Verhältnisse ansehnliche Summe als à Conto-Zahlung für die erste Auflage vorausbekommen. Diese klingende Anerkennung trug auch dazu bei, den sonst so stillen Menschen in fröhliche Laune zu bringen.
Sie sprachen von den verschiedenen materiellen Aussichten der Schriftsteller.
Stanislaus meinte: »Da kann man schön saubere Kategorien machen. Es gibt Schriftsteller, die enorm verdienen. Dann gibt es solche, – die verdienen, dann solche, die etwas verdienen – und zu denen gehöre ich – dann kommt eine Kategorie von denen, die wenig verdienen.«
»Das ist also die letzte Schicht«, meinte Olga.
»O nein,« entgegnete Stanislaus, »jetzt kommt Abschnitt zwei: da sind erstens die, die nichts verdienen, aber auch nichts bezahlen. Dann zweitens die, die viel bezahlen dafür, daß ihre Werke gedruckt werden, und drittens endlich jene, die, trotzdem sie bezahlen möchten, dennoch abgewiesen werden.«
»Das ist ja eine prachtvolle Einteilung. Aber wie willst du alle diese Leute nach ihrer inneren Bedeutung kategorisieren?«
»Wenn wir jetzt öfters ausgehen, mal abends ins Café, wo ich Bekannte treffe, da wirst du sie alle finden, – solche, die etwas zu sagen haben, was die anderen angeht, was vielleicht die Zukunft angeht, andere, die nur dem Tag geben, was des Tages ist, und wieder andere, die sich überhaupt nicht mitteilen, die nur ›für sich‹ schreiben, unbekümmert um alles, was in der Zeit kämpfend aneinander klirrt, die nichts ›brauchen‹ von dieser Zeit, von ihr nicht belehrt werden, ihr nichts zu geben haben und im Stübchen Blatt um Blatt füllen, mit Eingebungen, für welche sie selbst nicht das Interesse der Zeit anwerben, zumindest nicht nach einigen erfolglosen Versuchen.«
»Und du?«
»Ich? Ich sehe mit sehr viel Interesse auf das Bild um uns, wie es sich durcheinanderschiebt, verdichtet, ergänzt, auflöst oder erneut. Und ich habe Beziehungen zu diesem bewegten Bilde.«
Er bereitete den Tee, holte Tassen aus der Kommode, Olga deckte den Tisch, und so saßen sie, wie gute Freunde und echte Lebenskameraden, die es wohl miteinander meinen, ihre Pläne voreinander entwickeln, zusammen.
»Übrigens habe ich bei dem Verlag einen Menschen kennen gelernt, der mich sehr interessiert und mit dem ich nun öfters zusammenkommen werde. Er hat hier Brot gefunden, – es ging ihm früher schlecht, – sehr schlecht.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Trotzdem wir eigentlich auf zwei ganz verschiedenen Lagern stehen, hat er sich sehr an mich angeschlossen. Seit ich mit dem Buch fertig bin, kommt er fast täglich abends, mich zum Spazierengehen abzuholen.«
»Und ist dir das recht?«
»Nun, ich kann viel allein sein; ich brauche die tägliche Aussprache weniger, als dieser Mann.«
»Und warum braucht er sie?«
Stanislaus lachte. »Wenn du ihn erst kennen wirst, wirst du das nicht mehr fragen.« Und er berichtete ihr, was er von Werner Hoffmann wußte. Trotz der kurzen Bekanntschaft hatte der ihm nicht nur seine äußeren Lebensschicksale erzählt, sondern ihm, mit leidenschaftlicher Eindringlichkeit, in die Konflikte seiner Seele Einblick gegeben. Ein besonderer Kampf war es, der seine Kräfte vor allem beanspruchte. Eine scharf ausgeprägte Doppelseitigkeit der Instinkte erschwerte ihm die planvolle Gestaltung seiner Gaben und den Ausbau seines Lebens. Er, der jede Beschränkung des Einzelichs, zum Wohl