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»Gute Gesellschaft hab' ich gesehen, man nennt sie die gute
Wenn sie zum kleinsten Gedicht keine Gelegenheit gibt.«
Goethe.
Frau Professor Diamant saß in ihrem großen Ankleidezimmer, vor einem hohen, dreiteiligen Spiegel. Sie hatte soeben die Friseurin entlassen. In breiten Wellen war das stumpfblonde Haar um den Kopf gelegt, von einem mit Wachsperlen bestickten, schwarzen Sammetband durchschlungen. Der Teint, der im vollen Tageslicht einen grauen Ton hatte, war jetzt, in der Zimmerwärme des feuchten Septemberabends, leicht gerötet. Die Augen, vom reinen, tiefen Blau der Kornblumen, glänzten. Sie erhob sich, reckte die hohe Gestalt, warf den Frisiermantel ab. Die volle Büste lastete auf den weichen Fischbeinstäben des niedrigen Korsetts, das die Hüften schlank und fest zueinanderzog. Frau Edda warf einen Blick auf die Uhr und griff eilig nach dem Kleid, das auf einer Stuhllehne bereit lag, einem Gewand von weicher chinesischer Seide, mit gewagt durchbrochenen Spitzenornamenten. Sie liebte es nicht, in den letzten Stadien des Ankleidens Bedienung um sich zu haben und vollendete ohne Hilfe die Toilette.
Ihr Gatte rief aus dem Nebenzimmer: »Sie werden gleich da sein.«
Frau Edda hatte die letzten Haken geschlossen und hing den Frisiermantel an seinen Platz in den Schrank. Sie steckte noch vorsichtig, ohne die weiße Seide ihres Kleides zu gefährden, ein Paar Leisten in die Straßenschuhe, die sie abgelegt hatte. Dann spülte sie nochmals rasch beim Waschtisch, mit vorgestreckten Armen und zurückweichender Gestalt, die Hände ab, überrieb flink mit einem Rehleder die Fingernägel, – der Teint war fertig, – und nahm eine Stahlschatulle aus dem Wäscheschrank. Sie öffnete sie langsam und begann ihre Ringe anzulegen. Ringe von verschiedenen bizarren Formen. Ringe in spitzer Marquisenform, andere wieder, in denen sich die Edelsteine als Blüten hoch über den Finger rankten, fremdartige, orientalische Ringe mit großen, dunklen Steinen und solche mit klaren Solitären. Unbedenklich gestattete ihr ihr sicherer Geschmack diese Bürde an ihren schlanken Fingern. Sie wußte, daß ihre Hände davon nicht beschwert erschienen. Sie trat noch einmal vor den großen Ankleidespiegel und betrachtete sich einen langen Augenblick, warf dann, mit einer bei ihr häufigen Bewegung des mit ballmäßiger Eleganz bekleideten Fußes, die Schleppe zurück und verließ das Zimmer. Knisternd in ihrer weißen Seide, eilte sie an die Tür der Küche, öffnete sie behutsam, lugte hinein, und zog sich eilig wieder zurück. Weiter raschelte die Schleppe über den langen Korridor und verschwand hinter der Portiere des Speisezimmers.
Professor Gustav Diamant hatte in Wien einen guten Namen. Als Student war er aus der mährischen Provinzstadt, in der sein Vater das Amt eines Sekretärs der Kultusgemeinde bekleidete, nach Wien gekommen, hatte hier mit dem ansehnlichen Rest seines mütterlichen Erbes seine Studien vollendet, sich zum Spezialarzt ausgebildet, eine gute Praxis errungen, die Dozentur früh erworben und sich mit Fräulein Edda Reisenleitner verheiratet. Fräulein Reisenleitner entstammte einer Familie, deren Schicksale sich am Fuße des Kahlenberges abspielten, solange man sich ihres Bestehens erinnerte. Ein einfacher Töpfer war noch der Urgroßvater gewesen, und in seinem kleinen Kontor, draußen in der Vorstadt, hatte eine schön bemalte Tafel mit der folgenden Inschrift gehangen:
Töpferlied!
Was für schöne, bunte Sachen
Kann ich mir aus Tone machen,
Wenn ich meine Scheibe dreh',
Meiner Hände Werke seh.
Kachel, Flaschen, Krüge, Kannen,
Tiegel, Tassen, Bratenpfannen,
Kuchenformen, Blumentöpfe,
Schüssel, Teller, Suppennäpfe,
Sauber ausgemalt, glasiert,
Und mit Blümelein geziert.
Meine Ware, sagt der Bauer,
Ist von keiner rechten Dauer,
Ja, der arme Mensch hauptsächlich
Ist vergänglich und gebrechlich,
Darum wundere dich nicht,
Wenn einmal ein Topf zerbricht.
Arm- und Beinbruch ist viel schlimmer,
Darum denk ich, ist doch immer,
Besser mancher Topf zerbrochen
Als auch nur ein einziger Knochen.
Und darum auch bleibt's dabei:
Werft und brecht recht viel entzwei!
Sein Sohn war Künstler. Wohl bediente er Töpferscheibe und Brennofen noch persönlich, aber nur, um neuartige Formen und Glasuren zu erfinden. Er achtete die uralte Tradition des Handwerkes und wußte, daß die Kunst die Meisterschaft darin als Boden brauchte. Er wollte hinter die Geheimnisse der historischen Keramik kommen, versuchte es, größere, glasierte Flächen zu beleben und erfand dabei neue, geschmackvolle Farben; besonders bevorzugte er die kräftigen und doch zarten Tönungen der Perser. Während er so zwischen alteuropäischer Handwerkskunst und morgenländischer Farbenkraft eine Einigung suchte, schuf er einen neuen, keramischen Stil, auf dessen Grundlage später die Moderne weiter arbeitete. Sein Talent vererbte sich nicht. Sein Sohn, Eddas Vater, war weder Töpfer noch Künstler, sondern Kaufmann. Er brachte die Firma auf die Höhe der modernen Ofenfabrikation. Diese Reisenleitnersche Ofenfabrik hatte Eddas Bruder übernommen.
Dr. Diamant, damals noch Dozent, war dem Mädchen als ein interessanterer Freier erschienen als irgendeiner der Fabrikantensöhne oder Leutnants, mit denen sie auf Bällen tanzte. Ihre Schönheit hatte ihn zu einer Werbung verführt, die sich jeder Erwägung entzog. Jetzt waren sie seit mehr als fünf Jahren in kinderloser Ehe zusammen, hatten einander gemessen und begrenzt. Er war vor kurzem Professor geworden und hastete von morgens früh bis zum späten Nachmittag einer großen Praxis nach. Seine übrige Zeit verbrachte er zumeist in seinem Laboratorium, an das sich ein ausgedehnter Stall schloß, in dem er die Tiere hielt, an denen er fortgesetzt experimentierte. Bis spät nachts saß er dann zu Hause noch an seinem Schreibtisch.
Frau Edda hatte es nicht leicht, ihr Leben in bewegtem Gange zu halten, wie sie so sehr gewünscht hätte. Sie kämpfte mit ihrem »Laster«, wie sie es selbst nannte, – mit ihrer Trägheit, – die vielleicht nichts anderes war als große Erschöpfbarkeit, wie sie in alten Familien zu spuken pflegt. Frau Edda, die so gern auf das Waffengeklirre horchte, das »draußen« die Geister aneinander geraten ließ, die mit Neugier alle Nachrichten verfolgte, die von überwundenen Widerständen berichteten, – Frau Edda konnte sich aus der Gefangenschaft ihrer Zimmer nicht frei machen. »Der Tag zerrinnt mir unter den Fingern«, klagte sie, wenn man ihr vorhielt, daß sie ihr Talent nicht pflege. Denn Frau Edda hatte ein Talent, vielleicht war es der Großvater, der ihr das seine, in veränderter Form, vererbt hatte. Auf der Marmorplatte und in der Lade ihres breiten Toilettetisches lagen zwischen Elfenbeinbürsten, Kristallflacons, feinen Stahlscheren, Nägelfeilen, silbernen Schalen – verstreute, einzelne Blätter. Da sah man mit wenigen, kecken Strichen Motive der weiblichen Kleidung zu neuen Kombinationen vereint. Fast immer, wenn Edda ihre Entwürfe Modejournalen zur Verfügung stellte, hatten die Redaktionen darnach gegriffen, ja man hatte regelmäßige Beiträge von ihr erbeten. Aber Frau Edda mußte ablehnen, denn sie konnte, wie sie es nannte, nur »unfreiwillig« arbeiten. Ihre Inspirationen kamen »in Anfällen«. Plötzlich, wo immer es war, zumeist während einer Stadtfahrt im Wagen, oder bei der Lektüre eines anregenden Buches, geschah es, daß, wie sie es nannte, »eine Klappe im Gehirn sich öffnete«, – und dann fiel prompt ein neues Trachtenmotiv heraus.
Während der Professor sich morgens früh erhob, sobald der gedämpfte Wecker seiner Taschenuhr sein leises Surren hören ließ und das Morgenlicht durch den absichtlich freigelassenen kleinen Spalt zwischen Fensterbrett und Jalousie fiel, sich hastig ankleidete, stehend eine Tasse Tee trank und seiner Klinik zueilte, lag Frau Edda in den Banden eines Schlafes, die ihr so unzerreißbar erschienen, daß der Besuch des Kaisers von China sie nicht veranlaßt hätte, sie energisch abzuschütteln. Erst, wenn diese Bande »von selbst fielen«, wendete sich ihr schlaftrunkenes Gehirn der Tatsache zu, daß ein Stück Leben heute abzuwickeln sei. Sie trank dann langsam im Bett ihren Kakao, knabberte Zwieback dazu, durchblätterte die Zeitungen und Modejournale und las ihre Post, die nicht unbeträchtlich war, da sie gern Korrespondenz pflegte. Langsam und schwer ordnete sie im Gehirn den Inhalt dieser Briefe und Zeitungen, die sie beinahe belastend anregten. Ehe sie nicht genau wußte, wie und wo dieses neue Material unterzubringen sei und wie sie dazu Stellung zu nehmen hätte, fühlte sie sich nicht »frei« genug, aufzustehen. Sie badete umständlich, pflegte die etwas schadhaften Zähne mit mehreren Wässern und Pasten, gewann manchmal ein paar Minuten für den Versuch einiger Freiübungen, überließ sich eine halbe Stunde der Friseurin, und nur eineinhalb bis zwei Stunden verbrachte sie auf diese Art bei der Morgentoilette, – für eine Dame gewiß nicht zuviel. Wenn sie fertig war, machte sie »Ordnung«. Sie konnte sich, wie sie behauptete, nicht ruhig hinsetzen, wenn nicht alles genau auf seinem Platze lag, und so fand sie sich in einem ewigen Turnus durch die weitläufige Wohnung. Sie ging den Dienstboten nach, bemerkte, daß die Stühle nicht so standen, wie sie stehen mußten, daß eine Decke schief lag, daß etwas Staub zwischen zwei Nippes liegen geblieben war. Der Professor hatte diese »Ordnungssucht«, wie er es nannte, kaltblütig in die Pathologie verwiesen. Auch Frau Edda gab diese Tätigkeit nicht für hausfraulichen Antrieb aus. In die Küche wagte sie sich kaum, dort waltete die Perfekte, und dort wurde jene Arbeit gemacht, vor der Frau Edda Angst hatte, richtige beklemmende Angst. In verwirrendem Vielerlei lagen da die zahllosen Ingredienzien, aus denen sich jede einzelne Mahlzeit zusammensetzt. Es roch nach Fetten, nach blutigem Fleisch, es prasselte, schmorte, dampfte; und mit ihren langschleppenden, lichten Hauskleidern wußte sie gar nicht, wie sie sich auf den Fliesen der Küche und zwischen den beladenen Tischen bewegen sollte, wenn eine neue Köchin sie durchaus einmal hier »brauchte«. Nach dem Mittagessen, wenn der Professor in seinem Ordinationszimmer verschwand, lag Edda im Schaukelstuhl und rauchte langsam, ohne Eile, mit dem Behagen der milden Nervenbetäubung, aber mit wachem, bösen Gewissen, eine, zwei und drei Zigaretten, stand auf, mit schwerem Kopf, hatte »Lufthunger«, klingelte dem Stubenmädchen, das um diese Zeit der Ordinationsstunde alle Hände voll zu tun hatte, und befahl, ihre Garderobe zum Ausgehen bereit zu legen. Sorgfältig legte sie Stück für Stück an. Sie bevorzugte die reiche, französische Mode vor der englischen, schweres Material, auch zu einfachen Gelegenheiten; besonders liebte sie kostbare, immer etwas bizarre Mäntel und Hüte von unwahrscheinlichen Dimensionen, die ihr schönes Gesicht weitausgreifend umrahmten und die hohe Gestalt mit fürstlichem Pomp stilisierten.
Diese Erscheinung paßte weder auf die Trottoire der großstädtischen Straßen unter eine Menge geschäftlich getriebener Menschen, noch in das Gedränge der öffentlichen Verkehrsmittel; zumeist winkte sie dann auch einem der Fiaker vor der Türe, die die Frau Professor schon kannten und sie mit lautem »Küß die Hand, Gnädige, – fahr m'r Euer Gnaden« umdrängten, sowie sie aus dem Hause trat. Und Frau Edda fuhr dahin, Einkäufe oder Besuche zu machen, oder in einem Café mit Freunden zu plaudern, am liebsten mit literarischen Freunden. Zumeist begleitete sie eine Cousine ihres Mannes, Kathi Diamant, ein nicht mehr ganz junges Mädchen, das mit Schwärmerei an Edda hing; überhaupt verkehrte Edda lieber mit der Familie ihres Mannes, als mit ihrer eigenen, sie liebte die besondere Färbung der jüdischen Denkweise, welche Juden untereinander oft abstößt. Die scharf angreifende, geistige Art ihres Mannes war das Lebendige, das sie immer noch mit ihm verband, – nachdem er sie in eine gefährliche Spannung gebracht hatte. Lange, nachdem sie Frau geworden, hatte sie nicht verstanden, woher ihr gegen den Mann, den sie frei gewählt hatte, wie er sie, oftmals dieses grollende Gefühl kam, dieser sprungbereite Haß, der sich in tausend kleinen Szenen entlud, – da es zur großen Aussprache zwischen ihnen niemals kam, – der hundert eingebildete und konstruierte Vorwände heftiger Entladungen erfand, – bis der wahre Grund ihrer geheimen Feindschaft, ihrem bohrenden Spähen, ihrer wachgehetzten Weibheit klargeworden war: die Versprechungen ihres Körpers schienen für diesen Mann erfüllt. Bald wußte sie auch, daß nicht sie seine große Leidenschaft war. Er war Forscher. Seine Untersuchungen füllten ihn mit unteilbarem Interesse. War er in seinen Experimenten vergraben, so schien ihm sein Haus, sein Vermögen, seine Frau, ja selbst sein Leben gering. Die gefährlichsten bakteriologischen Untersuchungen beschäftigten ihn fortgesetzt. Edda hatte ein Grauen vor seiner Tierstation. Aber hier war die Grenze ihrer Macht.
