Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fortsetzung 106

Er zog ein Taschenmesser und begann, das Futter loszutrennen. Der erste Stiefel enthielt nichts; im zweiten aber befand sich ein kleines Couvert, welches Königsau sofort öffnete. Es enthielt einen mehrfach zusammengefalteten Brief auf sehr dünnem Papiere, unterschrieben und unterstempelt von dem Marschall Mac Mahon. Der Inhalt lautete, in's Deutsche übersetzt:

          »Herr Kamerad!
Soeben geht mir der Kriegsplan des Marschall Palikao zu. Sein Befehl an mich lautet, mittelst eines Flankenmarsches über Sedan und Thionville Ihnen die Hand zu reichen. Ich breche in Folge dessen von Chalons auf, hoffe, Sie in guter Stellung in und bei Metz zu finden, und überlasse es Ihrer Einsicht und der Lage der Sache, ob Sie durch irgend welche Vorstöße es mir erleichtern wollen, Sie zu finden. Zur Sicherheit fertige ich ein Duplikat dieses Briefes.
          Ihr ergebener Mac Mahon.«

Königsau faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in das Couvert.

»Nun, Herr Oberst«, sagte er; »sehen Sie nun ein, daß ich sehr gut unterrichtet war?«

»Zum Teufel, Monsieur! Nun bleibt mir nichts übrig, als mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen.«

Der Ulanenmajor winkte den Soldaten, sich zu entfernen, und antwortete dann:

»Schonen Sie sich! Ihr Leben wird wahrscheinlich für Ihren Kaiser nicht ganz werthlos sein, obgleich es eigentlich nun uns verfallen ist.«

»Wie? Verfallen?«

»Gewiß!«

»Wieso?«

»Sie kennen die Kriegsgesetze?«

»Natürlich!«

»Spione hängt man auf!«

»Herr!«

»Natürlich! Habe ich Recht oder Unrecht?«

»Aber einen Obersten hängt man nicht auf!«

»Pah! Wenn er Spion ist, doch!«

»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß ich einer bin?«

»Was sonst?«

»Monsieur, das verbitte ich mir!«

»Pah! Sie sind mit einem Briefe an den feindlichen Oberbefehlshaber betroffen worden. Daß dies ein Verbrechen, natürlich in unseren Augen, sein muß, geben Sie doch zu!«

»Auf keinen Fall!«

»Warum verstecken Sie den Brief, wenn es kein Verbrechen ist?«

»Das ist eine Spitzfindigkeit, auf welche ich mich gar nicht weiter einlassen kann!«

»Nun, so muß eben ich mich damit befassen. Bitte, ziehen Sie Ihre Stiefel wieder an!«

»Danke! Sehr freundlich!« antwortete der Franzose. »Soll ich etwa noch Etwas ausziehen? Vielleicht das Hemde?«

Er hatte dies in so höhnischem Tone gesprochen, daß Königsau zornig auf ihn zutrat, um zu antworten:

»Monsieur, verkennen Sie Ihre Lage nicht. Nicht Sie sind hier Herr und Meister. Wir verlangen diejenige Achtung, ja denjenigen Respekt, welchen Sie uns schuldig sind! Sie sind unser Gefangener. Haben Sie vielleicht noch Etwas bei sich, was Sie uns eigentlich abzuliefern hätten?«

»Darauf antworte ich nicht!«

»Gut! Ich werde Sie also aussuchen lassen.«

»Oho!«

»Jawohl! Aussuchen bis auf das Hemde, welches zu erwähnen, Sie ja doch die Güte hatten!«

»Nun wohl, ich habe nichts bei mir!«

»Geben Sie Ihr Ehrenwort darauf?«

»Ja.«

»Dann ist es gut. Ich denke, daß Sie Offizier und Kavalier sind und also die Wahrheit sagen werden. Sie werden natürlich hier bei uns bleiben, bis ich weitere Bestimmungen über Sie erhalten habe. Ich weise Ihnen ein Zimmer an und fordere von Ihnen das Versprechen, dasselbe nicht ohne die Erlaubniß des Commandanten dieses Schlosses zu verlassen.«

»Wer ist das?«

»Jetzt noch bin ich es. In einigen Stunden aber wird es hier dieser Herr, Rittmeister Graf von Hohenthal sein.«

»Ich?« fragte Hohenthal rasch.

»Ja. Wir sprechen dann darüber. Jetzt, Herr Oberst, ersuche ich Sie, mir zu folgen.«

Er wies ihm ein Zimmer an und gab ihm einen Husaren zur Bedienung, natürlich aber auch zur Bewachung. Dann kehrte er zu den anderen Kameraden zurück.

»War's ein guter Fang?« fragte Hohenthal.

»Ein sehr guter.«

»Also der Brief ist wichtig?«

»Sogar von außerordentlicher Wichtigkeit. Hier, lies!«

Hohenthal las und meinte dann:

»Donnerwetter, das ist allerdings höchst wichtig! Der Brief muß sofort zum König, zu Moltke!«

»Das denke ich auch.«

»Wer schafft ihn fort?«

»Ich selbst. Ich kann ihn natürlich keinem Andern anvertrauen.«

»Ganz richtig! Also darum werde ich Commandant! Aber, Freundchen, wie willst Du hinauskommen?«

»Zu Pferde natürlich!« lächelte Königsau.

»Wir sind eingeschlossen.«

»Pah! Ich werde mich sehr leicht durchhauen. Wir unternehmen einen kräftigen Vorstoß, grad auf die Straße hin. Da müßte es mit dem Teufel zugehen, wenn es mir nicht gelingen sollte, durchzukommen.«

»Das denke ich freilich auch. Diese Herren Spahis werden keine Unterbrechung ihrer nächtlichen Siesta erwarten.«

»Uebrigens steht ja Major Posicki in Etain. Bin ich bis dahin, so bin ich sicher.«

»Aber allein reitest Du nicht?«

»Nein. Herr Lieutenant von Goldberg begleitet mich.«

»Das versteht sich ganz von selbst!« meinte Fritz, der mit dieser Bestimmung sehr einverstanden war.

»Was aber thun wir mit den beiden Ueberläufern?« erkundigte sich der Rittmeister von Hohenthal.

»Die brauchst Du weder als Gefangene behandeln noch überhaupt bewachen zu lassen. Sie werden im Gegentheile die besten Beschützer für Frau Liama und Mademoiselle Marion sein. Es thut mir wirklich leid, daß ich nicht dabei sein kann, wenn Ihr am Tagesgrauen über die Spahis herzieht. Der Coup gelingt natürlich auf alle Fälle.«

»Das versteht sich ganz von selbst. Aber, ob wir uns für die Dauer hier halten sollen oder können, das ist eine andere Frage.«

»Nein, das ist im Gegentheile gar keine Frage. Nach dem, was wir von Mac Mahons Absichten wissen, ist es ganz nothwendig, Etain und Umgegend festzuhalten. Wir müssen mit der Linie der Meuse in Fühlung stehen, und so versteht es sich ganz von selbst, daß man Schloß Malineau so besetzt, daß es nicht wieder verloren gehen kann. Ich werde das an geeigneter Stelle zum Vortrag bringen.«

»Gut, das beruhigt mich. Wann reitest Du ab?«

»In einer halben Stunde.«

»Ah, einige Minuten für den Abschied!«

»Nein. Lassen wir die Damen immerhin schlafen! Was ich zu sagen hatte, das ist gesagt worden, und jetzt sind wir ja vor allen Dingen Soldat.« –

Als die angegebene Zeit vorüber war, sammelten sich zwei Züge der Ulanen vor dem Schlosse. Das geschah so geräuschlos wie möglich. Als sie sich in Bewegung setzten, ertönten die Rufe der französischen Wachen, und Schüsse krachten, einzeln, hier und da.

Sie gewannen nun die Straße und fegten nun im Carriere auf das Dorf zu.

Die Franzosen hatten, obgleich ein Verhau auf die leichteste Weise herzustellen gewesen wäre, die Straße offen gelassen, so daß die muthigen Reiter das Dorf erreichten und dasselbe auch passirten, ohne auf ein Hinderniß zu treffen.

Hier nun gab Königsau ihnen den Befehl, wieder umzukehren. Sie gelangten in das Schloß zurück, ohne einen einzigen Mann zu verlieren. Nicht einmal verwundet war Jemand worden, da es zu gar keinem Widerstande gekommen war.

Königsau und Fritz setzten ihren Weg fort. Vor Etain stießen sie auf die Vorposten des Major Posicki, zu dem sie sich natürlich führen ließen. Königsau bat ihn, die Schwadron Ulanen zu ihrem Gros zurück zu dirigiren, wenn er die Ueberzeugung erhalten sollte, das Schloß bis zur Ankunft anderweiter Truppen halten zu können und dann ritten sie weiter, die ganze Nacht hindurch.

Als sie am Morgen in Tronville anlangten, erfuhren sie, daß am vorigen Tage eine Schlacht gewonnen worden sei, die bekannte Schlacht von Vionville-Mars la Tour. Es hatten in Folge dessen bedeutende Truppenverschiebungen stattgefunden, doch gelang es Königsau, über Saint Marcel hinaus das dritte Armeecorps zu erreichen, dessen Commandanten er durch seine Darstellung bewog, ein genügend starkes Detachement nach Etain abzuordnen.

Hier, im Hauptquartier des dritten Corps, erfuhr er auch, wo sich das große Hauptquartier befinde, welches er kurz nach Mittag erreichte. Die Offiziere und Beamten desselben befanden sich natürlich in ungeheurer Thätigkeit; aber als er meldete, daß er eine Nachricht von größter Wichtigkeit bringe, wurde er sofort angemeldet, zu Moltke selbst.

Er war kaum durch die eine Thür in das Vorzimmer getreten, als man durch die andere einen Mann brachte, welcher in Civil gekleidet war und das Zeichen der Genfer Convention, die Binde mit dem rothen Kreuze am Arme trug. Ihn sehen und erkennen war Eins. Er trat auf den Offizier, welcher diesen Mann begleitete, zu und fragte:

»Herr Hauptmann, bitte, wo waren Sie mit diesem Manne?«

»Drin!« war die kurze Antwort, welche nichts anders heißen sollte als: bei Moltke selbst.

»Wer ist er?«

»Er hat sich da in der Nähe herumgetrieben und verdächtig gemacht, doch ist es ihm gelungen, sich zu legitimiren. Er soll entlassen werden.«

»Wie nennt er sich?«

»Bonblanc aus Soissons.«

»Das ist eine große Lüge. Entlassen Sie ihn nicht. Geben Sie scharf Acht auf ihn und warten Sie, bis ich da drin' gewesen bin!«

»Sapperlot! Kennen Sie ihn?«

»Nur zu gut.«

» Impossible!« fiel der Mann ein, welcher sehr bleich geworden war.

Der Hauptmann blickte rasch auf.

»Alle Wetter!« sagte er. »Er hat Sie verstanden.«

»Natürlich! Er spricht ja sehr gut deutsch.«

»Und uns gegenüber behauptete er, kein Wort zu verstehen. Da, Herr Major, man winkt Ihnen; ich werde also auf das Weitere warten.«

Als Königsau zu dem berühmten Denker der Schlachten eintrat, saß dieser an einer langen Tafel, welche mit Karten und Plänen bedeckt war. Er erwiderte den Gruß des Majors mit einem ernsten, aber doch wohlwollenden Kopfnicken und sagte:

»Sie sagen, Wichtiges zu bringen?«

»Zu Befehl! Hier!«

Er zog den Brief hervor und gab ihn hin. Moltke las. Kein Zug seines Gesichtes veränderte sich. Er fragte nur:

»Wie gelangte dieses Schreiben in Ihre Hand?«

Königsau erzählte. Als er geendet hatte, sagte Moltke:

»Also jener Capitän Richemonte hat das Duplicat dieses Schreibens gehabt?«

»Ganz gewiß.«

»Es scheint ihm gelungen zu sein, es an den Adressaten zu geben, wenigstens ist er unsererseits nicht ergriffen worden. Man ist Ihnen großen Dank schuldig, Herr Oberstwachtmeister, man wird sich Ihrer erinnern. Sie stoßen jetzt natürlich zu Ihrem Corps?«

»Nachdem ich mir die Bitte um eine Bemerkung gestattet haben werde.«

»Sprechen Sie!«

»Soeben wurde ein Mann abgeführt, der sich, wie ich auf meine Erkundigung erfahren habe, Bonblanc nennt?«

»Ja. Was ist mit ihm?«

»Er sollte entlassen werden, ich habe aber dem Hauptmanne die Weisung gegeben, im Vorzimmer mit ihm zu warten. Dieser Mann ist nämlich kein Anderer als der Graf Rallion, dessen Sohn der Oberst der Gardekürassire war, welchem ich gestern auf Schloß Malineau den Kopf gespalten habe.«

Diese Nachricht brachte einen bedeutenden Eindruck hervor, von dem sich aber der große Schweiger nichts merken ließ.

