Johannes Richard zur Megede
Von zarter Hand
Johannes Richard zur Megede

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Neuntes Kapitel.

Strohfeuer haben das Gute, daß sie rasch erlöschen, und Dummheiten, daß man sich lange über sie ärgert. – Beides liegt jetzt hinter mir. Ich bin wieder der kühle Beobachter . . . Ob die mit den grünen Augen nun ihr Vaterland auf der Sonne oder auf dem Monde hat, ist mir so gleichgültig wie sie selbst.

Mein Tagebuch schreibe ich doch weiter. – Eigentlich verdient's den Namen kaum. Es ist die kleine Komödie, die jeder Tag jedem zeigt – völlig wertlos für mich. Aber was thut man nicht alles aus Langweile! Und wie es Höflinge giebt, die es vierundzwanzig Stunden aufregt, ob Serenissimus beim Aufstehen allegro oder adagio geniest hat – so beschäftigt mich der Flibustierkrieg des Daseins. Die, die große Schlachten schlagen, kümmert die Buschklepperei nicht. Mir ist die Tragödie versagt – begnügen wir uns also mit der Posse.

Heute habe ich ein Rendezvous – Josty am Potsdamerplatz – fünf Uhr Hochsommernachmittags – entzückendes Mädchen.

Obgleich ich so tugendhaft bin wie ein Hühnerhund an seinen Korallen freiwillig gehorsam – bei diesem Stelldichein habe ich nur die Qualitäten eines 184 Großpapas. Der haarsträubend unpünktliche Engel, der mich bereits seit einer halben Stunde warten läßt, heißt Ethel Le Fort.

Bei Josty wird mir das Warten nie lang. Die zeitungfressende Gesellschaft an den kleinen Kaffeetischen im Vorgarten ringsherum sehe ich natürlich nicht. Es ist der Potsdamerplatz, der häßlichste von allen Berliner Plätzen, der mich zieht. Schuf ihn ein Künstler, so verdiente er geprügelt zu werden! Ohne Größe, ohne Form, ohne Symmetrie – ein lebensgefährlicher Konflux von fünf Straßen, auf den die Berliner stolz sind. Was das Gesindel hier reizt – Gott weiß es. Wohl das Massengewimmel, die tierische Ausdünstung, das Je ne sais quoi der Gemeinheit, das sie angenehm wittern, sobald ihrer viele beisammen sind. Oder sollten sie bis zum Kern durchgedrungen sein und wenigstens ahnen, was diesen Platz zum eigenartigsten von Berlin macht?

Mir springt es immer wieder in die Augen, das tolle Widerspiel zwischen der armen, harten Kur Brandenburg und dem reichen, verschwendenden Kaisertum, das hier die Häuser, die Menschen, die Tiere beinah vollführen.

Es ist der erbitterte Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen, die sich nicht mischen können, nicht mischen mögen. Vielleicht ist es auch nur das Phantom meines nicht übermäßig geistreichen Hirns. Aber, wenn ich mir das alte graue Haus an der Potsdamerstraßenecke ansehe und die kleinen Quaderwürfel im Schinkelstil, die trotz der Säulenfront nüchtern, wie nur preußische Hauptwachen sein können, den Eingang zu der Leipzigerstraße flankieren – dann packt's mich immer seltsam. Sie sind häßlich, kahl, ich mag sie nicht, weil sie wie die verkörperte Hungergeschichte der hungrigen Mark mitten in diesem 185 reichen, modernen Berlin stehen und dabei hochmütig zu sagen scheinen: ›Wir sind das alte, eherne Brandenburg. Vergeßt nie, daß wir arbeiten, darben, frieren mußten, finster, stumm durch Menschenalter, um euch groß zu sehen! Damit ihr schwelgen könnt, hungerten wir.‹ – Und wie lächerlich sich daneben die Riesenkasten blähen, der Fürstenhof, bel Levy, das Palasthotel! Häßlich sind sie auch, dünkelhaft wie echte Emporkömmlinge. Dennoch lieben wir sie. Wir lieben überhaupt den nachgemachten Prunk, den gestohlenen Stil, weil wir ohne Arbeit schnell genießen wollen. Und deshalb passen uns auch die hungrigen Mahner an den Ecken nicht.

Und der verbissene stumme Kampf der Zeitalter dauert fort. Auch die Straßen kämpfen ihn weiter. Es ist ein wildes Gewimmel um den Kandelaber in der Mitte und den reitenden Schutzmann – pläsierlich für die andern, lehrreich für mich.

Was englisch oder galizisch Vollblut unterm Sattel oder vor der Chaise hat – was aus Tradition näselt – was krummnasig und reich: das prescht durch die goldene Pforte der Levy-Straße zum Tiergarten. Mein Weg früher. Was sich in die Potsdamerstraße verliert, ist, wie die beiden Häuser am Eingang, das Alte und das Neue: der absterbende preußische Kanzleirat mit dem verschluckten Ladestock und der vorsichtige Streber – ein ehrliches half and half. Die Regierung pflegt sich aus dem Viertel ihre Minister zu holen. Glück auf! Die Geheimratsbourgeoisie treibt hier ihre schweifwedelnde Opposition. Was noch von Brandenburg in den Kerls steckt, ist der Unteroffizier und der blinde Gehorsam. Die Weltstadt gab ihnen die vorsichtige Gesinnungslosigkeit dazu. Ich bin schroff, weil es mein Weg nie war. – Auch in die Königgrätzerstraße gehöre ich nicht, obgleich sie die preußischste 186 von allen ist. Sie führt ja auch zum Brandenburger Thor. Und wenn ich vom Potsdamer Bahnhof her eine schäbige Droschke zweiter sich durch den Massenknäuel des Platzes durchwinden sehe, so ist's sicher ein alter General mit hoher Wilhelmsmütze und vorschriftsmäßiger Binde, einer von denen, die unsre großen Schlachten geschlagen haben.

Hast du es vergessen, weltstädtisch sich modelnder Platz, daß die in der Droschke zweiter dich eigentlich geschaffen haben? Ich habe die alte preußische Schule zuweilen gern, obgleich man unwillkürlich aus seiner laschen Dandyhaltung zusammenfährt; aber die alten Herren haben uns nicht gern.

Meinetwegen. Wir Jungen sind schon zu lange aus der strammen preußischen Haut herausgewachsen, wir sind die Weltstadt, das Kaiser-Berlin. – Darum gebührt uns die Leipzigerstraße. Seltsame Ironie, daß der Weg zur Welt, zur Größe, zu dem Millionengewühl der Riesenstadt zwischen den beiden brandenburgischen Wachthäusern hindurchgeht! Sie ist wunderbar, diese breite, gerade, riesige Straßenlinie, die sich nie leert, nie verstummt, deren Ende im Dunst jenes fabelhaften Berlins verschwimmt, das wir Ritter vom Lackschuh nicht kennen. Von Josty sieht man gerade hinein. Ich thue es gern mit halb zusammengekniffenen Augen, weil es komischer und gewaltiger zugleich ist, diesen Ameisenmarsch nur verschwommen zu sehen: die Droschken erster mit den blutjungen Lieutenants und die aufgedonnerten beautés der Ackerstraße, dies Pferdebahn- und Omnibusgewoge, gefaßt, fast getragen von dem Menschenstrom, der auf den Trottoiren vorüberrollt, hervorragend nur durch die Zahl, weil er den Zwang der Individualitäten abgeschüttelt hat. – Manchmal ist mir, als wenn diese Menschheit wie ein Riesengewicht auf mir lastete, dann wieder, als zöge mich der Strom mit 187 hinein, ohne daß ich es wollte – blöde Befürchtungen, die mit meiner verfahrenen Situation und der Geldlosigkeit zusammenhängen. Dennoch kommt mir immer die Frage: ist diese Straße die Fontanelle, durch die das Berlin der Arbeit, das große Berlin, seinen hemmenden Müßiggang, seine unnütze Eleganz, seine überschüssige Kraft überhaupt nach dem Westen abführt, – oder ist es der große Schlund, der nur verschlingt?

Mir scheint, es ist der Schlund. Und auch ich steure dem Schicksal der Allgemeinheit, dem gemeinen Schicksal der Mittelmäßigkeit entgegen, wie ich's verdiene. So weit ist jetzt meine Philosophenweisheit. Graf Serner kann ruhig sein – ich bin einer aus seinem Beritt!

Zu dem Schluß bei Josty zu kommen, während die Hitze, der Dunst, das Weltstadtparfüm, pikant gemischt aus Staub und Schweiß und Sprenggerüchen, über dem Platz wie feiner Nebel liegt! . . . Was würde die Dame mit den Saphiren, die verflossene Gräfin Lagrange bei diesem Raisonnement gesagt haben? – ›Louis, du bist wohl plötzlich blödsinnig geworden!‹ Diese Luft ißt sie ja mit förmlicher Gier, weil sie ihr Lebenselixir ist, wie es auch meines war.

Gott sei Dank, giebt es noch Oasen in dieser Miasmenwüste, dieser Wüste, die ich zu hassen beginne, weil ich merke, daß sie meine achtundzwanzig Jahre vergiftet hat – und noch vergiftet.

›St! st! . . . Aufgepaßt! . . . Süßer Käfer!‹

›Sucht jemand . . . schon versorgt.‹

›Kannst du gar nicht wissen! Wenn sie sich an den runden Tisch da allein setzt – ich mache mich 'ran.‹

Ich sehe absichtlich nicht auf, mich ergötzt diese Aufregung, der die Ernüchterung folgen muß. 188 Endlich scheint sie mich entdeckt zu haben. Stühle werden gerückt. »Pardon« – verbindliches: »Bitte gehorsamst.«

»Guten Tag, Herr Graf.«

Ich fahre mit einiger Ueberraschung auf: »Ah, gnädiges Fräulein, quelle chance!« Und während ich ihr den umgelegten Klappstuhl präsentiere, fixieren mich ein paar Provinzboxer in Zivil mit neugieriger Entrüstung, als wenn sie sagen wollten: ›Natürlich, unterm Grafen thut die's nicht!‹ – Ich lächle. Bürgerliches Linienfußvolk, das noch spitze Stiefel trägt, sind wir freilich nicht.