der Gesamtheit, abwies, der am liebsten sagte: »was habe ich mit der Gesellschaft zu tun«, hätte persönlich jene Einrichtungen, die sich aus sozialisierenden Strebungen ergeben, am nötigsten gebraucht. Stipendien und volkstümliche Sanatorien hatten ihm wiederholt weiter geholfen, wenn er, wundgeschlagen, im Getümmel zusammengesunken war. Aber er erkannte nicht die Zusammenhänge gesellschaftlicher Vorkehrungen mit den Prinzipien der Behütung der Persönlichkeit. Er nannte sich einen Ichlichen, der »sein Sach' auf nichts gestellt« habe, – ohne zu wissen, wie sehr er selbst auf dem Boden stand, der allen gehörte. In sozialer Reformarbeit sah er nur eine Verflachung des Daseins, ohne die Ahnung, daß die Gesellschaft diese Organisationen erschuf, – um dem Einzelnen Luft zu machen. Widerspruchsvoll, wie in allem, hielt er sich für einen »Einsamen« – und entbehrte doch schwerer als sonst jemand, wenn er auch nur einige Zeit lang ohne den Anschluß an ähnliche blieb. Zweiseitig war er auch in seinen Begierden. Ein fast fanatischer Trieb führte ihn zeitweilig zu scharfer Selbstzucht und Buße, – »zur Übung wider sich«, wie er es nannte, – zur Askese; er züchtigte sich dann mit diesem Trieb, wie der Mönch mit der siebenfachen Knute. Dann wieder stieg die Verachtung vor solchem »Unterliegen« in ihm auf, und nur der »Herr« schien ihm der Berechtigte dieser Erde, – nur der, der kaltblütig den Genuß als sein Erbe kassierte. So lockte ihn die Verführung von ihren beiden entferntesten Polen, ließ ihn unendliche Strecken immer wieder neu durchmessen und narrte ihn mit zwiespältigen Süchten. – In diesem Sinn hatte er auch das Weib erlebt: bald suchte er den »Dämon«, der durch Wollust vernichten und erlösen sollte, – bald sah er sein Ideal in der »Witwe« im Sinne des Tertullian, – »durch Glauben schön, durch Armut ausgesteuert, durch Alter besiegelt,« – weise, streng und »fromm« im unerbittlichen Lebensernst. So schwankte er zwischen den Idealen von äußerster Freiheit und strengster Überwindung und hatte in keinem Zustand ein gutes Gewissen.
So erzählte Stanislaus seiner Schwester. Es war dunkler geworden, die Wirtin, ein alleinstehendes, altes Fräulein, hatte die Lampe auf den Tisch gestellt, und die »Schwester« verstohlen von der Seite betrachtet. Hätte sie ihren Mieter nicht als den solidesten möblierten Herrn gekannt, der jemals ihre gute Stube bewohnt hatte, – sie wäre mißtrauisch geworden.
Olga hatte der Schilderung ihres Bruders mit großen Augen gehorcht.
»Und sein Beruf?«
»Seine Stelle als Lektor gibt ihm wenig Befriedigung.«
»Er war dem Verhungern nahe, als er endlich diese Stelle bekam.«
»Und was ist er – eigentlich?«
»Er unterbrach sein Studium der Philosophie, als sein Vater starb und ihn arm zurückließ; er begann dann zu schreiben; aber trotzdem er sogar Beachtung fand, – als einer, der das Wort eng und tief faßte, – fristete er sich damit nur eine Zeitlang; eines Tages konnte er nicht weiter, – erschöpft, mit überhetztem Gehirn, brach er zusammen.«
Erregt ging Stanislaus in der Stube auf und ab. »Wer hilft einem verhungerten Schriftsteller? Der Lohnarbeiter ist organisiert, hat Kranken- und Streikkassen, klebt Marken für Alter und Invalidität; aber unsereins kann an Hungertyphus zugrunde gehn, wenn der Betrieb mal stockt.«
»Ich möchte ihn kennen lernen«, sagte Olga.
