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Ja, ich habe auch genug von diesem Tantenbesuch. Und wenn ich nicht gehe, so ist dies die vis inertiae, die sich allen mitzuteilen scheint, die lange in dieser Villa zu hausen gezwungen sind. Der Medizinalrat kritzelt mit der Rechten Rezepte, mit der Linken rückt er sich die verschobene Perücke unauffällig zurecht. Schweres Schädelweh! Endlich trabt er ab. Sollen ihn sofort holen lassen, falls der Puls elend würde . . . Auf einmal die zarte Sorge! Reaktionsstimmung. Er hätte das letzte Glas Chambertin nicht trinken sollen.
Der liebende Neffe bleibt, um der Gnädigen Gesellschaft zu leisten.
Wir sind wieder im Lolazimmer. Die Flucht der gräflichen Gemächer ist jetzt geöffnet bis zum letzten, dem kreuzfidelen Lazarett. Ich kann von meinem knarrenden Schaukelstuhl den schwächlichen, gelben Dunstkreis der Nachtlampe hin und her schwanken sehen. Es ist sechs Uhr und so dämmerig wie vor einem Erdbeben. Madame wünscht kein Licht. Mir recht. Döst sich auch besser so.
Wir sprechen wohl eine Stunde kein Wort.
Dann fängt sie an: »Tüchtiger Arzt?«
»Vor zwanzig Jahren!«
348 »Diskret?«
»Nach der Probe vorhin sehr!«
Ich döse weiter. Sie haucht gegen das Fenster und malt Figuren mit nervöser Hand.
»Warum gehen Sie eigentlich nicht, Graf Carén?«
»Gehen Sie auch, gnädige Frau?«
»Jemand muß doch dableiben . . .«
»Die barmherzige Schwester . . .«
»Ja, ja . . . Ich würde aber an Ihrer Stelle doch lieber gehen, Graf Carén.«
»Wenn ich Ihnen damit einen Gefallen thue, gnädige Frau?«
»Gefallen nicht. Aber einer ist genug.«
»Sehr richtig! . . . Ob ich nun meinen Stumpfsinn hier lasse, oder ob ich ihn weiterschleppe, das kommt auf eins 'raus.«
»Ich würde aber doch gehen . . . Sie sehen, es ist ja nichts . . .«
»Warum wollen Sie mich eigentlich partout los sein, gnädige Frau?«
»Ich denke nicht daran, lieber Graf!«
»Also bleibe ich.«
Hätte sie gesagt: warum bleiben Sie? ich wäre sicher gegangen. Das ist meine Art von Charakter der Gnädigen gegenüber. Ich mißtraue ihr grundlos wie immer. Sie bleibt. Sollte es schlimmer stehen, als es scheint? Sie hat doch keinen schärferen Blick als der Arzt!
Wir schweigen uns wieder aus. Die Schatten sinken schwer, tief. Die ungewissen Umrisse der Gegenstände dehnen sich ins Riesige, verschwimmen – nur die gelben Messingstäbe des verwaisten Vogelbauers gleißen feindlich, als wenn ihnen der tote Tyrann seinen Haß vererbt hätte. Ich unterscheide Madame kaum noch. Sie sitzt unbeweglich – ein graues Gespenst. Ist sie überhaupt noch da? 349
»Licht, gnädige Frau?«
»Wollen Sie?«
»Nein.«
»Ich danke auch.«
Dann kommt die Dürre mit der Medizin. Ich winke ihr stumm. Sie verschwindet mit dem lautlosen Schritte gutgeschulter Dienstboten. – Ich schiebe die Arzneiflasche weit von mir weg, mitten auf den Tisch, bis das Silberpapier um den Kork nur ein Schein von mattleuchtendem Grau ist. Dieser Schein zwingt mich, hypnotisiert meine Sinne wie das blitzende Glasprisma eines Magnetiseurs. Als ob Tod und Leben in der farblosen Flüssigkeit darunter stumm ruhten! Dieser Schein birgt mein Geschick. Ich weiß es. Und meine Gedanken suchen die Nacht – und suchen auch das Licht. Der Kopf wünscht kühl den Tod – das Herz bittet lau um das Leben. Ich gleiche den halben Bösewichtern, die erst Gift geben und dann den Sterbenden mit ihren Küssen bedecken. Mitleid verdienen die gutherzigen Bösewichter nicht – und ich bin einer von ihnen. Wie ich dies Halbe hasse!
Als ich mich endlich losreiße von diesem elenden Silberpapier, da fühle ich an einem schwankenden Schatten mir gegenüber, daß sich auch zwei andre Augen losreißen . . . Was hat die Dame mit der charakterlosen Linie gedacht? – Kam das Weib zu dem ganzen Schluß, vor dem der Mann flüchtet? – Und ich fühle auch, daß sich in der tiefen Dämmerung unsre Augen suchen, daß zwei Menschen sich anstrengen, in den Gesichtern zu lesen – zwei Menschen, die sich nicht sehen. Was brauchen wir beide eigentlich noch Seelenkunde, die wir uns so genau kennen: Nichts – sie; weniger als nichts – ich.
Ich wünschte, es bliebe noch lange so finster!
Aber die Gnädige hat sich erhoben, befiehlt Licht.
350 »Nun, wozu haben Sie sich entschlossen, gnädige Frau?« Höfliche Phrase – auch mehr. Denn ihre Bewegungen haben wirklich etwas Entschlossenes.