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung« . . . Die Kleine ist sehr echauffiert: »Sie wären wohl gleich gegangen? Ich bin ganz unschuldig daran.« Sie reicht mir die weißbeschuhte Hand. Den Belohnungskuß darauf für langes Warten gönnt sie mir nicht, ich thät's zu gern – das weiß sie. Und sie möchte uns beide nicht in Versuchung führen.

Ethel ist wieder im Ostendekostüm, die berückende Jugend, die bezaubernde Anmut selbst. Bei dem Hauch dieses Mundes ist's mir wirklich, als atmete ich den frischen Duft einer Blume. Sie befiehlt Limonade, läßt sie stehen und sieht auf den Platz. In schelmischer Koketterie zeigt sie gerade so viel von dem reizenden Fuß, um die Boxer verrückt zu machen. Kokett ist sie. – Eine süße Koketterie, ohne die jede Siebzehnjährige langweilig sein würde. – Das Menschenchaos interessiert sie. Wenn in ihr auch ein Stück Gräfin Lagrange steckte! Eine flüchtige Aehnlichkeit ist da, aber höchstens wie zwischen einem Jockey und einem Herrenreiter im Dreß. Auch ich beginne zu träumen. Es ist das unbestimmte Tosen, der verschwommene Laut.

»Sind sie glücklich, Herr Graf?« fragt sie plötzlich schelmisch. Die dumme Berliner Redensart, 189 die gerade vom Lieutenant bis zum Schusterjungen erbarmungslos maltraitiert wird. Ethel hat sie sofort erfaßt, wie ein echter gamin. Warum klingt die Dummheit, die mich bei andern wütend macht, aus diesem Munde so pikant?

»Wenn ich Sie sehe, gnädiges Fräulein. selbstverständlich glücklich!«

»Phraseur!«

»Danke.«

Dann lacht sie auf. – »Soll ich den Schmeichler strafen? Soll ich sagen: Wenn zu Ihrem Glück weiter nichts gehört als meine Wenigkeit, Herr Graf – hier bin ich – nehmen Sie mich – behalten Sie mich bis an mein sanftseliges Ende? – Ich bin freigebig – was?«

»Versuchen's gnädiges Fräulein lieber nicht! Ich könnte ›Ja‹ sagen, aus dem Scherz würde Ernst. Ich möchte ungern die reizendste Dame Berlins weinen sehen . . .« In diesem Augenblick durchrinnt mich wirklich ein warmes Gefühl: das Mädel würde dich retten.

Ethel sieht mir ruhig ins Gesicht. Mit einem flüchtigen Schimmer von süßer Schwermut. »Weinen würde ich nicht – aber auch nicht lachen. Es wäre ein großes Unglück für uns beide. – Ich möchte Sie nicht unglücklich machen.« Im Selbstgesprächstone fährt sie fort: »Sie sind ein Schmeichler, meinen nie, was Sie sagen – und doch habe ich Sie gern.«

Wie ich's so wiedergebe ohne Kommentar, war's unpassend, die wenig verblümte Liebeserklärung von einem kleinen Mädchen, die mich entzücken sollte. Aber ich verstehe sie ganz genau, ich weiß, was das ›gern‹ heißt – es ist das Gefühl, über das wir beide nie hinauskommen können, so gern wir auch möchten.

190 Weswegen mich die Kleine bestellt hat, weiß ich noch nicht. Irgend ein nervöser Zug in dem Gesicht sagt mir, daß sie thöricht plaudern und zugleich ernsthaft ihr Herz ausschütten möchte. Ihr Herz? Hm! Ich glaube, vor ihr ist noch kein hübsches Mädchen auf den Gedanken gekommen ohne Nebengedanken. Der Beichtvater Louis Carén – nicht übel! Also tippen wir ein wenig. Wo ist die wunde Stelle? – »Und wie geht's zu Haus, gnädiges Fräulein?«

»Vortrefflich! Alles läßt bestens grüßen . . . Nein, was ich doch lügen kann! Die haben ja keine Ahnung. Wenn Mama jetzt vorüberkäme! Ich bei Josty am Potsdamerplatz, dicht am Gitter – mit Ihnen allein! – Was bei Asta entzückend wäre, ist bei mir schamlos berechnend.«

Also jetzt die Beichte! Ich beuge mich diskret zu ihr. Sie soll leise sprechen, ich will auch kein Wort verlieren. Aber da kutschiert zum Unglück ein Bekannter vorüber: Tandem – zwei edel gezogene Vollblüter – fährt sie ein, das Vorderpferd tanzt nur so – »Tag, Carén.«

»Tag, Tag!« winke ich zurück. Und wenn ihm die Schinder ventre à terre losrasten, zu Josty nach einem hübschen Mädel äugen, das müßte er doch noch! Das wird einen haarsträubenden Kasinoklatsch geben: Carén . . . dieser Frechdachs . . . aber wieder bildhübsches Weib. – Wo der den Riecher nur her hat! Ich höre förmlich, wie es weiter geht: »Ballett . . . natürlich – Wenn's was Anständiges wäre, säße sie doch nicht mit Carén zusammen!« – Und das thut mir des Mädels halber leid. Für die Kleine bin ich empfindlich. Ihr Ruf soll so rein sein wie ihr Ostendekostüm.

Der Uniformwahn der Ausländerinnen hat sie sofort ergriffen: »War das auch ein Graf?«

191 »Ein Prinz, gnädiges Fräulein.«

Die Boxer am Nebentisch erheben sich, weil eben ein dritter kommt; es wird gewispert.

Ethel lächelt, mokant: »Haben Sie ihn wiedererkannt? – Nun, den Größten von den dreien. Er war doch bei unserm Souper.« Mir dämmert's. – »Ich habe ihm einen Korb gegeben,« fährt sie mit Seelenruhe fort, »er that's nicht anders. – Aber, wenn ich mir überlege . . .«

»Wenn ich mir überlege,« wiederhole ich mechanisch.

Auf einmal lächelt die kleine Ethel nicht mehr. Der Liebreiz ist wie weggeflogen. Das ist der halbe Backfisch nicht – das ist ein wissendes Weib, hübsch noch, auch gut, aber eine, die mit siebzehn genau weiß, was sie will. Ich sehe die Wandlung zum erstenmal. Ist es Täuschung, daß ich in den blauen Augen etwas von der harten Energie der Mutter blitzen sehe? – Wie sie so mit dem silbernen Löffel an das leise klingende Glas schlägt, den Lackschuh ganz fest auf den Tischfuß gestemmt, da weiß ich, daß sie mich nicht zum Plaudern allein bestellt hat.

Sie atmet schwer: »Wissen Sie, warum ich Sie zu der Unterredung bat, Herr Graf?«

»Ich ahne es nicht, gnädiges Fräulein.«

»Wissen Sie, warum ich die halbe Stunde zu spät kam?«

»Gnädiges Fräulein werden noch geheimnisvoller.«

»Spötteln Sie nicht!«

Ich neige demütig mein Haupt. Ihre Lippe zuckt, und eine kleine Falte gräbt sich scharf in die weiße Stirn . . . »Man will mich verkaufen. Bieten Sie doch mit!«

Es liegt eine so rasende Ironie in dem Klang, 192 daß ich unwillkürlich nach ihrer Hand fasse und mahne: »Was ficht Sie an, gnädiges Fräulein!«

Sie lächelt. Wer kurzsichtig ist, mag süße Schelmerei darin lesen; ich weiß, daß es ein Lächeln ist, das die Züge schärft, die Linien härtet und Junge alt macht. Aber lang diese Spannung zu halten, ist zu viel für siebzehn Jahre. Sie kann ihr Schicksal nicht allein tragen, sie muß jemand haben, dem sie beichten kann – und sei's auch ein Beichtiger wie ich. Aber es klingt so rührend, wenn sie sagt: Nicht wahr, Sie fassen das nicht falsch auf, Herr Graf?«

»Ich versichere Sie, gnädiges Fräulein . . .«

»Sie sollen mir gar nichts versichern! Ich glaube Ihnen schon so.«

»Nun erzählen Sie mal ganz ruhig, gnädiges Fräulein!«

Ruhig? Das kann sie nicht. Ebensogut könnte ich von einem Buchfink verlangen, daß er nicht auf den Zweigen hüpft. Aber aus dem Gezwitscher verstehe ich doch, daß man Ethel mit diesem Bomulunder verkuppeln will, koste es, was es wolle. Es ist natürlich nicht ein Schatten von Gewalt oder Ueberredung dabei. Madame will. Was das heißt, wir beide wissen's. Die eine große, klaffende Wunde, die ein wütender Hieb schlägt, vermag auch der Schwächling mit zusammengebissenen Zähnen anständig zu tragen. Aber der Moskitoschwarm, der den Gefesselten nur eine Nacht peinigt, macht ihn wahnsinnig. Und auf den feinen, immerwährenden Stich versteht sich das Weib. Ethel kennt ihre Mutter. Sie weiß auch, daß ihr siebzehnjähriger Eigensinn machtlos gegen diesen Stahlwillen ist, darum möchte sie entfliehen, solange sie noch Kraft hat, oder wenigstens den großen Kampf kämpfen, wo man siegt, stirbt, solange noch die zügellose 193 Empörung, die ungeschwächte Jugend ihr die Nerven stählen. Was soll ich väterlicher Freund dem Kinde raten? Was meine eigne Schwäche wahrscheinlich ohne Kampf thun würde – mich sofort ergeben? Und es ist die gemeine Feigheit, die beinahe ohne Anteil fragen kann: »Haben Sie denn für den Bomulunder keine Spur von Interesse? Können Sie sich nicht wenigstens vorstellen, daß eines Tages . . .«

Ein fast verächtlicher Blick der Vergißmeinnichtaugen streift mich. »Den Bomulunder? – Herr Graf!«

Und sofort versucht der vorsichtige Diplomat zu überreden, wo er nicht überzeugen kann. »Gott, gnädiges Fräulein – er ist reich, er ist klug . . . ein hübscher Mensch, wenn Sie wollen . . . Das Zukunftsideal, an das man mit siebzehn Jahren noch felsenfest glaubt, bekommt man ja nie!«

»Sie sind wohl auch von meiner Mutter gekauft?« Wie diese roten Lippen höhnisch zucken können!