Seine drängende Werbung war ihr eine Verheißung gewesen. Wo blieb die Erfüllung?
Während am Anfang ihrer Ehe etwas, wie eine frohe Erwartung, sie morgens aufgetrieben hatte, nahm ihre Trägheit, die ihre Tage tötete, jetzt mehr und mehr zu. Sie war müde, apathisch, nur »aufgepulvert« in den Stunden im Caféhaus oder in abendlicher Geselligkeit. Die »Klappe im Gehirn« öffnete sich manchmal, aber diesem Geschehen auf die Spur zu kommen, die Mechanik dieser Tätigkeit beherrschen zu lernen, versuchte sie nicht. Immer seltener auch nahm sie sich die Mühe, ihre Ausgaben zu berechnen. Sie nahm sein Geld mit vollen Händen, sie forderte immer mehr, und er erfüllte fast demütig jeden ihrer Wünsche.
*
Diamants erwarteten heute abend Verwandte zu Besuch. Als erste kam die gewohnte Begleitung Eddas. Kathi war offenbar schlecht gelaunt. Mürrisch warf sie den breiten, geflügelten Hut aufs Klavier, die Handschuhe dazu.
»Warum hast du denn nicht draußen abgelegt, Kathi?« fragte Edda. Sie hatte einen kleinen Sprachfehler, stieß, ein ganz klein wenig, bei den S-Lauten, mit der Zunge an die etwas zugespitzten, kurzen Vorderzähne, deren Goldplomben zwischen den Lippen glänzten; aber ihre Sprache bekam dadurch etwas von jener »Wiener Gemütlichkeit«, deren Dialekt auch den pompös entfremdenden Eindruck ihrer Erscheinung aufhob. »Erst wann ich den Mund aufmach', trauen sich die Leut' an mich heran«, pflegte sie zu sagen.
Das große, überschlanke, dunkle Mädchen stand mißmutig in der Tür, zwischen Salon und Speisezimmer und betrachtete den gedeckten Tisch. Ihr von schwarzem Kraushaar umrahmtes, beinahe braunes Gesicht, hob sich in scharfem Kontrast aus dem Schneeweiß des steifleinen Herrenkragens, der die dunkelblaue seidene Hemdbluse abschloß. Unter dem knappen, fußfreien und festgegürteten blauen Tuchrock zeichnete sich die schmale Linie der Hüften nach Knabenart.
»Natürlich, – das echte Damastene, – Silber aus der großen Kassette, – die Teller vom 24persönigen Service, – wann dir einer zerhaut wird, was dann?«
»Geht dich einen Schmarrn an, liebe Kathi, – einen – großen – Schmarrn.«
»Edl!« Sie warf sich ihr an den Hals, versteckte ihr Gesicht in der weißen Seide, der der Duft javanischen Puders, eines fremdartigen Parfüms, und der gepflegten Haut entströmte. Diese Duftwelle kam wie eine täuschende Beruhigung über das Mädchen.
»Edl, sei nicht bös! Aber mir is so – so, –«
»Das weiß ich.«
Kathi warf sich in einen breiten, englischen Klubfauteuil von rotem Leder.
»Meiner Seel', ich weiß nimmer, was ich anfangen soll. Aus der Haut fahren möcht ich, wann ich wüßt', daß ich an andere find', die mir gut paßt.«
»Ist es das Bureau?«
»Keine Idee, – ich vergiß wenigstens die paar Stunden auf mich.«
»Und der Lohninger?«
Kathi verzog das Gesicht. »Vom Heiraten redet er nix.«
»Dann schlag dir ihn aus'n Kopf!«
»Ja aber – an wen soll man eigentlich denken?«
»Schau, Kathi, nimm dich zusamm'! Denk überhaupt nicht immer daran, daß dir ein Mann fehlt.«
»Du hast leicht reden.«
Ein spöttisches Lächeln zuckte, in schneller Heimlichkeit, in den Mundwinkeln Eddas auf und verschwand sofort. »Schau die Olga an«, sagte sie.
»Ja, – hast es denn schriftlich, was in der steckt? Glaubst, – damit, daß sie in Versammlungen Reden schwingt, – ist die erledigt?«
»Nein, – die ist überhaupt nicht so leicht erledigt; schwerer als du und ich.«
»Sie soll schon mal verlobt gewesen sein, mit einem Leutnant, dort in Schlesien.«
»Ich hab' was läuten hören.«
»Der alte Diamant wird überschätzt. Wahrscheinlich hat der Herr Leutnant mehr erwartet, und wie es zum Rechnen kommen is, wird er zum Rückzug geblasen haben.«
Edda zuckte die Achseln. »Nichts Gewisses weiß man nicht; d. h. ich weiß nichts und der Gustav auch nicht. Meine Schwägerin Geneviève, – die wird's wissen.«
»Komisch, daß die sich angefreundet haben, diese zwei Mädchen aus der Fremde.«
»Die Geneviève – die Eva – ist prachtvoll, – du kannst sagen, was du willst.«
»Ich sag' ja nix. Ich weiß eh, daß sie viel zu schad ist für deinen Herrn Bruder.«
»Aber mich interessiert die Olga doch viel mehr.«
»Geht sie richtig fort von Wien?«
»Ich denke sicher. Der Stanislaus nimmt sie mit nach Berlin. Ich glaube sogar, sie werden heute das letztemal hier sein.«
»Also darum das gute Silber usw. usw.«
»Und das ärgert dich?«
»No Gott, ärgern. Ich find', du machst mit denen zu viel Geschichten.«
»Hat dir der Vortrag vom Stan nicht gefallen?«
»O ja, – das schon.« Nachdenklich rekapitulierte sie: ›Probleme der Moderne‹, – »stellenweis war mir's zu hoch. Weißt, es ist ein Wunder, – so a Jüngl aus Polen!«
Edda lehnte sich im Schaukelstuhl zurück und streckte die Beine auf ein maurisch geformtes Taburett.
»Ihr Juden seid's unverbesserlich.«
Kathi dehnte den mageren, langgliedrigen Leib, stand auf und ging der Wand zu, an der eine Tapetentür zu sehen war. »Er arbeitet noch?«
Edda verneinte.
»Zieht er sich an?«
»Kannst hineingehen; er ist schon fertig.«
Kathi klopfte kurz und leise, drückte die Türschnalle vorsichtig nieder und ging mit elastischen Katzentritten in die halbdunkle Studierstube ihres Cousins, des Professors.
Edda streckte sich noch bequemer aus. Drinnen hörte sie die Stimme ihres Mannes und Kathis, deren Kopf gleich wieder in der Tapetentür erschien. »Wo ist die herbstlaubfarbene Krawatte?«
»Die liegt in seinem Kasten, links unter den Handschuhen.«
Es klingelte. Edda stand auf. Die Portiere, die vom Korridor zum Speisezimmer führte, wurde zurückgeschoben, und die erwarteten Gäste traten unangemeldet ein. Man begrüßte einander verwandtschaftlich. Edda drehte alle elektrischen Flammen auf.
*
Die Geschwister sahen einander, flüchtig betrachtet, wenig ähnlich. Stanislaus in seinem festverknöpften, vielgetragenen, schon etwas glänzenden Rock von dunkelgestreiftem, dünnen Tuch, mit schlechter, vorgebeugter Haltung, breitem, gewölbten Rücken, wirkte engbrüstig. Die Beine schienen zu schwach für den massigen Rumpf. Der große Kopf hing der Brust zu, die kurzsichtigen Augen, von unausgesprochener Farbe, blickten manchmal, besonders wenn er den Kopf neigte, über den schwarzgeränderten Zwicker weg, was ihm den Ausdruck einer interessiert aufhorchenden Eule verlieh. In mächtiger Biegung beherrschte die Stirn das Gesicht. Sehr dichtes, blauschwarzes, an den Spitzen geringeltes Haar bedeckte den Schädel, fiel in einzelnen, gebogenen Büscheln über die Schläfen und ziemlich lang hinter den Ohren herab, die es zum Teil wohltätig verdeckte. Wandte er den Kopf, so kamen sie, in ihrer fledermausartigen Zackung, zum Vorschein. Gestreckt und schmal dehnte sich die Nase zum Mund nieder, der, zusammengepreßt, eine dünne, gerade Linie zog. Der schwarze Schnurrbart hing schlaff, in langen, nur wenig aufgebogenen Enden, über die Mundwinkel. Dieser Kopf saß auf einem zu kurzen Hals, der in einem Umlegekragen steckte, den ein Mäschchen, kaum groß genug, den Kragenknopf zu decken, abschloß.
Diese Erscheinung hatte in Frau Edda bei der ersten Bekanntschaft den Trieb erweckt, physisch zurückzuweichen. Aber ein Gefühl, das mehr als gewöhnliche Neugier war, – der Hunger ihrer gierigen Intelligenz, – trieb sie mit starkem Interesse diesen Verwandten ihres Mannes zu.
Olga kannte sie seit Beginn ihrer Ehe. Gerade damals war die nun Sechsundzwanzigjährige zu dauerndem Aufenthalt nach Wien gekommen. Kathis Eltern, ihre nächsten Verwandten, hatten ihr ein Heim angeboten. Aber der alte Diamant, der seine Tochter fortgeschickt hatte, während sein Sohn ihn gegen seinen Willen verließ, sorgte so weit für sie, daß sie vor allem ihrem Bedürfnis nach Unabhängigkeit folgen konnte.
Sie besuchte die Universität als Hospitantin, hörte nationalökonomische und philosophische Kollegien mit Regelmäßigkeit. An den Veranstaltungen der Frauenbewegung nahm sie ständig teil. Bald trat sie aus der Rolle der Zuhörerin heraus, griff in die Diskussion ein und lenkte die Debatte zumeist in ein Fahrwasser, das den Strebungen der Wiener Frauenbewegung, die sich auf politische und wirtschaftliche Erweiterungen des weiblichen Wirkungskreises beschränken, unwillkommen war. Sie bekämpfte die Tendenzen, die einer Isolierung der Geschlechter zuzuführen schienen und sah im Kampf um Brotberufe wohl eine notwendige Etappe, aber nicht die letzten Ziele der Bewegung. Eine eigentliche berufliche Betätigung vermochte sie in Wien, trotz verschiedener Versuche, nicht zu finden.
Auf dem gedrungenen, mittelgroßen Körper des Mädchens saß ein Kopf mit langem Gesichtsoval, herben, fast eckigen Zügen und einer stark gebogenen, vorspringenden Nase. Ein rostroter Haarbusch überflammte die ganze Erscheinung. Die Augen waren blank und schwarz, mit länglichen Pupillen und schienen von den dünnen, rötlichen Brauen, wie mit eilig schrägem Zug, skizzenhaft überstrichen. Der Teint war etwas sommersprossig. Der Mund zeigte dieselbe dünne, gerade Linie, wie bei Stanislaus. Hier glichen sich die Geschwister.
Und als sie mit Edda lächelnd plauderten, kam mit diesem Lächeln, das die blanken Zahnreihen freilegte, die Gesichter belichtete, ihre Ähnlichkeit zutage.
Olga trug ein dunkelbraunes Kleid von billigem Wollstoff. Der Rock bedeckte die Bluse nicht fest genug, so daß das auf die Bluse genähte Taillenband bei manchen Bewegungen zum Vorschein kam. Es war ihr alter Schmerz, daß sie es durchaus nicht vermochte, ihrer Figur jene glatten Flächen zu geben, auf welchen die Frauenkleider unverrückbar drapiert erscheinen. Aber sie verschmähte jede Schnürung und konnte sich darum mit der auf diese Schnürung berechneten Kleidung nicht zurechtfinden.
Durch das große, englisch möblierte Speisezimmer, dessen Wände ausschließlich von Aquarellen bedeckt waren, ging Frau Edda, im Elfenbeinschein ihres weißseidenen, schleppenden Kleides, mit ihren funkelnden Händen, die sich blütenzart in dem bis zum Ellbogen entblößten Arm fortsetzten, hoch und licht, zwischen den beiden Geschwistern, dem Salon zu.
Olga und Stanislaus erzählten von ihrem Besuche in der Heimat. Einmal im Jahre wünschte der Vater die Tochter zu sehen und duldete es, daß Stanislaus mitkam.
»Es ist immer dieselbe alte, traurige und beklemmende Geschichte«, sagte Stanislaus und senkte den Kopf. Er sprach ein reines, scharf vokalisiertes Deutsch. Olga warf trotzig die Lippen hoch, und die Falte zwischen ihren Augenbrauen vertiefte sich.
»Er sollte stolz sein auf euch«, sagte Edda.
Olga machte ein finsteres Gesicht. »Ein Mädel, das sich nicht verheiratet, immer nur Geld braucht, sich mit lauter Dingen befaßt, die nichts einbringen«, – sie lachte rauh.
Dennoch gab der Alte dieser Tochter den Lebensunterhalt. Mit ihrem einundzwanzigsten Jahr war eine Versicherungspolice für sie fällig geworden. Die Zinsen dieses Vermögens gab er ihr, und sie reichten aus, unter Verhältnissen bescheidenster Art auf einer möblierten Stube zu leben.