»Wozu ich mich immer entschließe, wenn ich eine Stunde mit mir allein bin, Graf Carén: Nichts halb thun!«
»Sie sind zu beneiden, gnädige Frau.«
»Ich habe selten eine glückliche Hand, glauben Sie es mir! . . . Uebrigens konstatiere ich an mir zum erstenmal, daß ich Nerven besitze. Warum habe ich mich eigentlich vorhin für fremde Morphiumsüchtige aufgeregt? Mich ärgerte die Art von dem Menschen. Ich glaube natürlich nicht daran . . . aber schließlich – warum sollte sie nicht! . . . Wenn sie sich nur nicht in der Dosis irrt . . . Das könnte den Gehirnnerven der alten Dame mit einem Schlage gefährlich werden. – Was ich noch sagen wollte . . . hat man Sie wirklich geholt, oder hielt Ihre Diplomatie den Abschiedsbesuch denn doch für notwendig?«
»Halten Sie das letztere für wahrscheinlich, gnädige Frau?«
»Nein! Es würde mich sogar irre an Ihnen gemacht haben. Dafür verstehe ich nun wieder die alte Dame nicht. Sie war vor einigen Tagen so aufgebracht gegen Sie, daß ich sogar für ihre Gesundheit fürchtete – und heute will sie den ›mißratenen Neffen‹ partout sehen!«
»Vielleicht hat sie mich in der Zwischenzeit enterbt.«
»Scherzen Sie nicht, Graf Carén! Sie war sehr geneigt dazu. Ich glaube aber an nichts Positives derart. Sie zeigte mir das frühere Testament, wie sie mir überhaupt alles anvertraut – das neue würde sie mir wenigstens angedeutet haben. Ich hatte allerdings neulich abends stark die Befürchtung, daß es dazu kommen könne. Und es ist vielleicht 351 gut, daß die Herzschwäche dazwischenkam. Die mag sie an ihre verwandtschaftlichen Gefühle erinnert haben. Sie sind ein sehr schlechter Neffe, Herr Graf! Das wird wohl vorhin auch Ihrer Tante klar geworden sein . . .«
Es ist gut, daß die Dürre mit der Lampe erscheint und die Philippika unterbricht. Die Wahrheit war's – leider! Die Wahrheit ist so reizend von roten Lippen, wenn ein einziger Kuß genügt, um ihren Quell zu schließen. Von schmalen, blassen mag ich sie nicht. Im Licht hat Madame jetzt wieder die leeren, die absolut leeren Augen, die absolut glatte Linie. Und in der Dunkelheit vorhin hatte ich diese leeren Augen doch gefühlt! Das war freilich vor dem Entschluß. Was mag das für ein Entschluß gewesen sein? Ein neuer Hut, eine verspätete Badereise? – Wie jetzt Madame das Silberpapier vom Stöpsel langsam abschält, möchte man fast glauben, diese zarte, schlanke Frauenhand sei die einer Samariterin – und der Entschluß ein Samariterentschluß.
Die Krankenpflege thut auch wieder not, ich beteilige mich an ihr nur als das unbedingt überflüssige fünfte Rad, promeniere noch leiser als gewöhnlich durch die Zimmerflucht. Ich würde die »Wintergartensterne« durch die Zähne pfeifen, wenn das nicht allzu lieblos klänge – im Geiste thu' ich's aber . . . Eine langweilige Promenade! Zuweilen guck' ich verstohlen wie ein Schuljunge in das Schlafzimmer, wo Madame im Dunstkreis der Nachtlampe auf dem Bettrand sitzt und mit meiner Tante wegen der Medizin parlamentiert.
»Aber, Frau Gräfin, es wird Ihnen gut thun!«
»Nein, nein, meine liebe, selbstlose Freundin – lassen Sie mich lieber ›ohne‹! Das Zeug schmeckt so bitter und bekommt mir sicher nicht. Ich fühle 352 mich auch etwas wohler . . . Nur die Gedanken – die Gedanken!«
»Natürlich, Frau Gräfin, wie Sie wünschen . . . Aber versuchen Sie doch mal. Sie trinken etwas hinterher, das den häßlichen Geschmack benimmt . . . vielleicht Cognac . . .«
Bei Cognac spitze ich die Ohren. Sollte sie den Sorgenbrecher doch heimlich lieben? – Aber sie beschämt mich. »Ach nein, meine liebe Frau Le Fort! So was bin ich gar nicht gewöhnt. Früher trank ich wohl nach Tisch einen Marasquino, das ist jedoch schon sicher dreißig Jahre her . . .«
Die Alte nickt in ihrer Burg von Federbetten ganz wie die Großmutter in Rotkäppchen – man sieht nämlich nichts als die weiße Nachtmütze über den Kissen sich bewegen. Madame ist der Wolf – und ich bin Rotkäppchen. Was hat man doch noch für Galgenhumor!
»Dann soll ich Sie wohl lieber allein lassen, Frau Gräfin?« fragt die Gnädige wieder. Sie erhebt sich etwas unbefriedigt.
Aber die Schildkröte hält sie fest. »Nicht etwa ganz gehen. Sie sind mir eine solche Beruhigung; es ist mir ein Sicherheitsgefühl, wenn ich weiß, Sie sind im Wohnzimmer . . . Vermißt man Sie auch zu Hause nicht? Sie thun hier ein gutes Werk! . . . Daß ich Ihre reizenden Töchter noch nicht kennen gelernt habe – immer verfehlt. Auf dem Bilde sieht die Jüngere entzückend aus. So was Junges, Reizendes immer um sich zu haben, muß doch ein Genuß sein.«
Die Gnädige schweigt darauf markant. Ich stecke den Kopf fast bis ins Zimmer. Es wäre eigentlich die natürliche, frauenzimmerliche Logik dieser seltsamen Freundschaft, daß ich jetzt auf eins von den Mädels gehetzt würde. Ich erwarte es. Aber kein 353 Ton! Trotz aller Abscheulichkeiten, die mir die Tiergartenvilla nachsagt und nachdenkt, bin und bleibe ich doch der halbe Lasis, der unvergleichliche Carén, der sein schlechtes, altes Blut nur mit noch schlechterem, älterem mischen darf. Eine mit fünfzig Zinken in der Krone – das wäre das Wahre! . . . Aber eine Bürgerliche, eine Le Fort – nicht mal in Gedanken! . . . Wie ich es dir nachfühlen kann, alte Jungfer! Als wenn hinter einem Lafitte-Etikett sich niemals Schund verkröche! Und unsre Adelsauffassung ist im besten Falle nur ein Etikett, für dessen Wein wir nicht garantieren sollten – und wir garantieren doch. Schöner Schund!