»Mich kauft niemand – am wenigsten Ihre Frau Mutter. Sie weiß, was ich wert bin.«

Darauf lacht Ethel ärgerlich: »Sie spielen die Angelegenheit auf ein andres Gebiet! Wir wollten doch von mir sprechen. Soll ich Ihnen wirklich ernstlich böse werden? Denken Sie doch . . . ich den Bomulunder! . . . Wenn er dumm wäre, nichts hätte, nichts als diese unsinnige Neigung, an die sich dann mein Mitleid klammern könnte. – Oder nehmen Sie an, was viel schlimmer scheint: Er liebt mich gar nicht, es ist nur ein Geschäft, weil ich schwer reich sein soll . . . Aber der Unglückselige liebt mich ja! – Das Herz bricht ihm nicht entzwei, wenn ich nein sage, höchstens seine Eitelkeit kommt ins Wackeln. Ich glaube, bei solchen Leuten 194 ist Eitelkeit und Liebe dasselbe . . .« Das junge Ding sieht so scharf! Es ist die unfehlbare Klugheit der Mutter – nur daß Güte noch dabei ist und Jugend . . . Wer weiß denn, wie lange die Jugend und die Güte noch vorhalten, ob sich nicht bald die erbarmungslose Klugheit der Alten solo herauspellt?

Ist doch diese ganze Unterhaltung aus bitterem Haß und kindischer Albernheit so seltsam gemischt . . . Entschlossen scheint die Kleine zu sein.

»Nein, Herr Graf, ich kann ihn ganz bestimmt nie lieben – nicht einmal die dreiundzwanzigsten Husaren, auf die er so stolz ist! . . . Sehen Sie mal, wenn ich von Ihnen zu meinen Freundinnen spreche, da heißt's immer: Graf Carén, 6. Garde-Ulan . . . Ich habe mich einmal durch Zufall dabei im Spiegel gesehen, als ich das sagte. O, wie dumm und hochmütig ich aussah! Doch ich sag's immer wieder. Graf . . . Garde: das berauscht mich förmlich. Aber bitte, werden Sie nicht eitel! Zu meinem Herzen hat das keine Beziehungen. Eine Art Freundschaft mag dabei sein, obgleich Sie das gar nicht verdienen. Wissen Sie, wie ich mir bei solcher Renommage immer vorkomme? Wie jemand, der eine kostbare Vase in seinem Empfangssalon aufgestellt hat – nicht für sich, sondern für seine Freunde. Er ist stolz auf das Prunkstück, zeigt es allen . . . Aber wenn er endlich allein ist mit seiner Vase, dann deckt er sie hübsch zu bis zum nächsten Empfang. Sie läßt ihn kalt. Und dann nimmt er vor, was er liebt, was nach seinem Herzen ist. Es sind sicher Kleinigkeiten, vielleicht wertlos, sogar unnütz . . . doch es ist nun einmal seine Natur so . . .«

Soll ich ihr böse sein für diese lächelnde Verachtung? Sie hat ja auch recht, sie weiß nur nicht, daß die kostbare Vase einen großen Sprung hat und wertloser ist als ihre Kleinigkeiten.

195 »Also lassen Sie den Bomulunder Bomulunder sein. Nehmen Sie an, Ihre kostbare Vase ist zerbrochen. Und nun zeigen Sie mal mutig Ihre geliebte Kleinigkeit als das wahre Juwel bei dem nächsten großen Empfang.« Ethel weiß, was ich will, weil sie sich wohl ein wenig schuldig fühlt.

Im Augenblick ist sie wieder ganz Backfisch, der in äußerster Verachtung die Lippen kräuselt, die Achseln zuckt und das Limonadenglas mißhandelt. »Lassen Sie mich, bitte, zufrieden, Herr Graf Carén! . . . Ich sollte den Jaromir heiraten? – Ich?«

»Gnädiges Fräulein, davon sagte ich kein Wort . . .«

»O, lügen Sie nur ruhig weiter, Herr Attaché! – Aber bestellen Sie Ihrem Freunde von mir, er könnte sich besser anziehen. Ich liebe Leute gar nicht, die solche Smokings tragen. Warum zieht er sich nicht an wie Sie? – Sagen Sie ihm das, bitte!«

»Mit achtzig Mark monatlich? Ahnen Sie, was meine Equipierung kostet?«

»Wie er es macht, ist mir ganz gleichgültig. Er soll's auch gar nicht thun! Ich will ihn überhaupt nicht sehen . . . Was geht mich eigentlich Herr von Jaromir an?« Ethel beginnt jetzt nachdrücklich den Tischfuß zu maltraitieren.

Voll Ergebung erwidere ich: »Soll ausgerichtet werden, gnädiges Fräulein.«

»Das wünsche ich wieder nicht, Herr Graf! . . . Habe ich Sie vielleicht darum gebeten? Ich erinnere mich nicht.« Kleine Lügnerin, es ist noch keine zwei Minuten her, als du mir das sehr energisch befahlst. Die blauen Augen flackern ordentlich vor Wut. Die Kornblumenfee würde mir die zerknüllten Glacéhandschuhe ins Gesicht werfen – den Limonadenlöffel dazu, wenn es nur irgendwie anginge. Auf etwas Aehnliches bin ich gefaßt. 196 Statt dessen schüttelt sie energisch das Köpfchen, und aus dem tiefempörten Gesicht entwickelt sich wieder das Süß-Schelmische ihrer beinahe achtzehn Jahre, das wahre Gesicht! . . . »Wenn Sie ihm ein Wort sagen würden, ich wäre Ihnen ewig böse, Herr Graf! Meinen Sie im Ernst, ich hätte wirklich solche Gedanken? Er ist so nett und so arm! Nein, bestellen Sie ihm gerade Grüße von Ethel Le Fort, und er möchte doch recht bald kommen . . . denn der Diener . . . Ach, Sie wissen ja noch gar nicht, Herr Graf! Der Kerl ist nämlich so frech gewesen (natürlich auf Befehl), Herrn von Jaromir hinauszusagen: das gnädige Fräulein wäre bei der Toilette, und die gnädige Frau bedauerte sehr. – Ich bei der Toilette, nachmittags um vier! Das ist ja zu dumm! Und deshalb behandle ich den Kerl eben, Sie wissen ja . . . Mama ist wütend, aber ich lasse ihn nach wie vor apportieren wie einen Hund. Warte du! denke ich. Jetzt hat er gekündigt, fast unter Thränen, weil man es mit dem jungen gnädigen Fräulein nicht aushalten könne. Ist das nicht famos? – Uebrigens sagen Sie ihm lieber gar nichts, Herr Graf. Wenn Herr von Jaromir mich durchaus sehen will, kann er's ja noch einmal versuchen.«

Die Beichtgelüste scheinen sich bei dieser konfusen Philippika ausgetobt zu haben. Sie versucht den Lackschuh durch die Staketen zu zwängen, um einen träumerischen Mops zu ärgern, der in mürrischer Weltvergessenheit vorbeitrollt. Dann lächelt sie einem kleinen Mädchen zu, das zutraulich näher kommt und mit Kuchen über den Zaun weg regaliert wird. Bei mir tritt der Potsdamerplatz wiederum in seine Rechte. Ich sehe mit einer Art teuflischem Vergnügen, wie der Schlund der Leipzigerstraße ohne Unterlaß das schwarze Ameisengewimmel einsaugt.

197 Und endlich ist es der neugierige Beichtvater selbst, der das Schweigen bricht. Hat ihm der erbarmungslose Schlund menschenfreundliche Gefühle eingegeben, – oder mephistophelische? Chi lo sa.

»Aber, gnädiges Fräulein, verzeihen Sie, was beabsichtigt nun eigentlich Ihre Frau Mutter damit?«

Ethel lächelt müde: »Ja, was?«

Ich markiere die praktische Vernunft, die mir durchaus fehlt: »Was kann sie an dieser Verbindung für ein Interesse haben? . . . Der Le Fortsche Reichtum ist notorisch, und die Befürchtung, daß dieser erste Bewerber auch der letzte sein könne . . . Haben gnädiges Fräulein vielleicht einen Taschenspiegel bei sich?«

Ethel hält sich zum Erstaunen der Nebentische beide Ohren zu und ruft: »Schluß, Herr Graf, Schluß . . . Sind Sie jetzt fertig?« Dann fragt sie treuherzig: »Warum wollen Sie mich eigentlich noch eitler machen, als ich schon bin?«

Ich aber fahre unbeirrt fort: »Also sind's rein mütterliche Gefühle. Man will Sie glücklich sehen, selbst gegen Ihren Willen?«

»Glücklich? – Ach, wie gefühlvoll Sie sind, Herr Graf! Als wenn meiner Mutter jemals an meinem Glück etwas gelegen hätte.« – Das ist hart, fast grausig aus dem roten, jungen Munde. – »Wissen Sie, was der Wahrheit viel näher kommt? Man hat Angst, daß ich eine Dummheit mache . . .«