»Kennen Sie ihn?« fragte er.

»So genau wie mich selbst.«

»Nochmals herein mit ihm!«

Königsau öffnete die Thür und winkte dem Hauptmanne, welcher sofort mit dem Grafen wieder eintrat. Dieser wollte leugnen, als aber Königsau auf die Narbe an der Hand verwies, welche von der Verwundung herstammte, die der Graf von Fritz in der Klosterruine erhalten hatte, war es mit dem Leugnen aus.

Als kurze Zeit später Königsau mit Fritz das große Hauptquartier verließ, nahm er die Gewißheit mit, daß einer der größten Feinde seiner Familie sich im festen Gewahrsam befinde, daß es ihm wohl nicht möglich sei, zu entkommen.

Das Schlachtfeld, über welches die Beiden nun ritten, war ein solches, wie es selbst die Ebene von Leipzig nicht aufzuweisen hat, ein breit gedehntes, wellenförmiges Hochplateau. Man sah es, daß es nicht eine Schlacht, sondern ein Schlachten gewesen war.

Der Kampf hatte die Spuren einer wahrhaft grauenvollen Vernichtung hinterlassen. Die Felder waren mit Leichen förmlich bedeckt. Weithin schimmerten die rothen Hosen der Feinde, die weißen Litzen der stolzen, zurückgeworfenen Kaisergarde, die Helme der französischen Kürassiere. Im Wirbelwinde jagten die weißen Blätter der französischen Intendanturwagen gleich Mövenschaaren über das Feld. Die Waffen blitzten weithin im Sonnenglanze; aber die Hände Derer, welche sie geführt hatten, waren kalt, erstarrt, im Todeskampfe zusammengeballt. Mit zerfetzter Brust und klaffender Stirn lagen sie gebrochenen Auges in Schaaren am Boden. Schrittweise war jede Elle des Landes erkämpft worden. Zerschmetterte Leiber, Pferdeleichen, zerbrochene Waffen, Tornister, Zeltfetzen, Chassepots und Faschinenmesser lagen umher. Es war ein so entsetzliches Bild, wie es selbst Magenta, Solferino und Sadowa nicht geboten hatte. Wie rother Mohn und blaue Kornblumen leuchteten die bunten Farben der gefallenen Feinde auf dem Todesfelde, weithin über die Höhen, tief hinab in die Thäler. Dazwischen die grünen Jacken der Jäger und hier und da ein umgestürzter Sanitätswagen. Niemand kümmerte sich um die Leiche eines französischen Generals oder Obersten. Der Gefallene war ja todt, und im Tode hört jede Subordination auf.

Und in den Dörfern, durch welche die Beiden ritten, sah es noch viel, viel gräßlicher aus als auf dem offenen Felde.

So ging es bis in die Gegend südlich von Habonville, wo das Gardecorps lag und die beiden Offiziere endlich zu den Ihrigen stießen, um dort eine große Ueberraschung zu finden.

Es befand sich hier die Schwadron, welche Königsau als Rittmeister kommandirt hatte. Sein Nachfolger in dieser Charge, welcher sich sofort bei ihm meldete, sagte nach der ersten Begrüßung und den nothwendigen dienstlichen Auseinandersetzungen:

»Das Interessanteste für Sie werden unsere jetzigen Sanitätsverhältnisse sein. Darf ich Sie vielleicht ersuchen, mich einmal nach der Ambulance zu begleiten?«

Königsau blickte ihn verwundert an und antwortete:

»Natürlich müssen mich auch unsere Sanitätsverhältnisse interessiren; aber die Art und Weise, in welcher Sie mich zur Besichtigung der Ambulance auffordern, kommt mir doch ein Wenig geheimnißvoll vor.«

»Das ist sie allerdings.«

»Es handelt sich doch nicht etwa um eine Ueberraschung?«

»Um nichts Anderes.«

»Nun, so stehe ich zur Verfügung.«

Sie stiegen zu Pferde und ritten hinaus in das Feld, wo ein großes, langes Zelt errichtet war, in welchem die Aerzte und ihre verschiedenen Helfer und Helferinnen ihres Amtes walteten.

Schon von Weitem erblickte Königsau einen alten, grauhaarigen und graubärtigen Herrn, welcher beschäftigt war, einem dort am Boden sitzenden Verwundeten den Arm zu verbinden. Es überkam ihn eine Ahnung, in Folge dessen er seinem Pferde die Sporen gab.

Er hatte sich nicht getäuscht. Er sprang vom Pferde und eilte mit offenen Armen auf den Alten zu.

»Großvater!« rief er aus.

Dieser drehte sich um, erblickte ihn und antwortete jubelnd:

»Richardt!«

Sie lagen einander am Herzen.

»Aber,« meinte der Major nach der ersten herzlichen Begrüßung, »wie kannst Du es wagen, im Felde zu erscheinen?«

»Wagen? Ah, Junge, die Kriegserklärung hat mich wieder jung gemacht, und als Du fort warst, hat es mich auch nicht länger gelitten. Als Compattant haben sie mich freilich nicht annehmen wollen, aber ich habe wenigstens die Erlaubniß erzwungen, Wunden zuflicken zu helfen.«

»Aber sie haben Dich daheim doch nicht allein fortgelassen?«

»O nein. Sie sind mit.«

»Wer?«

»Mensch, Du fragst, wer? Alle natürlich, Alle!«

»Alle? Also auch Vater?«

»Ja.«

»Etwa auch Emma?«

»Versteht sich. Sie hat auch noch Andere mit.«

»Meinst Du Nanon und Madelon?«

»Ja, und Deep-hill oder vielmehr den jungen Herrn von Bas-Montagne, der auch seinen Vater mitgenommen hat. Warte, ich werde sie holen.«

»Sie sind hier, grad hier?«

»Ja, natürlich. Wir halten zusammen.«

Er wollte in das Zelt treten. Richardt hielt ihn zurück und sagte:

»Halt, ich gehe selbst, um sie zu begrüßen!«

»Nein, Du bleibst hier außen! Ihr würdet ein Aufsehen erregen, welches den armen Verwundeten schädlich sein müßte. Also warte hier.«

Er ging hinein und kehrte bald mit allen den Genannten zurück. Die Herzlichkeit der Begrüßung läßt sich denken. Nanon aber achtete gar nicht auf Königsau.

»Fritz, lieber Fritz!«

Mit diesem Rufe flog sie an die Brust des einstigen Kräutermannes, der sie herzlich an sich drückte und Kuß auf Kuß bekam, ohne daß die Beiden sich um die Anderen bekümmerten.

»Na,« meinte da ihr Vater, »darf ich mir nicht auch ein Wort der Begrüßung ausbitten, Herr von Goldberg?«

»Sogleich, sogleich,« lautete die Antwort, wobei Fritz mit offenen Armen auf ihn zuging.

Da man sich so viel zu erzählen hatte, nahmen Königsau Vater und Großvater nebst Emma von dem dirigirenden Arzte für kurze Zeit Urlaub und begaben sich mit Richardt in das Lager, wo man bereits ein Unterkommen für den Letzteren besorgt hatte.

Sie hatten dort eben Platz genommen und wollten mit der Erzählung ihrer Erlebnisse beginnen, als ihnen eine abermalige große und freudige Ueberraschung wurde. Nämlich es kam ein Bote des Commandirenden und meldete, daß eine Dame anwesend sei, welche bereits seit Tagen nach dem Gardecorps forsche, um da Angehörige der Familie Königsau aufzusuchen.

»Eine Dame?« meinte der Rittmeister. »Das ist kühn, ja das ist sogar verwegen, unter diesen Verhältnissen dem Heere zu folgen. Wo ist sie her?«

»Aus Paris.«

»Unglaublich! Eine Dame aus Paris? Eine Französin, welche nach uns die Schlachtfelder absucht? Ich erinnere mich nicht, eine einzige Pariserin zu kennen, welcher ich ein solches Unternehmen zutrauen könnte. Ist sie alt?«

»Nein, jung und nicht uninteressant. Uebrigens kommt sie nicht direct aus Paris, sondern aus Berlin, wo sie nach Ihnen vergebens gesucht hat.«

»Sonderbar!«

»Sie hat ihre Legitimation aus Paris und befindet sich auch im Besitze deutscher Papiere, welche es ihr ermöglicht haben, Sie hier zu suchen, ohne Gefahr befürchten zu müssen.«

»Wie heißt sie?«

»Ihr Name ist Agnes Lemartel.«

»Kenne ich nicht; mir völlig unbekannt. Wo befindet sie sich?«

»Draußen. Sie wartet auf die Erlaubniß, eintreten zu dürfen.«

»So wollen wir sie nicht länger warten lassen. Bitte, sagen Sie ihr, daß wir bereit sind, sie zu empfangen!«

Er empfahl sich und schickte die Tochter des Lumpenkönigs herein. Sie ging in Trauer und sah sehr blaß und angegriffen aus. Sie grüßte fast demüthig und machte ganz den Eindruck einer Bittenden, deren Bitte eine so große ist, daß sie nur schwer an die Erfüllung derselben glauben kann.

»Bitte, mein Fräulein, nehmen Sie Platz,« sagte Richardt, indem er ihr eine umgestürzte Kiste hinschob. »Wir haben Krieg und können Ihnen leider keinen bessern Platz zur Verfügung stellen.«

»Ich muß danken, gnädiger Herr,« sagte sie traurig und mit fast leiser Stimme. »Ich möchte nicht wagen, Ihrem gütigen Befehle Gehorsam zu erweisen. Ich habe im Stehen zu Ihnen zu sprechen.«

»Nicht doch! Man soll nicht von uns sagen, daß wir einer Dame die mögliche Bequemlichkeit verweigert hätten.«

»Sie wissen ja nicht, in welcher Angelegenheit ich zu Ihnen gekommen bin, Herr Major!«

»Ich werde es hören. Also, bitte, setzen Sie sich!«

Und als sie es auch jetzt noch nicht that, nahm Emma sie am Arme und zog sie auf die Kiste nieder, indem sie in aufmunterndem Tone sagte:

»Wenn Ihre Angelegenheit eine so niederdrückende ist, bedürfen Sie ja gerade recht der Unterstützung. Nehmen Sie also Platz, und seien Sie überzeugt, daß Sie auf unsere Freundlichkeit rechnen können.«

»Mein Gott, wenn ich das wirklich glauben dürfte!« sagte sie, indem sich ihre Augen mit Thränen füllten.

»Sie dürfen davon überzeugt sein. Sprechen Sie getrost! Wir sind ja gern bereit, Sie anzuhören.«

Und um ihr Muth zu machen, sagte der alte Großpapa:

»Wir hören, daß Sie von Berlin kommen?«

»Ja. Ich reiste von Paris dorthin, um Sie aufzusuchen.«

»Leider waren wir zu Felde gezogen!«

»Ich erfuhr, daß Sie sich als Sanitäter dem Gardecorps anzuschließen beabsichtigt hätten. Das war mir ein Fingerzeig, Sie hier zu finden.«

»Ist die Angelegenheit denn eine so sehr dringliche, daß Sie sich zu solchen Strapatzen und Wagnissen entschließen konnten? Hätte es sich nicht aufschieben lassen?«

»Nein. Ich weiß nicht, ob Ihnen von dem Offizier, der die Güte hatte, mich zu Ihnen zu bringen, mein Name genannt worden ist?«

»Sie heißen Agnes Lemartel, wie wir hörten.«

»Ja. Jedenfalls ist dieser Name Ihnen unbekannt?«

»Ganz und gar.«

»In Paris kennt ihn ein Jeder. Mein Vater war der bedeutendste vendeur de chiffons in ganz Frankreich. Man nannte ihn nur den Lumpenkönig. Sie haben also zunächst zu verzeihen, daß die Tochter eines Lumpenhändlers es wagt, Sie zu incommodiren.«

»Bitte!« sagte Richardt. »Es muß allerlei Menschen geben. Ich weiß sehr gut, was ein Pariser Lumpenhändler zu bedeuten hat. Diese Herren gehören keineswegs zu den Leuten, welche nicht zu beachten sind. Sie tragen Trauer, und Sie sagen, daß Ihr Herr Vater vendeur de chiffons gewesen sei. Er ist es also nicht mehr? Er ist todt?«

»Ja. Er starb vor kurzer Zeit, und zwar in Algier, wo ich mit ihm war. Er wurde ermordet.«

»Mein Gott! Von Eingeborenen?«

»Nein, sondern von Franzosen, von zwei berüchtigten Subjecten, nach denen die Polizei schon längst, jedoch vergebens gefahndet hatte. Es war ein Mensch, der nur Vater Main genannt zu werden pflegte, und der Andere hieß Lermille und war Seiltänzer gewesen.«

»Alle Wetter!« entfuhr es dem Major.