Zu seinem Sohne Stanislaus aber hatte er gesagt: »Für dich hab' ich das Geschäft geführt. Etwas Fertiges haben – hast du sollen! Weggerannt bist du, – ä Tagedieb geworden! – – Das Geschäft laßt du mir alten Mann am Hals, – zugrunde gehen wird's und soll's. Verdien' dir dein Brot, wie du willst, – du bist ä Mann, – dir geb' ich ka Kreuzer.«
Im Osten von Österreichisch-Schlesien, unweit der preußischen und russischen Grenze waren die beiden zuhause. Dort stand auf dem großen, gepflasterten Ringplatz das alte, schmutziggraue Haus ihres Vaters, mit einer Wohnung von großen, dunklen Zimmern im Stockwerk und einem Kolonialwarengeschäft im Erdgeschoß. Dieser Laden war aber nur ein Teil des Geschäftes des alten Moses Diamant. Er lieferte Lebensmittel aller Art waggonweise nach Deutschland. Das Geschäft war, wie er behauptete, – »ä Goldgrub'«. Nur eine junge, tüchtige Kraft fehlte. Ein Schwiegersohn, der »nicht ä Paar Hosen« hätte, wäre dem alten Händler willkommen gewesen, aber, statt dessen – – ä Geschicht' mit ä Leutnant. Auch gut – – bis – ja bis –! – – Und der Sohn? Der Sohn – ausgerechnet – studieren hat er wollen. Der Alte widersetzte sich, zwang den Jungen ins Geschäft.
Lange Jahre hatte er ausgehalten. Hatte abgewogen, was jeder begehrte, die Bücher geführt, Geschäfte abgeschlossen. Aber punkt sechs Uhr hatte er abends Schluß gemacht, zum größten Verdruß des Vaters, hatte sich eingesperrt in sein Zimmer und seine Bücher vorgeholt. Eines Tages war er fort, und aus Berlin kam ein Brief, daß er nach langen Gewissenskämpfen dableiben wollte.
Er verstand die Wünsche des Vaters, er begriff den angstvollen Trieb des alten Mannes, den Kindern das Stück Boden, das er mit seiner Lebensarbeit errafft hatte, zu hinterlassen. Er aber, Stanislaus, er zog aus diesem Boden nicht das, was er brauchte.
Berlin hatte ihn hart angefaßt, – fast so hart, wie der Alte zuhause. Aber was er da ausgrub, das war Nahrung für ihn gewesen, und er wußte, daß er in diesem Boden nicht einsinken würde. Der Vater, der ein begreifender Kopf war, ergab sich. Aber er half dem Sohne nicht. »Wenn's dir zuviel wird, – wenn du nicht weiter kannst, – komm zurück, nach Haus. Du bist hier immer zuhause, merk' dir das, – immer kannst du kommen.«
Aber der Sohn kam nicht, nur einmal im Jahre, als Besuch. Bitterkeit gegen die verschlossene Hand des Vaters und Mitleid mit seinem vereinsamten Alter, – die Mutter war seit langem tot, – ballten sich ihm zu schweren Lasten, so oft er »zuhause« war. Wochenlang konnte er dann über dem Bild der entfremdeten Heimat keine Ruhe finden.
Er schilderte Edda diese Stimmung, die sie, Olga und ihn, diesmal, wie immer, da oben erwartet hatte. Und während er sprach, empfand er die geheime Erleichterung des Entronnenen. Das üppige, vornehme Zimmer, der milde Glanz des elektrischen Lichtes, die vertraut verwandtschaftliche Nähe dieser schönen, fremdrassigen, liebenswürdigen Frau, die eine absichtsvolle Neigung mit seinesgleichen verbündet hatte, das alles glitt beruhigend in ihn. Trotzdem er als Schriftsteller in Berlin seinen umgrenzten, aber geachteten Platz erworben hatte, war er auf Dürftigkeit und Einsamkeit angewiesen, und erst hier, im Salon seiner schönen Verwandten, überkam ihn ein Gefühl, daß es die Schicht der Erhobenen war, der er zugehörte und von der ihn jene andere Welt, der er entronnen war, unweigerlich getrennt hätte.
»Wo ist Gustav?« fragte Olga.
»Er muß jeden Augenblick kommen; ich glaube, er zieht sich an, und Kathi leistet ihm Kammerdienerdienste.«
Man hörte hinter der Tapetentür Schritte, und gleich darauf trat der Professor ein, hinter ihm Kathi.
Er lächelte über das ganze, blaurasierte Gesicht, das einen Ausdruck trug, der landläufig mit »gescheit« bezeichnet wird. Die gelenkige, kaum mittelgroße Gestalt – er war bedeutend kleiner als Frau Edda – steckte in einem Gehrock von elegantestem Schnitt. Er bewegte sich eilig, grazil, geschickt und lebhaft. Das schwarze, kurzgestutzte, an der Seite gescheitelte Haar war an den Schläfen stark ergraut. Die Augen blitzten durch den Zwicker.
»Daß man die hoffnungsvollen Geschwister einmal zusammen da hat, ist ein besonderes Vergnügen!« Er sprach ein wenig mit singendem Tonfall und näselnder Pressung der Vokale, die die böhmische Umgebung seiner Kindheit verriet. Seine Begrüßung galt, nachdem er Olga die Hand geschüttelt hatte, besonders seinem Vetter Stanislaus.
»Die Reise nach Hause machst du jedes Jahr, aber warum so selten in Wien?« Er nahm im Stehen von dem maurischen Rauchtaburett eine Zigarette, steckte sie zwischen die Lippen und wollte sie anzünden.
Edda beugte sich zu ihm hinunter und nahm die Zigarette aus seinem Mund: »Wir essen gleich.«
Er widersprach nicht.
»Gott, wie besorgt«, spottete Kathi.
Edda zuckte die Achseln. »Mehr brauchen wir nicht, als daß auch er sich noch die Nerven ruiniert.«
Der Professor war mit Stanislaus in ein lebhaftes Gespräch geraten.
»Bei deinem Vortrage hatte ich das Gefühl,« sagte er und ging, die Hände in den Hosentaschen, auf und ab – »daß das Beste daran verloren ging. Diese feingliedrige Ausarbeitung kam vom Rednerpult aus nicht zur Wirkung. Du bist von dem Blatt nicht losgekommen, und man hätte es lieber selbst gelesen.«
Stanislaus lächelte, neigte den Kopf und blickte schräg über die schwarzen Ränder seines Zwickers.
»Stan ist absolut kein Redner«, sagte Olga. Ihre volle Bruststimme, ihre sichere Gliederung der Sprache verrieten, daß sie die Eigenschaft, die sie dem Bruder absprach, selbst besaß. »Stan ist ein Schriftsteller« sagte sie bestimmt.
»Mich hat das gar nicht gestört, daß er las und nicht sprach«, sagte Edda. »Ich muß sagen, ich hab' die Ohren g'spitzt und bin neugierig geworden auf das Buch. Wann erscheint es?«
»Unbestimmt«, sagte Stanislaus. »Es sind zwei, drei Hauptgedanken des Buches in dem Vortrag verarbeitet. Das Material ist groß, wächst unter den Händen immer mehr an.«
»Ha, – weißt du, wie du mir vorgekommen bist, Stanislaus,« sagte der Professor munter, – »wie – wie so ein verkehrter Mephisto.«
Stan ließ seine Zähne blitzen und fand ein gutes Lachen. »Ist das so zu verstehen, wie euer Kaffee verkehrt?«
»Ja, ja, so ähnlich. Der richtige Mephisto wartet darauf, daß Faust – sinkt, daß er ein Philister wird, daß er zufrieden wird.«
»Und dann ist er verloren und der Teufel holt ihn,« vollendete Stanislaus, »aber ich?«
»Du stehst neben der Moderne wie Mephisto neben Faust, – Mephisto als Kritiker genommen.«
»Vor allem als Kritiker, – sehr wahr.«
»Und wartest auf den Moment, wo dein Faust, deine Moderne, die sich erproben soll, – nicht sinkt, nicht zur Hölle reif wird, sondern umgekehrt.«
»Es ist etwas Wahres daran,« sagte Stanislaus mit nachdenklichem Ton, »man wartet darauf, daß man endlich sagen kann: da ist etwas Positives, etwas was wir – gut verpackt – weiter geben.« Er wiegte den Kopf.
»Schade, daß das alles so schnell vorüberzog,« sagte der Professor, »warte, wie war es doch, – das Bild? Du zeigtest uns nackt«, seine Stimme wurde dunkler von ironischem Pathos, – »am Meeresufer, – alle Schiffe verbrannt, – – in Kampf mit Wind und Wetter – und fern von jeder neuen Heimstätte.«
»Und sie sahen, daß sie nackend waren und schämten sich«, kam es aus Kathis Ecke, und die anderen lachten.
Edda hatte inzwischen dem Stubenmädchen geklingelt und war ins Speisezimmer gegangen. »Ich bitte zu Tisch«, rief sie in den Salon hinein.
»Warten wir nicht noch auf Vinzenz und Geneviève?«
»Sie werden kaum kommen, Geneviève hat mir geschrieben, daß die Kleine wieder krank ist.«
»Es ist schade,« sagte der Professor, »du kennst meine Schwägerin noch nicht, Stanislaus, die Frau des Bruders meiner Frau, – Geneviève, zu deutsch genannt Eva, geborene Nestor, verehelichte Reisenleitner.«
»Olga hat mir immer viel von ihr geschrieben.«
Man ging ins Speisezimmer und setzte sich zu Tisch.
»Seit Eva da ist, vernachlässigt mich Olga«, sagte Edda. »Man soll seine Freunde nicht zusammenführen.«
Kathi klapperte mit dem Besteck: »Wird schwer gehen.«
Olga lächelte, und ihr herbes Gesicht schien licht. »Das ist ein großes Geheimnis, diese Vertrautheit zwischen Menschen. Komisch ist das. Zwei zum Beispiel kämpfen zusammen für eine gemeinsame Sache, –«
»Schulter an Schulter, wie es in der Frauenbewegung so schön heißt«, warf der Professor sarkastisch ein.
»und bleiben sich fremd.« Sie sprach das R mit slawischer Härte. »Und andere wieder, die scheinbar gar nichts miteinander zu schaffen haben, sind vertraut beim ersten Blick. Wer kann wissen, warum das so ist?«
Edda seufzte.
»Eva ist ein sonderbarer Mensch«, sagte der Professor.
»In welchem Sinne?« fragte Stanislaus.
»Es fehlt ihr, – soviel ich beobachtet habe, – etwas, – das an uns allen deutlich ist.«
Stanislaus horchte interessiert. »Und was ist das für ein gemeinsames Merkmal?«
Der Professor zögerte und krauste die Stirn. »Es ist der Riß, der Bruch, der irgendwo im innersten Gefaser von jedem von uns drin ist«, sagte er, und sein Gesicht hatte einen verbissenen Zug. »Zeig mir«, fuhr er, zu Stanislaus gewendet, fort, »einen modernen Schicksalsträger, – mit normalen Instinkten, – und mit vernünftigem Selbsterhaltungstrieb! Zeig mir, mit einem Wort, – von den genialen Praktikern abgesehen, – einen modernen Gedankenheros, – der dabei kein Narr ist, der sich nicht versteigt auf irgendeine Martinswand der Spekulation, – von der ihn kein Gott herunterholt.« Er machte eine Pause, und drehte nachdenklich ein Brotkrümelchen zwischen den Fingern. »Des Menschen Schicksal«, fuhr er fort und bewegte dozierend die Hand, »ist sein Leib. Nun ist aber unsere Intellektskultur sozusagen noch nicht leiblich genug geworden, – noch nicht somatisch, wie wir Ärzte sagen, – unser Wille, aber noch nicht unser Organismus ist intellektuell. Und darum machen wir zumeist Dummheiten, wo wir glauben, besondere Taten zu vollbringen.«
»Ist denn der Wille ein vom übrigen Organismus loslösbares Etwas«, fragte Olga.
»Das beweist die Hypnose«, sagte der Professor und nahm von der Hors d'œuvre-Platte, die ihm gereicht wurde. »Diese schöne, schlafwandlerische Sicherheit des Trieb- und Instinktmenschen ist für uns verloren.« Er trank ein Glas Rotwein durstig mit einem Zuge aus. »Gerade dein Vortrag, Stan, hat das recht deutlich gezeigt. Die Zeiten aber, wo der intellektuelle Wille so geübt ist, daß er den Menschen zu derselben fast automatischen Reaktion führt, wie das der gesunde Instinkt, der Trieb, besorgt, – so daß auch der komplizierte Mensch ein Ganzes und Deutliches wird, – die sind noch nicht da.« Er sprach jetzt, wie er es täglich vor seinem Hörerauditorium gewohnt war. »In diesem Sinne können wir uns als – als Zwischenstufen bezeichnen, – – oder als – schlotternde Lemuren«, er zog die Vokale sarkastisch in die Länge, – – »aus Bändern, Sehnen und Gebein geflickte Halbnaturen.«
Alle hatten aufmerksam zugehört. Frau Eddas Kornblumaugen waren dunkler und tiefer geworden.
Das Stubenmädchen kam, räumte die Teller ab und legte neue an deren Plätze.
Kathi sagte: »Darf ich im Konversationslexikon nachsehen, was Lemuren sind?«
Der gespannte Ernst der Stimmung löste sich. Unter allgemeinem Lachen wurde die Zustimmung erteilt. Kathi sprang auf, lief durch den Salon und von da in des Professors Studierzimmer. Man sah, durch die offene Tapetentür, das elektrische Licht drin aufflammen, hörte, wie sie den schweren Wälzer von der Etagere rückte und darin blätterte.
»Die – Lemuren – sind – geschwänzte Halbaffen«, rief sie heraus.
»Aber auch noch etwas anderes«, schrie der Professor zurück.
Kathis Stimme ertönte weiter: »Sie haben Greifhände nach Art der Affen, – – sie sind Baumtiere mit nächtlichen Gewohnheiten, – – nach Sonnenuntergang pflegen sie in größerer Gesellschaft den Urwald zu durchstreifen, – – unter bedeutendem Geschrei, – – Zähmung gelingt leicht, – haben einen schwächlichen Körper mit dichtem Haarkleid, – – vordere Gliedmaßen kürzer als die hinteren, – – Großhirn ohne Windung, – – Blinddarm vorhanden.«
»Esel, der du bist,« schrie der Professor, »schlag bei Laren nach, bei Lares.«
Nun ertönte die Stimme aus der Studierstube: »Nächtlich umherschweifende Seelen der Verstorbenen.«
Der Professor rief: »Nun sieh noch bei Lemuria!«
»Versunkener Kontinent, ehemals von Halbaffen bewohnt, wird auch als die wahrscheinliche Wiege des Menschengeschlechtes betrachtet.«
»Genug, genug,« rief der Professor, »es stimmt! Goethe hat für seine Zwecke das Wort und den Begriff gebildet. Und in unserem Fall stimmt's, – sowohl im Goetheschen wie im zoologischen Sinne.«
Kathi wollte ihren Vortrag noch ausdehnen, aber der Rest ging in Gelächter unter, und sie wurde energisch zurückgerufen.