»Die zu kontrekarrieren Ihre Mutter doch immer die Macht hätte.«

»Wer weiß, Herr Graf . . . Denken Sie, ich habe keinen Willen? – Wir täuschen uns, Graf und Edler Herr Carén! Ethel Le Fort ist sehr flatterhaft – Ethel Le Fort verliebt sich leicht – und wenn Ethel Le Fort eine große Dummheit machen 198 sollte, so macht sie die mit offenen Augen – und macht sie ganz gewiß! Meine Mutter weiß das. Sie weiß auch, daß dann mit mir nicht zu paktieren wäre. Es giebt in Italien Esel, die zuweilen stehen bleiben, und die keine Prügel, keine Mißhandlung vom Fleck bringen. So könnte sich auch bei mir alle Macht der Erde erschöpfen, ich ginge doch nicht vom Fleck! Denn aus Vernunftgründe – bah! Und das einzige, was mich weich macht wie diesen Handschuh hier: Güte, Zureden – das versucht Mama bei mir nicht.«

»Gnädiges Fräulein sind aber ungerecht!« –

Zwei blaue, eiskalte Augen sehen mich an. Sie erhebt sich halb. »Was wissen Sie, Herr Graf, von meiner Mutter? – Ach, du lieber Gott! – Ja, wenn ich ihre vergötterte Asta wäre! . . . Aber ich bin nur Ethel, die hübsche Puppe, die Nippfigur; ich werde nie Carriere machen, der Diener wird vor mir nie die Flügelthüren eines Botschaftshotels aufreißen und rufen: ›Ihre Excellenz, die Frau Gräfin von X.!‹ . . . Ich bitte Sie, Herr Graf, selbst wenn ich's so weit brächte, ich würde bei dem ersten Besuch eine so unglaubliche Dummheit sagen, daß mein Gemahl, die Excellenz, stillschweigend anspannen lassen und mich nach Hause bringen müßte. Ich habe nun einmal keine aristokratischen Instinkte, ich habe auch keinen Ehrgeiz. . . . Woher auch? Mein Vater ist ein reich gewordener Kaufmann . . . Und meine Mutter, die keinen Sou besaß, als sie sich verheiratete?« Sie spricht mit zusammengebissenen Zähnen weiter. »Von der sollt' ich's doch eigentlich haben! Alles sein – es wenigstens scheinen – o, ich glaube, sie stürbe, wenn das plötzlich aus wäre! . . . Aber das wird nie aus sein. Asta ist ja da . . . Arme Asta! . .  Haben Sie eine Ahnung von dem Herzen der Frau 199 Le Fort, Herr Graf? – Ahnen Sie, was für ein Unikum von Tochter das sein muß, das sie noch mehr liebt als sich selbst? Asta ist ihr der Sohn, das Glück, die Zukunft – alles! Und um die glücklich zu machen, würde sie . . . würde sie . . .«

Warum willst du es nicht aussprechen, Kornblumenfee? Ich sehe es doch in deinen blauen Augen flimmern. Und du hast recht, frühreifer Backfisch: deine Mutter könnte morden!

Ich mache keine Besänftigungsversuche mehr. Ich möchte noch hören von dieser Mutter, die mich mehr interessiert als die Töchter zusammen. Aber Ethel hat sich besonnen. Denn was ich aus diesem leidenschaftlichen Ausbruch schließen könnte, nämlich, daß sich die Schwestern nicht lieben – das möchte sie nie wahr haben. Und es ist auch nicht wahr! Es ist sogar rührend, wie schnell dieser kalte Haß schmilzt, wenn es die Grünäugige gilt. Wenn der Rosenmund schmerzlich lächelt, dann muß ich mich zusammennehmen, um das Lächeln nicht fortzuküssen.

»Warum thun Sie eigentlich immer meiner Schwester weh?«

Ich zucke die Achseln.

»Als wenn Sie's nicht ganz genau wüßten, daß Sie ihr wehthun, Herr Graf! . . . Sie sitzen stumm bei den beiden, bis Sie bei meiner Schwester irgend eine Schwäche finden. Dann sprechen Sie und freuen sich, wenn sie unter Ihrem Stich zuckt.«

»Ich denke nicht daran, mein gnädiges Fräulein!«

Die Blonde überhört es. »Mögen Sie den Serner eigentlich leiden?«

Ich erwidere ihr darauf ganz wahrheitsgemäß: »Wir waren zusammen auf dem Pennal – später auf der Kriegsschule, Abiturient ich, ohne 200 Fähnrichexamen er.« – Das letztere ist eine kleinliche Rache für sein taktloses Benehmen gegen Jaromir. – »Wir Siezen uns trotzdem.« Auch das ist Wahrheit mit kleiner Retouche: »Früher hatte ich etwas gegen ihn, es ist mit jedem Tage mehr geschwunden – und heute . . .«

Ethel winkt ab: »O, erzählen Sie nur immer weiter, Herr Graf! Schade, daß er kein Mädchen ist, nicht wahr? Sie würden ihn und keine andre heiraten! Soll ich Ihnen mal was sagen? Sie können den Serner nicht ausstehen! Das wäre auch zu wunderbar, wenn Sie beide . . . Denken Sie vielleicht, meine Schwester hat etwas für ihn übrig?«

»Warum nicht, gnädiges Fräulein?«

»Weil er ein blasiertes Schaf ist! Da wissen Sie's.«

»Ich danke in seinem Namen.«

»Und trauen Sie ihr vielleicht solche Geschmacksverirrung zu? . . . Allerdings, sie erträgt ihn – erträgt ihn mit einer mir unbegreiflichen Langmut . . . Warum? Das verstehe ich auch nicht. Asta ist überhaupt schwer zu verstehen. Sie ist wie all die Menschen, die alles mit sich allein ausmachen. Sie könnte sich innerlich verbluten, und niemand würde es sehen.«

»Wir schwenken ab, gnädiges Fräulein,« mahne ich kühl. Die Grünäugige ist mir wirklich gleichgültig.

Als Antwort faltet Ethel die Stirn und kritistert mit Freimut: »Sie sind faktisch manchmal gräßlich, Herr Graf!«

Wenn die Kleine mich beleidigt, muß ich immer lachen. Ich habe ganz das Gefühl, als wenn sie mich grausam züchtigen wollte und zu der Tortur erst ihren weißen Handschuh anzöge.

201 So was ist nun mein Beichtkind – so was will von meiner Lebens- und Liebesweisheit profitieren. Ein Fohlen auf der Weide macht keine tolleren Sprünge als diese siebzehnjährige goldblonde Logik. Die kleine, lächerliche Liebesgeschichte würde ich wahrscheinlich nie zu Ende hören können, wenn ich den Wildfang nicht von Zeit zu Zeit an die Longe nähme. Da geht sie dann auch fünf Minuten ganz vernünftig. – »Also des Pudels Kern, gnädiges Fräulein: Bomulunder ist Ihr Ideal nicht. Nun, so schassen Sie ihn doch! Behandeln Sie ihn eines Tages so, daß er das Wiederkommen vergißt.«

Sie sieht mich zweifelnd an: »Diplomat, Herr Graf?«

»Diplomat!« Sie hält mich augenblicklich für einen ganz miserabeln.

»Das hätte ich mir an meinen fünf Fingern abzählen können . . .«

»Der gerade Weg ist der beste!«

»Jawohl! Wissen Sie, wenn ich Spinat mit Ei schlecht, ja empörend behandle, – was dann der Erfolg ist? Daß meine Mutter ihm tagtäglich versichert: ›Ethel ist jung – Ethel ist siebzehn Jahre – Ethel ist ein Kind. Kinder sind launenhaft. Das muß ihnen aberzogen werden. Gerade Sie, Herr Bomulunder, haben das Zeug, diesen Wildfang zu zähmen, der Ihnen im Grunde seines Herzens recht gut ist. Im übrigen kommen Sie doch zu uns – Sie sind uns ein so lieber Gast, nicht wahr? . . . Wenn Ethel unliebenswürdig ist, läßt man sie zufrieden. Ich kenne doch meine Tochter. Siebzehnjährige sind niemals anders. Wer von ihr schlecht behandelt wird, hat immer die besten Chancen!‹ – Meine Mutter und der Schnapsbaron sind ja so einig! Ich bin überzeugt, sie hat ihm schon viele solche Ratschläge gegeben. – Ich bin 202 ja selbst darauf 'reingefallen . . . Fünf Tage war er hintereinander bei uns, ich war überhaupt nicht für ihn vorhanden. Gott sei Dank, denke ich, endlich hat er begriffen: Ich behandle ihn nun wieder, wie ich alle Menschen behandle, unsern Diener ausgenommen. Und da hatte ich das Unglück! Er fing wieder das Süßholzraspeln an . . . einmal kommt er mir sogar ins Klavierzimmer nachgekrochen, setzt sich hinter mich. Ich muß im Nacken puterrot geworden sein über die Frechheit. Die Männer bilden sich natürlich gleich ein, wir wären verschossen. – Lächeln Sie nicht, Herr Graf, Sie sind ebenso! – Vor Aerger greife ich immer ein paar Takte daneben. Er rückt näher: ›Gnädiges Fräulein spielen wirklich entzückend! Diese kleine Hand kann wirklich eine ganze Oktave greifen . . . diese kleine Hand.‹ Er kommt wieder näher, vorsichtig – aber ich fühle den gräßlichen heißen Atem im Rücken durch meine blaue Bluse. Jetzt kommt's, denke ich. Und da werde ich plötzlich ganz ruhig, spiele korrekt. Jetzt wird er deinen Arm berühren . . . Na, warte du! Ich freue mich ordentlich auf den Moment. Ich versichere Sie, in dem Augenblick hätte ich ihn auf die Hand geschlagen und gerufen: ›Sie unverschämter Bengel, Sie!‹ – Da wär's doch endgültig aus gewesen. Aber denken Sie, er that's? Vielleicht sah er mir doch die liebevolle Gesinnung an, vielleicht machte ihn auch das korrekte Spielen unsicher. – Und jetzt kann ich thun, was ich will – ich werde ihn nicht los! . . . Herr Graf, sagen Sie mir, was ich thun soll,« bittet sie fast weinerlich, ».ich kann doch niemand einen Korb geben, der gar keine Anstalten zum Anhalten macht.«

Jetzt ist mir auch das famose Scharmützel interessant. Etwas vom Mephisto regt sich: »Ich will Ihnen dann noch etwas sagen, gnädiges Fräulein: Changieren Sie!«

203 »Was heißt das?«

»Behandeln Sie ihn heute gut, morgen besser, übermorgen am besten.«

»Dann bildet er sich doch ein, ich wäre in ihn verschossen! Machen Sie nicht so frivole Scherze, Herr Graf, ich bin Ihnen sonst ernstlich böse!« Wirklich greift sie auch nach dem Sonnenschirm, ungefähr zum zwanzigstenmal in unsrer Debatte.