»Er geht jetzt nur selten unter neue Menschen. Wie er sagt, fühlt er sich momentan zu geschwächt, um sich an andern zu behaupten.«
»Und er schreibt nicht mehr?«
»Soviel ich weiß, – kann er es nicht mehr.«
» Kann er es nicht, da er es früher konnte?« Sie sah den Bruder fragend an. – »Wie ist das zu verstehen? Hat er keine Ideen, keine Stoffe mehr?«
»Im Gegenteil« … Stanislaus schwieg, als suche er für das, was er berichten wollte, die eindringlichste Erklärung. Nachdenklich fuhr er dann fort: »Im Gegenteil; eigentlich ist Hoffmann zum Schriftsteller berufen; fast täglich kommt er mit neuen Plänen, und zahllose Stoffe drängen sich im Vorbezirk seiner Phantasie.«
»Aber?«
»Aber – da ist irgendwo ein Hindernis. Denn diesem Gedränge steht – wie soll ich sagen – eine Art von unnachgiebiger Hemmung gegenüber, ein unbesiegliches Unvermögen, sich dem Stoff auch nur zu nähern. Er müßte, wenn er seiner Tintenscheu überhaupt Herr würde, unbedingt immer beginnen: Zögernd ergreife ich die Feder.«
»Und was geschieht mit diesen zurückgedrängten Ideen? Verpufft das alles in nichts?«
»Nicht ganz. Manchmal kommt es unter der Einwirkung von starkem Kaffee, Nikotin, Menschen- und Zigarrendampf und einer auf die Nerven tastenden Geselligkeit zur Entladung. Im Caféhaus turnen dann die Energien, und dem Expansionsdrang des geistigen Gewebes wird da genügt. – – Ein solcher Exzeß, vereinzelt, wäre noch nicht schlimm; geschieht das aber regelmäßig, so treten bald alle Merkmale einer schlecht funktionierenden Phantasie auf, – die entweder leer ist, oder so überfüllt, daß sich ihr Inhalt verknäuelt.«
»Du sagtest da vorhin etwas von Tintenscheu, – wie meinst du das?«
»Nun, zuzeiten laufen die Gedanken, – wenn man es unternimmt, sie bis zur Spitze der Feder zu treiben, – auseinander, wie eine Schar Gänse, in die ein Hund hineinspringt … der Tintentegel wirkt dann so unheimlich, wie ein Instrument der schwarzen Magie; … ein Zustand, den jeder Schriftsteller kennt; – nur darf er, wie gesagt, nicht chronisch werden, und der Bann dieser Magie muß sich rechtzeitig sprengen lassen.«
Olga dachte, daß sie diese Angst vor der Tinte – was sie selbst betraf – recht gut begreifen könnte; hatte sie doch immer ein Widerstreben dagegen, auch nur die Hauptgedanken eines Vortrags aufs Papier zu bringen. Ihr Mittel war das gesprochene Wort; aber bei einem, der schreiben wollte und sollte, mußte das doch anders sein.
»Vielleicht fehlt es deinem Freund vorübergehend an Stimmung«, meinte sie.
Stanislaus lächelte. »Um sich selbst ganz zu besitzen, – also zur produktiven Arbeit, – braucht man nicht so sehr eine besondere, positive Stimmung.«
»Was sonst?«
»Ein gewisses Maß von Freiheit; und dies fehlt ihm.«
»Du meinst Freiheit von – Bedrängnissen? Seelischen, moralischen und vielleicht auch ökonomischen Bedrängnissen?«
Zögern sagte er: »Ja, – ein gewisses Maß von innerer Freiheit braucht man.« Und leise, dumpf, fügte er hinzu: »Vielleicht auch von sinnlichen Bedrängnissen.« Er schwieg, blickte nieder, und die Hand schob unruhig den Teelöffel am Tischtuch hin und her, daß er leise gegen die Tasse klirrte.
Es läutete. Draußen wurde die Korridortür geöffnet, und gleich darauf klopfte es an die Tür von Stanislaus' Zimmer.
