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»Haben Sie keine Sorge! Das werden wir wohl sehr gern bleiben lassen. Heute zum letzten Male, dann nie wieder. Also bitte, zahlen Sie aus!«
»Gleich, gleich. Erlauben Sie mir nur, für einen Augenblick zu meiner Tochter zu gehen.«
»Wozu?«
»In ihrem Zimmer befindet sich meine Kasse.«
»Ach so!« sagte der Bajazzo höhnisch.
Vater Main lachte grad hinaus.
»Wirklich?« sagte er. »Wie wunderbar klug. Das haben Sie sich wirklich nicht schlecht ausgesonnen, mein bester Monsieur Lemartel. Sie gehen zu Ihrer Tochter und bringen anstatt des Geldes die Polizei!«
Der Lumpenhändler erschrak, als er hörte, daß seine Absicht durchschaut sei. Er antwortete schnell:
»Wie können Sie das denken, Messieurs!«
»O, auf diesen Gedanken ist sehr leicht zu kommen. Und überdies sieht man es Ihnen sehr deutlich an, daß es Ihnen nur darum zu thun ist, aus dem Zimmer zu kommen.«
»Das fällt mir nicht ein. Ich kann Ihnen ja nichts geben, wenn ich das Geld nicht holen darf!«
»Zeigen Sie uns Ihre Brieftasche. Enthält sie wirklich kein Geld, so wollen wir es glauben, daß Sie es bei Ihrer Tochter haben. In diesem Falle dürfen Sie das Zimmer verlassen; wir aber gehen natürlich mit.«
»Es ist nichts drin!«
Bei diesen Worten that er einige Schritte nach der Thür, durch welche sich seine Tochter zurückgezogen hatte. Schnell aber stellte Vater Main sich ihm in den Weg.
»Halt!« sagte er. »Ohne unsere Erlaubniß kommen Sie nicht fort. Heraus mit der Brieftasche!«
»Soll ich etwa um Hilfe rufen?«
»Das werden Sie nicht!«
Als er das sagte, faßte er Lemartel mit beiden Händen bei der Gurgel. Dieser wollte schreien, brachte aber keinen Laut hervor. Er griff nach seinem Feinde, aber in demselben Augenblicke packte ihn auch der Bajazzo so fest, daß er sich nicht zu rühren vermochte. Sein Gesicht wurde erst roth und dann blau; er vermochte nicht, Athem zu schöpfen und verlor die Besinnung.
»Da, laß ihn fallen!« sagte der frühere Schänkwirth.
Sie ließen den Bewußtlosen auf die Diele niedergleiten.
»Aber, wenn er erwacht, wird er uns verrathen,« meinte der Bajazzo.
»Dagegen giebt es ein sehr gutes Mittel.«
»Welches?«
»Hier dieses.«
Bei diesen Worten zog er ein Messer hervor und stieß es dem Lumpenkönige bis an das Heft in die Brust.
»Herrgott!« stieß der Bajazzo erschrocken hervor.
»Dummheit! Ich glaube gar, Du erschrickst! Sei kein Kind! Meine Sicherheit ist mir lieber als das Leben dieses Menschen. Nun laß uns einmal nachsehen!«
Er zog dem regungslos Ausgestreckten die Brieftasche aus dem Rocke und öffnete sie.
»Donnerwetter!« sagte er, im höchsten Grade erfreut. »Da drinn steckt ja ein ganzes Vermögen!«
»Hat er kein Portemonnaie bei sich?«
»Ja, hier in der Hosentasche. Ah, auch Gold und Silber drinn!«
»Und die Uhr, die Ringe?«
»Unsinn! Diese Sachen könnten uns verrathen. Wir haben genug. Komm!«
»Halt! Erst die Bärte und Perrücken wieder angelegt.«
»Alle Teufel, das hätte ich beinahe vergessen! Das wäre eine schöne Geschichte gewesen.«
Sie legten die erwähnten Gegenstände wieder an und entfernten sich sodann von dem Schauplatze ihres Verbrechens.
Agnes hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Da zwischen demselben und demjenigen, in welchem sich ihr Vater befand, ein drittes lag, so war kein Laut der Unterredung des Letzteren mit den beiden Raubmördern zu ihr gedrungen. Sie wartete eine sehr lange Weile und trat dann in den Zwischenraum, um zu horchen, ob der Besuch sich noch immer bei dem Vater befinde. Als sie nichts hörte, öffnete sie die Thüre. Die Männer waren fort; aber der Vater lag am Boden mit dem Messer in der Brust.
Sie stieß einen fürchterlichen Schrei aus und sank neben ihm nieder. Das Bewußtsein wollte ihr schwinden; aber die Kindesliebe war stärker als der Schreck! Sie dachte nicht daran, das Messer aus der Brust zu ziehen. Sie erfaßte den Kopf des Vaters und rief:
»Vater, mein Vater! Bist Du todt? O Gott, o mein Gott! Vater erwache, erwache!«
Sie drückte und schüttelte ihn. Sie küßte ihn. Sie rief ihm die zärtlichsten Namen in das Ohr. Und da, da öffnete er die Augen und richtete den gläsernen Blick auf sie.