»Das Roastbeef wartet«, rief Edda.
Das Licht in der Studierstube wurde abgedreht, und das braune, magere Mädchen kam hereingewirbelt.
Der Professor nahm die Unterhaltung in dozierendem Ton wieder auf.
»Was heißt das Wort: ›Es irrt der Mensch, solang er strebt‹. – Es heißt, daß der strebende Wille – der, der noch bewußt arbeitet, – der noch nicht Instinkt geworden ist, – unsere größte Gefahr ist. Wir leisten mit ihm Übermenschliches, aber zumeist Falsches.«
»Also Streben, Schaffen, Werden, Wachsen, – ohne es zu wollen?« forschte Stanislaus.
»C'est ça! – Das wäre der ganze Kerl, – der von morgen. Wir Heutigen ziehen uns am Schopfe zu unseren Idealen von uns selbst.«
»Dann wäre man ja sehr gut daran, wenn man keine Ideale von sich selbst hat«, warf Frau Edda ein.
»Frauen wissen im allgemeinen nichts von solchem Wollen«, erwiderte der Professor. »Sie haben keine Stellung zur Moral«, fuhr er ruhig fort.
»Die alten Phrasen«, sagte Edda, und es klang beinahe verächtlich.
Olga hob den Kopf. »Ich weiß aber von solchem Wollen und andere Frauen auch.«
»Das war das Schlimmste, was euch passieren konnte«, sagte der Professor und schälte gleichmütig seine Birne.
Edda beugte sich über den Tisch, zu Olga hinüber: »Laß dir nichts vormachen, hörst du! Zieh, – zieh dich selbst am Schopf, – ja, – gerade das!«
Olga wollte weitere Auslassungen über das Thema vermeiden. Sie wußte, daß der Professor die Aktivität der Frauen bespöttelte, daß aber Frau Edda leidenschaftlich und heftig zu werden pflegte, wenn er das tat. Sie, die ein Leben, ähnlich dem einer Haremsdame führte, war mit ihrer Sympathie und mit einer Art von persönlich resignierter Sehnsucht auf der Seite jener Frauen, die das Steuer ihres Schicksals selbst zu lenken suchten.
Und, als wollte auch Edda das Thema abschneiden, erhob sie sich, läutete dem Mädchen und gab Befehl, den Kaffee zu servieren. Mit der gewohnten Beinschwenkung warf sie die Schleppe zurück und ging voran, dem Salon zu.
»Nun werde ich euch in mein neuestes Laster einweihen«, sagte sie wieder ruhig und lächelnd und griff nach der Zigarettendose.
»Welcher Laster beschuldigen – beschuldigst du dich?« fragte Stanislaus.
Das »du« der schönen Cousine gegenüber, die er nur bei seinen seltenen Besuchen in Wien gesehen hatte, fiel ihm schwer.
»Zweier: der Trägheit und – nun wie nennt man das, – wenn jemand sehr gern gut ißt, gut trinkt, gut liegt? – – – Ich glaube, das ist etwas, was unter den sieben Todsünden aufgezählt wird.«
Dabei nahm sie Besitz vom Schaukelstuhl und wiegte sich darin.
»Das nennt man Völlerei«, sagte der Professor.
»Ja? – Ich werde gleich eine neue Probe davon geben.«
Sie nahm vom Rauchtisch einen kristallenen Parfümflakon, der neben dem Aschenbecher stand, schraubte den silbernen Verschluß ab und träufelte behutsam einen einzigen Tropfen auf eine Zigarette. Das Licht fiel auf ihre Hände und brach sich in den Edelsteinen der Ringe.
»Ambre Royal, mit türkischem Tabak, – damit kann man stundenlang glücklich sein.«
Sie parfümierte mehrere Zigaretten, reichte sie herum, und bald war das Zimmer von wohlriechendem Dampf erfüllt.
Kathi griff nach dem Flakon und betrachtete, während sie den Rauch durch die Nase blies, die Etikette.
»Echtes Ambra, – mindestens 18 Gulden die Flasche, – Gustav, du mußt sie unter Kuratel geben.«
»Ich überlasse alle notwendigen Arrangements meinen Gläubigern«, sagte der Professor mit gleichmütiger Stimme. Er hatte die Augen zusammengekniffen und sog in langen Zügen an der parfümierten Zigarette.
»Ich muß doch die Bazillen ausräuchern, die er in Bouillon züchtet und eventuell noch nach Hause bringt«, meinte Edda.
Ihre frühere Bemerkung über das, was sie ihre Laster nannte, hatte Stanislaus zu denken gegeben. Er wollte gern erfahren, ob denn hinter dieser Bemerkung ein Ernst zu suchen sei, und er fragte sie:
»Was nennst du deine Trägheit, liebe Edda?«
»Nun denke dir, ich bin so faul. Ich tue nichts den ganzen Tag, als mich an- und ausziehen und abends mit Leuten plaudern. Ich komme zu nichts anderem.«
»Man kann auch den Müßiggang wohl ausfüllen,« sagte Stanislaus, – »o ich kenne das. – Stundenlang gehe ich oft spazieren und denke an nichts. Wenn man nur ein gutes Gewissen dabei hat!«
»Er arbeitet aber wie ein Kuli«, warf Olga ein.
»Das ist es ja gerade,« sagte Edda klagend, – »ich habe kein gutes Gewissen, – ich leide unter diesem Leben und kann's doch nicht ändern … Immer ist's gleich Abend, ehe ich mich recht umschau', besonders jetzt, wo der Tag so kurz wird. – – Dabei scheint das Leben mit diesen Tagen, die einander so schnell verschlingen, nicht etwa langsam zu vergehen, – nein, – im Gegenteil«, – sie zögerte nachdenklich – »wie ein rasender Galopp zur Grube ist's, – sinnlos, sinnlos.«
Der Professor sagte: »Da ist nichts zu wollen; das ist der eigentliche Sinn unserer Mobilität: gegen die Verwesung kämpfen – und dabei der Grube zureiten. – – Wir kämpfen ununterbrochen gegen die Verwesung. Jawohl, hier ist das Um und Auf unserer Tätigkeit. Jeden Tag ziehen wir los gegen den Staub, unaufhörlich wirbeln wir ihn auf, verjagen ihn, – und schon setzt er sich wieder fest. Sieh da!« er fuhr mit der Hand über die Lehne des roten Lederfauteuils und wies wirklich etwas Staub am Finger vor, – wofür ihn Frau Edda mit einem mißbilligenden Blick bedachte.
»Dieses tägliche Sich-vom Schmutze-Reinigen, diese immer von neuem notwendige Aufmachung und Abrüstung, dieser endlose Turnus mit seinem An- und Auskleiden, – dann diese beständig wirkende Verwesungschemie in unserem internsten Gedärm und unser Bemühen, uns von ihren Produkten zu befreien, – was ist das anderes, als ein ununterbrochener Kampf gegen das staubige Ende?! Müde, natürlich, werden wir davon, – müssen wir werden, – verbraucht und müde; aber dazu sind wir da.«
Er schwieg, und Edda nahm wieder das Wort.
»Und komisch: je leerer die Tage sind, desto deutlicher fühlen wir, – Galopp, Galopp.« Sie machte eine Pause. »Aber ich glaube nicht,« – sie schüttelte lebhaft den Kopf, – »daß die, die sich ordentlich rühren und den Tag mit ihrer Mühsal füllen, – daß die auch das Gefühl haben, dem Grabe zuzureiten. Da drüben,« fuhr sie fort und deutete zum Fenster hinaus, »vis-à-vis von uns – wird jetzt gebaut. Zwanzig, dreißig Maurer und Handlanger und eine Menge Weiber tummeln sich da. Vom frühen Morgen geht das. Da rennen sie durcheinander auf dem Gerüst, – ich seh's vom Bett aus. – – Und Licht und Luft und Sonne haben sie in abondance. Gott, wie müssen die diese letzten schönen Spätsommertage genossen haben! Sie bücken und strecken sich unaufhörlich und reichen die schweren Eimer hoch,« – sie machte die Bewegung nach, – »tragen Bretter und Ziegel auf den Schultern und volle Mörteleimer auf dem Kopf, rühren alle Muskeln und Glieder – und das alles in voller Sonne und freier Luft.« Sehnsüchtig warf sie den Kopf in den Nacken. »Wer so leben könnte! Da müßten alle Schmerzen im Kreuz vergehen«, sie stemmte die verschränkten Arme gegen den Rücken, – »und aller Druck im Kopf und all die Schwere im Leib und alles, alles, was einem das Leben so sauer macht.«
Sie schwieg.
Stanislaus hatte mit schmerzlichem Gefühl der seltsamen Beichte gelauscht. Unwillkürlich fiel ihm jenes Wort des Aristoteles ein, welches die Passivität, – die Trägheit, die Schwere, – als das Böse im Menschen bezeichnet, und – als vom Göttlichen kommend und zum Göttlichen gehend, – nur die tätige Vernunft.
»Und läßt sich denn gegen diese – diese – Müdigkeit gar nichts machen?« fragte er.
Edda zuckte mutlos die Achseln.
»Mangel an Hämoglobin und eine Gebärmuttersenkung«, murmelte der Professor.
Langsam, im Vortragston, fuhr er fort: »Die Seele ist wie der Schiffer, der im Kahn, der durch das Weltmeer zieht, am Steuer sitzt. Das Schiff selbst aber«, breit und gewichtig dozierte er, – »ist der Körper. Und darum kommt es auf den so sehr an; denn was nützt alle Fähigkeit des Steuermannes, wenn das Schiff, in dem er sitzt, nichts taugt?!« – –
»Ich kämpfe auch mit meiner Gesundheit,« meinte Stanislaus; »ich glaube, ich könnte mehr leisten, wenn ich in besserer Verfassung wäre.«
»Dein großer Vetter Gustav«, sagte der Professor, »ist bereit, dich aufzuklären, – auf welchem Wege du am kürzesten dahin gelangst, – wohin wir alle kommen.«
»Ich danke,« antwortete Stanislaus, »ich brauche das nicht zu wissen; vielleicht gehe ich dann zufällig den längeren Weg.«
»Er ist ein Barbar in dieser Hinsicht,« sagte Olga, »eines Tages wird er stecken bleiben.«
»Aha, der Wille mit der Peitsche!« Der Professor schüttelte den Kopf. »Na, – das eine weiß ich: sollte ich mich je an meinen Wurzeln krank fühlen, – lange Fisematenten gäbe es dann nicht. Als Spezialist für Interna muß ich bekennen, – daß das verläßlichste Mittel gegen eine Menge jener Leiden, um derentwillen man zu uns kommt, noch immer eine Browningpistole ist. – – Das hilft auch gegen andere Unannehmlichkeiten.« Er verzog die Lippen, und um die äußeren Augenwinkel legte sich die Haut in dichte Fältchen.
Edda trommelte unruhig mit den Fingern auf die Tischplatte.
»Gerade der Schriftsteller darf kein Barbar gegen sich selbst sein«, fuhr der Professor fort. »Er darf nie vergessen, sein Werkzeug zu pflegen. Das Werkzeug seines Schaffens aber ist er selbst. Er ist sich selbst gleichzeitig Instrument und Material. Er muß sich die Bedingungen schaffen, unter denen er sich selbst am besten – fühlt.« Er machte mit der Hand eine Bewegung, als wolle er die Luft greifen. »Das ist mit eine Seite des Talentes.« In jähem Übergang fragte er dann Stanislaus: »Wie lebst du eigentlich in Berlin?«
»Mehr schlecht als recht,« bekannte Stanislaus, »ich schreibe Artikel, trachte sie unterzubringen und bereite dabei ein Buch vor.«
»Bei jener Art von Schriftstellerei, die du betreibst, muß es nicht leicht sein, für Absatz zu sorgen.«
»Es ist jedesmal ein neuer Kampf; immer als trete man das erstemal in die Schranken.«
»Und lebst du von diesen Honoraren?«
»Ich habe zum Glück noch eine Art von Nebenbeschäftigung gefunden. Ich lese einem gelähmten, alten Herrn mehrmals der Woche aus philosophischen Schriften vor.«
»Und bekommst?«
»Drei Mark für den Vormittag.«
Frau Edda machte große, erschreckte Augen.
»Es ist wenig, aber es macht etwas aus; das merke ich, wenn mein ›Herr‹ einmal nicht da ist. Manchmal nimmt er mich auch auf Reisen mit. Auf diese Art habe ich Italien und die Schweiz gesehen. Aber diese Beschäftigung nimmt mir zuviel Zeit fort, ich würde sie gern aufgeben.«
Der Professor sagte: »Und gedenkst du – immer so zu leben?«
In das Gesicht des jungen Mannes stieg ein finsterer Ernst. Die Augenbrauen rückten drohend zusammen, die Lippen preßten sich aufeinander.
»Nein«, antwortete er.
»Sondern?«
»Ich gedenke zu erben.«
Das dunkle Wort lastete. Olga blickte kummervoll auf den Bruder.
»Der Schriftsteller muß sich menagieren«, sagte der Professor. »Er darf sich nicht ganz ausgeben, – braucht Reserven. Denn was heißt schriftstellern?« Er gab sich selbst die Antwort. »Es heißt nichts anderes als: Überschüsse ablagern. Da darf man nicht verschwenden, – hm ja – denn zuzeiten verbraucht man sein bißchen Kraft zum Leben – und Schreiben wäre dann jämmerlich.« Er beugte sich vor, wippte die Asche von der Zigarette direkt auf den Teppich und lehnte sich, die Beine übereinanderschlagend, tief in den Fauteuil zurück, daß die braunen Hirschledergamaschen, die den Lackstiefel deckten, mit allen Knöpfen sichtbar wurden.