»Wie? Haben Sie von diesen beiden Menschen gehört?«

»Ja. Erst gestern habe ich mit einem Freunde und Kameraden, dem Rittmeister von Hohenthal, von ihnen gesprochen. Den Seiltänzer habe ich sogar steckbrieflich verfolgen lassen.«

»Jedenfalls auch vergebens!«

»O doch nicht. Sie sind Beide ergriffen worden. Vater Main befindet sich in Metz in Gewahrsam und wird mit dieser Stadt in unsere Hände gerathen, hoffentlich. Und den Andern habe ich selbst über die Grenze nach Deutschland gebracht. Er befindet sich jetzt in Berlin in Untersuchung und hat bereits sehr wichtige Eröffnungen gemacht.«

»So hat ihn die Nemesis also doch ereilt. Diese beiden Männer ermordeten meinen Vater, indem ich im Nebenzimmer weilte. Er war von dem Messer so getroffen worden, daß er mir nur noch sagen konnte, sein Name sei nicht Lemartel, und ich solle im Geldschranke nachsehen. Ich ließ ihn begraben und eilte trotz meines Gemüthszustandes nach Paris. Im Schranke fand ich neben seinen Ersparnissen ein Portefeuille, ganz nur für mich bestimmt. Es enthielt zwei Briefe und sodann ein schriftliches Geständniß meines Vaters, welches sich auf Sie bezieht.«

»Auf uns?« fragte Richardt. »Sie machen uns wirklich wißbegierig, Mademoiselle!«

»Die beiden Briefe waren geschrieben der eine von dem Grafen Rallion und der andere von einem Capitain Richemonte.«

»Ach! Wirklich? Wir sind gespannt.«

»Beide Briefe beweisen, daß die beiden Genannten beabsichtigten, das Besitzthum der Familie Königsau mit Hilfe eines Unterhändlers Samuel Cohn zu kaufen – –«

»Herrgott! Ist es das?« rief der alte Großpapa.

»Ja,« fuhr das Mädchen fort. »Der Preis sollte ausgezahlt, dann aber gestohlen und dann unter den beiden Genannten vertheilt werden.«

»Das ist ja auch geschehen! Also getheilt haben sich diese Schurken in diese Summe? Dachte ich es mir doch!«

»Nein, gnädiger Herr, sie haben nicht getheilt. Derjenige, der das Geld stahl, hat es ihnen gar nicht gegeben; er hat sie betrogen und die Summe für sich behalten.«

»Kennen Sie seinen Namen?«

»Ja.«

»Henry de Lormelle?«

»So nannte er sich; aber er hieß nicht so. Er war der Diener des Grafen und des Capitains.«

Der alte Hugo von Königsau fuhr sich mit der Hand nach dem Kopfe und sagte:

»Das sind böse, böse Erinnerungen. Jenes Ereigniß kostete meiner Frau das Leben. O Margot, meine Margot!«

Es trat eine minutenlange Pause ein. Alle waren vom Schmerz tief bewegt. Endlich fragte Richardt:

»Was aber haben Sie mit jenen Ereignissen zu thun, Mademoiselle? Wollen Sie uns das erklären?«

»Ich sagte, daß das Portefeuille die Bekenntnisse meines Vaters enthalten habe – –«

»Allerdings.«

»Und daß er mir kurz vor seinem Tode gesagt habe, daß sein Name eigentlich nicht Lemartel sei – – –«

»Das sagten Sie.«

»Nun, meine Herrschaften, mein Vater war – war – –«

Sie stockte und nahm das Tuch an die Augen, um den Strom ihrer Thränen zu hemmen.

»Sprechen Sie! Sprechen Sie!« bat Richardt.

Sie nahm alle Kraft zusammen und gestand:

»Er war – – er war jener – – Henry de Lormelle.«

Bei diesen Worten fuhr der alte Königsau empor. Er richtete das große, starre Auge auf sie und sagte:

»Was? Ihr Vater war jener Dieb?«

»Ja,« schluchzte sie.

»Ah! Er stahl mir mein Vermögen, und er mordete mir mein Weib. Ich habe ihm geflucht mit meinen Worten und in meinen Gedanken, und ich wiederhole auch jetzt noch in dieser Stunde: Fluch ihm, Fluch, Fl – – –!«

»Großvater!« unterbrach ihn Emma in flehendem Tone. »Halt ein! Kann sie denn dafür? Sie ist ja unschuldig!«

»Unschuldig! O, Kind, es that doch so weh, so unendlich weh, als – – – aber Du hast Recht, sie ist unschuldig, und ich will sie nicht betrüben.«

»Sprechen Sie weiter!« forderte Richardt die Französin auf.

Sie gab sich Mühe, ihr schluchzendes Weinen zu überwinden, und fuhr fort:

»Ich las die Bekenntnisse meines Vaters und die beiden Briefe; ich erkannte, daß er ein Dieb – – o mein Gott, ein Dieb gewesen sei, und daß ihm Nichts, gar Nichts gehöre und mir auch nicht. Alles, was er hinterließ, war Eigenthum der Familie von Königsau. Ich war verpflichtet, es zurückzugeben.«

»Das war natürlich ein schwerer Schlag für Sie!« sagte Emma in bedauerndem Tone.

»Das?« fragte Agnes. »Daß ich das Geld zurückerstatten mußte? O nein, das war kein Schlag für mich. Es gehört mir nicht, und ich gebe es gern und willig zurück. Aber daß mein Vater ein Dieb sei, das traf mich in's tiefste Leben. Ich bin die Tochter dieses Mannes. Sie werden mich hassen und verachten, und ich muß es tragen. Verzeihen Sie mir, daß ich es wagte, Sie aufzusuchen!«

Da sagte Richardt in festem, überzeugendem Tone:

»Sie irren, Mademoiselle! Wir hassen und verachten Sie nicht. Warum haben Sie die Bekenntnisse Ihres Vaters nicht vernichtet? Niemand wußte davon, und Sie wären Besitzerin seines Nachlasses geblieben.«

»Herr Major!« sagte sie vorwurfsvoll.

»Gut, gut! Sie sehen also, daß wir vielmehr alle Veranlassung haben, Sie hochzuachten. Sie sind brav und ehrlich. Hier haben Sie meine Hand. Ich gebe sie Ihnen im Namen aller meiner Verwandten und versichere Ihnen dabei, daß von der That Ihres Vaters nicht der Hauch eines Schattens auf Sie fällt.«

Da ging ein Zug stillen Glückes über ihr schönes, bleiches Angesicht. Sie antwortete:

»Ich danke, o ich danke Ihnen, gnädiger Herr. Dieser Augenblick ist seit dem Tode meines Vaters der erste, an dem ein Strahl in das Dunkel meines Daseins fällt. Ich war fast leblos; fast konnte ich nicht denken. Und doch mußte ich handeln, um Ihnen Ihr Eigenthum zurückzuerstatten. Der Krieg stand vor der Thür; man konnte nicht in die Zukunft sehen. Wer würde siegen und wer unterliegen? Ich that, was ich für das Beste hielt: Ich wußte einen zahlungsfähigen Käufer und verkaufte ihm das Geschäft und Alles, was wir besessen hatten. Den Erlös und die Summen, welche der Vater baar hinterlassen hatte, verwandelte ich beim Banquier in Anweisungen auf Berlin und reiste damit nach Deutschland, um Sie zu suchen. Sie waren fort, und ich folgte Ihnen. Nun habe ich Sie gefunden. Hier haben Sie die Anweisungen, und hier ist auch die Brieftasche meines Vaters. Seien Sie überzeugt, daß Sie Alles erhalten. Ich habe nichts, gar nichts für mich weggenommen. Ich habe Alles, was auch ich besaß, Kleider, Ringe und Sonstiges verkauft und den Erlös dazu gethan.«

Sie gab dem alten Königsau zwei Brieftaschen. Er zögerte, die Hand nach ihnen auszustrecken.

»Mademoiselle! Mädchen!« sagte er. »Sie sind ja ganz und gar des Teufels!«

»O nein. Ich gebe Ihnen zurück, was Ihnen gehört.«

»Aber das ist ja eine Großmuth, welche ganz ohne Gleichen ist, welche wir gar nicht acceptiren können!«

»Nicht Großmuth, sondern Pflicht ist es. Und obgleich ich es thue, stehe ich doch als Sünderin vor Ihnen und flehe Sie inständigst an, mir das zu vergeben, was an Ihnen verbrochen worden ist.«

Da streckte ihr der Alte denn doch die Hand entgegen und sagte in herzlichem Tone:

»Fräulein Lemartel, Ihnen haben wir nichts zu verzeihen, und auch – – auch – –« es wurde ihm doch schwer, aber er fuhr doch fort: »auch Ihrem Vater sei vergeben. Er mag in Frieden ruhen. Was aber dieses Geld betrifft – – Gebhardt, Richard was sagt Ihr dazu?«

Der Major antwortete, indem er sich an Agnes wendete:

»Sie haben nichts für sich behalten?«

»Nein; glauben Sie es mir!«

»Wir glauben es. Aber, wovon wollen Sie leben?«

»Meine Zukunft ist gemacht: Ich gehe in ein Kloster, um für die Seele meines Vaters zu beten.«

Emma sah das schöne, brave Mädchen mitleidig an, faßte sie bei beiden Händen und sagte:

»Nein, nein! Das sollen Sie nicht! Das dürfen Sie nicht!«

»Ganz gewiß nicht!« stimmte Richardt bei. »Wir werden dieses Geld keineswegs annehmen. Wir werden es vielmehr an sicherer Stelle deponiren. Jetzt sind wir in Anspruch genommen; wir haben keine Zeit zu ruhiger, unparteiischer Prüfung. Ist der Krieg vorüber, so werden wir sehen, ob das Geld uns wirklich gehört und wieviel wir davon beanspruchen können. Sind Sie damit einverstanden?«

»Nein. Es gehört ganz Ihnen.«

»Das wird ja eben zu prüfen sein. Bis dahin aber ist es Ihr rechtmäßiges Eigenthum, und da Sie es nicht behalten wollen, so müssen wir es eben deponiren. Großvater, Vater, ist das nicht auch Eure Meinung?«

»Ja, ganz und gar!« lautete die Antwort.

»Ich darf Ihnen nicht widersprechen,« sagte sie. »Aber ich darf Ihnen sagen, daß ich getröstet von Ihnen gehe. Sie haben mir und dem Vater verziehen.«

Sie stand auf. Emma hielt sie fest.

»Gehen Sie noch nicht!« sagte sie. »Sie sind ohne Mittel. Wohin wollen Sie sich wenden?«

»Ich werde im ersten besten Kloster, welches am Wege liegt, Aufnahme finden.«

»Was und wie denken Sie von uns! Haben Sie Verwandte oder Freunde in Paris?«

»Keinen Menschen. Ich habe sehr einsam gelebt.«

»Sie würden die Hauptstadt auch nicht mehr erreichen. Nein. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Bleiben Sie hier bei uns! Betheiligen Sie sich an unserm gegenwärtigen Berufe. Wir gehören zur Krankenpflege. Dieses fromme, schöne Werk wird Ihr Herz beruhigen und Ihr Gemüth entlasten.«

»Ja, thun Sie das!« stimmte Richardt bei. »Es ist das Beste, was Sie thun können.«

Da leuchteten ihre Augen freudig auf, und sie fragte:

»Wird man es mir denn erlauben? Wird man mich auch wirklich annehmen?«

»Ganz gewiß, Mademoiselle. Sie bleiben bei meiner Schwester und bei ihren Freundinnen, welche sich auch hier befinden. Ist dann der Krieg zu Ende, so werden Sie ja wohl eine Heimath finden, welche nicht hinter finstern Mauern liegt. Die Ereignisse der letzten Zeit haben Ihr Gemüth umdüstert. Es werden auch wieder helle Tage kommen, und dann werden Sie sich freuen, unserm Rathe gefolgt zu sein.«

»O mein Gott! Ich habe nicht erwartet, eine solche Freundlichkeit bei denen zu finden, an welchen unsererseits so schwer gesündigt worden ist. Nehmen Sie meinen Dank, meinen herzlichsten und innigsten Dank!

Kaum getraute sie sich, Emma die Hand entgegen zu Strecken. Diese aber drückte ihr dieselbe mit freundlicher Bereitwilligkeit, und auch die drei Männer bekräftigten durch einen Druck ihrer Hände, daß in ihrem Herzen die Versöhnung wohne. –

Bereits heut, noch mehr aber am nächsten Tage konnte Agnes sich ihrem neuen, schwierigen Berufe widmen, denn das war der Tag der Schlacht von Gravelotte-Saint Privat.