»Vater, mein guter Vater! Sprich! Rede! Siehst Du mich? Erkennst Du mich?«
Sein Blick gewann Ausdruck. Seine Hand bewegte sich nach der Brust und griff nach dem Hefte des Messers. Da schien er zu erkennen, in welcher Lage er sich befinde.
»Agnes!« flüsterte er.
»Vater! Hast Du Schmerz?«
Ihr Blick war mit entsetzlicher Angst auf ihn gerichtet. Sein Gesicht wurde fahl; das Blut war aus seinen Lippen gewichen. Kaum hörbar sagte er:
»Vater Main war es.«
»Vater Main? Wer ist das denn?«
»Und Lermille, der Bajazzo.«
»Gott, mein Gott! Sie haben Dich verwundet. Sie wollten Dich tödten!«
Sie griff nach dem Messer.
»Nein,« sagte er mit abwehrender Geherde. »Hier habe ich – oh, sie ist fort!«
Er hatte nach der Stelle gefühlt, an welcher sich die Brieftasche befunden hatte.
»Was? Was ist fort?«
»Das Geld. Sie haben – mich beraubt.«
»Mein Heiland! Hilf Himmel, ich vergesse die Hauptsache; ich muß fort, um Hilfe zu holen!«
Sie fuhr empor, um fortzueilen. Er aber hielt sie durch einen Wink zurück.
»Warte, warte,« erklang es stöhnend. »Ich muß, muß, muß Dir – –«
Einige Tropfen Blutes quollen zwischen seinen Lippen hervor. Sie sah es und schrie laut auf.
»Ag – – nes ! « röchelte er. »Komm – höre mich!«
Sie merkte, daß er ihr Etwas sagen wolle. Sie nahm alle ihre Kraft zusammen, um nicht niederzustürzen. Sie kniete sich neben ihm hin und fragte:
»Was willst Du? Sage es! «
»Ich – – ich heiße – nicht – – nicht Lemartel.«
»Wie denn?« fragte sie schluchzend.
»Henry – – o – mein – mein Gott! Daheim in – Paris – Geldschrank – Papier lesen – –«
Er hatte das mit fürchterlicher Anstrengung hervorgestoßen, dann sank sein Kopf nach hinten. Ihre Angst erreichte den höchsten Grad. Sie raffte sich auf, stürzte nach der Thür, riß diese auf und schwankte hinaus.
»Hilfe! Mörder!« schrie sie auf.
Dann brach sie zusammen.
Ihr Ruf wurde gehört. Die Bedienung eilte herbei. Eine Minute später hatte die Schreckenskunde von dem Geschehenen sich durch das ganze Hotel verbreitet. Alles eilte herbei. Unter diesen Leuten befand sich auch ein Militärarzt. Er untersuchte Agnes und sagte:
»Sie ist nur ohnmächtig. Schafft sie fort und sorgt für sie. Sie darf vorerst die Leiche nicht zu sehen bekommen.«
Diesem Befehle wurde sofort Folge geleistet. Dann trat er in das Zimmer und untersuchte auch Lemartel. Seine Miene verkündete kein freudiges Ergebniß. Dieses Letztere lautete:
»Er ist noch nicht todt. Die Klinge ist in der Nähe des Herzens eingedrungen. Sobald das Messer herausgezogen wird, muß sich ein Blutstrom ergießen, und er stirbt.« –
Die beiden Mörder waren unangefochten aus dem Hotel entkommen. Sie mußten zu dem Juden, machten aber einen Umweg, um etwaige Nachforschung irre zu leiten.
Sie begaben sich zunächst nach dem Gouvernementsplatz, dann am Artillerie-Train vorüber nach der Straße, welche sich in der Richtung der Civil- und Militärintendanz theilt. Sie ließen die Erstere zu ihrer Rechten und schritten auf die Letztere zu. Dort angekommen, bemerkten sie eine ungewöhnliche Volksmenge stehen, welche laute freudige, ja begeisterte Ausrufe hören ließ.
»Hurrah, hurrah! Es lebe der Kaiser! Nieder mit Deutschland. Rache für Sadowa! Nieder mit Bismarck.«
Diese Rufe veranlaßten sie, stehen zu bleiben.
»Was giebt's? Was ist geschehen?« fragte der Bajazzo einen der Rufer.
»Das wissen Sie noch nicht?« antwortete dieser.
»Nein, sonst würde ich nicht fragen.«
»Ah, ja. Die Depesche ist ja erst vor Minuten gekommen. Der Kaiser hat Preußen den Krieg erklärt. Die algerischen Regimenter werden marschiren. Alle, Zouaven und Turko's müssen fort!«
»Ist das wahr?«
»Ja, ja; Sie hören es doch!«
Der Bajazzo wollte noch weiter fragen; aber Vater Main nahm ihn beim Arme und zog ihn fort.