»Dein Wort von vorhin läßt sich hier anwenden«, sagte Stanislaus. »Wir sind Zwischenstufen, – auch im ökonomischen Sinne, – mit unseren Einkünften, die oft genug hinter denen des Proletariats zurückbleiben, und mit unseren Bedürfnissen, die wir vom Bürgertum, mit dem wir sonst überquer sind, übernommen haben. Zwischen den Klassen stehen wir, – und gepreßt von beiden Seiten.«
»Und nirgends fühle ich mich gepreßter«, sagte Olga mit gedrückter Stimme, »als gerade hier.«
»In Berlin ist das besser,« meinte Stanislaus, »das wirst du bald merken.«
»Wieso soll das in Berlin anders sein?« fragte Edda in zweifelndem Ton.
Stanislaus dachte nach und sagte dann entschieden: »Hier in Wien kann das, was – wir sind, keinerlei deutliche Gestalt annehmen. Eingekeilt sind – wir – hier, unrettbar eingekeilt, in die Bourgeoisie. Berlin aber,« fuhr er lebhaft fort, »Berlin gibt unsereinem Zugehörigkeit – und doch auch wieder Isolierung, die frei aufatmen läßt, – und darum, mit der Zeit, – Gestalt.«
Edda zuckte die Achseln. »Das kann ich mir nicht denken. – Wann gehst du nach Berlin?« wandte sie sich dann an Olga. »Fährst du zusammen mit Stanislaus?«
»Stanislaus reist früher. Ich bleibe noch einige Tage; zum nächsten Ersten habe ich mein Zimmer gekündigt.«
»Der deutschschreibende Schriftsteller«, sagte der Professor nachdenklich, »hat ohne Zweifel von Berlin aus mehr Aktionsfläche und darum mehr Resonanz. Hier? Wo ist hier das Publikum, mit dem er sich auseinandersetzen soll? Was soll er von Bosniaken, Kroaten, Slovenen, Magyaren, Italienern für sich erwarten? Nur das weite, einsprachige Hinterland macht aus der Hauptstadt die Weltstadt, und dieses Weltstadtgefühl gibt Perspektive.«
»Der Schriftsteller kann von überall sprechen,« meinte Edda, »die Gedanken müssen über fremde Sprachen Brücken bauen.«
»Es ist nicht die Sprache allein, – nicht jene Sprache, die man nach der Grammatik erlernt, die Gemeinschaft ergibt,« – meinte Stanislaus, »es gibt eine deutlichere Zugehörigkeit!« Nachdenklich senkte er den Kopf und blickte schräg über den Zwicker. »Gruppen von Menschen, die nach ähnlichen Zielen ringen, müssen die Möglichkeit haben, sich nach ihrer besondern Art zu gestalten.«
»So eine Gruppe ist nicht selten eine Hydra,« sagte der Professor, – »eine Hydra oder ein Polyp, Köpfe und Glieder sprießen und schwinden.« Er sprang auf, warf den Zigarettenstummel in die Aschenschale und machte ein paar Schritte durch den Salon. »Wieder dieses Ringgefühl um den Kopf«, sagte er verdrießlich.
»Du hast zuviel geraucht, Gustav«, – Frau Edda sah ihn vorwurfsvoll an, – »eine Zigarette habe ich dir fortgenommen, und drei andere hast du nacheinander verpafft.«
»Ich hatte heute keine rechte Bewegung«, sagte der Professor und streckte ein paarmal die Arme aus. »Kathi,« rief er dann dem Mädchen zu, das schweigend in einer Ecke gesessen hatte, »Kathi, hörst du – wir machen nachher den gewohnten Gang.«
Stanislaus fühlte plötzlich, daß er sich dem persönlichen Leben seiner Verwandten gegenüber in einer Reserve gehalten hatte, die mißverständlich wirken konnte. Er begann mit dem Professor über dessen schnelle Karriere zu sprechen. Er hatte von Geldsorgen gehört, die ihn früher gedrückt hatten, – einmal hatte auch sein Vater dem Neffen in Wien ausgeholfen. Die große Praxis des Professors mußte ihn, ohne Zweifel, von seinen Sorgen befreit haben.
Ein bekümmerter Zug lagerte um den Mund des Professors. »Wir brauchen noch immer mehr als ich verdiene, – mehr als wir haben, – samt Eddas Zinsen. Nicht einmal die Rente für eine anständige Lebensversicherung fällt ab.«
Edda seufzte unmutig. »Eine anständige Versicherung, – ich danke, was die kostet; und eine lumpige hat keinen Wert.«
»Aber, liebes Kind,« entgegnete der Professor, – »du willst doch, – dann, – wenn ich mich mal zurückziehe oder wenn mir was geschieht, – weiter leben, nicht? Und sogar ähnlich wie jetzt, – wie? Ich habe dir das doch schon oft erklärt!« Eine leichte Erregung war in seiner Stimme.
»Wenn man es aber nicht entbehren kann!« seufzte sie. – – – »Und wie denn, wenn du mal längere Zeit krank bist und nichts verdienst, – woher dann die Quote aufbringen?«
»Das wäre schlimm«, erwiderte er, und seine Stirn zog sich in Falten. »Krankheit ist in meinem Budget nicht vorgesehen.« Er schien sorgenvoll zu grübeln. »Na – vor dem Schlimmsten schützt dich ja dein Vermögen.«
Es war spät geworden, die Geschwister wollten sich verabschieden. Der Professor hielt sie zurück, sie sollten vorher noch seinen »Gang« mit Kathi ansehen.
Zu diesem Zwecke begab man sich in das breite Vorzimmer, das mit dicken Veloursläufern belegt war. Edda und die Geschwister setzten sich auf die runden Hocker, die hier an den Wänden standen.
Der Professor warf den Rock und die Manschetten ab. Kathi löste den leinenen Stehkragen von der Seidenbluse, knöpfte die Ärmel am Handgelenk auf und rollte sie hoch über die Ellbogen. Dann stellten sie sich fest einander gegenüber. Einen Moment standen sie mit gestreckten Köpfen, – dann fiel sie mit einem sehnigen Sprung über ihn her. Sie umklammerte seinen Hals und suchte ihn niederzuziehen. Er parierte den Kopfgriff und stemmte den Ellbogen gegen ihr Kinn. Dabei griff sie ihm unter die Arme, preßte seinen Leib und versuchte, ihn hoch zu heben. Er drückte gegen ihre Brust, daß ihre Arme von ihm abglitten, und die krausen Stirnhaare den Kopf umflogen. Aber sie schnellte wieder vor. Da faßte er sie plötzlich am rechten Handgelenk, drehte sich jählings um, zog ihren Arm über seine Schulter, ließ sich auf die Knie fallen und warf sie zur Erde. Sie versuchte, sich zu erheben, es gelang ihr nicht. Im nächsten Augenblick lagen sie verknäult auf dem Boden. Seine Muskeln spannten sich stählern, sie wieder ringelte sich zwischen seinen Armen durch und schnellte halb auf, wenn er sie vollends niederdrücken wollte.
Da läutete es an der Korridortür. Der Professor und Kathi ließen voneinander ab und sprangen auf. Das Stubenmädchen kam aus der Küche und eilte zur Wohnungstür.
»Sehen Sie erst nach, wer es ist«, rief ihr Edda zu. Nach der »Sperre« war ein Besuch etwas Ungewohntes. Das Mädchen hatte durchs Guckloch geblickt und teilte flüsternd mit, es sei der Herr Reisenleitner.
»Aufmachen«, rief Edda.
Ihr Bruder trat ein.
»Servus, Kinder«, begrüßte er Schwester und Schwager. Er schüttelte ihnen die Hand und begrüßte die anderen mit leichter Verbeugung.
Der Professor und Kathi standen schwitzend und schnaubend; sie streifte ihre Ärmel herunter, und er schlüpfte in seinen Rock. »Mein Schwager Reisenleitner – mein Cousin Stanislaus Diamant«, stellte der Professor vor.
»Aha – der Herr Bruder aus Schlesien, – sehr angenehm.«
»Aus Berlin«, verbesserte der Professor und dehnte das i.
»No – erlaub du mir – wie kannst du so was sagen? Wann ich mich morgen in – sagen wir – in New York ansiedeln tu', bin ich deswegen doch a Weaner.«
»Sehr richtig«, sagte Stanislaus, senkte den Kopf auf die Seite, lugte schräg über den Zwicker und zeigte seine Zähne.
»Was macht's ihr denn da alle im Vorzimmer, – aha – the usual match!« Er kannte das. »Wer hat g'wonnen? Niemand? Unterbrochen? Schad'.«
Vinzenz Reisenleitner war ein elegant gekleideter Herr, vollblütig, groß, kräftig, mit braunem Haar, aufgezwirbeltem Schnurrbart und hellblauen Augen. Sein von der scharfen Herbstluft angeblasenes Gesicht schien von Gesundheit zu glühen. Er trug einen braunen Ulster, von weitestem Sackschnitt, der ihm nicht ganz bis an die Knie reichte, einen sehr hohen Stehumlegekragen, die modernste Krawatte von zartem Hellgrün und steifen, schwarzen Hut.
»Alsdann, – wißt's ihr, warum daß ich da bin?«
Edda lud ihn ein, ins Zimmer zu kommen.
»Ja, aber nicht lang, – ich muß gleich wieder weg, – ich hab versprochen, ich bring euch mit.«
»Wohin denn?«
Er nannte ein bekanntes Nachtlokal, einen Champagnerkeller »Zum Nachtfalter«.
»Los is nix.«
»Also?«
»Beim Nachtmahl im ›Imperial‹ habe ich deinen Famulus getroffen, den Herrn Pankraz.«
»Seit wann speist denn der im ›Imperial‹?« mischte sich Frau Edda ein. »So eine Frechheit!«
»Kannst beruhigt sein, auf seine Kosten tut er das nicht; der klebt schon die ganze Zeit an dem amerikanischen Doktor.« Er wandte sich zum Schwager: »Du hast ihn abgetreten an den, – hat er g'sagt, – so lang, daß der da is.«
»Der Dr. Macpherson nimmt mit ihm die Kollegien durch«, erklärte der Professor, »und noch andere Sachen, die man in Wien durchnimmt.«
»Mit dem war er da. Und die zwei gehen heut' noch zum ›Nachtfalter‹. – Da haben's mich heraufgeschickt, ich soll euch hinschleppen.«
Der Professor sah seine Frau fragend an; er überließ ihr die Entscheidung. Er für seine Person war zeitweiligen Exzessen nicht abgeneigt.
»Ich müßt' mich erst anziehen«, sagte Edda zögernd, schien aber doch den Plan zu erwägen. »Wo ist denn die Eva?« fragte sie.
»Die sitzt natürlich bei der Kleinen«, antwortete Reisenleitner mit einer Handbewegung und einem Achselzucken, die Resignation ausdrücken sollten.
»Deine Frau kommt zu wenig heraus«, sagte der Professor in etwas tadelndem Tone.
Vinzenz antwortete ärgerlich: »Erschtens, –« er hielt ihm den Daumen vor die Augen, – »weißt du nicht, was ein kleines Kind ist«; – er selbst schien von diesem Wissen sehr durchdrungen; »und zweitens ist die Eva wirklich eine Hauskatz'. Daß ich mich deswegen einmauern tu', – fallt mir net ein; wann sie so fad is? – – – In der Beziehung – eine echte ›Teutsche‹ – obwohl sie flotteres Blut von ihrer französischen Mutter her haben müßt'.«
Vinzenz Reisenleitner, der die Fabrik seines Vaters übernommen hatte, liebte jene Art von Vergnügungen, die man in Wien »a Hetz« nennt, über alles. Besonders ergeben war er dem Sport. Er verbrachte so ziemlich alle Sonntage und die zahlreichen katholischen Feiertage, die den Gang des österreichischen Geschäftslebens so fleißig hemmen, auf dem Semmering oder im Wiener Wald und war mit seinem Automobil auch mitten im Arbeitsjahr viel unterwegs.
»Alsdann, geht's ihr oder geht's ihr nicht? – Du, ich sag' dir,« wandte er sich zu seiner Schwester, – »der Mister Macpherson ist verliebt in dich.«
Man war in den Salon zurückgekehrt, und Vinzenz saß im Überrock, den Hut in der Hand, auf einer Fauteuillehne.
»Wieso, was hat er wieder gesagt«, fragte Edda neugierig und belebt.
»Alsdann, er hat g'sagt, – your sister, Mrs. Diamond – sprich Deiämönd,« markierte er, – »is the most elegant type of woman, I ever saw.« Er sprach die englischen Worte sehr gut, korrekter als die deutschen. Englisch war immer sein »Talent« gewesen, – und Amerika sein erklärtes Ideal.
Edda lächelte geschmeichelt, tat aber spöttisch: »Glasige Augen hat er! Schaut aus, wie a Karpfen.«
»Ein Verehrer meiner Frau, – da müssen wir hingehen«, sagte der Professor mit zufriedener Stimme, die Hände in der Tasche. Er besaß keine Spur von Eifersucht. »Gänzlich unbekannter Affekt«, hatte er oft versichert. Und mit jener Freimütigkeit, die die innersten Seelenzustände preisgibt und die in jener Schicht der »Intellektuellen« so weit geht, daß sie oft mit Schamlosigkeit verwechselt werden könnte, – mit jener Freimütigkeit, die sich unbedingt zu ihrem Empfinden bekennt, hatte er im Freundeskreis einmal gesagt: Wenn seine Frau einen Geliebten hätte, er würde ihr dieses Erlebnis von Herzen gönnen; eine solche Tatsache würde zwischen ihm und ihr nichts ändern.