Einen breitkrämpigen Filzhut tief in die Stirn gedrückt, in eine Lodenpelerine gehüllt, so trat der, von dem die Rede gewesen, ein. Er war nur wenig über Mittelgröße und von gedrungenem Wuchs; das Gesicht war bleich, länglich, bartlos, und große, dunkle, beinah kindliche Augen blickten sanft und traurig unter dem weißen Bogen der Stirn. Die Mundwinkel hingen ein wenig müde herunter, und die breite Unterlippe schien beim Sprechen manchmal zu zittern.
Stanislaus hatte ihm von der Anwesenheit seiner Schwester in Berlin erzählt; aber Hoffmann hatte das, nach Art stark mit sich selbst beschäftigter Menschen, überhört. Nun begrüßte er sie unfrei und schien von ihrer Anwesenheit beengt.
Stanislaus lenkte das Gespräch sogleich auf ein Gebiet, das einen Plan betraf, den er für Hoffmann ausgedacht hatte. Da dieser als Lektor eines großen Verlages Gelegenheit hatte, eine Menge literarischer Arbeiten von Interesse und Wert, die aber für die nach festen Plänen begrenzten Ziele des Verlages nicht geeignet waren, kennen zu lernen, so hatte ihm Stanislaus geraten, aus diesem Material, das ihm da von selbst zufloß, solche Arbeiten auszuwählen, die sich unter einem besonderen Gesichtspunkt als einheitliche Serie sammeln ließen, und diese Sammlung systematisch zu ergänzen. Er dachte an eine Ausgabe verschiedener Kulturdokumente, die für das Wesen der Epoche bezeichnend waren. Diese Serie sollte etwa unter dem Titel »Stimmen der Zeit« fortlaufend erscheinen, und der Herausgeber würde so Gelegenheit zu einheitlicher redaktioneller Tätigkeit finden und auch seine Einnahmen wesentlich vermehren.
Hoffmann hatte im Caféhaus mit Interesse den Plan aufgenommen und darüber nachzudenken versprochen. Mit einer müden Handbewegung lehnte er nun ab. »Wozu noch eine Brockensammlung mehr«, meinte er. »Den Snobismus zu mehren, wird gerade genug getan. Warum auch da mitmachen?« – – –
»Solche Brocken, wie Sie es nennen, sind nicht immer das Schlimmste. Sie können solchen, die von manchem Strom, der durch die Gegenwart drängt, erfahren möchten, – ohne Zeit, oder Kraft, oder Schulung genug zu haben, zu allen Quellen selbst herabzutauchen, – helfen, ihr Wissen in Parenthese zu ergänzen oder anzuregen, und das ist schließlich kein Übel.«
»Eine Wirkung auf das Volk, die allein eine solche auszugartige Bearbeitung des Materials rechtfertigen würde, ist durch diese Publikationen nicht gegeben, weil sie nur die Sprache der Informierten sprechen.«
Überrascht blickte Stanislaus über den Tisch in das bleiche, nervöse Gesicht. Seit wann wollte Hoffmann etwas für das Volk?
»Ich staune über ihre Verkennung der Wege der Wirkung«, sagte er dann.
»Wieso?«
»Nun, es gibt doch offenbar zwei solche Wege: den direkten, kürzeren, jäheren; und den andern, – dessen Linien sich sozusagen serpentinenartig nach unten verbreitern und der vielleicht die echtere Destillation verspricht. Sie können direkt zum Volk sprechen, in seiner Sprache, – können es mit Resultaten überfallen, ihm ausgefüllte Werttabellen in die Hände stecken; oder aber – der andere Weg, der serpentinenartige: jeder »Informierte« spricht zu der ihm nächsten Schicht, und sobald der Stoff nur die gehörige Beweglichkeit hat, – dringt er weiter, tiefer, und nähert sich allmählich der tiefsten und breitesten Schicht des Volksbewußtseins; und das, was auf diesem Wege endlich da hinunter gelangt, – ist wohl eine Art Auslese in bezug auf Stoßkraft und Beweglichkeit; was nicht so weit kam, blieb wohl oben – auf den Kehren – liegen.«
Mit Hoffmann horchte auch Olga, und in diesem Augenblick wurde ihr klar, daß auch das, was sie vielleicht zu sagen haben würde, diesen weiteren, mühsameren und gefährlicheren Weg passieren mußte.