»Dummkopf!« raunte er ihm zu. »Wir dürfen uns doch nicht sehen lassen!«
Sie gingen weiter, vorsichtig die hell erleuchteten Stellen der Straße vermeidend.
»Krieg, Krieg!« sagte der Bajazzo. »Weißt Du, was das bedeutet?«
»Daß Preußen fürchterliche Prügel bekommt.«
»Ich meine, was es in Beziehung auf uns bedeutet!«
»Auf uns? Hm! Ja! Man wird aufgeregt sein. Man ist nur mit dem Kriege beschäftigt. Man hat keine Zeit, auf uns zu achten. Ich glaube, wir können es wagen, nach Paris zu gehen.«
»Ja, das meine ich.«
»Ich kann holen, was ich dort versteckt habe. Aber daran können wir ja später denken. Komm nur!«
Sie erreichten glücklich die Wohnung des Juden und wurden von dessen Frau anstandslos eingelassen.
»Nun,« fragte der Alte, »habt Ihr Geld erhalten?«
»Ja,« antwortete Vater Main.
»Genug?«
»Hm, übrig bleibt uns freilich kaum Etwas.«
»Ist auch nicht nöthig!«
»Wie steht es mit den Legitimationen?«
»Sie sind beschafft. Hier, lest!«
Er gab ihnen einige Documente, welche sie sogleich prüften. Dabei befanden sich zwei Pässe, welche ihr ganz genaues Signalement enthielten.
»Sapperment, ist das schnell gegangen!« sagte Vater Main.
»Seid Ihr zufrieden?«
»Ja; sie sind vortrefflich.«
»Ich hoffe, daß Euer Geld ebenso gut ist.«
»Natürlich. An wen haben wir die Ueberfahrt zu zahlen?«
»An mich.«
Sie handelten sich einige Kleidungsstücke ein und bezahlten dann den Juden. Dieser steckte schmunzelnd das Geld in seinen Schrank und sagte:
»Jetzt seht Ihr ein, daß ich es gut mit Euch gemeint habe. Macht Euch nun fertig, die Stadt zu verlassen!«
Es zeigte sich genau so, wie er gesagt hatte: Am Bab el Qued lehnte der Posten am Schilderhause und schien zu schlafen. Sie gelangten unangefochten aus der Stadt.
Als sie dann später die Spitze Pescade erreichten, stieß der Jude einen leisen Pfiff aus. Gleich darauf hörten sie Schritte. Ein Mann tauchte aus dem nächtlichen Dunkel vor ihnen auf.
»Wo ist der Capitän?« fragte der Jude.
»Dort im Boote.«
»Steht Alles gut?«
»Alles. Folgen Sie mir!«
Eine halbe Stunde später kehrte der Jude ganz allein nach der Stadt zurück.
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Die seit längerer Zeit zwischen Frankreich und Preußen herrschende Spannung hatte sich bis zur Unerträglichkeit gesteigert. Es war anzunehmen gewesen, daß die auf künstliche Weise angesammelte Electricität sich mit einem fürchterlichen Schlage entladen werde, und das war nun geschehen.
Napoleon war es gewesen, der diese Entladung herbeigeführt hatte. Um seinem wankenden Throne einen neuen Halt zu geben, mußte er sein unzufriedenes Volk beschäftigen. Er mußte seinen Flitterthron mit neuer Gloire schmücken, und so zwang er den Krieg herbei. Er wußte sehr genau, daß er va banque spielte; aber er glaubte an sein Glück und beging das ungeheure Wagniß.
» Brusquez le Roi!« hatte er seinem Vertreter Benedetti nach Bad Ems telegraphirt.
Das heißt in gutem Deutsch: »Schnauzen Sie den König an!« Benedetti gehorchte diesem Befehle, drängte sich auf der Promenade an König Wilhelm und »schnauzte ihn an«. Er erhielt die verdiente Zurechtweisung, und die Folge davon war Frankreichs Kriegserklärung.
Nun bemächtigte sich ein wahres Fieber des französischen Volkes, ein Fieber, welches seinen Höhepunkt natürlich in der Hauptstadt, in Paris, erreichte. Diese war ein einziges großes Waffenlager. Wehe dem Deutschen, der sich auf der Straße blicken ließ.
In dem bekannten Hause der Rue Richelieu wurde die Glocke der ersten Etage gezogen. Die Wirthin selbst war es, welche öffnete.
»Monsieur Belmonte!« sagte sie, erfreut die Hände zusammenschlagend. »Endlich! Treten Sie ein!«
Sie zog ihn in den Vorsaal und dann in das Zimmer und begrüßte ihn in einer Weise, aus welcher er merkte, daß er ihr höchst willkommen sei.
»Also ist Martin, mein Diener, bereits hier gewesen?« erkundigte er sich.