Frau Edda aber sagte im Kreise ihrer Freundinnen von ihrem Manne: »Er ist ein schrecklicher Mensch in vielen Sachen, – aber – Hörner aufsetzen?! – Da müsset einer schon aufm Kopf Csardas tanzen!«
In Wahrheit hatte sie ein wählender Trieb zu ihrem Mann gezogen, mit dem sie auch heute noch nicht fertig war, – trotz allem. Seine »Schnuppigkeit«, wie sie es nannte, sein auf die Forschung festgelegtes Interesse, das alles reizte sie zuzeiten in bösem Sinne – und verkettete sie doch auch wieder mit ihm, weil etwas in ihrem eigenen Wesen diese Art im stillen bewunderte. In hohem Grade gefallsüchtig, war sie dabei doch unsinnlich, – frigid, hatte der Professor konstatiert, – und es war ihr noch niemand »gefährlich« geworden. Ihres Mannes Vernachlässigung verletzte und verärgerte nur ihre weibliche Eitelkeit, nicht aber ein sinnliches Bedürfnis in ihr. Er selbst wieder fand die kühle Distanz, in die er zu seiner Frau geraten war, – nachdem er ihren Besitz mit unbesieglicher Begierde erstrebt hatte, – einerseits in der Gewöhnung der Ehe und andererseits in der Natur eines angestrengt geistig und physisch arbeitenden Mannes begründet. »Ich begreife,« sagte er, »daß eine Frau vielleicht mehr braucht, als ein scharf arbeitender Mann ihr bieten kann, – aber – enfin – da müßte man Liebhaber züchten, als soziale Klasse, die die Weibchen unterhalten, während die Männer arbeiten.«
Er trieb jetzt seine Frau an, in den Keller zum »Nachtfalter« zu kommen. »Zieh dich an, – wir gehen hin. Einmal in der Zeit muß der Mensch drahn.« – Den ganzen Monat hatte er jeden Abend, bis tief in die Nacht hinein, an einer Darstellung der klinischen Frühdiagnose des Krebses gearbeitet.
Edda zog sich mit Kathi ins Ankleidezimmer zurück. Stanislaus und Olga wollten sich verabschieden, aber der Professor beredete sie lebhaft, mitzukommen.
»Übermorgen ist wahrscheinlich Stans letzter Tag hier, – und ich habe auch noch eine Menge zu tun, vor der Abreise«, wendete Olga ein. Herrn Reisenleitners Gesellschaft war ihr wenig sympathisch, so stark auch die Hinneigung war, die sie mit seiner Frau verband.
Der Professor kannte die mühsam unterdrückte Abneigung seines Schwagers gegen alles, was das Judentum deutlich repräsentierte. Es amüsierte ihn, – ihm gerade zum Trotz – den so sehr »rassigen« Stanislaus und die rote Olga mitzunehmen. Er hatte nicht vergessen, wie Eddas Bruder sich damals gegen die Verheiratung der Schwester gesträubt hatte und wie nur die Tatsache, daß der neue Schwager Eddas Geld mit Seelenruhe in der Fabrik ließ und es ihm zur Verfügung stellte, ihn umgestimmt hatte. Ein anderer Gatte, ein Offizier oder ein Industrieller, wie er ihn für sie am liebsten gewünscht hätte, würde ihm ihr Geld nicht überlassen haben. Kaum war die Verbindung vollzogen, so war Herr Reisenleitner auch schon stolz auf den großen Namen des Schwagers; überall prahlte er damit, daß seine Schwester den berühmten Dozenten »bekommen« habe.
»Er is zwar a Jud – no ja, Schattenseiten hat alles – aber wenn man der Dozent Diamant is, kann man sich das erlauben; passen's auf, – der wird auf ja und na Professor, – trotz der Strömung!« Er sprach dieses eine Wort respektvoll in reinem Hochdeutsch, mit zugespitzten Lippen, aus. – Und er hatte recht behalten. Trotz der »Strömung« war Diamant, dessen Kollegien eine internationale Hörerschaft nach Wien zogen, in jungen Jahren zur Professur gelangt. –
Edda kam bald wieder. Sie trug ein graues, langschleppendes Kleid von zartem Gewebe, unter dem es schwer und starr rauschte. Auf die hochgeschlossene Taille war in Silberstickerei ein Blumenornament appliziert, das sich um die Büste schlang und sich flimmernd von dem wolkengrauen Grunde abhob. Ein Hut in der Form einer riesigen Altwiener Kapotte aus rosa Filz, mit nickenden rosa Straußfedern, umschloß das runde Gesicht, mit den blauen Blumenaugen. Ein weißer, burnusartiger Mantel war um die Schultern geworfen.
Die Weigerung der Geschwister mitzukommen, wurde vom Professor mit guter Laune abgewiesen. »Ihr müßt mit«, entschied er.
Die Gesellschaft ging im Licht einer Lampe, die das Mädchen trug, die Treppe hinab. Der Hausmeister wurde herausgeklingelt und erschien schlaftrunken, ein Stearinlicht in der Hand, mit den Pantoffeln schleifend, im Nachthemd, mit halbzugeknöpfter Hose. Er öffnete das Haustor und kassierte von jedem der Herren einen Obulus. Die breite Straße war fast leer und schwach beleuchtet. Das Wetter war nebelig frostig. Man fuhr in zwei Fiakern dem Lokal zu.
Die Nähe der schönen Frau erfüllte Stanislaus und belebte sein schweres Temperament. Wie eine Königin erschien sie ihm in ihrer Schönheit; und daß sie sich vor kurzem selbst als die Sklavin unterjochender Schwere bekannt hatte, war ihm ein merkwürdiger und schwermütiger Kontrast.
Man betrat das Lokal. Edda ging voran. Die starre graue Seide des Unterkleides krachte und raschelte, der Kopf mit dem noch erhöhenden Federnschmuck war stolz zurückgelehnt, die Augen glitten über den dichtgefüllten Saal, alle an sie herandrängenden Blicke hochmütig übersehend. So ging sie, der blendenden Wirkung sicher.
Es war ein niedriger Saal, die Kellerwände waren mit Fayencefliesen verkleidet. In dichten Reihen standen die Tische. Ein paar Winkel waren mit roten Sammetvorhängen logenartig abgeteilt. Die Atmosphäre war dumpfig, voll von Tabakrauch, schlecht ventiliert. Ein berühmtes Nachtlokal, vom »echten, alten Schlag«, wie Herr Reisenleitner erklärte. Eine bescheidene Kapelle, – ein paar Violinen, ein Klavier, ein Cello, – machte auf einer kleinen Galerie Musik.
Edda führte mitten durch das Lokal, zwischen den Tischen durch. Fast alle Gäste setzten das Glas hin und dirigierten die Köpfe auf die überragende Erscheinung. Bewundernde Worte raschelten ihr zu. Neben ihr ging Olga, in ihrem braunen Wollkleid, den glatten, braunen Filzhut in die Stirn gedrückt. Die anderen folgten.
»Da sind sie schon«, rief Reisenleitner und steuerte einer der roten Sammetlogen zu. Der halbgeraffte Vorhang ließ das Innere frei. Man sah zwei Herren, die sich eilig erhoben, als die Gesellschaft herankam.
Pankratius Kaff, den Frau Edda gern Kaffer nannte, im braunen Sammetrock, mit wehendem Schlips, wiegte den haarumwallten Kopf, zog dabei das Gestrüpp seines Vollbartes durch die hohle Hand und murmelte, mit tief unter den Kehlkopf gedrückten Tönen, seine »Befriedigung«, daß die »hohe Frau samt Gefolge« erschienen sei.
»Seid auch Ihr gegrüßt, nußbraunes Mädchen«, wandte er sich an Kathi, die ihn mürrisch überging. Jeden der Ankömmlinge adressierte Pankratius auf diese seine Art, welche, wie er wiederholt auseinandergesetzt hatte, nicht der »flüchtigen Daseinsform«, sondern der »Idee« gelte, die sich in der betreffenden Person »emaniert« habe.
Mit korrekten, halben Sätzen erledigte der Amerikaner die Begrüßungsphrasen. »Glad to see you« und ein mäßig kräftiger Händedruck mit den Bekannten, – Namensgemurmel gegenüber dem Vetter Stanislaus, von dessen Anwesenheit Mr. Daniel Horatio Macpherson fürder keine Notiz mehr nahm.
Er überragte selbst Frau Edda um die ganze Höhe seines Kopfes, der mit seinem schmalen, langgezogenen Gesicht an eine Pferdephysiognomie gemahnen konnte. Das rötliche Haar, das glatt und gesalbt niedergelegt war, lichtete sich in der Mitte zu einem breiten Scheitel, der sich am Wirbel zu einer runden, blanken Fläche verbreiterte. Sein glattrasiertes, rosiges Gesicht war gut mit Cream gepflegt, die wasserblauen, runden Augen schienen wenig bewegt, fast starr, und waren die Ursache, daß ihn Frau Edda einen »Karpfen« genannt hatte. Sein Alter war schwer zu bestimmen. Man hätte ihn für einen ganz jungen Mann halten können, wären nicht die Furchen gewesen, die sich von der Nase zu den Mundwinkeln zogen und sich tief in die Wangen gruben. Lang und knochig waren Arme und Beine, tadellos die hochgewölbten, kunstvoll gepflegten Nägel der eleganten, warmen und langen Hand. Ein süßlich-herber Duft, derselbe, den Frau Edda kräftiger anwendete, – Ambre royal – entströmte, wie in vereinzelten Wellen, dem dicken Homespun seines karierten Anzugs, dessen Muster, auf dunkelgrünem Grunde, verwandte, gedämpfte Farben verband; der Rand eines blütenweißen Taschentuches von zartestem Linon blickte diskret aus der linken Brusttasche.
Mr. Macpherson machte den Eindruck eines Mannes, dessen körperliche Kultur nichts zu wünschen übrig läßt. Eine Atmosphäre erfrischender Sauberkeit umwehte ihn, erweckte suggestive Vorstellungen, – von einem vollkommen eingerichteten Badezimmer, von eisernen Hanteln, die morgens nachlässig vom Boden aufgegriffen und ein paarmal balanciert wurden, von festzupackenden Männerhänden, die den wagerecht ausgestreckten, hageren Körper massierend durchkneteten und von einem netten Gibson-Girl, das als Manikure dem Gentleman gegenübersaß.
Macpherson war ein Hörer des Professors. Bei seiner jährlichen Automobiltour durch Europa hatte er beschlossen, ein paar Wochen Wien einzulegen, um im Sommersemester die Kurse des Professors zu hören. Nachdem er in den Ferien im Zickzack durch Europa gefahren war, kam er unerwartet wieder, – um noch weitere Kurse zu hören. Seine ärztliche Praxis in New York hatte er einem Vertreter übergeben und sich eines nervösen Leidens wegen einen besonders langen Urlaub erteilt. Als Sohn des Besitzers einer riesigen Viehplantage in Südamerika hätte er die ärztliche Praxis überhaupt nicht nötig gehabt, aber als echter Yankee verschmähte er ein Leben ohne ehrgeizige Ziele. Die Plantage war noch bei Lebzeiten seines Vaters einem englischen Konsortium unter fabelhaften Bedingungen verpachtet worden. So konnte Daniel Horatio Medizin studieren, was er nie getan hätte, wenn das Geschäft – business! – seine persönliche Kraft erfordert hätte; aber dieser enorme Viehbestand auf den weiten, brasilianischen Prärien bedurfte keiner Personalleistung seiner Nutznießer, um sich unaufhörlich in sich selbst zu vermehren.
In Daniel Horatio Macpherson wohnten zwei Seelen. Die eine hieß business und war mit der geschickten Ausnutzung finanzieller Konjunkturen so wohl vertraut, als mit dem Bemühen, sich als Arzt Erfolge und gesellschaftlichen Rang zu sichern. Die zweite hieß – romance und war sentimental, mit schwermütigem Einschlag. Ihr liebstes, erreichtes Ziel war Venedig. Für Macpherson hatte die Welt nur drei Städte: New York, Paris – als Faubourg davon ließ er die Riviera gelten – und Venice. Alljährlich einmal hielt sein Auto in Mestre, – der letzten mit dem Car befahrbaren Station vor Venedig. Billie, der schwarze Chauffeur, bekam Urlaub bis auf Widerruf, und Daniel Horatio bezog für eine Woche ein paar Zimmer in dem einzigen Hotel am großen Kanal, in dem es für ihn ein befriedigendes Lunch gab, – dem wunderbaren, goldbraun getönten, zum Hotel adaptierten Palazzo, gegenüber vom San Giorgio Maggiore, dem Hotel der Könige und Millionäre. Die tiefen, venezianischen Nächte verbrachte er in der Gondel, in Gesellschaft einer Freundin natürlich, – for in Venice you must be with a lady, – den Geruch des Wassers begierig atmend, aufgelöst in Stille. So glitten sie durch den großen Kanal, vorbei an den fahlen Marmorpalästen, zu deren Füßen eiserne Kandelaber mattleuchtende Lampen auf ihren gestreckten Armen trugen. Nur die sehnsüchtig geschwellten Stimmen aus dem Boote der Sänger, das, umsäumt von roten Lampions, die Gondeln der Gäste verfolgte, zerteilten manchmal das Schweigen und ließen die lebensdurstigen Melodien des Matchich oder der Carmagnole über das Wasser rollen. Zum Schluß bog die Gondel, in der Daniel Horatio – oft den ganzen Abend ohne ein Wort zu sprechen – lang ausgestreckt an der Schulter einer Frau lag, in den Canale Piccolo und glitt geisterhaft über der schwarzen, engen Wasserstraße, unter den gewölbten Brücken, zwischen finsteren Palästen, dahin. Nur das Plätschern des eintauchenden Ruders unterbrach dann diese tiefe Stille, und in der Dunkelheit sah man nichts, als die im Licht der Gondellaterne erkennbare Gestalt des Gondoliere, wie sie sich rhythmisch aufrichtete und niederbeugte und an der Spitze der Gondel scheinbar schwebte. In später Stunde bogen sie dann wieder in den großen Kanal ein und legten an der glänzend erleuchteten Steintreppe des königlichen Hotels an.
In dieser zweiten, romantischen Seele spielte das Weib eine Rolle, die in das Gebiet der anderen Zone, der des Yankee-Ehrgeizes, hinübergriff. Aber das Weib, wie es Daniel Horatio als kostbarstes Inventarstück seines Besitzes erträumte, – dieses Weib wohnte in seiner Vorstellung hoch über jener Welt, aus der man gefällige Reisefreundinnen für eine Saison bezog: eine glänzende Herrin – a real lady – war das Ziel seiner Sehnsucht.