Eisern fielen wieder die Würfel, und sie fielen zum Vortheile der Deutschen. In blutigem Ringen wurden Bazaines Leersäulen zurückgedrängt bis unter die Kanonen von Metz und dort vollständig eingeschlossen. Im Voraus sei bemerkt, daß ein am ersten September unternommener Durchbruchsversuch vom ersten preußischen Armeecorps und der Division Kummer unter General von Manteuffel in der Schlacht von Noisseville zurückgeschlagen wurde. Dann fanden nur noch kleinere Gefechte statt, bis Metz capitulirte.

Das Ergebniß dieser Capitulation war ein noch nie dagewesenes. Drei Marschälle, fünfzig Generäle, sechstausend Offiziere, hundertdreiundfünfzigtausend Mann und zwanzigtausend in den Lazarethen befindliche Militairpersonen mußten sich den Deutschen ergeben. In der Festung wurden vorgefunden: dreiundfünfzig Adler, sechsundsechzig Mitrailleusen, fünfhunderteinundvierzig Feld- und achthundert Festungsgeschütze, Material für fünfundachtzig Feldbatterien, zweitausend Militairfahrzeuge, dreimalhunderttausend Infanteriegewehre und große Vorräthe an Ausrüstung, Munition und Bekleidung.

Vor dieser Capitulation aber war bereits eine andere Festung gefallen; Sedan nämlich.

Während der blutigen Schlachten vor Metz hatte Mac Mahon sich mit seinem bei Wörth geschlagenen Corps und demjenigen de Failly's nach Chalons zurückgezogen, wo eigentlich seine Vereinigung mit Bazaine erfolgen sollte. Da dieser Letztere aber bei Metz zurückgehalten wurde, so sollte Mac Mahon, wie bereits erwähnt, sich mit ihm durch einen über Sedan und Thionville gehenden Flankenmarsch vereinigen.

Dieser Plan war kühn, und bei nur einiger Versäumniß deutscher Seits war zu erwarten, daß er gelingen werde. Gelang er aber nicht, so stand nicht nur eine schwere Niederlage, sondern wohl gar eine völlige Vernichtung der Armee Mac Mahons zu erwarten.

Nach der Schlacht von Gravelotte-Saint Privat waren von der ersten deutschen Armee das Garde-, vierte und zwölfte (sächsische) Armeecorps abgezweigt und zu einer vierten deutschen Armee vereinigt worden, über welche der Kronprinz von Sachsen den Oberbefehl erhielt.

Diese hatte dieselbe Bestimmung wie die vom Kronprinzen von Preußen befehligte dritte Armee, über Verdun auf Chalons und auf der Straße von Nancy nach Toul zu gehen.

Eigentlich wäre bei Chalons eine Schlacht zu erwarten gewesen, zumal das bei Grand Mourmelon, etwa zwei Meilen von dieser Stadt gelegene stehende Lager außerordentlich befestigt sein sollte. Als aber die Führer der beiden genannten deutschen Armeen bemerkten, daß die direct nach Paris führende Straße preisgegeben worden sei, wurden sofort Recognitionen eingeleitet. Diese ergaben, daß Mac Mahon eine Marschrichtung ungefähr auf Stenay und Le Chene genommen habe. Er wollte also die Absicht ausführen, welche er in dem aufgefangenen Briefe ausgesprochen hatte.

Natürlich wurde den beiden deutschen Armeen sofort eine Direction gegeben, welche es ermöglichte, die von dem Feinde in's Auge genommenen Marschpunkte noch vor ihm zu erreichen.

Dieser rasche Entschluß und die ohne irgend eine Verwirrung oder den geringsten Verzug bewirkte Ausführung desselben müssen als eine der bewundernswerthesten Leistungen der deutschen Truppen und ihrer Heeresleitung betrachtet werden. Die Verwirklichung des feindlichen Planes konnte damit als vereitelt gelten.

Bereits am Abende des 31. August hielten die Deutschen den Feind in einem weiten Halbkreise umspannt, und es war nur noch nöthig, diesen Kreis in seinem Rücken zu schließen, so war er verloren, denn er konnte dann nicht auf das neutrale belgische Gebiet, um sich zu retten, übertreten.

Aus diesem Grunde erhielt das sächsische Corps seine Stellung in Pouru Saint Remy und Pouru aux Bois, dem Feinde zunächst. Das vierte preußische Corps war zur Unterstützung bestimmt, und das Gardecorps erhielt die Aufgabe, sich hinter diesen beiden Heerestheilen gegen Norden hinaufzuziehen, um die von Sedan über La Chapelle zur belgischen Grenze führende Hauptstraße zu besetzen.

Am Morgen des ersten Septembers verhüllte ein dichter Nebel jede Fernsicht und breitete über die Niederung der Maas und ihre Seitenthäler einen undurchdringlichen Schleier. Dennoch zögerte man nicht die Schlacht zu beginnen.

Nun kam es, wie der Dichter sagt:

»Nun gilt's ein Ringen um den höchsten Preis,
   Ein heißes Wogen und ein heißes Wagen,
Und manch' ein Herze schwitzt purpurnen Schweiß
   Und schlägt nur, um zum letzten Mal zu schlagen.«

Und auch hier wieder fielen die Würfel zu Gunsten der Deutschen. Der von ihnen um Sedan gebildete, erst nach Norden zu offene Ring wurde geschlossen. Zusammengehauen und zusammengeschossen, wurde die französische Armee am Nachmittage nach vergeblichem Ringen von einer wahren Panik ergriffen. Zu Tausenden ließen sich die an jeder Rettung verzweifelten Franzosen gefangen nehmen, und in wahnsinniger Flucht strebten ihre aufgelösten Haufen Sedan zu erreichen, wohin sämmtliche Trümmer der geschlagenen Armeecorps zurückgeworfen wurden.

Gleich am Beginn der Schlacht war Mac Mahon verwundet worden. Sein Nachfolger hatte nicht vermocht, das Glück an seine Fahnen zu fesseln.

Nur in Daigny und Balan hatten sich zwei Corps lange Zeit behauptet, doch ein concentrischer Vorstoß der hier kämpfenden Deutschen entschied auch hier. Von den tapferen Sachsen in der Front durchbrochen und von den preußischen Garden und dem vierten Armeecorps an beiden Flanken umfaßt, sahen sich die Franzosen mit unwiderstehlicher Gewalt nach Sedan hineingeworfen.

Zu diesem Schlage waren die preußischen Garden über das Bois de Garenne und durch das Thal der Givonne vorgerückt. Bei ihnen stand Königsau, welcher, da der Oberst und der Oberstwachtmeister verwundet waren, sein Regiment befehligte.

Kurz vor dem letzten, entscheidenden Stoße, als die Franzosen einen wahrhaft verzweifelten Widerstand leisteten, war es eine ihrer Batterien, welche mit ihrem wohlgezielten Eisenhagel die Glieder der Deutschen förmlich niedermähte. Es war ihr mit Artillerie nicht beizukommen; sie wurde von zwei Bataillonen Infanterie gedeckt und hatte im Rücken ein Bataillon Zouaven. Die deutschen Infanteriekörper waren an dieser Stelle engagirt, und so erhielt das Gardeulanenregiment den Auftrag, die Batterie zum Schweigen zu bringen.

Königsau ließ zur Attaque blasen. Er sah, daß er buchstäblich einen Todesritt vor sich habe. Er gab mit dem gezogenen Degen das Zeichen, und das Regiment setzte sich in Bewegung.

Erst im Schritt, dann Trab, nachher Galopp und endlich Carrière donnerte es gegen den Feind. Eine fürchterliche Salve riß tiefe und weite Lücken, welche sich aber augenblicklich wieder schlossen. Wie ein Hagelsturm krachten die Ulanen in die zwei Bataillone, welche sich schnell zu einem defensiven Körper vereinigt hatten. Ein fürchterliches Gewirr, aber kaum nur einige Minuten andauernd, und die Bataillone waren zusammengeritten.

Dann ging es, allerdings sehr gelichtet, auf die Batterie los. Im Nu war sie genommen. Aber da avancirte das hinter ihr stehende Zouavenbataillon.

»Drauf und durch!« rief Königsau.

Die Seinen flogen hinter ihm her. Der Feind ließ sie nahe herankommen und dann gab er Feuer. Königsau erhielt eine Kugel in den linken Arm; er bemerkte es gar nicht. Er flog mit einem gewaltigen Satze seines Pferdes in die Reihen der Franzosen, ohne sich umzublicken, ob die Seinen ihm auch folgten.

Aber sie waren da, die Tapferen, hart hinter ihm, neben ihm aber Fritz, der treue, todtesmuthige Freund.

Die Schwerter und Lanzen fraßen wie blutgierige Heuschrecken. Die Zouaven waren aufgelöst, aber sie vertheidigten sich, sie flohen nicht.

Der Kampf löste sich zu Einzelgefechten auf.

Vor Allen machte sich ein Capitän durch fast wunderbare Tapferkeit bemerkbar. Wer ihm zu nahe kam, mußte sterben. Sein Gesicht war von Pulver geschwärzt, seine Züge konnte man kaum erkennen.

»Verdammter Kerl!« rief Fritz. »Dich kaufe ich mir!«

Er spornte sein Pferd auf ihn zu; er erreichte ihn und holte zum tödlichen Hiebe aus; aber der Capitän war auf seiner Hut und parirte. Sein Hieb traf Fritz in die Seite, doch glücklicher Weise nicht gefährlich.

Königsau war dem Freunde gefolgt. Er sah ihn in Gefahr; er sah aber auch, daß er dem Franzosen gewachsen sei. Jetzt befand er sich ganz nahe bei ihm, so daß er das Gesicht des Franzosen erkennen konnte. Eben holte Fritz aus; der Capitän hatte sich eine Blöße gegeben, welche der Ulane augenblicklich benutzte. Der Hieb mußte tödtlich sein.

»Um Gotteswillen!« schrie Königsau. »Fritz, es ist ja Dein Bruder!«

Er schlug ihm den Degen auf die Seite, aber doch nicht so weit, daß er sein Ziel nicht zu erreichen vermocht hätte; sie fuhr dem Franzosen in die Achsel.

Dieser ließ sich dadurch keineswegs stören und holte nun seinerseits zum Stoße aus. Er mußte treffen, denn Fritz hatte den Säbel sinken lassen und starrte dem Gegner in das Gesicht.

»Halt!« schrie Königsau. »Graf Lemarch, tödten Sie Ihren Bruder nicht!«

Jetzt gelang es ihm, den Stoß mit seinem Degen zu pariren.

»Mein Bruder?« stammelte Lemarch.

»Ja,« bestätigte Königsau.

»Herr Haller!« rief Fritz. »Tausend Donner! Haben Sie einen Löwenzahn?«

»Ja.«

»Herr, mein Gott! Bruder, Du bist ein Deutscher! Unser Vater ist ein preußischer General. Komm an mein Herz!«

Er stürzte sich, gar nicht auf das Kampfgewühl achtend, vom Pferde und zog ihn an seine Brust.

Königsau hatte sich sofort wieder abgewendet. Die Zouaven hatten doch nicht zu widerstehen vermocht und liefen in hellen Haufen davon. Die Ulanen verfolgten sie, konnten dabei aber in das Feuer einer rückwärts stehenden feindlichen Batterie kommen. Darum ließ Königsau zum Sammeln blasen.

Das Regiment hatte seine Aufgabe glänzend gelöst. Es hatte drei Bataillone niedergeritten und eine Batterie genommen; aber es hatte auch fast den vierten Theil seiner Mannschaft verloren. Während sich seine Glieder wieder vereinten, hielt Fritz den Capitän bei der Hand gefaßt.

»Bruder, Du mußt mit mir!« sagte er.

»Ich kann nicht.«

»Warum nicht?«

»Meine Pflicht!«

»Pah, Pflicht! Du bist ein Deutscher!«

»Noch nicht. Noch bin ich französischer Offizier!«

»Und Du denkst wirklich, daß ich Dich fortlasse?«

»Du mußt! Noch habe ich meinen Säbel!«

»Unsinn. Siehe Dich um! Dort laufen Deine Zuaven. Du bist mein Gefangener. Wenn Du Dich nicht ergiebst, haue ich Dich ohne Gnade und Barmherzigkeit nieder. Du bist ja von uns vollständig umschlossen!«

Der Capitän blickte sich um und sah, daß Fritz recht hatte. Dieser aber fügte noch hinzu:

»Uebrigens bist Du verwundet – von Deinem eigenen Bruder!«

»Du auch!«

»So lassen wir uns verbinden.«

»Wo?«

»Da unten im Thale. Ich lasse mich von Nanon verbinden und Du – na, rathe!