»Ja, bereits vorgestern. Er meldete mir Ihre Ankunft, und ich freute mich sehr, Sie wieder bei mir zu haben.«
»Lange wird dies freilich nicht währen.«
»Nicht? Wie schade!«
»Daran ist diese Kriegserklärung schuld.«
»Ja, dieser Krieg! Man wird dem Könige von Preußen zeigen, welche Dummheit er begangen hat!«
»Ja, eine Dummheit ist begangen worden, eine sehr große!«
»Müssen auch Sie eintreffen?«
»Ja.«
»Und mit in's Feld?«
»Freilich.«
»So gebe Gott, daß Sie gesund wiederkommen!«
»Ich danke, Madame! Also ich darf mein früheres Logis für die kurze Zeit, die mir erlaubt ist, wieder beziehen?«
»Natürlich, natürlich!«
»Hat Martin Ihnen gesagt, wo er wohnt?«
»Ja wohl! Denken Sie sich, daß er anderwärts logiren wollte! Ich habe das natürlich nicht zugegeben.«
»So wohnt er bei Ihnen?«
»Das versteht sich ja ganz von selbst!«
»Und wo befindet er sich jetzt?«
»Eben in Ihrer Wohnung. Er hat Ihren Koffer mitgebracht und Alles ausgepackt. Sie werden das Logis ganz genau so finden, wie Sie es verlassen haben. Kommen Sie!«
Sie führte ihn in die betreffenden Zimmer, wo er von dem braven Martin freudig empfangen wurde. Als sie sich entfernt hatte und Herr und Diener nun allein waren, sagte der Erstere:
»Nun, hast Du Neues?«
»Genug! Eine ganze Menge von Notizen.«
»Ich auch. Meine Ernte ist sehr reichlich.«
»Wie lange bleiben wir hier?«
»Wohl kaum länger als bis morgen. Das Terrain wird zu gefährlich. Wir arbeiten diese Nacht, und dann können wir aufbrechen.«
»Schön! Ich hoffe, daß wir recht bald wiederkommen, und zwar nicht als Weinhändler. Aber, mein sehr vorzüglicher Monsieur Belmonte, wissen Sie, was ich für eine Entdeckung gemacht habe?«
»Nun?«
»Eine höchst, höchst wichtige!«
»So laß hören!«
»Vater Main –«
»Was Teufel! Ist's wahr?«
»Ja.«
»Hast Du ihn gesehen?«
»Ich hoffe es.«
»Du hoffst es? Das klingt freilich sehr ungewiß.«
»Hm! Er war sehr gut verkleidet, fast noch besser als ich selbst; aber seine Stimme war es ganz genau.«
»Wann hast Du ihn gesehen?«
»Heute früh.«
»Wo?«
»Auf dem Versailler Bahnhof. Ich lungerte dort herum, als der Zug anlangte. Unter den ausgestiegenen Passagieren waren Zwei, welche hart an mir vorüberstrichen. Sie sprachen miteinander, und der Kukuk soll mich reiten, wenn ich den Einen nicht an der Stimme erkannte.«
»Eben Vater Main?«
»Ja.«
»Und der Andere?«
»Ich weiß nicht, wohin ich ihn thun soll; aber seine Haltung und sein Gang schienen mir bekannt zu sein. Es läßt sich vermuthen, daß auch er verkleidet war.«
»Wohin gingen sie?«
»Sie schlugen die für uns glücklichste Richtung ein, welche es nur geben kann, nämlich nach dieser Straße.«
»Ah! Bist Du ihnen gefolgt?«
»Natürlich. Sie gingen, denken Sie sich den Zufall, in das uns hier gegenüberliegende Haus.«
»Und Du ihnen nach?«
»Ja, freilich nur bis in den Hof, um zu sehen, wo sie verschwinden würden.«
»Nun?«
»Da drüben im Hinterhause, parterre, giebt es eine sogenannte Destillation. Man destillirt aber nicht, sondern man verschänkt nur – Schnaps natürlich. Da hinein gingen sie. Ich habe mich dann hier an das Fenster gestellt und aufgepaßt. Sie sind noch nicht wieder heraus.«
»Sapperment! Warum bist Du nicht auch hinein?«
»Konnte ich? Man müßte sich verkleiden.«
»Nun, so sehe ich mich genöthigt, das Versäumte nachzuholen. Ich muß wissen, wer der Andere ist.«
»Hm! Eine Ahnung habe ich freilich!«
»Welche?«
»Der Gang war ganz derjenige, den ich an jenem Harlekin beobachtet habe, der bei Vater Main verkehrte.«
»Alle Teufel! Meinst Du den Bajazzo Lermille?«
»Ja.«
»Wenn Du Dich nicht irrtest! Das wäre ein Fang!«
»Vater Main ein noch viel größerer. Er war es ja, der Fräulein von Latreau einsperrte. Der Bajazzo war da wohl nicht dabei.«