Auf diesem Umwege hat sich wenigstens die Tante meiner erinnert – selbstverständlich nicht im guten. »Mein Neffe ist wohl schon sehr lange gegangen?«
Die Gnädige sieht auf – sieht mich – einen Horcher auf der Thürschwelle sehen Frauenaugen unbedingt. Und sie hat mich doch nicht gesehen! Denn sie sagt freundlich und unbeirrt. »Gegangen, Frau Gräfin? Im Gegenteil! Er ist im Wohnzimmer und hört uns nicht.«
»Liebe, gnädige Frau, seien Sie offen! Glauben Sie wirklich, daß er sich noch einmal bessert? . . . Ich fürchte, nur die Armut vermag es noch.« (Höllengelächter auf der Thürschwelle.) »Ach, ich weiß wirklich nicht . . . Neulich war die kleine Baronesse Rotenstein da – so ein sympathisches, kluges Mädchen! (meine mit den Sommersprossen) . . . Er hat auch in dem Hause Besuch gemacht: einmal und nie wieder! – Das ist die Art der Lasis . . . Was hat der Junge uns schon für Sorgen bereitet!«
Jetzt, wo es über mich hergeht, ordnen sich die Gedanken wunderbar schnell. Damit die Gnädige nur um Gottes willen noch erfährt, daß ich als siebzehnjähriger Fähnrich mit einer Solotänzerin bei Uhl 354 soupiert habe – es war die blödeste Jugendeselei eines Bengels, der nach seiner Mutter Ansicht die Tausendmarkscheine nicht schnell genug klein bekam. Daß ich ferner unzählige anständige Mädchen ins Unglück gestürzt habe – die Solotänzerin war auch so eine Unschuld vom Lande! – Daß . . . daß . . . Die Tante scheint für mich das Register meiner Unthaten geführt zu haben – ich erinnere mich gewisser häßlicher Details nicht halb so genau.
Die Gnädige sollte mich verteidigen – und sie sitzt am Bett, stumm, gelangweilt, mit einem leichten Gähnreiz um die Mundwinkel. Louis Carén horcht. Louis Carén verreist – sich einem Undankbaren zu opfern, wird nicht beliebt. Aber ein Gutes hat das konsequente Schweigen doch: die Tante langweilt die Aufzählung schließlich selbst – oder sollte sie sich doch etwas schämen? – Die Gedanken verwirren sich wieder. »Was ich doch sagen wollte . . . ahh . . . ahh . . .« Die Nachtmütze gerät in starkes Zittern. Das ist Anfall Numero drei . . . »ahh . . . ahh . . .« Sie liegt bewegungslos.
Mich berührt's nicht mehr. Nur als Horcher werde ich überflüssig.
In dem Lolazimmer finden die Gnädige und ich uns nach geraumer Zeit wieder zusammen.
»Ihre Tante schläft – oder thut wenigstens so.«
Ich knurre irgend eine Antwort. Wenn die Schildkröte wieder aufkommt, enterbt sie mich. Die Gnädige weiß das auch, aber sie scheint darüber ruhiger zu denken. Es sind ja auch nicht ihre Millionen.
»Wir dürfen übrigens der Gräfin nicht mehr den Willen lassen, sie ist wirklich krank. Sie muß die Medizin nehmen. Wir sind dem Arzte gegenüber verantwortlich, Graf Carén.«
»Ich nicht! – Ich hätte überhaupt nie kommen sollen, und jetzt gehe ich definitiv.« 355
»Thun Sie das.«
Wenn ich den letzten Rest von Verstand zusammennehme, muß ich mir sagen: ›Thu es nicht, Louis! Es wäre der helle Wahnsinn – solche Fahnenflucht wird nie vergeben. Mutiger Bösewicht oder feiger: du hast die Wahl. Wenn du ihr nun aber wirklich etwas vorwinselst – und sie enterbt dich hinterher doch?«
Ich klingle nach dem Regenmantel. Während ich ihn im Nebenzimmer langsam anziehe und noch einmal an den Knöpfen: Ja – nein – ja! – mißtrauisch abzähle, ob auch die Vorsehung mich gehen heißt, sagt Madame halblaut: »Wissen die Leute hier im Hause Ihre Adresse?«
»Selbstverständlich.«
Dann erscheint Madame selbst auf der Schwelle. »Sie reisen doch nach Mähren?«
»Warum nicht?« Ich sehe sie dabei verwundert an. Exdiplomaten lügen doch nicht immer, wenn sie den Mund aufthun.