»Aber das ist ja bitterer Ernst! Sie sollen ihm nicht etwa um den Hals fallen, Sie sollen nur gerade so nett sein, daß er eines Tages sagt: ›Ja t'aime, je t'adore...‹ Kann er französisch? . . . Lassen Sie ihn meinetwegen auf deutsch ruhig ausreden – dann lachen Sie ihm ins Gesicht. Verträgt er das auch, können Sie noch mit scharfen Gegenständen nach ihm werfen . . .«

Ethel ist sprachlos: »Das wäre doch gemein . . .«

Aber ich bin im Fahrwasser. »Ein alter Trick! Und was heißt gemein? Im Kriege und in der Liebe sind alle Mittel erlaubt.«

»Das brächt' ich nie über mich!« wehrt sie entsetzt.

»Dann müssen gnädiges Fräulein sich an andre Ratgeber wenden.« Die Kleine ist sonst so gelehrig, hat bei aller süßen Faselei so wunderbar richtige Instinkte – aber auf den Leim will sie nicht. Nachfühlen kann ich ihr es nicht – aber wenigstens verstehen. Mein Rat ist eben die ultima ratio. Wer ihn befolgt, muß seiner sehr sicher sein. Als Trick von Weltdamen, die einen unbequemen Anbeter loswerden wollen, sah ich es schon gegen manches männliche Schaf angewendet. Mir ging's selber fast so – aber ich hatte einen asinus – sie war zu freundlich – und bot ihr in der zwölften Stunde das Paroli einer größeren Teufelei – Unschuldige sträuben sich gemeinhin gegen diese Rolle 204 – sie spielen sie zu natürlich und fallen selbst hinein. Der Kornblumenfee den Rat zu geben, ist frivol. Sie ist siebzehn. Freilich, was heißt das, nach dem, was wir gesprochen! Im Grunde meint's ja auch der Spießgeselle gut. Daß Ethel nicht will, ist mir doch angenehm, denn was weiß ich, was in der Tochter dieser Mutter eigentlich steckt? Es könnte die erste Sprosse auf der Leiter der Gemeinheit sein, auf der sie mit affenartiger Geschwindigkeit emporklettert. Merkwürdig, die grünäugige Schwester, die ich nicht leiden mag, möchte ich verderben – und in Wahrheit thue ich es bei der Blonden, die ich gern habe. Es giebt noch Ironie.

Ethel schweigt – ein verächtliches Schweigen. Das macht mir nichts. Mich frappiert nur auf einmal die Umgebung. Bei Josty, im Kaffeegarten am Potsdamerplatz, Menschenschicksale bestimmen wollen – modern! Bei all dem Tosen, das uns hier umwogt, siebzehnjährigen Mädchen die Moral der Kokette zu predigen – an einem wackelnden Blechtisch mit einem Glas Chartreuse das Wesen der Dinge objektiv zu betrachten, während die häßlichste Subjektivität auf jedem Pflasterstein ihr Spiel treibt – schnurrig! Früher schlossen sich die Leute zu solchen Beichten in ihr Kämmerlein ein, begruben sich in die Waldeinsamkeit, um nur ja allein zu sein. Wir machen es umgekehrt. Wir brauchen, um allein zu sein, das Lokal, die Menge, den Lärm. Wir brauchen zu unsrer Sammlung das heiße Parfüm der Verdorbenheit, das Gift. Jeder Blick müßte uns abziehen, jede Equipage, die federnden Trabes einbiegt, jedes Omnibusverdeck mit seinen schmierigen Jüngern der Arbeit sollte uns zu denken geben, beinahe jeder Ziehhund, der sich hinter seinem Briquetteswagen kaputkeucht, und jeder Droschkengaul, der stumpfsinnig auf seinem Halteplatz einnickt. Die 205 sozialen Gegensätze, die furchtbaren Fragen der Zukunft, das dämonische Widerspiel zwischen darbender Arbeit und müßigem Ueberfluß, das drängt sich auf. Es liegt in den Gesichtern, Gestalten, es steigt aus den Gerüchen, den süßlichen, pikanten, faulenzenden, von der Importzigarre bis zum Moschus – und wieder aus den sauren, herben der Arbeit, die von dem Straßendamm herüberwogen, und deren verbindendes Mittel eben gerade dieser Moschusgeruch ist. Ich brauche meine langen Attachébeine mit dem Lackschuh nur vorsichtig weit nach links zu strecken, und ich berühre verständnisinnig den Glacéschuh einer Demimondaine, die herausfordernd herüberblickt, entweder weil sie mich kennt oder weil sie die keusche Jugend der Kornblumenfee instinktiv haßt. Ja, wo Monde ist, ist auch Demi nicht fern. Und die Moral daraus?

Ethel unterhält sich derweil damit, mich anzustieren. Sie will mich durchdringen, endlich einmal hinter dies Chamäleon Carén kommen. Du bemühst dich unnötig, Blonde! Du kannst nie etwas finden, weil nichts dahinter ist.

Ich hoffte schon, sie hätte meinen klugen Rat vergessen, aber sie kaut noch an dieser Weisheitspille. Endlich hat sie's überwunden und spricht.

»Ich glaube, daß man sich vor Ihnen sehr hüten muß, Herr Graf.« Das ist eine rasende Ungerechtigkeit der Blonden. Wenn ich alle hübschen Kinder so heilig gehalten hätte, ich wäre längst Mönch.

»Sind Sie wirklich so schlecht?« fragt sie weiter. Darin liegt eine unbewußte Huldigung. Sie hat überhaupt übertriebene Begriffe von meinen geistigen Fähigkeiten. Denn jetzt kommt's 'raus. Sie hat mich thatsächlich nur deswegen citiert, weil sie mich für einen kleinen Hexenmeister in Sachen der Liebe hielt. – Ist das Mädchen grundlos verdorben oder grundlos naiv?

206 Sonst pflegen doch Siebzehnjährige sehr erfahrenen Herren nicht zu sagen: »Daß Sie verdorben sind, Herr Graf, wußte ich längst. Und deshalb interessierten Sie mich.«

Weil Ethel den Grafen und Edeln Herrn Louis Carén für einen Virtuosen der Gemeinheit hält, hat sie von meinen Erfahrungen zu profitieren gesucht. Sie gedachte in einen brodelnden Hexenkessel von Verworfenheit zu sehen, in dem die gemordeten Geliebten dutzendweise umherschwimmen und Mandragola und Arsenik zu jeder Tageszeit serviert werden für die kommenden oder gehenden Favoritinnen, je nach Laune.

Sie erzählt äußerst pläsierlich: »Wissen Sie, Herr Graf, ich bin zu Ihnen gegangen, wie man zu einer Frau geht, die Karten schlägt oder wahrsagt. Sie wissen schon . . .«

Das weiß ich nun keineswegs, da aus den Kreisen der Dunkelmänner und Dunkelfrauen mein braver Wucherer die einzige Bekanntschaft ist. Ethel hat an Mixturen gedacht, Gift und Dolch, mit denen ich mich in dem Petersburg der Romanows genügend beschäftigt haben muß. Aber sie hat weder daran gedacht, daß ihre Logik sich verirren, ihr Herz sich vergessen könnte, noch daß Graf Carén ein sehr oberflächlicher Psycholog ist. Darum sträubt sie sich gegen meinen Rat, der ihr weder weise noch dämonisch genug ist. Was fragt sie mich eigentlich, dessen Lebens- und Liebeserfahrungen seine Goldfüchse waren? Ich habe in meinem Leben alles bezahlt! Frag doch andre, blonde Ethel, die mit dem Herzen sündigten, oder die großen Verführer, aber nicht einen abgeblaßten, dem nur noch die Reflexion geblieben ist. Und wenn du durchaus Vertraute haben mußt – es giebt ja so viel gutherzige Gänse – du hast doch eine Schwester . . .