»Von wem?«

»Von einer gewissen Madelon.«

» Mille Diables! Ist sie hier?«

»Ja.«

»Krankenpflegerin?«

»Versteht sich.«

»Bruder, hättest Du doch ein bischen tiefer gehauen!«

»Und Du noch ein bischen tiefer gestochen. Dann legten wir uns neben einander, und die beiden Schwestern müßten uns pflegen nach Noten. Na, ergiebst Du Dich?«

»Ja; hier ist mein Degen.«

»Unsinn! Du giebst mir Dein Ehrenwort, daß Du nie wieder gegen Deutsche fechten willst.«

»Ich gebe es.«

»So behalte den Säbel. Dort läuft ein lediger Gaul. Ich will ihn holen, damit Du aufsteigen kannst!«

Das Regiment kehrte zurück, Königsau, Fritz und der gefangene Capitän an der Spitze. Der General kam ihnen entgegengesprengt und reichte dem Ersteren die Hand.

»Bravo, Herr Oberstwachtmeister! Das war Hilfe in der Noth, und welche Hilfe! Man wird es nicht vergessen.«

Er ließ ein Regiment Infanterie vorgehen, um das eroberte Terrain zu besetzen und gab den Ulanen den Befehl, sich aus dem Feuer zurückzuziehen.

Sie konnten dies, ohne ihre Ehre zu verletzen. Die Schlacht war gewonnen, und der Widerstand des Feindes vollständig gebrochen.

Die Sonne neigte sich zum Untergange und beleuchtete die Höhenzüge, um deren Besitz so blutig gerungen worden war. Die Aufmerksamkeit der Sieger hatte sich jetzt ausschließlich nur auf die Festung gerichtet. Man zögerte dort, die weiße Fahne aufzupflanzen. Der König hatte einen Generaladjutanten mit der Aufforderung zur Uebergabe abgesandt.

Man vernahm ein dumpfes Getöse und den Knall einzelner Schüsse. Der König war, um die Lage besser beurtheilen zu können, bis zu der auf der Höhe von Saint Pierre aufgefahrenen großen Batterie geritten. Dorthin sendeten die Sieger alle heute dem Feinde entrissenen Feld- und Siegeszeichen.

Endlich, gegen sechs Uhr sprengten einige Reiter der Höhe zu, auf welcher der König mit dem Stabe hielt. Es war der nach der Festung gesendete Generaladjutant, in dessen Begleitung sich General Reilly befand, der erste persönliche Adjutant des Kaisers Napoleon.

Dieser General händigte dem Könige ein Schreiben ein. Der Kaiser bat in demselben um die Erlaubniß, seinem Besieger, dem Oberfeldherrn der verbündeten Armeen, König Wilhelm, seinen Degen zu Füßen legen zu dürfen.

Man hatte keine Ahnung gehabt, daß Napoleon in Sedan anwesend sei. Der König theilte diese Kunde dem Kreise seiner Heeresführer mit; sie pflanzte sich in weiteren und immer weiteren Kreisen fort. Ein Taumel des Entzückens schien die um die Festung postirten Hunderttausende zu ergreifen. Die Trommeln wirbelten, und die Trompeten schmetterten. Da aber erscholl es von Höhe zu Höhe:

»Herr Gott, Dich loben wir! Herr Gott, Dir danken wir!«

Die Nacht sank hernieder, und welch' eine Nacht! Was Frankreich seit Jahrhunderten an Deutschland verschuldet hatte, mit dieser ewig denkwürdigen Nacht vor Sedan war die Vergeltung gekommen.

Noch um Mitternacht wurde zwischen Moltke und dem General Wimpffen, welcher an Mac Mahons Stelle heute das Obercommando geführt hatte, die Capitulation abgeschlossen. Am nächsten Morgen fand eine Unterredung zwischen Bismarck und Napoleon statt, nach welcher der Letztere die Erlaubniß erhielt, vor König Wilhelm zu erscheinen. Jenes an Benedetti telegraphirte » Brusquez le roi« hatte sich schnell gerächt.

Um die Mittagszeit streckten die Franzosen das Gewehr.

Gegen neunzigtausend Mann mußten sich gefangen geben. Dreihundertdreißig Kanonen, sechsundsiebzig Mitrailleusen und hundertvierunddreißig Festungsgeschütze wurden erbeutet. Acht Adler und fünfzig Geschütze waren bereits während der Schlacht dem Feinde abgenommen worden. Außerdem betrug der Verlust der Franzosen an Todten und Verwundeten gegen zwanzigtausend Mann – eine fürchterliche Lehre, die sie erhalten hatten! Ob sie dieselbe beherzigen werden? –

Als Königsau sich mit seinem siegreichen Regimente zurückgezogen hatte, gab er das Commando für kurze Zeit ab, um nach der Ambulance zu reiten. Man brachte von allen Seiten Verwundete herbei.

Ein alter Herr, mit dem Genfer Zeichen am Arme, schleppte einen Schwerverwundeten zum Arzte. Er mußte an den Dreien vorüber. Er erblickte sie. Er sah den Franzosen und rief erstaunt:

»Herr Haller!«

»Herr Untersberg!« antwortete dieser. »Sie hier, Sie? Haben Sie sich entschließen können, Ihre Colibris zu verlassen?«

»O, zwei habe ich mit!«

»Wo?«

»Sie sind da drinnen.«

Dabei deutete er auf das Zelt.

»Sehen Sie, da kommt der Eine.«

Madelon war am Eingange erschienen. Sie erblickte die Drei und rief, genau wie ihr Vater:

»Herr Haller!«

»Ah, Mademoiselle Madelon, wer hätte denken können, Sie hier zu treffen! Sie wagen sich in so gefährliche Nähe des Todes?

Da sagte Königsau:

»Bitte, keine Verwechselung, meine Herrschaften! Dieser Herr heißt nicht Haller, sondern von Goldberg; er ist der Bruder unseres Herrn Lieutenant von Goldberg. Nun aber und vor allen Dingen wollen wir einmal nach unseren Wunden sehen.«

Diese zeigten sich glücklicher Weise bei allen Dreien als nicht gefährlich. Sie wurden verbunden und zogen sich dann zurück, da die Sanitäter zu sehr in Anspruch genommen waren.

Als dann später die Kunde verlautete, daß der Kaiser gefangen genommen worden sei, hielt Königsau vor seinem Regimente in der Nähe von Daigny. Sie stimmten Alle in das »Herr Gott, Dich loben wir« mit ein.

Da kam ein Bataillon Infanterie vorübermarschirt. Es waren Gardemänner, hohe, breitschulterige Gestalten. Daher stach ein kleiner Kerl gegen sie ab, welcher an der Flanke marschirre. Er war außerordentlich dick, trug die Zeichen eines Feldwebels von der Linie und hatte, anstatt Pickelhaube oder Mütze zu tragen, seinen Kopf mit einem rothen Taschentuch umwickelt.

Er war blessirt, brüllte aber mit weit geöffnetem Munde den Lobgesang mit.

Die Begeisterung, mit welcher er dies that und der Contrast seiner kugeligen Figur mit den andern Gestalten riefen bei den Ulanen ein lustiges Lachen hervor. Er bemerkte es, blieb einen Augenblick stehen und trat dann schnell näher.

»Mensch!« sagte er zum Flügelmann. »Was lachst Du denn? Bin ich Dir etwa zu dick?«

»Ja.«

»Gut! Und Du bist mir zu dumm! Guten Abend!«

Er marschirre weiter und mußte an Königsau vorüber. Diesen erblicken und sofort halten bleiben, war Eins.

»Donnerwetter! Herr Doctor Mül – – O, Pardon! Wollte sagen, Herr Oberstwachtmeister von Königsau!«

»Feldwebel Schneffke!« rief der Genannte, der den Kleinen erst jetzt erkannte.

»Zu Befehl! Hieronymus Aurelius Schneffke, Kunst- und Thiermaler außer Dienst.«

»Was haben Sie denn am Kopfe?«

»Hm! Bin an eine vorüberfliegende Kanonenkugel gerannt!«

»Ich dachte, Sie wären gefallen.«

»Heute nicht. Im Dienste überhaupt nicht. Ah, wer ist denn das? Sapperlot, Herr Haller aus dem Tharandter Walde? I, grüß Sie doch der liebe Gott, alter Schwede! Aber, französische Uniform? Capitain!«

»Ja, Sie sehen, wie man sich irren kann,« sagte Königsau. »Aber, bester Feldwebel, wie kommt denn eigentlich Saul unter die Propheten?«

»Sie meinen, der Dicke unter die Langen?«

»Ja.«

»Ich hatte Briefschaften zu überbringen, und da hier der Krakehl kein Ende nehmen wollte, so habe ich tüchtig mit zugehauen. Es ist deshalb so rasch alle geworden.«

»Schön, schön! Ich habe seit Malineau keine Nachricht empfangen können. Wie ging es dort?«

»Wir nahmen drei Viertel der Spahis gefangen; die Anderen mußten dran glauben. Herr Rittmeister von Hohenthal ritt mit seinen Husaren ab. Er liegt jetzt mit vor Metz. Vielleicht erstürmt er es, wenn es sich nicht freiwillig ergiebt.«

»Und die Damen des Schlosses?«

»Sie befanden sich sehr wohl, als wir drei Tage später abgelöst wurden und abziehen mußten.«

»Danke! Wann gehen Sie zurück?«

»Morgen.«

»Begeben Sie sich nach der Ambulance da unten, um sich verbinden zu lassen. Sie werden Bekannte treffen.«

Der Dicke salutirte und setzte dann seinen Marsch fort, jetzt nun freilich allein. –

Am Abende gab es ein entsetzliches Gedränge in der Festung. Auf den Straßen fand sich kaum Platz, daß sich Einer an dem Andern vorüberdrängen konnte. Militair und nur wieder Militair! Civilisten waren kaum zu sehen.

Daher kam es wohl, daß ein bürgerlich gekleideter Mann, welcher langsam hart an einer Häuserreihe hinstrich, sich einen Begegnenden, welcher auch Civil trug, etwas genauer anblickte, als er es sonst wohl gethan hätte. Sie waren schon an einander vorüber, so blieb er halten, wandte sich um und sagte:

»Pst, Sie da! Warten Sie einmal!«

Der Angeredete blieb stehen und ließ den Andern herankommen. Dann fragte er:

»Was wollen Sie?«

»Kennen wir uns nicht?«

»Hm! Wüßte nicht!«

»O doch! Nur ist es Ihnen vielleicht nicht lieb, wenn Ihr Name genannt wird.«

»Warum nicht?«

»Aus gewissen Gründen.«

»Die möchte ich doch kennen lernen!«

»Sie können sie erfahren.«

Er bückte sich zu dem Andern, welcher Etwas kleiner war, nieder und flüsterte ihm in's Ohr:

»Vater Main.«

»Donnerwetter!« entfuhr es diesem.

»Habe ich Recht?«

»Nein. So ist mein Name nicht.«

»Papperlapapp! Ich kenne Sie. Fürchten Sie sich nicht. Sehen Sie einmal her!«

Er schlug die Hutkrämpe, welche den obern Theil seines Gesichtes verdeckt hatte, empor, so daß der Schein einer Laterne auf Stirn und Nase fiel.

»Wetter noch ein Mal!« sagte Vater Main.

»Nun, kennen Sie mich?«

»Natürlich, Herr Capitain.«

»Was treiben Sie hier?«

»Hm! Was treiben Sie denn hier?«

»Auch ›hm!‹ Haben Sie Obdach?«

»Nein.«

»Kommen Sie mit mir!«

»Wohin?« fragte Main ein Wenig argwöhnisch.

»Fürchten Sie sich nicht. Ich will Ihr Unglück nicht. Ich wohne bei einem Offizier der bisherigen Garnison.«

»Bin ich dort sicher?«

»So gut wie ich.«

»O weh! Sicher sind Sie doch nur bis morgen.«

»Leider! Doch vorwärts jetzt!«

Sie wanderten mit einander weiter. Der alte Capitain führte den einstigen Wirth in ein nicht sehr großes Haus, in den Hof desselben und dirigirte ihn dann eine steile, schmale, hölzerne Treppe empor.

»Wohin geht das denn?« fragte Vater Main. »Etwa gar in den Taubenschlag?«

»Nein, es ist nur die Holzkammer. Da; bleiben Sie stehen, bis ich angebrannt habe.«

»Das Holz?«

»Unsinn! Das Licht, damit Sie sehen können.«

Bald leuchtete ein Flämmchen auf, bei dessen Scheine Main sehen konnte, daß er sich in einem mit Brettern verschlagenen, kleinen Raume befand, dessen vier Wände von hohen Lagen gespaltenen Brennholzes verdeckt waren. In der Mitte stand ein Schemel, und in der einen Ecke lag eine wollene Pferdedecke.