Hoffmann blickte ernst, und seine dunklen, tiefen Augen leuchteten in ihrem sanften Glanz.
»Und doch geht auf dem andern, dem jäheren, direkteren Wege – nicht nur der derbere Tritt«, sagte er.
»Sondern?«
»Sondern auch die Liebe. Die ganz einfache, ganz direkte Liebe zu den Massenhaften – zu denen, die da sind, – wie immer sie da sind.«
»Und Sie, – seit wann wissen Sie von dieser Liebe?« fragte Stanislaus.
»Ich weiß von ihr, wie von einer unbegreiflichen Erscheinung. Kein größeres Wunder weiß ich, als daß es solche Liebe gibt.«
Olga beugte sich vor: »Warum, – warum ist Ihnen Menschenliebe so unbegreiflich, so wunderbar?«
»Das ist sie«, entgegnete er und blickte die Fragende voll an. »So sehr ich begreife, daß man die Idee liebt, die Idee vom schönen und vollkommenen Menschen, – so rätselhaft erscheint es mir, daß es Herzen gibt, die warm und hingebend schlagen für das, was da ist, wirklich da ist, unschön und mangelhaft da ist, – für all das Unzulängliche und Elende. Und es gibt solche Herzen, – Christus war – er ist kein Märchen.«
Er schwieg, und seine Augen verschleierten sich tief. Dann fuhr er fort: »Auch das Unzulängliche lieben, – nicht nur sich seiner erbarmen, – nein es lieben, – ohne Blindheit – in heller Erkenntnis – – das – das ist das Mysterium.«
»Und wie läßt es sich, Ihrer Meinung nach, deuten«, fragte Olga gespannt.
Hoffmann dachte nach und sagte dann: »Christus – oder unsere Vorstellung von ihm – war vollkommen an Leib und Seele. Wäre ich wie er, – ich liebte die Elenden auch. Aber da ich das Unzulängliche, als mein eignes Erbe, schleppe,« – seine Lippen bebten, – »wie kann ich es lieben? Beschäftigt, beladen bin ich mit mir,« fuhr er fort, wie gequält, als müsse er sich rechtfertigen, »und dem Grauen der Unendlichkeit steht für mich nur eins gegenüber – dieses: ›Ich bin‹. Für mich zumindest – bin ich.«
Stanislaus warf ein: »Der alte, egozentrische Aberglaube; richtiger wäre es, wenn Sie weiter gingen und sagen würden: ich – oder die Gattung.«
»Oho!«
»Jawohl, ich schmälere mich durch jede Abgabe an sie, – habe nichts zu geben,« – seine Stimme sank herab, – »bin ein armer Teufel.«
»Solch armer Teufel gibt es freilich genug,« erwiderte Hoffmann, – »und doch ist Ihr Axiom falsch; paßt nur für das dürftig Geborene …«
»Das ist durchaus nicht so sicher«, wandte Stanislaus ein und blickte bedächtig über den schwarzumränderten Zwicker hinüber: »Hirn und Keimplasma bauen sich bekanntlich aus denselben Stoffen auf. Ein Mehr auf der einen Seite bedingt darum nicht selten ein Manko auf der andern; und so wären es nicht nur die Dürftigsten, die in diesem Sinn wenig Tribut zu zollen haben.«
Olga glaubte etwas Entscheidendes sagen zu müssen; aber kaum wollte sie es aussprechen, so verschloß ihr ein scheues Zögern den Mund; und so sagte sie nur: »Zumindest für die Frau liegt die Frage so, – daß auch die, die nicht überreichlich – Tribut zollen will, – doch zur Erfüllung ihres weiblichen Dienstes gelangen muß; denn dieser Dienst ist Notwendigkeit, – und nicht nur für die Gattung, – auch für sie selbst.«
Hoffmann hob seinen Blick zu Olga und ließ ihn ohne Scheu auf ihr ruhen. Seine anfängliche Beengtheit schien verschwunden. – Statt einer Antwort sagte er: »Wie alt sind Sie, Fräulein Diamant?«
So unvermittelt kam die Frage, daß sie in ihr Blut stürzte, es aufjagte und es hoch in ihr Antlitz trieb. »Sechsundzwanzig«; der Ton wurde, ohne daß sie es wollte und wußte, – bang.