207 Ahnt sie meine Gedanken? Hat sie den angeborenen Spürsinn der Mutter? – Denn ganz unvermittelt fragt sie: »Nicht wahr, Sie denken jetzt, warum macht das dumme Ding nicht seine Schwester zur Vertrauten? – Nun, ich sage Ihnen,« fährt sie mit energischer Kopfbewegung fort. »ich thue es nicht, weil ich nicht will . . .«

»Gnädiges Fräulein, Ihr Vertrauen ehrt mich.«

»Nun höhnen Sie auch noch! Nein, Sie sind gräßlich . . . Ich wollte, daß ich Ihnen auch nicht so viel gesagt hätte!« Dabei schnippt sie mit den Fingern, voll tiefster Verachtung. Das hält sie aber nicht ab, nach einer Pause zu fragen: »Bilden Sie sich ein, Herr Graf, ich könnte nicht auch hochmütig sein? – Asta sagt mir nie etwas. Weil sie keine Geheimnisse hat, wie sie behauptet. Natürlich ist das gelogen! . . . Warum läuft sie immer zum Onkel? Ich habe ihn auch so gern, ich möchte mir auch von ihm raten lassen. Aber wenn ich fünf Minuten bei ihm bin, spiele ich mit dem Skelett im Studierzimmer (ich graue mich gar nicht!). Ich muß nur lachen, wenn ich denke, daß ich auch mal so aussehen soll. Ich werde ganz gewiß nicht so aussehen! – Und dann wird der Onkel nervös und sagt: ›Du machst ihn mir noch kaput.‹ Oder ich lese in einem medizinischen Buche, natürlich in einem, in dem ich nicht lesen soll – da heißt's wieder: ›Ethel, das paßt sich nicht.‹ – Warum sich das nicht paßt? So dumm! – Mit Asta wird alles besprochen: die zwei Jahre, die sie älter ist – pah! . . . Könnte nicht Asta abends im Bett zu mir sagen: ›Liebe Schwester, mir ist so schrecklich zu Mute. Ich kann den Serner nicht ausstehen und (Verzeihung, Herr Graf!) den Carén erst recht nicht?!‹ . . . Ach, da könnten wir uns so stundenlang erzählen! Ich würde ihr auch alles auskramen . . . 208 Gott, Herr Graf, Sie können auch weiter nichts als zuhören oder einem Schlechtigkeiten einblasen!«

»Wenn Sie nun wirklich so todunglücklich sind, gnädiges Fräulein, merkt das denn niemand?«

»O, Mama gewiß. Papa interessiert's nicht, obgleich ich eigentlich sein Liebling bin. Den sehen wir selbst kaum. Der hat seine Geschäfte . . . er hat keine Zeit für unsre kleinen Angelegenheiten. Bei Toilette und so etwas setze ich alles durch, wenn's auch Mama nicht will. Und Asta, wie soll die das merken? Liebenswürdig oder ungezogen – ein Mittelding giebt's bei mir nicht. Natürlich, sie, die immer kühl und vornehm ist! Bei manchen Menschen liegt es schon in der Figur, und sie ist wundervoll gewachsen. Asta hält natürlich alles bei mir für Laune und Spielerei. Sie wundert sich höchstens, daß ich nicht mehr beiße und kratze wie früher. Manchmal thät' ich's noch rasend gern. Aber mit siebzehn Jahren! Es geht wirklich nicht mehr, Herr Graf . . . Asta hat nach meiner Ansicht nur die Wahl zwischen zwei Carrieren: ganz barmherzige Schwester oder ganz große Dame . . . Ich versichere Sie, so oberflächlich und verwöhnt ich auch bin, ich könnte einem Mann, den ich liebe, seelenvergnügt Strümpfe stopfen. Der Unglückliche, der sie tragen würde, litte natürlich Folterqualen! Aber es wäre doch gut gemeint, und ich würde es ganz gewiß besser lernen.«

»Jaromir würde in diesen Strümpfen keine Qualen leiden, gnädiges Fräulein.«

»Nun ärgern Sie mich schon wieder mit dem kleinen Lieutenant! Er thut mir leid, aber aus Mitleid heirate ich ganz gewiß nicht.«

Doch sie schweift nicht ab, wie ich hoffe. Ehrlich gesagt, die Asta-Unterhaltung ist mir ein Greuel, weil sie nicht hierher gehört.

209 »Natürlich, Asta macht keine Handarbeiten, obgleich sie es so gut gelernt hat wie ich. Sie ist auch kein Blaustrumpf, emanzipierte Weiber kann sie nicht ausstehen.«

Ich lächle sarkastisch.

»Sie denken wohl, Herr Graf, sie ist so eine echte Anglo-Amerikanerin, die den halben Tag auf dem Sofa liegt, Journale durchblättert und Modezeitungen studiert, die übrige Zeit aber flirtet?«

»Das habe ich ihr allerdings nie zugetraut.«

»Was dann?«

»Daß sie den Grafen Serner höchst ehrbar lieben und ehelichen wird.«

Warum ich wieder mit dem Unsinn anfange? Es ist rein nervöse Opposition und wider besseres Wissen. Auch selbst wenn's so wäre, ich empfände ja doch nicht einen Schatten von Rivalität, ich begriffe das Mädel nur einfach nicht! Ich, als glücklicher Rivale, würde krank werden von dem Glück.

Ethel scheint über ihrer Schwester Neigungen doch genauer orientiert zu sein: »Serner wird Asta niemals heiraten!« sagt sie ganz apodiktisch. »Schon weil . . .« da stockt sie.

»Schon weil,« wiederhole ich gedankenlos.

»Nun, schon weil's Mama nicht will,« fährt sie triumphierend fort.

»Ist ein andrer Glücklicher auserwählt?« frage ich höflich.

Das ist Ethel zu viel. Sie streift sich die weißen Handschuhe zum Aufbruch zurecht. Dann fragt sie lauernd: »Haben Sie sich's überlegt, wer, Herr Graf?«

Ich thue ihr wohl etwas leid. »Ich habe keine Ahnung, gnädiges Fräulein.«

»Nun, dann sind Sie blind!«

»Danke.« Mir dämmert's. Ich wünsche aber, 210 daß sie selbst den Verdacht ausspricht, mittels Schweigen bekommt man aus Siebzehnjährigen alles heraus.

Nach fünf Minuten ist die Selbstbeherrschung vorüber. »Sie . . ., Sie . . ., Sie . . .! Wissen Sie es nun?«

»Hat sie Ihnen das anvertraut?«

»Das ist nicht nötig!« versichert Ethel von oben herab. »Ich habe meine Augen.«

Jetzt bin ich wirklich ärgerlich. »Lassen Sie, bitte, alle Vermutungen aus dem Spiele, gnädiges Fräulein! Ich autorisiere Sie sogar, jedem zu sagen, der es zu hören wünscht, daß ich niemals wegen Fräulein Asta Le Fort in Ihr Haus gekommen bin. Es klingt albern, aber es ist die Wahrheit: Ihr reizendes Gesicht allein hat mich gezogen.«

Gegen diese Wahrheit ist Ethel völlig taub. Sie steht auf, klatscht diskret in die Hände. »Endlich! Nun hab' ich Sie wirklich mal wütend gesehen. Ich hätte das nie für möglich gehalten. – Und wenn Sie glauben, ich glaubte Ihnen – so sind Sie sehr schief gewickelt. Adieu, adieu!« Sie tippt mir nur an die Fingerspitzen.

Meine Begleitung bis zur Droschke verschmäht sie. »Aber zweiter, gnädiges Fräulein!« rufe ich ihr noch leise nach.

»Nein, das ist zu große Tierquälerei!«

Zwei Minuten später gondelt sie in einer sehr eleganten Droschke erster durch die Bellevuestraße. Mich ärgert's für sie. So klug und liebenswürdig das kleine Ding auch ist, ihren Kopf muß sie nun einmal für sich haben. Junge Damen fahren nicht allein so durchs Bois. Der Grund ist jeder Berlinerin einleuchtend – nur diesem kleinen exotischen Vogel nicht.

*

211 Ich hätte eigentlich bei Josty nichts mehr zu thun. Dennoch bleibe ich. Es ist die körperliche und geistige Trägheit, die der Müßiggang mit sich bringt. Der ganze Tag besteht ja für unsereinen nur im Lokalwechsel, und der wird schließlich langweilig. Bei Dressel hocken Bekannte – ich sehne mich nicht nach ihnen. Weiberkneipen? Nee! Das ist was für Studenten, Fähnrichs und rettungslos Verbummelte. Bis zur Kellnerin und zum Patzenhofer sind wir noch nicht gesunken. Wenn man partout gemein sein will – dann gleich lieber das halbe Dutzend Etagen tiefer . . . Ich möchte, es wäre später und ich könnte meine Schlafstelle aufsuchen; eigentlich hat man immer nur eine Schlafstelle, selbst wenn man in einem Palazzo wohnt.

Vielleicht will ich auch über das schnurrige Tete-a-tete nachdenken. Was mir davon geblieben? – Ich schäme mich des Geständnisses: eine kleine gemeine Regung der Eitelkeit, nichts mehr. Die Kornblumenfee hat mir die Nebel zerstreut, in denen ich bis dato das grünäugige Nixenhaupt sah. Den Fischschwanz bemerke ich erst jetzt. Die unergründliche Asta ist mir nun etwas näher gerückt – ich erkenne die Aehnlichkeit mit der Mutter. Sie weiß, was sie will . . . Eines Tages wird Serner einen nagelneuen Cylinder von Habig aufsetzen und eine Stunde später, blöde lächelnd, sich des Jawortes freuen. Glück auf, frühreifes Karlchen, sie maltraitiert dich ganz gewiß! Die Aussicht macht mir viel Spaß. Alles andre interessiert mich kaum. Das Bleibende, das angenehm prickelt, ist nur die Gewißheit, daß mich Madame hoch taxiert. Meiner Pauvreté thut's wohl! Madame ist eine kluge, gute Frau . . .

Bei Josty werden sie mich für einen Säufer halten, ich bin schon beim vierten Glas Chartreuse. 212 Fehlgeschossen. Laster giebt's bei mir nicht, nur Mittelmäßigkeit. Darum behagt mir auch die Dämmerung wohl, die jetzt niedersinkt. Sie macht alles so hübsch grau und gleich. Die volle Sonne und der wimmelnde Tag sind zu erbarmungslos klar und charakteristisch. Wie anders, wenn mählich alles verschwimmt, die zurückkehrenden Karossen der Bellevuestraße, die vollgepfropften Pferdebahnen, die Droschken . . .