»So!« sagte der Alte. »Haben Sie sich jetzt orientirt?«

»Ja. Man braucht nicht lange Zeit. Die Bude ist klein genug.«

»So wollen wir wieder auslöschen. Setzen Sie sich auf den Schemel. Ich lege mich auf die Decke. Haben Sie etwa Hunger?«

»Mehr als genug.«

»Nun, ich habe da zwischen dem Holze etwas Fleisch und Brod stecken. Das wird für Beide zureichen.«

Er zog seinen kleinen Vorrath hervor, theilte ihn, gab Vater Main die Hälfte und sagte dann:

»Ein eigenthümliches Zusammentreffen. Ich glaubte gehört zu haben, daß Sie in Metz gefangen sind?«

»Ich war es.«

»Also entflohen?«

»Nein. Es galt Briefschaften herauszuschaffen, durch den Kreis der Belagerer. Das ist lebensgefährlich. Man ließ mich frei mit der Bedingung, diese Briefe zu besorgen.«

»Und Sie haben es fertig gebracht?«

»Nur halb.«

»Wieso?«

»Die Briefe bekamen die Deutschen; ich aber entkam ihnen.«

»Sapperment! Wie ist das möglich?«

»Man rannte mir nach, als man mich bemerkt hatte. Ich warf einen Brief nach dem andern von mir. Während sie hinter mir die Schreibereien auflasen, erreichte ich den Wald.«

»Und dann?«

»Dann, verdammte Geschichte! Ihnen kann ich es ja sagen: Ich bin vogelfrei. Da traf ich einen Bauern, welcher Spannfuhre hatte thun müssen. Ich bemächtigte mich seines Fuhrwerks und seiner Legitimation und setzte mich auf seinen Wagen. So kam ich in die Nähe von Stonne. Da kamen die verdammten Soldaten und zwangen mich, sie zu fahren, während ich nebenher laufen mußte.«

»Wo wollten Sie hin?«

»Hier ganz in die Nähe, nämlich nach Daigny. Da habe ich einen nahen Verwandten, der mir Verschiedenes zu verdanken hat und mir sicher durchgeholfen hätte.«

»Paßte denn die Legitimation zu dieser Tour?«

»Wunderbar gut. Der Bauer war nämlich aus der Gegend von Mezieres; ich mußte also über Sedan, wenn ich dahin wollte.«

»Sapperment! Das könnte passen!«

»Was? Wie?«

»Sagen Sie mir vorher, was aus dem Bauer geworden ist, dem Sie das Fuhrwerk abgenommen haben.«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, er lebt nicht mehr.«

»Ach so! Ja, ich kenne Vater Main. Wissen Sie, als Sie in Ihrer Wirthschaft in Paris den Werber für mich machten, hätten wir nicht gedacht, welch' elenden Anfang dieser Krieg nehmen würde.«

»Anfang?«

»Ja doch.«

»Ich denke, daß es das Ende ist!«

»Glauben Sie dies ja nicht. Es ist ein Zusammentreffen verschiedener unglücklicher Umstände, welches diese Deutschen bisher begünstigt hat. Aber Frankreich besitzt unerschöpfliche Hilfsquellen. Das Unglück wird uns stark und einig machen und uns zum endlichen Siege führen.«

»Davon habe ich nichts.«

»Sie als Franzose!«

»Ja doch! Ich bin gar nichts mehr, also auch kein Franzose. Ein Jeder kann mich todtschlagen. Ich will zu meinem Verwandten; der muß Geld schaffen, damit ich nach Amerika oder nach Australien kann.«

»Sind Sie denn ganz mittellos?«

»Hm! Ich hatte Geld, da drüben in Algier; aber die Polizei hatte entdeckt, welche Banknotennummern es waren.«

»Sie hatten also einen Geniestreich ausgeführt?«

»Ja. Es war so prächtig gelungen. Aber, der Teufel hole das Genie. Glück ist die Hauptsache.«

»Nun, vielleicht.«

»Sie sind ja reich.«

Der Capitän hielt es nicht für gerathen, zu sagen, daß er jetzt selbst blutarm sei. Er antwortete:

»Gewiß. Aber was nützt mir das Geld, wenn man mir an den Kragen geht!«

»An den Kragen?«

»Ja. Wenn mich morgen die Deutschen erwischen, bin ich verloren. Sie haben Ursache dazu.«

»Das ist dumm!«

»Freilich, freilich. Wie nun, wenn wir uns gegenseitig unterstützten, Vater Main?«

»Wie sollte das geschehen?«

»Sie bringen mich aus der Stadt, und ich sorge für Geld.«

»Das Letztere wäre mir schon recht, wenn nur auch das Erstere ermöglicht werden könnte.«

»Sehr leicht.«

»Auf welche Weise?«

»Haben Sie Ihr Fuhrwerk noch?«

»Das ist zum Teufel! Alles caput geschossen.«

»Aber die Legitimation haben Sie noch?«

»Ja, hier in der Tasche.«

»So wird man Sie ja doch passiren lassen.«

»Meinen Sie?«

»Gewiß. Und weil Sie sich ausweisen können, ist es Ihnen ja sehr leicht, mich zu legitimiren.«

»Auf diese Art und Weise! Sie sind aus meinem Dorfe und haben mit Pferd und Wagen dem Heere folgen müssen gerade ebenso wie ich. Sie haben dabei Alles verloren, mehr noch als ich, nämlich die Legitimation.«

»So meine ich es.«

»Wir können es versuchen. Aber, Sie haben doch Connexionen im Kreise der Offiziere!«

»O, selbst ein Marschall könnte mich nicht retten, wenn die Deutschen einmal erfahren, wer ich bin.«

»So möchte ich fragen, wie Sie hier nach Sedan gekommen sind. Das ist ja gefährlich.«

»Wer konnte dies ahnen? Wer wußte, daß die Deutschen an allen Stellen siegen würden? Ich hatte einen Brief Mac Mahons nach Metz zu bringen. Es gelang mir. Ich empfing Antwort und brachte sie dem Marschall, nachdem ich den Deutschen entkommen war. Sie hatten Metz noch nicht vollständig cernirt. Ich blieb bei der Armee, weil ich glaubte, daß wir die Deutschen schlagen würden. Nun stecke ich in der Mausefalle. Der Teufel hole Preußen!«

»Meinetwegen mag er die ganze Welt holen und mich mit. Zuvor aber will ich das Leben noch ein wenig genießen. Was fangen wir heute Abend an? Könnten wir nicht schon heute aus der Stadt kommen?«

»Unmöglich. Man läßt keine Maus hinaus.«

»So müssen wir uns leider gedulden.«

»Ja. Ich lege mich auf's Ohr und schlafe.«

»Sind wir hier denn sicher?«

»Ganz und gar. Der Offizier, dem ich anvertraut worden bin, quartirt im Hause. Wir können ruhig schlafen.«

»Auf bloßer Diele!«

»Wollen Sie Eiderdaunen haben? Wir müssen genügsam sein. Später wird es besser.«

Sie hatten sich für heute nichts weiter zu sagen, da es Keinem einfiel, den Anderen zum Vertrauten seiner besonderen Erlebnisse zu machen. Darum streckten sie sich nieder und waren bald in Schlaf versunken.

Sie erwachten bereits am sehr frühen Morgen. Der ungeheure Lärm, den es auf den Straßen gab, machte es unmöglich, nicht wach zu werden. Sie begaben sich hinunter und hinaus auf die Gassen. Dort erfuhren sie, daß die Stadt noch vollständig eingeschlossen sei und vor Abschluß der Capitulation kein Mensch sie verlassen dürfe.

In Folge dessen zogen sie sich wieder in ihr Versteck zurück, wo der Alte mehr aus Langeweile als aus Aufrichtigkeit dem einstigen Restaurateur mittheilte, daß er freilich im Augenblicke nicht bei Mitteln sei, bald aber zu Geld gelangen könne, wenn es ihm nur gelinge, das Lager der Deutschen ungehindert zu passiren.

»Nun,« sagte Vater Main, »wenn es auch Ihnen am Gelde fehlt, so wird mein Cousin welches schaffen müssen. Er soll es wieder erhalten.«

Als sie gegen Mittag die Straße wieder betraten, erfuhren sie, daß die Capitulation abgeschlossen worden sei und daß man es Civilpersonen bereits erlaube, sich aus der Stadt zu entfernen.

Sie machten den Versuch und gelangten in das Freie, ohne daß sie gehindert worden wären. Nur draußen am Thore wurden sie von dem wachthabenden deutschen Offizier nach Namen und Stand gefragt, und als Vater Main seine Legitimation vorzeigte und dabei bemerkte, daß sein Begleiter ein Kamerad von ihm sei, der mit ihm nach der Heimath wolle, so wurde ihnen nichts in den Weg gelegt.

Sie passirten verschiedene Truppentheile und sahen alle die Spuren des gestrigen Kampfes. Sie erreichten nach kurzer Zeit Daigny, wo der Cousin Vater Mains sich vor einigen Jahren als Krämer niedergelassen hatte.

Main kannte das Haus, vor dessen Thür ein vielleicht fünfzehnjähriger Junge stand. Er sah sich die Beiden an, welche eintraten, ohne daß er ihnen ein Wort sagte.

Sie öffneten die Thür zur Wohnstube, fuhren jedoch erschrocken zurück. Der Raum war voller Verwundeter; er wurde als Lazareth benutzt.

Gerade jetzt trat aus der gegenüber liegenden Thür der Besitzer des Hauses. Er sah seinen Verwandten und erschrak.

»Himmel! Du bist hier!« stieß er hervor.

»Ja. Bin ich Dir unwillkommen?«

»Nein. Aber, hat man Dich gesehen?«

»Die da drinnen.«

»Du bist in diese Stube getreten?«

»Ja, weil es die Wohnstube ist.«

»Was! Und dieser dumme Junge, dieser Nichtsnutz, steht hier an der Thür und sagt den Fremden, welche eintreten, nicht, daß da das Lazareth ist! Wie nun, wenn Jemand Dich erkannt hätte! Warte, Bursche! Hier!«

Er gab dem Knaben einige Ohrfeigen und führte dann die Beiden eine Treppe höher. Dort öffnete er eine Thür.

Das Haus hatte nur ein Stockwerk. Unten befand sich die Wohnstube und der Kramladen. Darüber lagen zwei einfache Kammern mit Bretterwänden. In die eine derselben brachte er sie.

»Hier wohne ich jetzt,« sagte er. »Dieser Krieg ist ein Unglück, aber er bringt mir Geld ein. Ich habe seit gestern früh fast alle meine Vorräthe verkauft. Es ist jammerschade, daß ich nicht mehr habe. Wer ist dieser Herr?«

»Ein Freund von mir. Der Name thut nichts.«

»So kennt er Dich?«

»Natürlich.«

»Auch Deine gegenwärtigen Verhältnisse?«

»Nicht genau. Er weiß nur, daß die Polizei die Patschhändchen nach mir ausstreckt!«

»Wie aber kannst Du Dich in diese Gegend wagen!«

»Ich bin überall gefährdet. Ich mußte zu Dir, weil ich Geld brauche, ohne welches ich nicht weiter kann.«

»Du sollst haben, was ich entbehren kann. Wohin willst Du Dich wenden?«

»Nach Amerika.«

»Hm! Hast Du Legitimation?«

»Hier mein Freund wird sorgen – Donner und Doria! Da kommen Drei auf Dein Haus zu!«

Er hatte durch das Dachfensterchen geblickt. Sein Cousin warf auch einen Blick hinaus und sagte:

»Meine Einquartierung.«

»Alle Teufel! Sie wohnen bei Dir?«

»Ja. Es ist ein Major von den Ulanen. Diese Herren sind auch froh, wenn sie unter Dach und Fach sind. Die Zimmer werden als Lazarethe benutzt, darum nehmen die Offiziers die Kammern.«

Auch der Kapitän war an's Fenster getreten. Er erbleichte.

»Kommen diese Männer hierher?«

»Ja. Sie kommen hier herauf. Sie logieren drüben in der anderen Kammer.«

»Alle Wetter! Sie dürfen uns nicht sehen. Was ist zu thun?«

»Sind es Bekannte von Ihnen?« fragte Vater Main.

»Freilich, freilich!«

»Pfui Teufel!« sagte der Krämer. »Sie treten auch in diese Kammer, wenn Sie mich suchen.«

»Und hinunter können wir nicht, denn sie sind nur noch wenige Schritte entfernt. Ein Versteck, ein Versteck! Giebt es denn keins hier oben?«

»Einen ganz engen Raum oben unter der Dachfirste.«

»Dann schnell da hinauf!«

»Es geht weder Leiter noch Treppe hinauf. Turnen Sie sich da an den Balken in die Höhe.«

Die beiden Flüchtlinge kletterten bis zu dem engen, schmalen Hahnebalkenboden empor und krochen so weit wie es möglich war, hinein. Sie hatten sich kaum in Sicherheit gebracht, so kamen die drei Männer zur Treppe herauf. Es waren die drei Königsau, Enkel, Vater und Großvater.