Diese beiden Seelen lagen auf allen übrigen Gebieten in Fehde miteinander; »when business goes in, romance goes out«, pflegte er zu sagen. Aber es gab einen Punkt, auf dem sich die beiden Seelen Daniel Horatios mit einem nüchternen und sich menschlich bescheidenden Ultimatum versöhnten; denn die Selbsterkenntnis seiner stillsten Stunden, die Bilanz seiner ehrlichsten Abrechnung mit sich selbst, die unbestochene letzte Wertung, die er sich zuerkannte und die ihn den Kopf sicher und doch wieder bescheiden tragen ließ, – die formulierte sich in den Worten, mit denen er Frauen über sich zu orientieren pflegte. Diese Worte lauteten: »I am a gentleman and I am clean.« Es war das Engste und Letzte, was er über sich auszusagen wußte, – mit dieser Legitimation warb er um Vertrauen und schränkte dabei, vorsichtig, illusionistische Voraussetzungen ein.
Dieser Mann, der ein Gentleman war und rein – ich sterbe als Soldat und brav – huldigte Frau Edda, in respektvoll distanzierter Art, mit hoffnungsloser Bewunderung. Hier war ihm sein Ideal leibhaftig vor Augen getreten, – und es war unerreichbar, wie Ideale zumeist es sind.
Man verteilte sich, so gut es der knappe Raum der Nische gestattete, um den Tisch, und der Professor und Mr. Macpherson machten ihre Bestellungen; sie einigten sich auf eine englische Marke.
Pankratius Kaff, der auf den belebenden Stoff nicht erst zu warten brauchte, sein Glas schon fleißig gefüllt und geleert hatte, begann sein »sokratisches Spiel«, wie er es nannte, das für ihn darin bestand, andere bei »der Idee ihrer selbst« anzugreifen, zu Bekenntnissen zu reizen, sie herauszufordern, und dabei Stücke, die er augenblicklich auf seinem geistigen Repertoire hatte, geschickt auf die Gesprächswalze zu winden. Er nannte Olga und Stanislaus zwei Typen, die er mit Apollo und Diana des Lucas Cranach verglich, und hatte, als die erwartete Befremdung über diesen Vergleich eintrat – den man für geschmacklos grobkörnige Ironie hielt –, Gelegenheit, seine Auffassung dieses Bildes auseinander zu setzen. Er wollte in den beiden Gestalten des Meisters die Verkörperung voraussetzungsloser Intellektualität erkannt haben. Er schilderte die strengen, ganz auf Erkenntnis gerichteten Gesichter, die unpersönliche Haltung der geschwisterlichen Gottheiten, wie sie Cranach gemalt, und es gelang ihm, diese neue, und nicht uninteressante Auffassung auch auf die Zuhörer zu übertragen und seinen Vergleich zu rechtfertigen.
Pankratius war ein bemoostes Haupt, aber doch nicht ein für alle Zeiten verlorener Sohn der Fakultät, der er »hauptberuflich« angehörte. Vielmehr war er entschlossen, eines Tages auch sein letztes medizinisches Rigorosum zu machen und eine Praxis in einem ihm zusagenden Spezialfach zu eröffnen; er glaubte auch, dieses Fach schon gefunden zu haben. Der Grund, warum zwischen den einzelnen Etappen seines Rittes zu einem akademischen Ziel und einer bürgerlichen Existenz sich weite Landstrecken auszudehnen schienen, lag in der »Fülle blühender Interessen«, die ihn auf diesem Wege aufhielten. Er war auch tatsächlich kein echter Müßiggänger. Zumeist waren es die schwebenden Gärten der spekulativen Philosophie, in denen er sich lustwandelnd verloren hatte, dann wieder war es eine stramme Wanderung durch das Ackerland der Nationalökonomie, oder ein Wolkenflug durch die Künste gewesen, die ihn vom vorgeschriebenen Wege abgelenkt hatten. Aber immer wieder kam er, in gemächlichem Tempo, zu diesem Wege zurück und bestieg den geduldig da wartenden »Klepper der Karrière«.
Die Gunst des Professors ermöglichte ihm diese Reisen. Er war sein Landsmann, und sie hatten in ihrer mährischen Heimat zusammen die Bänke des Gymnasiums gedrückt. Edda, die den »Kaffer« verachtete, – sie schätzte den Mann, der dem Tag mit jener Kraft, die sie selbst nicht aufzubringen vermochte, Ergebnisse abzwang, trotz ihres zeitweiligen Grolles gegen Bazillenkulturen, – hatte ihrem Mann vorgeworfen, daß er den Kaffer »korrumpiere«, indem er ihm ein sicheres Brot gab. Der Professor aber war gewöhnt an ihn. Seine »Paradoxendrescherei«, wie Edda seine geistigen Kundgebungen nannte, störte ihn nicht, entsprach vielmehr einer gewissen Neigung seiner eigenen Natur, und er konnte ihn gut brauchen. Er gab ihm, als seinem Sekretär, ein festes Gehalt, zog ihn bei Operationen zur Assistenz heran, wofür er ihn besonders honorierte und schob ihn zeitweilig ausländischen Hörern zu, denen Pankratius teils als Dolmetsch der Kollegien, teils als Führer durch Wien diente. Und da diese fremden Hörer, wie Macpherson, zumeist mit etwas Deutsch ausgerüstet waren, vermochten sie die willkürlichen Konstruktionen, die sich Pankratius, in schöner Unbekümmertheit, in fremden Sprachen leistete, als Krücken zu brauchen.
Während sich Macpherson mit Edda und Vinzenz Reisenleitner beschäftigte, kehrte Pankratius sein Interesse vorerst den Geschwistern zu.
»Sie gehen ohne Zweifel nach Berlin, befreite Dame,« wandte er sich an Olga, – »um der Einsamkeit näher zu kommen, – ist es so?«
»Verschonen Sie uns mit verdrehten Reden«, rief Edda unwillig aus ihrer Ecke herüber.
»Wieso finden Sie diese Rede verdreht, o Meisterin?« gab er zurück. »Es ist eine empirisch erprobte Tatsache,« – es klang gut vorbereitet – »daß innere Einsamkeit heute nicht mehr in äußerer gedeiht. Vergraben Sie sich allein in ein einsames Nest, zum Zwecke innerer Verdichtung, – und Sie werden alsobald von den unruhigsten Stimmungen heimgesucht werden, die den geplanten Zweck durchkreuzen … Der moderne Prophet,« – er drückte die Töne tief in den Schlund, rieb die Hände ineinander und neigte den Kopf von einer Schulter zur anderen, – »der moderne Prophet geht in die Wüste der Weltstadt. Hier kann er Einsamkeiten erleben, wie sie ihn in der Sahara nicht erwarten, – hier kann er Stimmen hören und Gesichte schauen …«
Er fühlte sich rehabilitiert, und, ohne die Stimmung auszunützen, wandte er sein dickes, rotes Gesicht freundlich zu Frau Edda hin und fuhr, gemächlich erzählend, fort:
»Ich war einmal im Mai am Lago Maggiore, mit einem großen Koffer voll von Büchern und Skripten, – im Mai, verstehen Sie! Ich hatte es raffiniert so eingerichtet! Nachdem ich drei Tage lang in dem einsamen, glühend heißen Nest mit Schlafsucht und Verzweiflung gekämpft hatte, fing ich am dritten Tag an, laute Selbstgespräche zu halten; am vierten Tag saß ich nachts zehn Uhr in der Eisenbahn, am fünften hatte ich einen Aufenthalt von eins bis vier Uhr morgens in Feldkirch, am sechsten telegraphierte ich meiner Wiener Zimmerfrau von Innsbruck: ›Locarno grassiert Typhus Ankunft heute abend.‹ Der Bücherkoffer kostete, –«
»Diesen Streich kennen wir, du brauchst damit nicht zu glänzen«, schnitt ihm der Professor das Wort ab.
»Es ist nur, weil ich sagen will – in der Weltstadt wäre ich ohne Zweifel damals zur ›Verdichtung‹ gelangt, – während mich dort die Stimmen hetzten …«
Der Champagner war indessen gekommen und perlte in den Gläsern; Edda bestellte für sich gesalzene Mandeln, Reisenleitner ein Giardinetto, der Professor Frankfurter Würsteln. Kathi naschte von den petits fours, die auf dem Tisch standen.
»Gehen Sie nach Berlin, um ihre Volubilität zu systematisieren?« forschte Pankrazius weiter.
»Ich hoffe, in Berlin einen Beruf zu finden«, entgegnete sie.
»Beruf – o weh«, sagte Pankrazius kläglich. »Eine Massenpsychose hat da die Frauen überwältigt! Sie, die Symbole von Gottnatur, – vergemeinern sich im groben Tagwerk.«
»Symbole von Gottnatur, – was ist das schon wieder für ein geschwollenes Gerede«, sagte Frau Edda.
»Bitte sehr, dieses Wort ist nicht mein Eigen, und Sie werden nicht leugnen, daß das Weib –«
»Ich leugne,« der stille Stanislaus hatte das Wort, – »ich leugne, daß irgendeine Frau ihr Leben lang als Symbol herumlaufen kann, – als Symbol morgens aufstehen und abends sich niederlegen, als Symbol all die Plackerei erledigen, die der Tag für sie, wie für den Mann bringt.« Er bewegte im Sprechen den Kopf so hastig, daß die schwarzen Ringel die Stirne schlugen.
Das Gespräch hatte eine gereizte Wendung genommen.
Edda rief dem Pankrazius erbittert und höhnisch zu, – und ihr kleiner Sprachfehler wurde bei diesem schnellen Heraussprudeln der Worte besonders deutlich. »Glauben Sie nicht, daß eine Frau lieber in einem Beruf rackert, – als daß sie drauf warten muß, bis irgendeiner – Sie zum Beispiel – ihr Schicksal in Schlepptau nimmt?«
Die Stimmen schwirrten erregt durcheinander.
Mr. Macpherson wunderte sich, daß die Deutschen beim Wein, besonders aber wenn sie gebildete Reden führten, – intellectual speeches – immer gleich schrien. Überhaupt fand er diese Art von Konversation schauderhaft. Sein angelsächsisches Kulturgefühl lehnte sich gegen andere als konventionelle Gespräche auf. Die höflichen Formeln, hinter denen, in guter Gesellschaft, die Gesinnungen verborgen blieben, empfand er als Schutzwehr der innersten Persönlichkeit. Dieses gegenseitige Hineingreifen in die geistige Sphäre der andern, wie er es hier in diesen Kreisen fand, schien ihm barbarisch und dazu völlig unfruchtbar. Aber, wie es schien, ging es hier nicht anders. »They always put their hands into the most interior sphere of each other«, hatte er gleich zu Anfang seines Wiener Aufenthaltes herausgefunden. Frau Edda bedauerte er. Sie schien ihm mit Entartung bedroht durch ihr Milieu.
Pankrazius hatte die Verachtung, die ihm aus Eddas Rede entgegenschlug, schweigend, mit einem etwas starren Lächeln um den Mund, hingenommen. Er wußte, wie er diesen Angriff zu parieren habe. Langsam und gewichtig fragte er sie: »Würden auch Sie, Frau Edda, lieber in einem Beruf rackern, – arbeiten – als – als Ihr Schicksal – in Schlepptau nehmen lassen?«
Sie fuhr zusammen und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Es war etwas wie Entsetzen in dem schönen Gesicht. Sie schüttelte den Kopf, daß die Straußfedern nickten: »Ich? – Arbeiten? – – Nein, – nein. – Ich nicht! – Aber die andern, die – die es können, – die tun recht.«
Pankrazius lehnte sich mit spöttischem Gesicht zurück. »Das nenne ich einen selbstlosen Eifer; das Recht auf Arbeit – für andere!« Er trank sein Glas aus und qualmte beruhigt aus seiner Zigarre.
Edda neigte gedemütigt den Kopf, und es zuckte in ihren Zügen.
Mr. Macpherson war plötzlich von dem Gespräch gefesselt worden und konnte nun selbst nicht widerstehen, sich dieser »most interior sphere« eines Menschen zu nähern.
»Why so, Mrs. Diamond«, fragte er in seiner gedämpften Art und beugte sich zu ihr, – »Sie hassen die Arbeit?«
Edda hob den Kopf und sah schmerzlich grübelnd vor sich hin. Wie für sich selbst, flüsterte sie: »Ich hasse sie nicht, – ich fürchte sie.«
Der Professor hatte ruhig seine Frankfurter Würsteln gegessen und sein Glas geleert. Jetzt scharrte er mit dem letzten Zipfel des Würstels den Rest von geriebenem Kren zusammen, der noch auf dem Teller lag, und sagte mit seiner gequetschten, kühlen Stimme und seiner leicht böhmelnden Aussprache:
»Das ist doch klar, – für dich gibt es nur die Ehe.«
Eddas Kopf schnellte wieder auf, die Straußfedern tanzten. »Nie, nie!« rief sie ihrem Mann über den Tisch zu.
»What does that mean?« fragte Daniel Horatio, mit verhaltenem Atem.
»Krächzt der Rabe – nevermore!« deklamierte Pankrazius.
»Nie mehr würde ich heiraten, – wenn ich noch mal in die Lage käme, – nie.«
»Da hört's ihr's,« sagte der Professor mit munterer Stimme und guter Haltung, – »die richtigen Männerhasserinnen sind gar nicht unter den Emanzipierten. Olga ist gewiß nicht so männerfeindlich, wie du.«
»Vielleicht nur ehefeindlich«, sagte sie.
»Sie würden mit keinem Mann mehr leben wollen?« fragte sie der Amerikaner leise, in seiner Sprache.
»Wahrscheinlich doch, – aber ich würde nicht mehr heiraten.«
»Doch, – in einem Fall: wenn, – wenn er – nicht drauf einginge, – anders zusammen zu leben – und ich sonst – arbeiten müßte. – – Aber darauf wird jeder eingehen«; und wieder glitt ein fast verächtliches Lächeln über ihre Lippen.
Der Professor klopfte an sein Glas. Alle warteten neugierig.