»Aber er ist mir in anderer Beziehung wichtig. Hast Du die Schminke und alles Andere da?«
»Alles.«
»So will ich mir sofort ein anderes Gesicht machen. Ich muß hinüber; ich muß wissen, woran ich bin.«
Martin öffnete einen Doppelboden des Koffers, unter welchem sich allerlei Heimlichkeiten befanden, von denen er das Nöthige auszuwählen begann. Plötzlich hielt er in dieser Beschäftigung inne, schnippste mit dem Finger und sagte:
»Sapperlot, kommt mir da ein Gedanke!«
»Ein guter?«
»Ich hoffe es.«
»Laß hören!«
»Wollen Sie Vater Main arretiren lassen?«
»Natürlich.«
»Dann kommen Sie mit der Polizei in Berührung, und das müssen wir jetzt vermeiden.«
»Meine Papiere sind ausgezeichnet!«
»Ja, aber besser ist besser. Wissen Sie, wer am Meisten darauf brennt, ihn zu fangen?«
»Nun?«
»Der General von Latreau.«
»Natürlich. Wie aber kommst Du auf diesen? Steht seine Person mit Deinem plötzlichen Einfalle in Beziehung?«
»Ja. Wie wäre es, wenn wir diesen braven Vater Main dem General nach Schloß Malineau schickten?«
»Pah! Er würde sich hüten, hinzugehen.«
»Oder wir selbst bringen ihn hin.«
»Wie wollen wir das anfangen?«
»O, es ist nicht sehr schwer. Ich denke mir, daß Vater Main nur für kurze Zeit hier sein wird. Vielleicht hat er eine Kleinigkeit hier zu thun. Jedenfalls aber darf er sich nicht sehen lassen. Ihm ist ein Asyl nothwendig, wo man ihn nicht kennt. Wie nun, wenn ihm dies in Malineau scheinbar geboten würde?«
»Hm! Dieser Gedanke hat allerdings Etwas für sich. Wollen sehen. Ich muß erst recognosciren, ehe ich einen Entschluß fassen kann. Freilich, wenn der Andere wirklich der Bajazzo wäre, so könnte man den Beiden gar keine bessere Falle stellen, als die ist, die Du meinst. Vor allen Dingen will ich Toilette machen.«
Mit Hilfe Martins war er in kurzer Zeit so verwandelt, daß ihn kein Mensch erkennen konnte. Der Diener mußte dafür sorgen, daß er während des Fortgehens nicht von der Wirthin bemerkt wurde; dann verließ er das Logis.
Er schritt über die Straße hinüber, trat in das gegenüber liegende Haus und ging in den Hof desselben. Er bemerkte, daß die angegebene Destillation eine ganz gewöhnliche Spelunke sei, ein Umstand, mit welchem er sehr zufrieden war. Er trat ein und befand sich in einem nicht sehr großen, aber desto niedrigeren Raume, in welchem es fast unausstehlich nach Schnaps und schlechtem Tabak roch.
An einem schmutzigen Tische saßen zwei Männer, in denen er die Betreffenden vermuthete. Sie hatten eine Flasche Branntwein und zwei Gläser vor sich stehen. Sonst befand sich Niemand da.
Er grüßte und setzte sich an den Nebentisch. Sie dankten mürrisch und schienen sich nicht weiter um ihn bekümmern zu wollen. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, fragte er:
»Messieurs, ist vielleicht Einer von Ihnen der Wirth?«
»Nein,« antwortete Vater Main.
»Wo ist er denn?«
»Da draußen.«
Er deutete nach einer dem Eingange entgegengesetzten Thür. Belmonte klopfte an dieselbe, und nun trat der Wirth ein, von welchem er einen Schnaps verlangte. Er erhielt denselben, und dabei fragte der Wirth:
»Sie sind fremd in dieser Straße?«
»Ja.«
»Dachte es. Wenigstens waren Sie noch nicht bei mir?«
»Ich bin überhaupt fremd in der Residenz. Ich war noch nie in Paris.«
»Und kommen grad jetzt her! Das ist befremdlich.«
»Wieso?«
»Nun, Sie sind doch wohl noch nicht über das Militärdienstalter hinaus, und jetzt hat jeder Kriegspflichtige an seinem Orte einzutreffen.«
»Das ist sehr richtig. Aber grad deshalb komme ich nach Paris. Ich muß mit in's Feld, und daheim mangelt es an Ersatz. Den will ich hier suchen.«
»Ah so! Na, da suchen Sie.«
Er entfernte sich wieder, und Belmonte gab sich Mühe, einen Schluck des miserablen Getränkes hinunter zu würgen.