»Man wird Sie vermissen, Graf Carén.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
»Werden Sie uns vermissen?«
»Welche Frage! – Grüßen Sie, bitte, Fräulein Ethel noch herzlichst von mir.« Da sieht sie an mir vorbei. Ich bin beim letzten Ueberzieherknopf – das Knopfloch ist verquollen und will nicht. Ich könnte mich ebensogut auch der Grünäugigen empfehlen lassen. Wozu der Höflichkeit die Konzession? Wir haben nie etwas füreinander gefühlt, wir paßten von Anbeginn nicht füreinander; der eine wollte rechts, der andre links – und jetzt sind wir schon so weit, daß wir uns kaum noch sehen. Der Knopf ist immer noch nicht zu, und Madame steht noch immer auf der Thürschwelle. Ich habe mal wieder das Gefühl eines Abschieds auf Nimmerwiedersehen.
356 Es muß auch Leute geben, deren Ahnungen immer falsch sind.
Madame begleitet mich noch bis zur Hausthür, die Dürre, der mein Abgang sehr sympathisch ist, fragt zuvorkommend, ob ich in diesem Hundewetter nicht das Coupé wünsche, die Braunen ständen schon aufgeschirrt im Stall. Der Medizinalrat, der fast in Westend wohnt, hat im grauen Elend diese Vorsicht ausgeklügelt. Ich gebe auf einer Art Feigheit nach, um mir das Hausmeiertum nicht mehr zu entfremden.
Es dauert lange. Die Gnädige fröstelt leicht, was ich nicht verstehe – aber sie will mich abfahren sehen. Endlich Stampfen, Schnauben – dunstumwallte Riesenrosse – trübe Laternen, auf die der Regen niederklatscht – das vorsündflutliche Coupé. Adieu, Millionen!
»Herr Graf!« Die Haube der barmherzigen Schwester fliegt. »Die Comtesse ist eben aufgewacht und fragt nach Ihnen.«
Ich klettere wieder heraus. Es scheint mein Schicksal, wenn ich irgendwo mit meinem eignen Willen hineingeklettert bin, vermittelst eines fremden wieder herauszuklettern.
Allein mit ihr! – Geheimnisvolles Halbdunkel – Stickluft – an der Wand malt die Nachtlampe unheimliche Schattenbilder. Aus der Kissenburg eine schwache Stimme: »Louis, du?«
»Zu Befehl.«
»Komm an mein Bett, mein guter Junge.« Demnach milder Südwest aufgesprungen.
Ich thue wie gewünscht. »Tantchen?«
»Gieb mir deine Hand . . . Ich glaube, ich werde nie mehr warm! . . . Was du für 'ne heiße Hand hast! Du bist doch nicht krank?«
»Nervös.«
357 »Ach, Louis, warum ruinierst du dich mit Gewalt? . . . Aber die Wärme thut mir wohl . . . Du hast so 'ne junge Hand!« Und sie umklammert meine schmale, heiße mit ihren dicken, gichtischen, eiskalten, zieht sie unter das Zudeck. »Du wolltest wegfahren, Louis? – Ich bin von dem Wagenrollen aufgewacht. Ich dachte, es wäre schon wieder der Arzt . . . Es ist doch gut, daß du noch nicht weg warst. Ich habe plötzlich so eine Sehnsucht nach dir bekommen.« Dabei drückt sie krampfhaft meine Hand. Ich mag die Schildkröte jetzt nicht mal ansehen, weil ich dann ein freundliches Gesicht schneiden müßte. Der Haussegen über dem Bett interessiert mich darum außerordentlich. »Louis, ich habe nämlich von deinem Vater geträumt. Wir trafen uns – er wollte mir etwas sagen – und konnte es nicht! . . . Da bekam ich eine schreckliche Angst. Er quälte sich so, die Lippen bewegten sich auch – und kein Laut! Es war sicher etwas Wichtiges. Ich glaube, er wollte von dir sprechen . . . Louis, sehe ich nicht etwas wohler aus?«
Ich kann mich von dem Haussegen nicht trennen. »Sehr viel wohler, liebe Tante.«
»Aber du siehst mich ja gar nicht ordentlich an!« Und sie zieht mich an der Hand hinab auf ihr Bett. Die Augen schwimmen, was Hilfloses liegt darin. Das Gesicht ist unverändert: grüngelb, faltig; die Schatten der Nachtlampe zittern darüber. Jetzt spricht die Tante ganz leise, geheimnisvoll. »Er war nicht im Himmel . . . vielleicht ist er gar nicht im Himmel? . . . O Gott, Louis, denke doch – dein armer Vater!«
Und ich vermag nur verstockt zu denken: ›Was haben auch Caréns im Himmel zu suchen!‹
Die Tante aber regt der Gedanke furchtbar auf. »Er sah nicht alt und nicht jung aus, aber so sonderbar! . . . Weißt du, er erinnerte mich doch an 358 dich. – Was hat er nur sagen wollen?« Sie stöhnt, die alten Hände pressen mich . . . »Louis, du ahnst wohl gar nicht, warum ich dich heute morgen habe holen lassen?«
»Nein, Tantchen.«
»Ich wollte dir nämlich sagen, daß du dich nicht wundern sollst . . .« Da verliert sie den Faden oder ist zu feige, es zu sagen.
»Ja, was wolltest du mir denn sagen?«
»Louis, du hast Lola nicht vergiftet?« Die losgegangene Schraube rollt wieder selbständig in dem alten Gehirn 'rum.
»Tante!« Ich zieh' die Hand weg.