Das ist ein hübsches mattes Halbdunkel, das die Herrenkleider aschgrau färbt und die hellen Damentoiletten schmutzig. Die Luft wird schwerer, feuchter – zum Glück regt sich noch ein Windhauch. Und kurz ehe das elektrische Bogenlicht aufflammt, ist der ganze Platz nichts als dumpfes Wogen und fader Dunst. Früher empfand ich da ganz anders. Wenn die große Menschenherde wieder heim getrieben wurde in den Stall Berlin – die Gestalten haben die charakteristische Linie verloren, alles ist weich, die Gesichter verschwimmen, die Cylinder sind die dunkeln, die Strohhüte die hellen Punkte über dieser staubigen Schafherde, aber völlig losgelöst von ihr, die mit wohlig tierischem Behagen in die Buchten strömt, dann empörte sich der Uebermensch in mir gegen diesen Herdeninstinkt vor mir, dann fühlte ich mich als der einsame Aristokrat inmitten dieser trottenden Plebejer . . . Jetzt liebe ich diese Dämmerung, weil sie auch mich einhüllt, gleich macht, von lästiger Eigenart befreit. Ein Hammel unter Hammeln: das ist das Wahre! . . . Warum ist nur in Berlin diese Dämmerstunde so kurz? Ich habe wohl Angst vor dem blauen kalten Dunstlicht, das urplötzlich den Potsdamerplatz überflutet. Was Glanz besitzt, fängt an geheimnisvoll zu blinken, was matt, wird noch farbloser, das Schwarze erscheint stumpf. Es schafft so ganz neue Gegensätze, das 213 geborgte Tageslicht. Das Leben nimmt sich aus wie eine Maskerade.

Der Schlund der Leipzigerstraße liegt in dieser ruhigen Helle, recht einladend zwischen den dunkeln, schnurgeraden Linien seiner Riesenindustriepaläste. Ein hübsch breiter Pfad dieser Weg zur weltstädtischen Hölle – und es sind viele, die ihn wandeln . . .

Warum ich mich vor dem elektrischen Licht fürchte? Weil ich nichts mehr besitze, was geheimnisvoll blinkt; nur das stumpfe Schwarz ist geblieben.

*

»Servus, Herr Graf?«

Ich wende mich etwas erstaunt um. Es ist der Doppeldoktor. Hände und Stock in den Ueberziehertaschen, den Hut tief in die Stirn nach Gigerlmanier – die rätselhafte Mischung von schnoddrigem Elegant und behäbigem Gauner, die ich sonst nicht liebe. Ich bleibe sitzen, und der Ton markiert kühlste Höflichkeit. Den Doppeldoktor geniert das nicht. Er reicht mir übers Gartengitter weg nachlässig zwei Finger.

»Ich werde Sie etwas aufheitern, Herr Graf. Sie haben's nötig.« Dabei rollt er nur so die Rs. Und der Kerl stammt doch aus der Altmark. Der geborene Komödiant! – Ehe ich noch abwiegeln kann, sitzt er schon neben mir, den Stock aufgestemmt, die englischen weiten Hosen rutschen ihm fast bis ans Knie – er trägt grauseidene Strümpfe, was er mir übrigens nicht zeigen will.

»Ich war eben mit dem Grafen Königshausen zusammen. Sie wollen der Diplomatie Valet sagen, Herr Graf? – Sehr richtig! Das ist jetzt nach Bismarck auch die Porcheria zu Roß, können nur gehörnte brauchen in den Ministerien.«

»Ich denke nicht ans Abgehen, Herr Doktor. 214 Habe mich nur für ein Jahr auf die Weide schicken lassen.« – Dieser Königshausen scheint geschwatzt zu haben. Ich kenne natürlich den Kerl nur ganz oberflächlich – Justiz – aber die nichts wissen, mutmaßen natürlich am meisten.

Der Doppeldoktor ist völlig unempfindlich. »Na. dann bekommt Ihnen die Weide schlecht!«

»Nein.«

»Ja.«

»Verzeihung, das muß ich doch am besten wissen, Herr Doktor.«

Darauf schreit er über die Tische weg: »Kellner, eine abgebrannte Virginia!« – erklärt mir, daß er ein Geschwür auf der Zunge habe, was mich wirklich nicht interessiert. »Ueberfluß guter Säfte ist's nicht!« giebt er selbst zu. – »Werde es mit konzentriertem Nikotin wegbeizen . . .« Er steckt den krummen Glimmstengel in die Mundecke, kaut das Stroh (die österreichische Art steht ihm nicht mal schlecht). »Pfui Teufel, wie das Zeug schmeckt, wie . . . Wie drückt man sich da gräflich am besten aus? – Sagen wir also scheußlich!«

»Thun Sie Ihren Gefühlen keinen Zwang an,« pflichte ich ironisch bei.

»Thue ich niemals. Ehrlich währt am längsten.«

Wie soll man so einen Kerl brüskieren? Manchmal scheint's mir, als wenn er trotz aller Jobberei ein anständiger Kerl wäre. Weiß auch ganz genau, daß mir seine Art nicht paßt, und versteht, warum ich gemessen, langsam den Paletot zuknöpfe.

»Bleiben Sie noch, Herr Graf! – Wenn's Ihnen behaglicher dadurch wird, schimpfen Sie laut über mich. Ich nehme grundsätzlich nichts übel. Dazu bin ich eben nicht dumm genug. – Das letzte Mal habe ich mir die Dummheit in Leipzig als Student zu schulden kommen lassen. Da wollte 215 mir ein sehr hochgeborenes Luder über den Mund fahren und sagte: ›Pumpt Ihnen eigentlich noch jemand, Leßmann?‹ – Ich antwortete: ›Jawohl, Durchlaucht, man pumpt mir bis an mein Lebensende auf diesen meinen Schädel hier – wie Ihnen auf den Namen. Sehen Sie heute abend, wenn Sie nach Hause kommen, mal in den Spiegel und fragen Sie sich, ob auch der leichtsinnigste Wucherer auf das, was unter diesem pomadisierten Haupte steckt, Ihnen auch nur einen Nickel pumpen würde.‹ – Andern Tages war der hochfürstliche Herr verduftet. Es war übrigens ein ausländischer Grande, der sich den Luxus des Kneifens gestatten konnte. Wenn solch einem Laffen eines Tages sein Titularfürstenhut heruntergerissen würde, so bliebe ihm nur noch übrig, Croupier zu werden oder sich a conto seines adeligen Namens bei jüdischen Familien durchzuessen.«

»Na, Herr Doktor, bei uns werden Sie nicht so viele Durchläuchte finden, die sich in eine solche Debatte einlassen – oder wenn, so könnte sich vielleicht eine andre Replik ereignen.« Der Menschenverächter in grauseidenen Strümpfen macht mir fast Spaß.

Als Antwort klopft er mir freundlich aufs Bein, was ich selbst bei meinen besten Freunden absolut nicht ausstehen kann. »Der Kerl, Herr Graf, war ja viel zu dumm, um überhaupt zu begreifen. Im übrigen sehne ich mich auch gar nicht nach solchen Leuten, die wegen allzu alten Adels des Lesens und Schreibens unkundig sind – schon wegen der chronischen Tuberkulose im Geldbeutel nicht! – Ich bin jetzt Geschäftsmann und goutiere diese Leute höchstens, wenn sie sich durch die Ehe mit einer amerikanischen Waggonfabrikantentochter in meinen Augen rehabilitiert haben.«

Doll! Solche Menschen verträgt man nur in meiner Geistes- und Gemütsverfassung. Da ist 216 auch nicht die Spur mehr vom alten Brandenburg drin. Das ist der richtige Weltstädter ohne Flausen.

Er gesteht mir das auch ruhig zu. »Sehen Sie, Herr Graf, für mich giebt es nur zwei Städte auf dem Kontinent, in denen ich leben kann: Berlin und Paris. Wien ist mir zu kleinstädtisch; da kriegt man um zwei Uhr nachts schon keinen Kapuziner mehr. Ich bin jetzt ein Jahrzehnt in unsrer amerikanischen Metropole, habe ein halbes Dutzend Wohnungen. Wenn die Manichäer einen immer ausbaldowern würden, wäre ich bald ein schlafloser Mann. So ziehe ich wie ein Vagabund herum. Ich weiß zum Beispiel heute noch nicht, in welchem Mietspalazzo ich mein Haupt niederlegen werde . . . Die Bande will mich nämlich zum Offenbarungseid zwingen. Den Teufel werde ich thun! – Ich habe Grundstücke hinter Lichterfelde, die heute nischt, übers Jahr vielleicht Millionen wert sind, wenn ich da eine Villenkolonie insceniert habe. Natürlich, die Chance wollen sie mir jetzt um ein Butterbrot abjagen . . .«

Das sind Verhältnisse, die ich nicht verstehe und die mich deshalb interessieren. Diese kalten Hundenasen mit diesem Geschäftsgebaren sind wohl die Leute des künftigen Jahrhunderts. Und einen gelinden Kitzel verspüre ich plötzlich, auch mal mit Lackschuhen direkt in diese Pfütze zu springen. Die Leute haben wenigstens noch Aufregungen. Immer ohne Sou und mit der Hoffnung auf die kommenden Millionen – es ist was dran. Wenn ich ganz ehrlich bin – meine Situation gleicht vielleicht seiner auf ein Haar. Bin ich nun zu stumpf oder zu ungelenk, daß ich ihren Reiz nicht empfinde? . . . Der Doppeldoktor freilich würde noch heute abend zu meiner Tante gehen – und ich thue es nicht . . . thue es nicht! Mir ist, als wenn ich damit das Letzte von Ehre abschütteln würde. 217 Meinetwegen mag mich die Alte enterben. – Aber der Gnädigen gewissermaßen meine Zukunft zu verdanken – niemals! . . . Etwas von dem Gefühl der senatorischen Geschlechter lebt doch nach in mir: ›Nur nicht der gemeine Handel!‹