Die beiden Anderen musterten ihn mit prüfendem Blicke, dann fragte Vater Main:
»Darf man wissen, woher Sie sind?«
»Seitwärts von Metz. Es ist das eine verdammte Geschichte.«
»Was?«
»Mein Vater ist nämlich Schloßbeschließer und zugleich Oeconomieverwalter. In Folge des Krieges werden fast alle unsere Leute eingezogen, und sie fehlen daheim. In der Gegend giebt es keinen Ersatz, und so schickte mich der Vater nach Paris. Ich habe nur einen einzigen Menschen gefunden, der sich engagiren ließ, nun aber brauche ich drei. Kein Mensch will mit, obgleich die Stellen sehr gute sind.«
»Was sind es für welche?«
»Die Stelle eines Forstwartes und seines Gehilfen.«
»Da sind doch wohl Forstkenntnisse erforderlich?«
»O nein. Die Beiden haben nur darauf zu sehen, daß nichts gestohlen wird.«
»Hm! Wann sind diese Stellen zu besetzen?«
»Sofort.«
»Welche Empfehlungen werden verlangt?«
»Empfehlungen? Mein Gott, wozu Empfehlungen?«
»Aber Sie können doch nicht den Ersten Besten engagiren!«
»Man muß dies leider. Es ist Niemand zu bekommen.«
Es entstand eine Pause. Belmonte griff nach einem Zeitungsblatte und las. Die beiden Anderen sprachen leise mit einander. Vater Main flüsterte leise:
»Du, Bajazzo, was sagst Du dazu?«
»Hm! Nicht übel!«
»Forstwart, man steckt im Walde; kein Mensch hat sich um Einen zu bekümmern. Man könnte da Gras über die Geschichte wachsen lassen. Nicht?«
»Freilich! »Zudem sieht dieser Kerl sehr dumm aus. Wenn sein Vater nicht gescheidter ist, so sind wir geborgen. Soll ich mit ihm reden?«
»Meinetwegen. Aber wir müssen doch vorher erst unseren Plan zur Ausführung bringen.«
»Natürlich. Dazu genügt der heutige Abend. Mein früheres Haus steht leer. Sobald es dunkel ist, können wir unbemerkt hinein. In einer halben Stunde ist die Sache gemacht. Dann sind wir in Paris fertig.«
»Ist's auch wirklich wahr mit dem Löwenzahn?«
»Ja, ich habe ihn noch. Er ist bei den anderen Sachen.«
»Wollen wir damit zum Grafen Lemarch?«
»Das ist noch zu überlegen. Ich halte es für gefährlich, verheimliche mir aber nicht, daß wir ihm ein hübsches Sümmchen abnehmen könnten.«
»Das wäre nicht nothwendig, wenn diese verdammte Polizei nicht die Nummern der Kassenscheine, die der Lumpenkönig bei sich hatte, veröffentlicht hätte.«
»Wir konnten nicht wissen, daß er sie kurz vorher vom Bankier geholt hatte, der dann dummer Weise das Verzeichniß einschickte. Wenn wir an den Grafen wollten, so müßtest Du gehen. Ich darf mich nicht sehen lassen.«
So unterhielten sie sich noch ein Weilchen flüsternd, dann wendete sich Vater Main an Belmonte:
»Würden Sie sich wohl ein Wenig zu uns hersetzen?«
»Warum?« fragte er scheinbar gleichgiltig.
»Wir möchten in Ihrer Angelegenheit mit Ihnen sprechen.«
»Ach so.«
Er setzte sich hin und erkundigte sich:
»Wissen Sie vielleicht eine geeignete Persönlichkeit?«
»Ja, zwei sogar.«
»Ach! Das wäre mir lieb. Wer sind diese Beiden?«
»Wir selbst.«
»Ah, Sie? Hm! Da darf ich wohl fragen, wer Sie sind?«
»Ja. Hier ist mein Paß.«
»Und hier der meinige.«
Er nahm die beiden Pässe in Empfang und prüfte sie. Er schien sehr befriedigt zu sein, denn er nickte einige Male mit dem Kopfe und sagte dann:
»Schön, schön! Nur muß ich Ihnen sagen, daß ich nicht die Macht habe, den Gehalt zu bestimmen. Das ist meines Vaters Sache.«
»O, das hat ganz und gar keine Eile!«
»Also Sie haben Lust?«
»Ja.«
»Wann können Sie antreten?«
»Baldigst. Wann wollen Sie zurück?«
»Sobald ich eben die betreffenden Drei engagirt habe. Einen habe ich; nun Sie Zwei, da bin ich eigentlich fertig!«
»Wir haben aber heute noch eine kleine Angelegenheit in Ordnung zu bringen.«
»Gut, so warte ich.«
»Morgen können wir jedenfalls mit. Vielleicht macht es sich auch, daß wir bereits mit dem Nachtzuge aufbrechen könnten. Wo logiren Sie?«
»Gar nicht. Ich kann bleiben, wo es mir beliebt.«
»Schön! Wollen wir uns heut Abend hier treffen?«
» Gut. Wann?«
»Es wird spät werden. Vielleicht elf Uhr?«
»Ich werde mich einstellen.«
»So sind wir also einig. Dürfen wir fragen, wie Ihre Heimath heißt?«
»Schloß Malineau bei Etain.«
Vater Main mußte eine Bewegung der Ueberraschung unterdrücken. Er fragte:
»Wem gehört dies?«
»Dem Baron von Courcy.«
»Ich denke, es ist Eigenthum des Generals Latreau!«
»Das war es. Er hat es verkauft.«
»Ach so. Die Herrschaft wohnt dort?«
»Nein. Nur wir wohnen da. Es ist sehr einsam, aber schön. Es wird Ihnen gefallen.«
Er verließ das Local eher als sie. Es gelang ihm, unbemerkt in sein Logis zu gelangen. Martin hatte am Fenster gestanden und seine Rückkehr beobachtet.