»Nein, bleib doch, bleib doch!« bittet sie. »Deswegen war es auch nicht . . . Gieb mir doch die Hand wieder – so eine junge Hand, das thut wohl!« Ich gebe sie ihr nicht gern. »Nein, ich wollte etwas andres von dir wissen . . . Warum hast du mich eigentlich neulich im Tiergarten nicht gegrüßt?«
»Weil du mich en canaille behandelst, liebe Tante. Etwas verwandtschaftlicher konntest du wohl schon lange deinem einzigen Neffen gegenüber sein. Das hat dir wahrscheinlich auch der Vater im Traum sagen wollen.«
»Ja, ja, Louis! Aber du hättest mich doch grüßen sollen . . . Sieh mal, du bist so jung und ich so alt! . . . Richtig war's nicht . . . Denk doch, wenn ich mich so geärgert hätte über deine Herzlosigkeit, daß ich ein neues Testament aufsetzen wollte, wonach du nichts bekommst?«
»Darauf bin ich gefaßt, liebe Tante. Du hast meine Mutter nie leiden können, ebensowenig wie mich, und das wirkt gegenseitig.«
»Nein, nein, mein Junge, das sollst du nicht von deiner alten Tante denken! . . . Seitdem ich 359 den Traum gehabt habe . . . Gieb mir auch deine andre Hand . . . Es wärmt mich so . . . ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch Puls habe . . . Du sollst alles haben, Louis, verstehst du – alles! Es ist viel mehr als du denkst; ich habe meine Zinsen nie halb gebraucht.« – Das ist angenehme Zukunftsmusik. Aber die alten, kalten Hände sprechen eine andre Sprache, eine Sprache, der man sich doch nicht ganz entziehen kann. Und sie hat noch etwas auf dem Gewissen, das nicht herunter will: ich fühle das. »Willst du mir versprechen, mein lieber Junge, daß du nicht wieder alles so sinnlos vergeuden willst . . . und an deine alte Tante mit Liebe denken?«
»Ich habe die letzten Monate allerdings von Schulden gelebt, aber, weiß Gott, nicht leichtsinnig.«
Dieses Geständnis scheint sie zu freuen. »Lieber Junge, wenn ich dich ansehe – ein gutes Gesicht hast du doch . . . Denk mal, wenn ich den letzten Anfall nicht überlebt hätte . . .« Und bei dem Gedanken daran fängt sie schon wieder an zu zittern.
»Tantchen!«
Sie hat meine Hände losgelassen. Jetzt packt sie sie plötzlich wieder und drückt und streichelt sie. »Gieb mir einen Kuß, Louis! . . . Du kommst mir jetzt vor, als wärst du noch ein ganz kleiner Junge, wie damals, als sich dein Vater so über dich freute . . .«
Das Küssen ist nicht nach meinem Geschmack, obgleich im Augenblick wir beide wohl das gleiche Blut fühlen. Wenn einmal das Gefühl echt ist, dann erscheint es einem erst recht als Komödie.
»Gieb mir doch einen Kuß!« fleht sie beinahe. Und sie umarmt mich. Die Angst vor dem Tode weht sie eisig an. Und sie flüstert abgebrochen: »Louis, Louis. mein guter Junge! . . . Ach. ich will nicht sterben . . . Louis, ich darf nicht! . . . 360 Louis, bete doch, daß ich den morgenden Tag noch erlebe . . . Ich will nicht sterben – nicht sterben! . . . Louis, bete doch!« Und sie drückt mich so fest an sich, daß ich niedergebeugt kaum atmen kann. »Ich habe deinen Vater so deutlich gesehen – jetzt weiß ich auch, was er mir hat sagen wollen. Ich darf nicht sterben . . . hörst du? . . . Ich darf nicht . . . Bete! . . .«
Und den Kopf an dem alten Munde, werde ich schlapp, sentimental und stottere mir ein Vaterunser zusammen. Sie spricht's mit. Ein elend Gebet – ein elenderes Echo! – Da fühl' ich einen Luftzug im Haar – jemand muß im Zimmer sein; ich höre auch einen leisen Tritt. Die Gnädige! Die soll mich in dieser Pose nicht sehen. Und als ich aufspringe, fallen die alten Arme schlaff zurück. Auf der Schwelle des Nebenzimmers steht die Dürre. Sie hat natürlich gehorcht. Aber vor Dienstboten geniere ich mich nicht, das sind keine Menschen.
Madame horcht nicht. Das würde zu der charakterlosen Linie stimmen – und nicht zu Peau d'Espagne. Ich finde sie im Lolazimmer bei der Lektüre des neuesten Ohnet, von dem meine Tante erst einige Seiten aufgeschnitten hat.
»Nun, wieder da, Graf Carén?«
»Wie Sie sehen, gnädige Frau.«
Geredet wird nicht viel. Den Gemütsdackel will ich nicht spielen. Aber jetzt denke ich an die Medizin. Die Gnädige ist bereit. Sie schwebt voran, ich trotte nach. Offen gesagt, bin ich so schachmatt, daß ich jetzt die barmherzige Schwester nicht mehr markieren könnte. Ich weiß nicht mal, ob es bei der Tante großer Ueberredungskünste zum Einnehmen bedurfte. Die alten Augen sind geschlossen, die Backen hängen. Gluck, gluck – die farblose Flüssigkeit fließt in den silbernen Löffel. Gluck, gluck – 361 es ist gar ein trübseliges Geräusch. Madame sitzt auf der Bettkante. Wir sehen uns an. Da gerät der Löffel ins Schwanken, schwappt über, ein paar große, glänzende Tropfen fallen auf das weiße Zudeck. Der Löffel war nicht übervoll – die Gnädige hat wahrhaftig auch Nerven!