Der Erstere trat in die Kammer des Wirthes und fragte:

»Hat Jemand nach mir begehrt?«

»Nein, Herr Major.«

»Schön! Gehen Sie hinab. Sorgen Sie dafür, daß Niemand nach hier oben kommt. Bei diesen Bretterwänden ist ja jedes gesprochene Wort für Jedermann hörbar.«

Der Wirth gehorchte und stieg hinab. Richardt überzeugte sich, daß Niemand vorhanden war; dann traten sie in die gegenüberliegende Kammer, über welcher die beiden Flüchtlinge steckten.

Diese Kammer enthielt drei Strohsäcke und einen Stuhl; das war das ganze Meublement. Es war eben Krieg. Ein Dachfensterchen erlaubte einen Blick in's Freie.

Der Großvater mußte auf dem Stuhle Platz nehmen; die beiden Anderen setzten sich auf die Strohsäcke.

»So,« sagte der Major. »Die Anstrengung ist für Großpapa zu viel. Gestern und diese ganze Nacht im Lazareth thätig gewesen. Du sollst hier nun einige Stunden schlafen.«

»Ein Wenig ruhen, ja,« sagte der alte Liebling Blüchers. »Schlafen aber kann ich nicht.«

»Du mußt ja mehr als müde sein!«

»Nicht im Geringsten. Kinder, Ihr glaubt nicht, was mit mir vorgeht. Der Kanonendonner, der Hufschlag, das Kriegsleben hat in mir Erinnerungen geweckt, welche längst gestorben schienen. Ich befinde mich auf dem Schauplatze früherer Thaten.«

Er trat an das Fensterchen, blickte hinaus und fuhr fort:

»Dort geht es nach Roncourt und Chene. Dort sang man als Erkennungszeichen die Arie Ma chéri est la belle Madeleine. Da drüben geht es nach dem Meierhofe Jeanette, wo ich den großen Napoleon belauschte, und da rechts führt die Straße nach Bouillon, wo ich damals – ah, die Kasse, die Kriegskasse!«

»Großpapa, schone Dich!« bat Richardt.

»Schonen? Schonen? Jetzt, wo es hell und licht wird? Nein, nein! Denken will ich; denken muß ich! O mein Gott, die Erinnerung kommt; die Erinnerung kommt!«

Er hielt sich an den Fensterbalken an und starrte hinaus. Seine Lippen zitterten; über sein altes, ehrwürdiges Gesicht ging ein wechselvolles Mienenspiel. Dabei fuhr er fort:

»Da gehts nach Bouillon. In der Schänke blieb ich über Nacht. Dann am Wasser entlang, bei den Bäumen links ab, an der Köhlerhütte vorüber nach der Schlucht. Dort erschlug der Capitain den Baron Reillac. Und da gruben wir – gruben wir – gruben wir die Kriegskasse wieder aus und – – und schafften sie – sie – sie – – schafften sie – – Herr, mein Heiland, ich hab's; ich hab's! So ist's gewesen. O Gott, o Gott! Endlich, endlich weiß ich Alles, was damals geschehen ist! Hört, hört! Ich muß es Euch erzählen!«

Und er erzählte es, Wort für Wort, wie es damals geschehen war. Er konnte sich auf jedes gesprochene Wörtchen, auf jeden Baum und jeden Strauch besinnen. Er beschrieb die Stelle, an welcher er die Kasse zum zweiten Male vergraben hatte, so genau, als wenn es erst gestern geschehen wäre. Dann fügte er hinzu:

»Wir müssen hin, unbedingt hin, heut oder morgen oder wann es sei, aber bald, recht bald!«

»Welch' ein psychologisches Räthsel!« sagte Gebhardt von Königsau.

Aber sein Sohn winkte ihm Schweigen zu. Der Großvater fuhr fort:

»Nun möchte ich den Capitain haben! Ah, könnte ich doch mit ihm kämpfen, noch heut, noch heut! Kinder, ich weiß nicht, wie mir, ist. Es strengt doch an. Laßt mich ruhen; ich will schlafen; ich will ausschlafen, und dann gehen wir nach der Kasse – der Kasse – – der Kasse!«

Er stand vom Stuhle auf und setzte sich auf einen der Strohsäcke. Sein Sohn wollte irgend welche Bemerkungen machen; aber Richardt sagte bittend:

»Laß ihn, Vater! Ja, er mag schlafen. Später werden wir ja weiter sprechen können.«

Er nahm den Kopf des alten Mannes in den Arm und ließ ihn langsam nach hinten gleiten. Wunderbar! Es währte nicht eine Minute, so war Hugo von Königsau in einen Schlaf versunken, aus welchem ihn vielleicht kein Schuß zu erwecken vermocht hätte.

»Die Anstrengung des Gehirnes war zu groß,« sagte sein Enkel. »Der Schlaf wird ihn stärken. Komm, Vater, gehen wir wieder. Wir könnten ihn stören.«

»Seltsam! Seltsam!«

»Sogar unbegreiflich. Der fünfzig Jahre lang verlorene Zusammenhang ist plötzlich gefunden, einzig und allein durch den Anblick dieser Gegend. Komm! Wir werden bald wieder nach ihm sehen!«

Sie gingen.

Die beiden Männer über ihnen hatten jedes Wort verstanden; sie konnten sogar durch einige im Boden befindliche Ritzen herabblicken.

»Da waren Sie gemeint?« flüsterte jetzt Vater Main.

»Ja,« antwortete der Capitain, welcher schnell berechnete, daß er ohne Hilfe nichts unternehmen könne.

»Diese Kriegskasse existirt wirklich?«

»Freilich! Es ist genau so, wie dieser alte Satan erzählte.«

»Donnerwetter! Wollen wir sie holen?«

»Warum nicht? Aber es fehlt uns Eins dazu, was wir unumgänglich nöthig haben.«

»Was?«

»Geld.«

»Geld, wenn wir Geld holen?«

»Ja. Wir können von hier nicht mitnehmen, was wir brauchen: Wagen, Hacken, Schaufeln und Anderes.«

»Mein Cousin mag Geld schaffen. Oder, noch besser, er soll mit. Drei sind besser als Zwei.«

»Das ist sehr richtig. Aber wird er Zeit haben?«

Der alte Schlaukopf sagte sich im Stillen: Helfen mögen sie; dann schaffe ich sie auf die Seite.

»Er muß Zeit haben. Seine Frau mag während seiner Abwesenheit den Kramladen versorgen.«

»Gut. Dann aber so bald wie möglich aufbrechen. Wir haben gehört, daß diese Menschen da unten hin wollen. Sie könnten uns zuvorkommen.«

»Ich will den Cousin holen.«

Er stieg leise hinab, und der Capitain folgte ihm, um in die Kammer zu treten. Vater Main brachte sehr bald den Wirth. Sie führten eine leise, eifrige Unterhaltung, welche allerdings gar nicht lange dauerte.

Während derselben kam leise, leise der Knabe, welcher vorhin geschlagen worden war, zur Treppe herauf geschlichen und lehnte den Kopf an die Bretterwand. Als er bemerkte, daß die Unterredung zu Ende sei, wollte er sich zurückziehen, stolperte aber im Eifer und fiel hin auf den Boden. Sofort wurde die Kammerthüre aufgerissen und der Wirth trat heraus.

»Bube, du hast gelauscht!« sagte er.

»Nein!« lautete die Antwort.

»Was willst Du hier?«

»Es sind Leute unten, die kaufen wollen. Ich kam, um Sie zu rufen und stolperte über die letzten Stufen.«

»So bist Du gleich jetzt erst gekommen?«

»Gleich jetzt.«

»Und hast nichts gehört?«

»Gar nichts.«

»Hier, hast Du etwas für das Stolpern!«

Er gab ihm abermals einige Ohrfeigen und stieß ihn zur Treppe hinab. Der Knabe war ihm in die Lehre gegeben; er wurde brutal behandelt und haßte seinen Meister. Als dieser nach einiger Zeit mit den zwei Männern das Haus verließ, um die Richtung nach der Straße von Bouillon einzuschlagen, folgte ihnen der Knabe mit seinen Blicken und sagte leise zu sich selbst:

»Sie sollen die Kriegskasse nicht haben. Ich werde es dem schönen guten Offizier sagen, der mir gestern einen ganzen Franken geschenkt hat und heute wieder.«

Und als nach einiger Zeit Königsau wieder kam, um nach seinem Großvater zu sehen, ging er ihm nach, hinauf auf den Boden und machte sich durch ein Husten bemerkbar.

»Was willst Du?« fragte ihn der Offizier.

»Sie wollen die Kriegskasse.«

»Wer?«

»Die Drei.«

Königsau war überrascht.

»Welche Drei?« erkundigte er sich.

»Mein Meister und die zwei Fremden. Sie kamen und versteckten sich da hinauf.«

Er zeigte nach dem Hahnebalkenboden.

»Da oben haben Männer gesteckt?« fragte Königsau, förmlich erschrocken.

»Ja, zwei. Sie steckten sich da hinauf. Ich kenne sie nicht; aber der Alte war der Capitain. Der Andere hat ihn so genannt.«

»Beschreibe ihn mir!«

Der Knabe that dies, und Königsau bekam die Ueberzeugung, daß wirklich Capitain Richemonte hier gewesen sei.

»Was haben sie denn gesprochen?« fragte er.

»Als Sie fort waren, kam der Eine hinab in den Laden, nicht der Alte, sondern der Andere. Sie sprachen leise; aber ich hörte doch, daß sie einen Schatz heben wollten. Dann gingen sie hinauf zu dem Alten, der wieder in der Kammer war. Ich schlich nach und horchte. Sie wollen die Casse ausgraben und theilen. Dann aber, wenn sie wiederkommen, wollen sie Drei todtmachen, welche Königsau heißen.«

»Haben sie nicht gesagt, wann sie wiederkommen werden?«

»Nein.«

»Gut, mein Sohn. Hier hast Du fünf Franken. Deine Mutter ist arm, wie Du mir sagtest. Ich werde sie so beschenken, daß es ihr wohlgehen soll. Aber sage jetzt noch keinem Menschen ein Wort davon.«

Er weckte den schlafenden Großvater nicht auf, sondern er begab sich in die Ambulance zu seinem Vater, dem er das Ereigniß erzählte. Dieser war natürlich im höchsten Grade aufgeregt. Er sagte:

»Das ist kein Unglück, sondern ein Glück für uns!«

»Natürlich! Der Alte läuft uns da hübsch in die Hände.«

»Nur schleunigst nach!«

»Bitte, keine Ueberstürzung, Vater. Wir reiten natürlich, und die Drei sind zu Fuße. Wir würden sie überholen und das ist nicht vortheilhaft.«

»Warum nicht? Wir nehmen sie gefangen, da, wo wir sie treffen!«

»Bedenke, daß Bouillon jetzt luxemburgisch ist. Ich darf nicht einmal in Uniform hinüber.«

»Das ist fatal, höchst fatal!«

»Großpapa's Beschreibung nach aber liegt die Casse wieder auf französischem Boden vergraben, da man von Bouillon sich nach rechts, also nach Westen zu wenden hat. Fassen wir die Kerls dort, so sind sie unser.«

»Werden wir sie transportiren dürfen?«

»Ja. Wenn wir sie auf französischem Boden verhaften und nur über eine Ecke des Luxemburger Gebietes wieder auf französisches Territorium schaffen, kann man es uns nicht verbieten. Uebrigens wird es Nacht sein, da wird Alles möglich gemacht.«

»Wer reitet mit?«

»Du, Großvater, ich und Fritz. Vier sind genug. Um aber auf alle Fälle sicher zu sein, wollen wir auch Fritzens Bruder mitnehmen. Wir sind seiner sicher.«

»Werdet Ihr Urlaub bekommen?«

»Gewiß. Da laß mich sorgen. Freilich brauchen wir Civilanzüge für die beiden Brüder und mich. Ich hoffe, daß sie in Sedan zu haben sind. Ich werde sie besorgen.«

»Wann also reiten wir?«

»Kurz vor Einbruch der Dunkelheit.«

»Aber, wird Großvater während der Nacht den Ort auch finden? Es ist fünfzig Jahre her!«

»Ich hoffe es. Er hat ihn so genau beschrieben, daß ich allein ihn zu finden mir getraue.«

Er theilte Fritz und dessen Bruder mit, um was es sich handelte. Der Erstere hatte den Letzteren bereits mit den Schicksalen der Familie Königsau bekannt gemacht, und so war der bisherige französische Capitain sofort bereit, an dem Ritte theilzunehmen.