»Ich trinke auf das Wohl meiner lieben Cousine«, begann er, ohne aufzustehen. »Das bist nicht du«, brummte er Kathi zu, die vergnügt aus ihrer champagnerseligen Versunkenheit aufgeschnellt war. »– Das ist meine liebe Cousine, Olga Diamant, die uns ein guter Kamerad war. Nun geht sie weg, – sie will uns verlassen,« – er schien nachzudenken, wie er den Toast vollenden sollte, und plötzlich verzog er die schmalen Lippen zu einem schadenfrohen Lächeln und zwinkerte seitlich nach seinem Schwager Vincenz hin, der beide Backen voll Krachmandeln und Rosinen hatte, – »und so gebe ich ihr denn ein erprobtes, altes Sprichwort unserer Väter mit auf den Weg, das da heißt – auf deutsch: Wechsele den Ort, und du wechselst das Glück! Prosit!!«
Die Gläser klangen aneinander. Der Amerikaner, der den Toast nicht ganz verstanden hatte, wollte von Vincenz eine genaue Erklärung haben, aber der zuckte die Achseln, war reichlich mit seinem Giardinetto beschäftigt und machte die Gesellschaft auf einen Scherz mit einer Orange aufmerksam. Die lag auf einem mit einer Serviette bedeckten Glas; Augen, Nase und Mund waren in die Schale eingeschnitten. Im Spalt, der den Mund vorstellte, stak ein Zahnstecher; er zog abwechselnd an beiden Seiten der Serviette und der Orangenkopf, mit der Zahnstecherzigarre im Mund, reckte sich und wackelte hin und her. – – –
Während Vincenz dann dem Amerikaner die besten »Freßquellen«, wie er es nannte, aufzählte, – er bezeichnete an den Fingern die einzelnen Firmen und nannte ihre Artikel – the best fruit, – first rank cakes, – cognac and wine – – – während Pankrazius sich halb betrunken zu Kathi beugte und ihr klar machte, ihr hoffnungsloser Fall würde damit enden, daß sie ihn heirate, und sie ihn zischend beschimpfte, – während Frau Edda sich müde zurücklehnte und der Professor den Zahlkellner heranwinkte, – während Stanislaus und Olga flüsternd über die Einteilung des morgigen Tages berieten, – – stand vorn auf der Galerie, auf der die Musiker eine große Ruhepause machten, – ein blasser, hochgewachsener Mensch, mit flackernden, blauen Augen, borstigem, blonden Haar und Spitzbart, im Frack – und starrte die Gesellschaft in der Loge an. Plötzlich zog er ein Notizbuch hervor, riß ein Blatt heraus und suchte in seinen Taschen nach einem Bleistift.
In diesem Augenblick glitten Stanislaus' Blicke über die Galerie hin und blieben fest und wie erschreckt an der Gestalt des Mannes hängen. Er wandte sich zu Olga, schien ihr etwas sagen zu wollen, – besann sich aber anders und schwieg.
Der Mann oben hatte einen Bleistift aus der Tasche hervorgeholt und trat von der Brüstung zurück. – Wenige Minuten später ließ der Zahlkellner, der auf den Wink des Professors endlich herbeikam und sich fest zwischen seinen und Olgas Stuhl klemmte, – indem er, dem Professor zugewandt, seinen Arm einen Moment hinter seinen Rücken schob, ein Papierröllchen in Olgas Schoß fallen.
Nur einer hatte es bemerkt: Stanislaus.
Verwundert starrte Olga auf das Papier. Es war mit den Fingern symmetrisch aneinander gedrückt, so daß es von selbst zusammenhielt. Schon wollte sie die Rolle dem Kellner zurückreichen, als Stanislaus ihr zuflüsterte: »Schweig, – nimm es.«
Unter der Tischplatte strich sie das Papier glatt. Die Geschwister überflogen die wenigen Bleistiftzeilen, die es enthielt, und Olga wurde bleich. In ihr Gesicht, unter dem flammenden Haarbusch, kam ein finsterer Zug, und einen Augenblick erschien es, wie eine düstere Maske. Um ihren Mund lagerte sich ein Ausdruck, als ob etwas Bitteres, Übles auf ihrer Zunge zerfließe und zu verschlucken sei.
Stanislaus sah sie fragend an, sie schüttelte kaum merklich den Kopf, das Papier glitt in ihre Tasche, der rote Haarbusch senkte sich tief, sie stützte den Kopf auf und verbarg ihr Gesicht, so gut es ging, hinter dem Arm.
»Meine reizsame Dame,« hörte man den Pankrazius, mit gedämpftem Bierbaß, in den zottigen Bart brummen, – »es wird Ihnen wenig nützen. Sie sind derzeit verliebt in Ihren Chef, der Sie nicht heiraten wird und für den Sie aus zu anständiger Familie sind, um mit Ihnen ein Verhältnis anzufangen, wie Sie wünschen würden. – Ähnliches haben Sie schon öfter erlebt; – – wenn Sie noch ein paar Jahre Ihre primeurs vergeblich offeriert haben werden«, – haßerfüllt sah ihn Kathi an, – »so werden Sie mich akzeptieren.«
»Kaffer«, murmelte Kathi, – was den Pankratius nicht zu entrüsten schien, denn er überging ihren Ausruf und fuhr fort, ihr »Karma zu deuten«.
Vincenz Reisenleitner begann sehr fidel zu werden. Er war bei »seinem Wean« angelangt; die Madeln, der Heurige – der Fiaker – – – er bereicherte das bekannte Repertoire nicht, – und die Operette, – die Weaner Operette – Herr Gott!
Die Kapelle oben hatte wieder zu spielen begonnen. Man bekam die dem Ohr wie im voraus fälligen Rhythmen des »beliebtesten Schlagers« einer neuen Operette, die schon ihr zweihundertstes Jubiläum erlebt hatte, zu hören. Vincenz sang mit:
»Kitzi, Kitzi, Katzi,
Komm mein süßes Schatzi« – – –
»Mei' Wean, – mei' Wean«, lallte er, breitete die Arme aus und schnalzte mit Daumen und Mittelfinger. Seine Wangen hingen schon schlaff, und die Augen bekamen jene verglasende Schicht der Trunkenheit. »'s gibt nur a Kaiserstadt«, beteuerte er – »und – und«, – er hob den Kopf und nickte dem Amerikaner mit starrem Blick zu, – »New York – – Mr. Macpherson – New York – is allright –«.
Die Gäste des Lokals stampften den Musikern Beifall. Ein schwammig-dicker, bleicher, junger Herr im schwarzen Abendanzug, Brillantringe an den fetten Fingern, der mit drei »Freundinnen« an einem Tisch saß und die Beine weit von sich streckte, brüllte auf die Galerie hinauf: »D'r Isidor!« Und, als im Marschtempo die gewünschte Nummer ertönte, gröhlte der Dicke mit, und die meisten der Gäste stimmten in den Refrain ein:
»Der Isidor, der Isidor, das is a feiner Mann,
Vom Kopf bis zu die Fieß
Wie Weinbeerstrudel sieß …«
Dann ging die Melodie des Potpourris in sentimentale Rhythmen über, und Vincenz sang mit, begeistert und bis zu Tränen gerührt:
»Du guater Himmelvater – – –
i brauch ka Paradiiies – – –
i bleib' viel lieber dader – – –
wo der siebente Himmel iiis« – – –
*
»Ich werde fort sein,« dachte Olga, – »bald.«
»Wenn ich nur erst in meiner Berliner Bude bin,« dachte Stanislaus, – »noch vier große Kapitel habe ich.« – – –
»I'll never get her«, seufzte die romantische Seele Daniel Horatios, in tiefster Heimlichkeit …
»Champagner is gut, – die Schulden holt der Teufel«, – so sprach die verschwiegenste Stimme des Professors.
Edda dachte: »Wäre ich ausgezogen, – das Korsett los.«
»Großer, himmlischer Vatter, – heut' allein – und morgen wieder – ich geh' auf die Straß' – meinerseel' – – – aber den Kaffer, – na – und wann ich mit ihm allein auf der Welt wär.« Das war Kathi.
Pankratius: »Sie hat zehntausend Gulden, – das genügt für's erste, – einen feinen Katzenleib – und kriegt keinen anderen. Ich werde mich etablieren – Institut für elektrische Therapie« …
Vincenz dachte: »Amerika – Amerika«, und er lachte plötzlich laut auf und schlug mit der Hand auf die Tischplatte, mitten hinein in die leeren Schalen der Krachmandeln.
Des Pankratius Stimme ergoß sich plötzlich, in ihrem tiefsten Brummbaß, in einen Vortrag, der im Ton des Ausrufers einer Jahrmarktsbude gehalten wurde:
»Meine Herrschaften!« Er klopfte an sein Glas. »Wir leben in einem Zeitalter der Surrogate. Für alles Mögliche wird ein ›Ersatz‹ gefunden. Und zwar scheint dieser Ersatz«, er wiegte nachdenklich den Kopf, »beliebter und gesünder zu sein, als das, was er ersetzt.« Er sah sich um, als forderte er die Anwesenden auf, ihm beizustimmen. »Kaffee-Ersatz, Tee-Ersatz, Leinen- und Fett-Ersatz usw. usw. … Der Ersatz ist beliebt, denn er eliminiert die Schäden jenes Stoffes, den er ersetzt, und bietet nur seine angenehmen Wirkungen. Er ist eine bewußte Auslese des Heilsamen.« Er schien einen sorgfältig ausgearbeiteten Prospekt aufzusagen. »Sport: Ersatz für körperliche Arbeit, die viel Unangenehmes, Gefährliches mit sich bringt. Der Sport verdichtet ihr Nützliches und Angenehmes.« Er machte eine kurze Pause. »So gibt es nun auch, – passen Sie auf, meine Herrschaften, – einen Ersatz für Liebe … Ja, meine Herrschaften, staunen Sie, – einen Ersatz für Liebe, sage ich. Dieselbe beruhigende Wirkung, die von der befriedigten Liebe ausgeht, meine Herrschaften, – dieselbe Stärkung des Ich-Bewußtseins und des Gefühles der körperlichen und seelischen Macht, – diese Festigung der Elastizität des Herzens, – das dadurch in die Lage gesetzt wird, Gehirn und Extremitäten ausgiebiger mit Blut zu versorgen, – alles dies, meine Herrschaften, – bietet der Wechselstrom oder der faradische Strom – gleich der Liebe; … nur daß er«, – ein pfiffiger Zug kam in sein Gesicht, – »ihre Gefahren, Wirren und Krisen nicht im Gefolge hat. Sollte nicht, meine Herrschaften, die Elektrizität, das jüngste und wunderbarste Adoptivkind der Medizin, – sollte nicht die Elektrizität«, – er sank auf ein langsameres Tempo und schob jedes Wort gewichtig vor, – »eine andere Form der Lebenskraft sein, – da sie uns zur Seele verhilft?« – – – Er war zu Ende und drehte den zottigen Kopf von einem zum andern.
»Halbaff' – – – Lemur'!«, schrie ihm Kathi zu.
»Von wannen kommt Euch solche Wissenschaft, reizsame Dame? Aber Ihr irrt. Das physiologische Institut dieser Stadt wird Euch über diesen Irrtum eines Tages belehren, denn ich habe ihm mein Gehirn vermacht. Über den Typus der lemurischen Primaten dürfte es hinaus sein.«
Das Lokal dröhnte:
»Drahn m'r um und drahn m'r auf,
Was liegt denn draan, – – –
Weil man auf d'r Wöllt das Gölld
Nicht fressen kaaan – – –«
Es war die letzte Nummer der Kapelle.
*
Auf der Straße vor dem Lokal, das sich auf einem großen Marktplatz Wiens befand, wartete der hochgewachsene Mensch, mit den flackernden Augen, der auf der Galerie der Musiker nach der Loge gestarrt und in seinen Taschen nach Papier und Bleistift gesucht hatte. Er trug einen schäbigen Überrock, einen zerdrückten Filzhut und hielt in der Hand einen Violinekasten.
Es war um die Zeit, da die Marktweiber ihre Körbe auszupacken beginnen. Es wimmelte von vermummten Gestalten, die da zwischen Nacht und Tag durcheinanderschoben. In der Mitte des Platzes stand, noch verhüllt vom Morgengrauen, das Radetzky-Monument, wie ein gespenstiger, mit grauen Schleiern verhängter Koloß.
Der Professor, seine Frau und Kathi bestiegen einen Wagen. Edda beugte sich noch einmal heraus und deutete auf das Gewimmel der Marktweiber, deren umfängliche, in dicke Jacken und Tücher gewickelte Gestalten sich in der langsam vordrängenden Helle des Morgens voneinander abzuheben begannen. »Lauter Symbole von Gottnatur!« – – Sie rollten fort.
Mr. Macpherson bog mit Pankratius und Vincenz links in die innere Stadt ein.
Olga und Stanislaus gingen durch das Gedränge des Platzes, zwischen den Standkörben, den bepackten Wagen und dem Gewimmel der Gestalten, bis hinüber auf das jenseitige Trottoir. Der hochgewachsene Mensch folgte ihnen, mit schweren, wiegenden Schritten.
»Fräulein Diamant!« –
Stanislaus wandte sich: »Treten Sie näher, Herr Koszinsky.«
»Wie geht es Ihnen«, sagte Olga und reichte ihm die Hand, und ihr Gesicht schien im fahlen Morgenlicht von unsäglicher Traurigkeit.
»Mache Kapelle mit«, kam es verbissen zurück. »Ja, – Sie waren vorsichtig. Abwärts – geht unser Weg.«
»Kasimir Koszinsky,« sagte sie, mit einem Ton so voll tiefen Grames, daß es sein Herz überschauerte, – »ich war nicht stark genug, – Ihnen zu helfen.«
»Wer – wer soll es auch tun«, kam es zwischen seinen zusammengepreßten Zähnen hervor.
»Sie selbst.«
Er schüttelte den Kopf, wie ein hoffnungslos Überzeugter.
Sie schwiegen alle drei und standen noch immer auf dem Trottoir, seitab vom Marktgewimmel. Scharf wehte der frühe Tag über sie hin.
»Ich bin schon einige Zeit lang hier, – aber ich habe Sie nie gesehen,« sagte er, – »leben Sie hier?«
»Bis jetzt; aber ich übersiedele diese Woche nach Berlin.«
»Nach Berlin – so. Und der Vater?«
»Alt – allein.«
»Er hat keinen Schwiegersohn für sein Geschäft bekommen?« kam es heraus.
»Weder einen fürs Geschäft, – noch sonst einen. Leben Sie wohl!«
»Olga!«
»Leben Sie wohl, Koszinsky …«
Stanislaus zog sie fort. Sie verschwanden in der nächsten Straßenbiegung.
Das Firmament wurde lichter, ein Windstoß trieb die Wolken vor sich her, daß sie gejagt über den Himmel flohen. Ein klarer, sonnengoldener Herbsttag brach an.