»Sie waren noch drüben?« fragte er.
»Ja.«
»Nicht wahr, es war Vater Main?«
»Ja.«
»Und der Andere?«
»War der Bajazzo.«
»Sapperment! Haben Sie mit ihnen gesprochen?«
»Nicht nur gesprochen; ich habe sie sogar engagirt.«
»Engagirt? Wieso?«
»Als Forstbedienstete.«
»Etwa in Schloß Malineau?«
»Ja.«
»Alle Wetter! Sie werden hinreisen?«
»Wir Beide und sie Beide.«
Er erzählte seine Unterredung, die er mit den zwei Verbrechern gehabt hatte, und fügte hinzu:
»Du bist also auch engagirt und zwar – na, als was denn wohl? Was denkst Du?«
»Gärtnergehilfe.«
»Gut. Nun aber muß ich einen Brief nach Malineau schreiben.«
»An den General?«
»Nein, sondern an Monsieur Melac blos. Ich habe meine Absicht, dem General vorher nichts wissen zu lassen. Bleibe hier am Fenster und beobachte das Haus da drüben. Der Abend wird bald hereinbrechen; dann stellen wir uns Beide auf die Lauer.«
Er schrieb den Brief, welchen Martin dann zur Post besorgte; dann begaben sich Beide auf die Straße. Sie sagten sich, daß Vater Main und der Bajazzo jetzt wohl mit einander ausgehen würden.
Sie hatten noch nicht lange gewartet, so sahen sie, daß sie sich nicht getäuscht hatten. Die beiden Erwarteten traten aus dem Thore und schritten langsam die Straße hinab.
»Wir gehen ihnen nach,« sagte Belmonte. »Aber wir theilen uns; Du drüben und ich hüben. Sie dürfen uns nicht bemerken.«
Sie trennten sich und bemerkten nach einiger Zeit zu ihrem Erstaunen, daß sich die verkappten Flüchtlinge nach der Straße begaben, in welcher die frühere Restauration von Vater Main lag.
Dort angekommen, blieb der Bajazzo auf der Straße stehen, jedenfalls um Wache zu halten. Der Schänkwirth aber schlüpfte, nachdem er sich vorsichtig umgesehen hatte, in den Eingang, an welchem es jetzt nicht einmal eine Thür gab. Das Haus schien als Ruine betrachtet zu werden.
Nach ungefähr einer halben Stunde kehrte er zurück und entfernte sich mit dem Bajazzo. Die beiden Verfolger blieben in angemessener Entfernung hinter ihnen.
Der Weg ging einer besseren Gegend zu, bis endlich die Beiden einige Augenblicke vor einem palastähnlichen Gebäude stehen blieben. Der Bajazzo trat dort ein, und Vater Main zog sich nach der gegenüberliegenden Straßenseite zurück.
»Was mag der Kerl in diesem Hause wollen?« fragte Martin.
»Das möchte auch ich wissen. Ohne guten Grund wagt sich ein solcher Mensch nicht in ein Palais. Ich muß erfahren, wem es gehört.«
»Später im Vorbeigehen.«
»An ein Vorbeigehen dürfen wir nicht denken. Ich vermuthe, daß die Beiden nun wieder umkehren werden, um nach der Destillation zu gehen, in welcher sie mich erwarten. Sie müssen also, wenn wir hinter ihnen gehen wollen, erst an uns vorüber.«
»So ist es jedenfalls besser, wir gehen vor ihnen her.«
»Nein. Wir müssen zurückbleiben, um zu erfahren, wem das Palais gehört. Da, dieser Hausflur ist nicht erleuchtet. Treten wir ein.«
»Aber wenn Jemand kommt und uns fragt, was wir hier wollen?«
»Hoffentlich glaubst Du nicht, daß ich um eine Antwort verlegen sein werde.«
Sie huschten in den dunklen Flur des Hauses, an welchem sie gestanden hatten, und beobachteten von da aus den Eingang des Palais, in welchem der Bajazzo verschwunden war.
Sie hatten noch nicht längst da Platz genommen, so hörten sie nahende leise Schritte.
»Zurück!« flüsterte Belmonte seinem Diener zu.