Der Urlaub wurde gewährt, und kurz vor Abend ritten sie davon, drei ledige Pferde mit sich am Zügel führend.

Da sie nicht Uniform trugen und auch keine Waffen sehen ließen, wurden sie an der Grenze gar nicht incommodirt. Jenseits derselben kehrte Richardt ganz allein in einer an der Straße liegenden Restauration ein und erfuhr hier, daß die Drei hier eingekehrt waren.

Es war eigenthümlich, welchen Eindruck der Anblick dieser Gegend auf Hugo von Königsau machte. Er fühlte sich wie ein Jüngling, er ritt an der Spitze und machte erst wieder Halt, als sie durch Bouillon passirt waren und die letzten Häuser erreicht hatten.

»Hier,« sagte er, »ist die Schänke, in welcher ich übernachtete. Es ist ein neues Gebäude angebaut worden, wie ich sehe; aber das alte erkenne ich sofort. Von hier aus müssen wir laufen, lieber Richardt.«

»So steigt ab und wartet. Ich werde die Pferde einstellen. Fritz mag helfen.«

Die Beiden führten die Pferde nach dem Gasthofe. Sie erfuhren, daß genug Stallung vorhanden sei, und ließen sie unter ihrer Aufsicht einstellen. Dann wurde die Fußwanderung begonnen.

Sie folgten dem Wasser bis zu den bekannten Erlen, welche wirklich noch standen, aber viel größer geworden. Dann bogen sie links ein und stiegen den Berg hinauf.

Die Köhlerhütte war zwar nicht mehr vorhanden, doch diente die Lichtung, auf welcher sie gestanden hatte, zur Orientirung. Von da aus erreichten sie die Schlucht, welche der alte Hugo sofort trotz der Dunkelheit erkannte, und trotz der veränderten Baumphysiognomie, welche sie zeigte.

»Da drinnen hat der Schatz gelegen,« sagte er. »Da drin wurde Reillac erschlagen. Jetzt drehe ich mich nach Süd. Kommt, folgt mir, aber leise, heimlich! Die drei Hallunken sind sicher da!«

Der Abend war heute hell; die Sterne glänzten am Himmel. Hier gab es kein Unterholz. Man konnte ohne große Schwierigkeit die Richtung einhalten.

Es ging thalabwärts und dann wieder empor. Auf der Bodenwelle oben angekommen, blieb der Alte stehen. Trotz seiner Betagtheit war sein Gehör so scharf, daß er einen hier des Nachts ungewöhnlichen Laut vernommen hatte.

»Horcht!« flüsterte er. »Da unten ist der Ort. Habt Ihr es gehört? Das klang wie eine Hacke.«

»Ja. Ich sehe sogar Licht,« bestätigte Richardt.

»So wollen wir hinab. Aber um Gotteswillen, äußerst vorsichtig. Wir müssen sie so plötzlich fassen, daß sie ganz starr sind vor Schreck.«

Sie stiegen leise in die neue Bodenvertiefung hinab, Einer hinter dem Anderen. Je tiefer sie kamen, desto heller und größer wurde der Schein des Lichtes, welches sie bemerkt hatten. Endlich waren sie so nahe, daß sie Alles genau bemerken konnten.

Die Drei hatten bereits ein ziemlich bedeutendes Loch aufgeworfen. Sie waren so vorsichtig gewesen, die obere Bodenkruste behutsam abzustechen, um dann mit ihr die Stelle so belegen zu können, daß nichts zu bemerken war.

Eine Laterne stand dabei. Zwei hackten und der alte Capitain schaufelte.

»Das ist Richemonte, mein Herr Schwager,« flüsterte Hugo Königsau, »und unser Wirth aus Daigny. Wer aber ist der Dritte?«

»Ich kenne ihn,« antwortete Richardt ebenso leise zurück. »Er ist einer der gefährlichsten Verbrecher der Hauptstadt und muß aus Metz entsprungen sein. Umgehen wir sie. Sobald ich mit der Zunge knalle, werfen wir uns von allen Seiten auf sie. Am Besten wird es sein, wir stoßen sie in's Loch hinab. Das vermindert ihre Beweglichkeit. Stricke zum Binden haben wir mit.«

Sie theilten sich, um die nichts ahnenden Schatzgräber zwischen sich zu bekommen. Diese Letzteren arbeiteten mit lautloser Anstrengung. Trotz des unzureichenden Lichtes, welches die Laterne verbreitete, sah man ihre Augen vor Gier leuchten.

Da erscholl ein dumpfer Schlag.

»Halt! Was war das?« fragte der Capitain.

»Das war meine Hacke,« antwortete Vater Main. »Sie ist auf einen hohlen Gegenstand getroffen.«

»Weiter! weiter! Es ist die richtige Stelle; sie ist es, bei allen Teufeln, ja!«

In zwei Minuten war ein Stück des Deckels bloßgelegt.

»Ha!« jubelte der Alte. »Da steckt das Geld, da, da! Ihr Hunde aus dem verfluchten Geschlechte der Königsau, kommt herbei, wenn Ihr uns den Fund streitig machen wollt!«

»Hier sind wir schon!« ertönte es hinter ihm.

Zehn Hände griffen zu. Im nächsten Augenblicke stürzten die drei Schatzgräber in die von ihnen gegrabene Grube.

»Tod und Teufel!« schrie Vater Main. »Wer ist das? Ha, das soll Euch nicht gelingen!«

Er schnellte sich empor, aus der Grube heraus, wie ein Panther aus seiner Höhle springt. Richardt faßte ihn; Fritz und Gebhardt von Königsau griffen zu. Er schlug mit den Fäusten um sich wie ein Rasender.

»Vater Main, Deine Stunde ist gekommen. Uns sollst Du nicht entwischen, wie Du aus Metz entwichen bist!« sagte Richardt, indem er ihn zu packen suchte.

Der Mörder erkannte die Gefahr, in welcher er schwebte. Das verdoppelte, verdreifachte seine an und für sich bereits ungewöhnlichen Kräfte.

»Ihr kennt mich!« rief er. »Nun, so wißt Ihr auch, daß ich nicht mit Euch spaßen werde.«

Er ließ sich nicht anfassen. Er schlug mit den Fäusten und stieß mit den Füßen. Es gelang ihm, erst den Einen, dann den Anderen von sich abzuhalten. Dabei entfernte er sich von der Grube. Gerieth er in das Dunkel, war es noch schwieriger, ihn zu halten.

»Nur d'rauf!« gebot Richardt. »Fassen, fassen müssen wir ihn. Dann ist er unser.«

»Versucht es, Ihr Knaben, Ihr Jungens!«

Auch der Krämer hatte sich herausschnellen wollen; aber Lemarch hatte sich auf ihn geworfen. Er hielt ihn fest, aber mehr konnte er nicht. Um ihn zu fesseln, dazu waren Zwei nöthig, und Drei hatten ja bereits mit dem wüthenden Vater Main zu thun.

Der alte Capitain war im ersten Augenblicke ruhig liegen geblieben. Er war von jeher mehr schlau als kühn gewesen; das zeigte sich auch hier. Erst als er bemerkte, daß Vater Main Mehrere beschäftigte, machte er den Versuch, sich zu erheben. Er sah die hohe Gestalt seines alten Erzfeindes vor sich stehen, der die Arme über der Brust verschränkt hielt und sich um die Anderen gar nicht kümmerte.

»Königsau!« entfuhr es ihm.

»Richemonte! Heute rechnen wir ab!« tönte es ihm kalt, stolz und drohend entgegen.

Der Capitain überflog mit einem schnellen Blicke die Scene. Er sah sich dem Feinde allein gegenüber; das stählte seinen Muth.

»Ja, heute rechnen wir ab!« erwiderte er. »Heute giebt es das letzte Facit, und das ist Dein Tod!«

Im Nu raffte er die Hacke auf und drang damit auf den alten Hugo ein. Dieser stieß ein höhnisches Lachen aus, bückte sich, sprang zur Seite und schlug dem Gegner die Faust unter das Kinn, daß diesem ein heiserer Schmerzensschrei entfuhr und ihm die Hacke aus der Hand flog. Sie kam an eine Wurzel zu liegen, so daß die Spitze nach oben kam.

»Hund, das war Dein letzter Hieb!« brüllte Richemonte.

Er that einen mächtigen Satz auf den Gegner zu. Dieser wich abermals geschickt zur Seite, faßte ihn dann mit beiden Händen, hob ihn empor wie einen Knaben und schleuderte ihn dann zur Erde.

Ein fürchterlicher, entsetzlicher Schrei erscholl aus Richemonte's Munde. Er blieb liegen, ohne sich zu regen.

»Da hast Du es!« sagte der Sieger. »Jetzt her mit Dir!«

Er zog zwei Stricke hervor, band den Besinnungslosen die Arme und die Füße zusammen und wendete sich nun den Anderen zu.

Jetzt endlich war Vater Main überwältigt worden. Er schäumte wie ein wildes Thier. Die Drei waren eben dabei, ihn zu binden.

»Hierher, zu mir!« bat Lemarch.

Der alte, tapfere Hugo eilte hinzu und half, den Krämer fesseln. Er wurde neben Vater Main geworfen. Als man auch Richemonte diese Stelle anweisen wollte, zeigte es sich erst, daß Großpapa Königsau ihn so auf die Hacke geschleudert hatte, daß ihm die Spitze derselben in den Rücken gedrungen war.

»Ist es tödtlich?« fragte Fritz.

»Vielleicht,« antwortete Richardt. »Wollen ihn, so gut es geht, verbinden.«

Selbst während man dies that, blieb er besinnungslos.

»Was nun?« fragte Lemarch. »Die Casse ist da.«

»Aber fortschaffen können wir sie nicht. Das muß berechtigteren Leuten vorbehalten bleiben. Füllen wir die Grube wieder zu, und zwar so, daß man keine Spur der Arbeit, welche hier gethan worden ist, entdecken kann.«

Das geschah. Zu allerletzt wurde die Stelle mit den massenhaft umherliegenden Reisignadeln so überdeckt, daß es unmöglich war, zu sehen, daß man hier gegraben hatte. Freilich hatten sie während dieser Beschäftigung mehrere Stunden zugebracht.

»Was thun wir mit dem Werkzeuge und der Laterne?« meinte Hugo von Königsau. »Eingraben?«

»Nein,« sagte Richardt. »Das würde abermals Arbeit verursachen und könnte uns verrathen. Wir nehmen sie mit hinab und werfen sie in das Wasser.«

Das wurde acceptirt. Als man nun zum endlichen Aufbruche fertig war, stellte es sich heraus, daß Richemonte getragen werden müsse. Vater Main wollte nicht laufen.

»Hier ist der Schaufelstiel. Macht ihm Beine!« meinte der Major. »Uebrigens wollen wir den Kerls Knebel in den Mund stecken. Sie könnten uns sonst unterwegs in Unangelegenheit bringen.«

Dies geschah und nun setzte sich der Zug in Bewegung.

Unten im Thale angekommen, weckten Richardt und Fritz den Hausknecht des Gasthofes, um sich ihre Pferde ausliefern zu lassen. Die Gefangenen wurden festgeschnallt, was bei Richemonte allerdings höchst schwierig war. Dann trat die Cavalcade ihren Rückweg an.

Richemonte war aufgewacht. Ein immerwährendes Aechzen und Stöhnen ließ errathen, welche Qualen er auszustehen hatte; darauf konnte aber keine Rücksicht genommen werden. Möglichst im Galopp ging es durch Bouillon und dann der französischen Grenze entgegen, über welche sie mit Hilfe eines Seitenweges, der zufälliger Weise nicht von einem Posten besetzt war, glücklich gelangten.

Die Gefangenen wurden nach Sedan ausgeliefert.

Die Frau des Krämers erhielt durch unbekannte Hand einen Brief ihres Mannes, in welchem er sie benachrichtigte, daß er auf kurze Zeit verreist sei, aber bald zurückkehren werde; sie solle dem Geschäfte indessen vorstehen. Die Mutter des Lehrlings empfing ebenso von unbekannter Hand ein Geldgeschenk, durch welches sie in Stand gesetzt wurde, ihre Lage aufzubessern.

Richemontes Verletzung war tödtlich. Sie verursachte ihm so entsetzliche Schmerzen, daß er wie ein angespießter Eber brüllte. Und diese Qualen waren es, welche ihn mürbe machten, so daß er ein vollständiges Geständniß aller seiner Sünden und Verbrechen ablegte.

Es war ihrer eine schaurige Zahl. Die Vernehmung erforderte so viel Zeit, daß dieselbe unterbrochen werden mußte. Von Seiten des herbeigerufenen Arztes wurden alle Mittel angewendet, den Tod von dem Verbrecher hinzuhalten; was auch auf einige Zeit noch gelang.

*


 << zurück weiter >>