»Frau Gräfin . . .«
Der zahnlose Mund mit den schlaffen Lippen öffnet sich mechanisch. Wieder gluck, gluck – die Kranke verschluckt sich, hustet, ein widerwilliges Schütteln . . . »Bitter . . . bitter . . .« Und sie hebt abwehrend beide Hände. Nur nicht mehr! – Wie doch alle Heilmittel im Leben so furchtbar bitter sind! Auch ein bitterer, bitterer Geruch schleicht durch das Zimmer, stark und fade zugleich. Kuriose Mischung! Ehe Madame sich erhebt, zieht sie ihr silbernes Riechflacon aus der Tasche. Ein paar Tropfen in die Hand – ein paar Tropfen aufs Bett. Es ist Peau d'Espagne. Von Bitternis nichts mehr – nur die schwere Süße. Als wir auf Zehen hinausschleichen, zerreibt sich Madame das Parfüm lautlos in den Händen – es sind nervöse Hände. Aus dem Eßzimmer schwebt sie noch einmal zurück; Riechflacon vergessen. So was kann nun nicht ohne Peau d'Espagne existieren – zu lächerlich!
Ich bin herunter mit meinem Nervenkostüm, so daß mir wie hier die dümmsten Kleinigkeiten auffallen und mich ärgern. Im ersten Stock ist ein uraltes Fremdenzimmer. Da gedenke ich auf dem viereckigen Kasten von Empiresofa einen erquickenden Schlaf zu thun. Fort darf ich heut nicht mehr. Oder es hieße mit dem Glück bodenlos leichtsinnig spielen. Die Gnädige ist auch abattue, wie begreiflich. Sie gedenkt mich nicht mehr zu erwarten . . . Aber ich scheine heute zum Schiefsehen eingenommen 362 zu haben – der Chambertin war's also nicht – Madame sieht thatsächlich alt aus.
Aber schlafen – impossible! Das Zimmer haucht so 'ne trockene Herbariumsluft aus, die mich ruhelos macht wie das Hochgebirge.
Also repetieren wir den Tag! Wichtig ist er ja wohl. Stirbt sie, bin ich reich – lebt sie weiter, kann ich ohne Gewissensbisse den guten Lasis schwächen. Und sollte man's für denkbar halten, – beide Möglichkeiten regen mich nicht sonderlich auf. Das Geld und die Carriere ist es also nicht! . . . Was will ich denn eigentlich vom Schicksal? Mit achtundzwanzig Jahren um einen Wunsch verlegen sein – fin de siècle. Ich bin wie ein Kranker in einem Feldlazarett. Die Wunde brennt nicht mehr – und die Lebenskraft entrinnt doch unaufhaltsam. Es sind die Verwundeten, die sich wohl fühlen und rettungslos am kalten Brand sterben . . . Wenn mich doch das Leben wirklich packte, emporrisse – meinetwegen zu einer Todsünde, die den Priester im Beichtstuhl stumm macht und bleich! Ja, ja, so was muß kommen. Eine Flutwelle, die mich an einen weltfernen Strand spült. Die kleinen Wellen, die mich umspielen, meinen's wohl gut, aber den trägen Block reißen sie nicht mit . . . Ich brauche den Orkan! . . . Dieser kleine Tod hier kann mir nichts geben, nur etwas nehmen. Du enterbst mich nicht, Schildkröte – also vegetiere in Gottes Namen weiter, liebe und beweine noch hundert Kanarienvögel, überlebe mich auch, werde steinalt statt meiner! Ich mag's nicht. Der Tod könnte mich dann feige finden, wie er dich heute feige gefunden hätte. Und ich möchte ihm kühl lächelnd ins Angesicht schauen dürfen. Ein eitler Wunsch – jedoch mein einziger . . . Es sei . . .
In dieser langen Nacht habe ich das sogenannte 363 Tagebuch weitergeführt. Es ist auch danach. Ich habe Aehnlichkeit mit einem verbesserten Phonographen, in den zwölf Stunden lang ein halbes Dutzend gleichgültiger Menschen, mich selbst eingerechnet, hineinsprechen. Jetzt werden die Stanniolplatten wieder abgeleiert. Was heraustönt, ist den teuern Apparat nicht wert. Ich weiß auch eigentlich nicht, warum ich so krampfhaft leiere. Zu guter Letzt strengt das lange Leiern doch an, wie jede mechanische Arbeit.
Die Sonne dringt durch die Jalousieritzen, und das Lampenlicht bekommt so was Fahles, Uebernächtiges . . . Endlich abgeleiert! . . . Wenn's meine Neffengefühle zulassen, fahre ich doch nach Mähren. Vorher aber eine Stunde Schlaf.
*
Natürlich fahr' ich nicht nach Mähren!
Mit dem Schlafe ist's auch so so. Die Vögel piepsen, der Morgenwind rauscht, und die Jalousie klappert; ein lichtgebadeter Sommermorgen – selbst im Zimmer fühlt man seinen frischen Hauch. Unten im Korridor huschen sie ohne Unterlaß auf und ab, in gut gebauten Häusern hört man bekanntlich jeden Laut. Die Treppe knarrt auch. Jemand kommt behutsam bis an meine Thür gekrochen, horcht – diskretes Räuspern – schleicht wieder weg. Rücksichtsvolles Gesindel.
Ich muß doch wohl etwas eingenickt sein. Im Pferdestall klirren Halfterketten – die Tiere werden herausgeführt – helles Wiehern. Es muß was los sein! Ich springe auf. Wie ich die Fensterflügel aufreiße, strömt mir eine reine Luftwoge entgegen. Der alte Kutscher schirrt verschlafen in Hemdärmeln die Braunen aus. Die Dürre keift dazu: »Machen Sie doch schneller, Friedrich!«
»Zum Medizinalrat?« frage ich von oben.