Hoffmann sagte, wie zu sich selbst: »So, so; ein Mädchen von Sechsundzwanzig; ich dachte mir solch ein Mädchen anders.«
Olga raffte sich zusammen. Trotzig fragte sie: »Und wie dachten Sie sich solch ein altes Mädchen?«
Ernsthaft schüttelte Hoffmann den Kopf. »Nicht alt, o nein, das ist eine falsche Überlieferung; aber fertig, – im guten oder im schlimmen Sinn. Aber Sie – Sie wollen ja erst beginnen?«
Sie warf den Kopf, mit den schweren, roten Haarmassen, tief atmend zurück und fühlte plötzlich eine Welle über sich hinfluten, die einen Augenblick alles Schwere von ihrer Seele nahm. »So ist es,« flüsterte sie, »beginnen.«
*
Stanislaus kam von zuhause. Es war gegen Abend, und die Gaslaternen wurden eben angezündet. Langsam ging er, im abendlichen Zwielicht, die Kantstraße hinauf, diese breite und lange Zeile, die geradewegs aus dem menschendichten, wegeverknüpfenden Berlin hinauszurennen schien, in die weite Mark.
Er ging etwas vornüber gebeugt, in schlechter Haltung – und mit schlechter, sorgenvoller Miene. Er hatte noch keine neue Arbeit begonnen und ging viel spazieren. Und seit einer Reihe von Abenden immer nach demselben Ziel. – Vor einer eleganten Papierhandlung, – nicht mehr weit von der Einmündung der Straße an jenem Punkt des Westens, der »Am Zoo« heißt, – stand er still. Jeden Abend stand er lange vor diesem von gelbem Bremerlicht grell beleuchteten Schaufenster, in dem alle Utensilien seines Handwerks zwischen Luxusdingen, in prunkvoller Anordnung, ausgestellt waren; hier waren hochaufgeschichtete Briefkartons, glänzende, kristallene Tintenfässer, lederne Schreibmappen mit blanken oder matten Metallbeschlägen, kunstvoll arrangiert. Auch heute stand er vor diesem Schaufenster, warf aber, so oft er konnte, einen Blick durch die hohe Spiegelscheibe der Ladentür, ins Innere des Geschäftes. Er sah die große, überschlanke, blonde Verkäuferin, im schwarzen, knappen Kleid, mit weißen Manschetten an den Händen, hinter dem Ladentisch stehen, sah, wie sie lächelnd einem Herrn ein Päckchen reichte, das Geld entgegennahm, auf die Taste der automatischen Kontrollkasse drückte, und dem Käufer den kleinen Karton der Quittung übergab. – Mit Augen, die ihm brannten, sah er, über den Kneifer hinweg, auf dieses Ladenfräulein, mit den flüchtigen Zügen in dem zu kleinen Gesicht, dem nur die weit gebauschte Haarfrisur normalen Umfang gab.
Der Käufer trat aus der Tür, der Laden war von Kunden leer. Stanislaus trat ein.
Fräulein Miezes Gesicht verzog sich, und sie erwiderte unfreundlich seinen ergebenen Gruß. Stanislaus lehnte ihr gegenüber am Ladentisch.
»Darf ich Sie heute abend erwarten?«
»Mutter hat jesacht, das Spazierenjehn auf der Döberitzer Heerstraße muß 'n Ende haben.«
»Ich habe Sie ja oft gebeten, mir die Ehre zu schenken und mit mir in ein Restaurant zu kommen.«
Fräulein Mieze lachte höhnisch. »Das wäre noch schöner. Ein armes Mädel hat nischt wie sein' Ruf, – und der wird nich besser vons Restaurangjehn.«
Er blickte sie wehmütig an.