Der Doppeldoktor würde mich auslachen wegen dieser Sentimentalität. Sein Interesse für mich ist wohl auch ein andres geworden, seitdem er die Pauvreté ahnt. Darum ist er ehrlich, giebt die tollsten Erlebnisse zum besten, par exemple: »Was würden Sie thun, Herr Graf, wenn Sie sich um drei Uhr nachmittags von Ihrem Schmerzenslager erhoben hätten, bereit zu dinieren, dem Anzug nach im Savoy, der Börse nach in der Volksküche – und wenn Sie dann der Gerichtsvollzieher auf der Thürschwelle zu packen kriegte? Ein Wechsel von über sechzigtausend Mark wird Ihnen präsentiert – und Sie suchten noch drei Minuten vorher in ihrer Billettasche gerade nach den sechzig Pfennigen, die zu einem Mittag bei Schultheiß oder einer andern Kutscherkneipe langen. Sie haben nämlich einen verfluchten Appetit, weil Sie zwei Tage lang weiter nichts als ›Rothschild‹ geraucht haben (die übrigens selbstverständlich gepumpt sind), um den knurrenden Magen zu täuschen! Nun, Sie würden wahrscheinlich weinen in dem Fall. Ich habe dem Mann mit der Dienstmütze ins Gesicht gelacht und meine Rinderbrust mit Meerrettichsauce seelenvergnügt doch gefuttert. Das ist verständige Philosophie, Herr Graf.« – Der verfluchte Kerl klopft mir wieder aufs Bein. – »Und Weltstadtironie, Verehrtester! Schusterseelen würden noch jetzt deshalb kein Stück Brot von mir nehmen. Aber beruhigen Sie sich, Herr Graf! Es giebt auch Humor in den Dingen . . . Sie kennen doch par renommé den bei der Seemannaffaire angeschossenen Strelow? Nun, 218 das war lange mein bester Freund: wir ritten nämlich gemeinschaftlich Wechsel. Und eines Tages fällt es dem Untier ein, von mir irgend welches Geld zurück zu verlangen. Ich war sprachlos über das Kavaliersansinnen. Aber er klagt die Forderung thatsächlich ein, und ich habe wieder den Gerichtsvollzieher auf dem Halse. ›Das soll dir angestrichen werden, liebes Kerlchen,‹ denke ich. Kaufe mir einen von seinen unzähligen laufenden Wechseln über tausend Mark für fünfzig – es war eine Riesenverschwendung, und der Verkäufer hielt mich für geistesumnachtet. Ich mische geschickt die Karten zu einem Hauptfez, denn Strelow ließ mich verfolgen wie einen Verbrecher. Die Klause in der Krausenstraße, sonst mein Pilsener Leiblokal, mied ich erst vorsichtig, bis ich meiner Sache ganz sicher war. Dann verabredete ich mich eines Abends mit einigen beiderseitigen Bekannten, die dem guten Adalbert die Gelegenheit stecken sollten . . . Abends sehe ich auch schon den Mann des Gesetzes das Lokal umschleichen. Die Sache wird gut, denke ich. – Der erste, den ich drin erblicke, ist mein Adalbert mitten unter den Bekannten. Wir thaten kühl, aber höflich zu einander. In seinen schläfrigen Augen zuckte es schadenfroh auf, in meinen noch mehr – das merkte der Thor natürlich nicht! Und wie wir in der besten Unterhaltung sind (ich log mal wieder haarsträubend), da zieht er aus seiner Tasche ganz langsam ein Papier und sagt zum Erstaunen aller: ›Willst du mir jetzt mein Geld geben, Wilhelm? Hier ist ein Haftbefehl für dich, und draußen wartet der Gerichtsvollzieher. Soll ich ihn hereinkommen lassen? – ›Jawohl,‹ erwidere ich finster, ›ich weiß, was ich zu thun habe.‹ Ich glaube, die Kerle fürchteten, ich würde einen Revolver herausziehen und mich abmurksen, denn ich hatte 219 gleichfalls meine Hand in der Brusttasche. Da kommt der Uniformierte langsam 'reingeschoben – es war ein Schreckschuß von Strelow. – ›So ein Freund bist du also!‹ knurre ich ruhig, aber gekränkt . . . ›Kennst du, lieber Adalbert, vielleicht diese Farbe der Liebe?‹ Ich ziehe langsam meinen Wisch aus der Tasche. Zu dem Gerichtsvollzieher aber sage ich: ›Da könnten Sie mir ja auch helfen, lieber Freund. Das ist nämlich ein Haftbefehl, ausgewirkt gegen den sehr ehrenwerten Herrn von Strelow‹ (denn Cäsar war fürwahr ein ehrenwerter Mann – und ehrenwerte Männer sind sie alle!). – Es war eine Situation zum Heulen! Adalbert gab sich zuerst: ›Wilhelm, du bist mir über.‹ – ›Das war ich stets, Adalbert!‹ – Wir einigen uns als ehrenwerte Männer . . .«

Die Geschichte ist halb gelogen, wimmelt von Unwahrscheinlichkeiten, aber es liegt ein ganz toller Humor drin. Ich trau's dem Doppeldoktor schon zu. Dennoch wird mir der Kerl unheimlich mit seinen Geständnissen. Was will er? Auf mein Geld spekuliert er nicht mehr, daher die brutale Ehrlichkeit. Doch irgend etwas beabsichtigt er dabei, einen Gimpelfang besonderer Art, für den die schnodderige Treuherzigkeit die Leimrute ist. Er will mir wohl die Standesbegriffe verwirren mit diesen zweifelhaften Aristokraten seines Verkehrs; er möchte mich drin haben in der Clique Seemann, Meyerink. Er irrt sich. Wir hören die Anekdote, wir ziehen die Moral. Die heißt: Vorsicht.

Und sieh da, guckt da nicht beim Doppeldoktor der Pferdefuß etwas 'raus. Ich will nämlich wirklich gehen, mein miserables Souper irgendwo appetitlos 'runterzuhasten. Er jedoch läßt mich nicht.

»Nun, haben Sie nicht auch Lust, einige hundert Mille zu verdienen, Herr Graf?«

»Auf welche Weise?« frage ich höflich gedankenlos zurück.

220 »Non olet!« erwidert er mit großartiger Handbewegung. »Anständige Sache! Wir brauchen nämlich Namen in unserm Aufsichtsrat.«

»Ist die Gesellschaft denn schon konstituiert?« Das ist wirkliche Neugierde. Madame hätte, wenn es der Fall wäre, doch sicher etwas durchblicken lassen.

Der Doppeldoktor futtert ein neues Stück Stroh aus seiner Virginia und spuckt's dann verächtlich weit weg. »Wir sind bei der Gründung. Nur die Kerls mit den Mille sind noch nicht in befriedigender Anzahl zur Stelle. Ich sage Ihnen, Herr Graf, das Publikum ist und bleibt ein Riesenrindvieh. Das Geld liegt für die Burschen hier direkt auf der Straße. Aber sie sind blind, und wenn man sie mit ihren Kauwerkzeugen drauf stieße – sie nähmen's noch nicht mal auf. Das ist und bleibt der ewige Weißbierphilister. Das kauft sich biedere Konsols und verhungert dabei.«

»Sind denn den Leuten die hundert Prozent Zinsen gleich bei der Zeichnung garantiert?« frage ich ironisch.

»Das sind sie, Herr Graf!« Diesmal klopft er mich auf die Schulter.

Ich verharre in meiner Opposition: »Und wenn ich das Geld übrig hätte, ich würde es trotzdem nicht thun.«

»Also auch etwas . . .« Weißbierphilister will er sagen. Doch ich schiele ihm, am Monocle vorbei, so scharf ins Gesicht, daß er sich's nicht traut.

»Und wenn Sie selbst die Millionen hätten, Herr Doktor?« Auf den Einwurf ist er nicht gefaßt und überlegt.

Dann zwinkert er mir zu und sagt mit grandiosem Cynismus: »Was ich dann thun würde? Mir preußische Staatspapiere kaufen, und wenn sie hundert Jahre keine Zinsen trügen!«

Tableau.

Dumm genug mag ich bei dieser Wendung 221 ausgesehen haben – jedenfalls aber nicht so dumm, als der Doktor wohl taxiert hatte. Denn er fragt mit Humor: »Wir sind also auch etwas Fuchs, Herr Graf? . . . Doch Scherz beiseite! . . . Die Geschichte ist schon gut, weil Le Fort seine Hand drin hat. Der Kerl riecht Geld, wie das Kamel Wasser! . . . Und im übrigen muß der Bomulunder gut eingefangen werden.«

Ich habe jetzt wirklich etwas Hunger. »Darf ich mich von Ihnen verabschieden, Herr Doktor?« Diese Art der Selbstverhöhnung ist mir denn doch zu plump. Ich wünsche auch gar nicht über Herrn Le Fort weiter orientiert zu sein.

»Ich komme noch drei Schritte mit, Herr Graf.«

Am Ausgang sagt er ohne eine Spur von Beschämung: »Können Sie mir zwanzig Reichsmark bis morgen früh leihen? Ich habe mein Portemonnaie vergessen, weil's leer ist.«

»Aber natürlich!« antworte ich verbindlich, froh, ihn so leichten Kaufes los zu sein.

Er nimmt die Doppelkrone mit zwei Fingern und schiebt sie nachlässig in die Billettasche seines Ueberziehers. »Grazie, Signore Marchese. Wiedergeben thue ich's Ihnen nämlich auch. Bis zu einem Mille goldehrlicher Schuldner . . . Wenn ich mal mehr will, so sind Sie hiermit gewarnt. Servus, Herr Graf!« Er winkt einem Taxameter.

Ich bummele die Leipzigerstraße hinunter zu Kempinski. –

Den andern Morgen um zehn Uhr weckte mich der Kellner. Ein Dienstmann meldete sich mit der Doppelkrone und einer Visitenkarte des Doppeldoktors: Dr. jur. et phil. Es stand wahrhaftig drauf. Eine kostbare Reliquie hätten wir ja also aus Berlin – wenn sie nur nicht falsch ist wie so viele Reliquien. 222

 


 


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