364 »Jawohl, Herr Graf.« Und der Alte springt eiligst nach der Remise, den Livreerock anzuziehen. Die Leute könnten doch erst abwarten, bis ich meine Befehle gebe. Mir nichts dir nichts holt man nicht emeritierte Aerzte aus ihrem wohlverdienten Alkoholschlummer. – Mürrisch die Stiegen heruntergeklettert. Die Hausthür ist weit offen, in der Küche flattert die bunte Gardine und wirft Tassen um. Der Dicke rast an mir vorüber. Ich muß ihn am Rockschoß erwischen. Ein ekelhafter Fuseldunst umwallt ihn.
»Hat die Gräfin den Arzt befohlen?«
Er sieht mich stier an. »Die gnädige Comtesse sterben!«
Ja, Comtesse Carén starben in der That. An einem leuchtenden Sommermorgen zu sterben – seltsamer Geschmack . . .
Ich habe plötzlich einen pappigen Geschmack im Munde, und die Füße wollen nicht recht, während ich die Thür zum Krankenzimmer aufklinke. Hab dich nicht, Louis Carén!
Wieder die muffige Stickluft – das knisternde Nachtlicht der Riesenschatten der Nachtmütze ist unbeweglich. Am Bett kniet die barmherzige Schwester und betet. Sie sieht mich, erhebt sich langsam, vorwurfsvoll.
»Tante Jeannette!«
Keine Antwort. Ich fasse die Hand – sie ist eiskalt, leblos, kein Puls zu spüren. Wie ich sie loslasse, fällt sie schwer aufs Zudeck zurück. Ich reiße das Zudeck zurück, drücke das Ohr aufs Herz – es schlägt noch. Gott sei Dank! – Nur wenige empfinden reine Freude, wenn ein Herz ausgeschlagen hat. Ich rüttle den Körper; er ist so schwer, schwammig, das Gesicht aschfahl, der Unterkiefer herabgesunken, die Augen halb offen, ohne Ausdruck, die Pupille ein linienschmaler, starrer Ritz, dessen 365 toter Ausdruck mich frösteln macht . . . Ich schüttle sie stärker. Dem offenen Munde entflieht ein ächzender Ton, der weither zu kommen scheint. In der Pupille zuckt ein winziger, lichter Punkt auf . . . Ich reibe der Sterbenden die Hände – der Puls findet sich – fadendünn – schlägt stärker. Auch das Herz pocht mit leisem, zitterndem Schlage, der Schlag einer Wanduhr, deren Perpendikel ausgehakt ist . . . das Schütteln scheint wirklich das entfliehende Leben zurückgerufen zu haben. Ich horche – ich fühle – es dauert lange, ehe das Dasein sich seiner elenden Pflicht erinnert: der Puls mit vollem, schnellem Pochen, das Herz mit schwerem, gewaltsamem Schlagen . . . Die Medizinflasche von gestern steht neben mir. Ich setze der Sterbenden das Glas direkt an den Mund, die farblose Flüssigkeit gurgelt hinein und sickert an den herabhängenden Mundwinkeln heraus. Thut nichts! Sie lebt ja. Wie bei Schwerfiebernden gehen jetzt Herz und Puls stark und schwer. Vielleicht ist's die Rettung, vielleicht auch nicht.
Ich renne auf den Korridor. »Der Arzt noch nicht da?«
»Nein.« Die Dürre antwortet's verbissen.
»Holt einen andern!«
»Die gnädige Frau hat beim Weggehen extra gesagt, man solle niemand anders als den Medizinalrat holen; der kenne die Konstitution von Comtesse allein . . .«
Die überlegene Vernunft hat wieder mal recht.
Als ich zum Krankenbett zurückkomme, beginnt der Puls zu flattern, wird unregelmäßig, das Herz stockt – wieder der ausgehakte Perpendikel. Ich reibe, ich schüttle, ich thue, was ich kann, und denke wahrhaftig nicht an die Erbschaft – dennoch fühle ich, wie das Leben langsam verrinnt . . . Schließlich spür' ich den Puls nicht mehr. Aber das 366 Herz pocht noch – so elend, tödlich matt! Und da suche ich, wie zum Trost. bis der Arzt kommt, an den alten Lippen, an denen ich gestern das Vaterunser heruntergestottert habe, nach dem dünnen, dünnen Hauch des Lebens. Der Hauch ist noch da . . . er wird schwächer und schwächer . . . ich muß mein Ohr an ihren Mund pressen, um ihn noch zu fühlen . . . ich spüre ihn nicht mehr. Nur das Herz . . . das Herz schlägt – schlägt – die Sekunden zwischen den einzelnen Schlägen sind Ewigkeiten . . . Jetzt schlägt's nicht mehr . . .
Comtesse Carén sind gestorben. Einmal ahnte ich doch richtig. Und wie der Perpendikel ruht, das Herz eingeschlafen ist, rieselt es mir kalt über den Rücken. Allein mit einer Toten – es ist was Eignes. Es ist wieder mal die Angst des Wilden vor dem natürlichen, langsamen Sterben – eine elende Feigheit, die mich auch nach durchwachter Nacht nicht übermannen sollte. Es dauert nur eine Sekunde . . . Dann streiche ich das Zudeck zurecht, falte der Toten die Hände und streiche ihr die Augenlider herunter, weil ich den starren Pupillenritz nicht länger sehen will . . . Und zuletzt mach' ich der frommen Konventionalität noch einen Knicks, ich beuge mich auf das Bett und bete halblaut, indem ich das Kreuz schlage.
Eigentümlich, wie gewisse Gerüche und gewisse Nervenreize uns Vorstellungen vermitteln . . . Die Krankenstubendünste kommen nämlich wieder gekrochen: der Koniferengeist, das Karbol, auch das Bittere kriecht heimtückisch mit, doch so matt, so fade . . . Ein andres Parfüm überwogt es – heiß, schwer – geheimnisvoll. Peau d'Espagne . . . Und unglaublich! – der Gedanke zuckt mir unvermittelt durch das überreizte Gehirn: Peau d'Espagne hat meine Tante getötet . . .