»Warum sind Sie so scharf, Fräulein Mieze? Sie wissen doch, daß ich nichts will, was Ihnen schaden könnte, … wir wollten uns doch ein wenig kennen lernen, – nicht?«
»Ich will Ihnen mal was sajen, Herr Doktoor.«
»Nur Diamant«, warf er ein.
»Wie Sie mir damals die scheenen Rosen schickten und dann selber ankamen und mich dann abends zum Spazierenjehn holten, – da dacht ich mir auch nischt Böses. Ich dachte mir, – der Mann hat ernste Absichten.« – – – Sie sah ihn herausfordernd an, und als er schwieg und sie nur traurig anblickte, rötete sich ihr kleines, gelbliches Gesicht, und die hellen Äuglein blitzten zornig. »So'n Rumziehn habe ich nicht nötig, verstehn Se!«
»Warum, Fräulein Mieze,« er suchte schwer nach Worten, – »wollen Sie etwas – das erst langsam, – nach und nach – werden kann – – übereilen?«
»So! Nu wird's Tach!! Hat der Mensch Tööne?! Übereilen!« Sie ahmte seine Aussprache nach. – »Daß Sie's nur wissen, – mein Bräutjam is zurückjekommen.«
»Ihr Bräutigam? Meinen Sie den jungen Mann aus dem Milchgeschäft, von dem Sie mir erzählten?«
»Jawoll, – der bei Bolle war. Er is vom Militär zurück und macht sich selbständig; er hat jeerbt.«
Stanislaus streckte ihr, mit freundlichem Lächeln, die Hand hin. »Dann meinen herzlichsten Glückwunsch, Fräulein Mieze! Aber ist das ein Grund, böse zu sein?«
Sie nahm seine Hand und hielt sie fest. »Ich will Ihnen was sajen: ich hätte Sie – lieber jenommen wie den Aujust.« Fragend sah sie ihn an.
Er machte sacht seine Hand los. »Ich kann Ihnen das, was Sie wünschen – nicht versprechen.«
»Adschö, Adschö, Herr Doktoor!« kam es zornig vom Ladentisch.
»Adieu, Fräulein Mieze.« Er ging, gesenkten Kopfes, hinaus …
Auch dieser »blonde Traum«, wie er sein kleines Erlebnis vor sich selbst genannt hatte, war nun auf grobe Art beendet. – – –
Seine Wünsche, das wußte er, fingen an, dunkle Wege zu gehn. Die geheime Enthaltsamkeit, in der er lebte, – derer er sich wie einer Schwäche schämte, die er nur einem Bruder anvertraut haben würde, wenn er einen besessen hätte, – fing an, ihn als etwas Unerträgliches zu bedrücken, – lockte ihn zu verwegenen Freibeutereien, die seiner Art nicht entsprachen. In diesem Mann, der sich bis heute des Weibes enthalten hatte, weil ihn der Unzucht gegenüber unüberwindliche Hemmungen schreckten, – mangelnde Triebkraft nannte er es bitter vor sich selbst, – glühte die Sehnsucht nach der letzten Erfüllung.
Abends nahm er sein Tagebuch vor. Er führte dieses Heft auf unregelmäßige Art, schrieb niemals Tatsachen ein, sondern, zeitweilig, die letzten Gefühle und Bekenntnisse, die ihm die Tatsachen vermittelten.
An diesem Abend schrieb er: »... Mein Schmerz gilt nur unmittelbar der Verfehlung meines eignen Lebens; in Wahrheit ist es der Schmerz des aus der Reihe Geworfenen. Und so suche ich das stärkste Willenserlebnis, – das mich über mich, als Einzelheit, beruhigen, mich von mir selbst, als isolierte Form, erlösen und mich, mit meiner Person, in Reih und Glied stellen würde …«
Er warf die Feder fort, verwühlte die Hand in die überfallenden, langen Haarsträhnen und starrte lange, grübelnd, vor sich hin.