Bin ich nun wirklich verrückt?
367 Langsam finden sich auch die andern: die barmherzige Schwester, die in ihrer Seelenangst zu einem Arzt hat laufen wollen und einen Prediger erwischt hat – der gute Mann ist begreiflicherweise etwas betreten; die Dürre, die sich noch schnell eine neue Rüsche in ihr schwarzes Kleid geheftet hat; sehr zuletzt der Dicke – kommt natürlich aus dem Eßzimmer und reibt sich mit seinen zitternden Katerfingern die geschwollenen Augen. Die Nachtlampe kämpft mit dem Erlöschen. Jedesmal, wenn die Thür geöffnet wird und das Tageslicht hereinflutet, berührt mich peinlich die ungesund dämmerige Helle, die stagnierende Arzneiluft des Sterbezimmers. Der Prediger und ich stehen am Bett, düster schweigend; die andern im weiten Kreis. Sie schielen nach der Toten hinüber, möchten sie auch gern neugierig betrachten und empfinden dabei die abergläubische Scheu vor der Leiche. Der Dicke will wieder glucksen, die Dürre schuppst ihn zur Vernunft. In ihrem langen Jungfernleben hat sie sich sehr feste Begriffe von Wohlanständigkeit in Herrschaftszimmern angeeignet; außerdem hat das Weinen jetzt keinen Sinn mehr. Ich weiß nicht, ob ich etwas fühle. Ich putze mein Monocle, setze es auf, putze es wieder. Der Prediger, ein Luther aus dem Domstift, bewegt hörbar Lippen und Zunge. Ich liebe die Stegreifpredigten nicht, der fromme Eifer vergaloppiert sich stets, weckt zwiespältige Gefühle . . . Endlich beginnt's mit voller Stimme: »Geliebte Anwesende! Die Verewigte starb einen schönen Tod, sanft, schmerzlos – ein Lächeln scheint noch jetzt um ihren Mund zu schweben, gleich als wenn sie sterbend schon das ewige Licht geschaut hätte . . .« (Ich sehe davon nichts. Selbst durch die geschlossenen Lider starrt mich noch der winzige, tote Pupillenspalt an, der vor dem ewigen Licht sich zusammenzog, weil es dem Auge wehthat.) . . . 368 »Geliebte! Du, Schwester, die in selbstloser Pflichterfüllung auch an diesem Sterbebett gewaltet – ihr beide, die ihr in der Treue nie wankend geworden seid durch so viele Jahre – Sie selbst, Graf und Edler Herr Carén, der Sie der Lebenden, der Gatte und Kinder versagt waren, ein liebender Sohn und ihres Herzens ganze Freude gewesen sind und noch rechtzeitig kamen, der Sterbenden die müden Augen zuzudrücken – ihr alle seid betrübt bis in den Tod und solltet euch doch herzinniglich freuen, daß eine teure Seele hinübergeschwebt ist zur Seligkeit . . . Und wir, die wir hier versammelt sind als gläubige protestantische Christen, wollen der Worte der Heiligen Schrift gedenken: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt. Und wie der Fels unsrer Kirche, der gewaltige Doktor Martin Luther, uns lehrt, wollen wir mutig den Willen der Vorsehung tragen . . . Amen!«
»Amen . . .« Die andern wiederholen es murmelnd, ich schlage mechanisch das Kreuz. Die Schwester zuckt zusammen – die Dürre und der Dicke stoßen sich an – der Prediger senkt verwirrt die Augen. Peinliche Pause. Und wir konnten doch beide nichts dafür.
Da wird die Thür aufgerissen – der Medizinalrat. Er erschrickt etwas, wie er den Geistlichen sieht, aber er war zu lange Hausarzt in adligen Familien, um nicht schnell der tiefen Abneigung der Wissenschaft gegen den Glauben ein Mäntelchen umhängen zu können. Vorerst thut er noch eilig seine überflüssige Pflicht, horcht nach dem Herzen der Toten, hält ihr den Spiegel vor den Mund – kein Hauch trübt den. Darauf schüttelt er voll Ergebung den Kopf . . . »Hätte das noch nicht so früh erwartet . . .« Der Arzt und der Prediger verbeugen sich dabei steif gegeneinander. 369
Jetzt läßt man mich mit dem Medizinmann allein, der verlegen durch die Zahnstummel pfeift. »Schnell gegangen, Herr Graf!«
»Todesursache?«
»Herzlähmung.«
»So hätten wir uns mit dem Morphium doch wohl geirrt . . .«
Da fährt er sich ärgerlich über die Perücke. »Wollen lieber davon nicht sprechen! Haben der alten Dame unrecht gethan . . . Außerdem ist sie tot.« Die Gnädige hat ihn so zahm gemacht, daß er aus der Hand frißt. Während er an einem Jalousie-Ritz den Totenschein ausfüllt, stöhnt er leise . . . »Traurig . . . sehr traurig! . . . Die letzte Flasche Chambertin hat mich gestern höllisch gerissen – aber gut war er doch!« . . . Ein Arzt und ein Erbe haben die sentimentale Komödie nicht mehr nötig, wenn sie allein sind.
Als wir dann zusammen aus dem Haus hinaustreten, in das Licht, in den Morgen, thut die strahlende Helle meinen übernächtigen Augen weh . . . »Traurig – sehr traurig! Aber gut war es doch!« . . . Ja, jeder Mensch hat zwei Gesichter: das offizielle und das wahre. Ich auch. Ich weiß nur nicht, welches von beiden das verlogenere ist. 5