Sie hatten kaum Zeit, einige Schritte tiefer in den Flur zu treten, so huschte – Vater Main hinein. Er schien seinen Cumpan hier erwarten zu wollen. Natürlich nahmen sich nun die Beiden in Acht, nicht das geringste Geräusch hören zu lassen.
Als der Bajazzo drüben eingetreten war, hatte ihn ein Diener gefragt, was er hier zu suchen habe.
»Hier wohnt der Graf de Lemarch?« erkundigte er sich.
»Ja.«
»Ist dieser Herr zu Hause?«
»Ja. Für Sie aber wohl schwerlich.«
»Vielleicht doch. Ich habe mit ihm zu sprechen.«
Der Diener musterte ihn mit einem geringschätzenden Blicke und meinte:
»Ich gebe Ihnen aber doch den Rath, lieber zu verzichten.«
»Und ich rathe meinerseits Ihnen, abzuwarten, was der gnädige Herr beschließen wird.«
»Hm! Ist's denn wichtig?«
»Allerdings.«
»Nun, diese Angelegenheit gehört nicht in mein Ressort. Gehen Sie eine Treppe hoch in das Anmeldezimmer!«
Dort erging es dem Bajazzo ebenso. Der Kammerdiener glaubte, ihn abweisen zu müssen. Er ging aber nicht und sagte endlich:
»Melden Sie, daß ich den gnädigen Herrn in Beziehung auf den Herrn Rittmeister zu sprechen habe!«
»Sie meinen den jungen Herrn?«
»Ja.«
»Sonderbar! Wie ist Ihr Name?«
»Den werde ich dem Grafen selbst nennen.«
Der Diener zuckte die Achsel, verschwand aber doch in der nächsten Thür. Dort befand sich das Rauchzimmer, und da saß – – eben der junge Graf, welcher als Maler Haller in Berlin gewesen war.
»Was giebt es?« fragte er den Kammerdiener.
»Ein fremder Mensch wünscht den gnädigen Herrn zu sprechen.«
»Meinen Vater?«
»Ja.«
»Vater hat keine Zeit. Er ist in der Bibliothek beschäftigt.«
»Die Person beharrt aber auf der Bitte.«
»Was will er?«
»Er behauptet, wegen Ihnen zu kommen.«
»Wegen mir? Hm! Wer ist der Mann?«
»Er will seinen Namen nur dem gnädigen Herrn nennen.«
»Alle Wetter! Das klingt ja recht geheimnißvoll! Warte, ich werde ihn selbst empfangen. Er soll kommen!«
Der Diener öffnete, und der Bajazzo trat ein. Er hatte erwartet, den alten Grafen zu sehen; als er anstatt dessen den Chef d' Escadron erblickte, befiel ihn eine Verlegenheit, welche er vor Lemarch nicht zu verbergen vermochte. Dieser bemerkte es und fragte in einem hörbar mißtrauischen Tone:
»Was wollen Sie?«
»Ich bitte, den gnädigen Herrn Vater sprechen zu dürfen!«
»Er hat keine Zeit. Sagen Sie mir, was Sie zu sagen haben!«
»Das geht nicht an.«
»Warum nicht? Sie kommen meinethalben, wie ich gehört habe. So kann ich auch verlangen, zu erfahren, was Sie wollen. Also reden Sie!«
»Es geht wirklich nicht. Wenn der gnädige Herr nicht zu sprechen ist, so werde ich mir gestatten, ein anderes Mal wieder zu kommen.«
Er machte eine Bewegung, sich zu entfernen.
»Halt!« sagte der Rittmeister. »Sie bleiben! Sie kommen mir verdächtig vor. Sie verschweigen Ihren Namen. Sie wollen mit Vater über mich sprechen, und zwar über einen Gegenstand, den ich nicht erfahren soll. Ich befehle Ihnen, Ihr Anliegen vorzubringen!«
»Es ist unmöglich!«
»Ah, das kennen wir! Ich werde nach Polizei senden!«
Er that einen Schritt nach dem Tische, auf welchem die Klingel lag. Da bemächtigte sich des Bajazzos eine ungeheure Angst. Mit der Polizei durfte er auf keinen Fall zusammenkommen. Daher sagte er schnell in bittendem Tone:
»Verzeihung! Wenn ich lieber schweigen möchte, thue ich das nur um Ihretwillen.«
»So so! Warum!«
»Weil ich nicht weiß, ob Sie davon wissen oder nicht!«
»Wovon?«
»Daß Sie nicht der Sohn des Grafen Lemarch sind!«
Da trat der Rittmeister einen Schritt zurück und sagte, indem sein Gesicht das größte Erstaunen ausdrückte:
»Ich nicht sein Sohn? Mann, sind Sie bei Sinnen?«
»Es ist so, wie ich sage.«
»Daß ich nicht der Sohn des Grafen bin?«
»Ja.«
»Ich habe wirklich große Lust, Sie als einen entsprungenen Tonhäusler festnehmen zu lassen!«
»Sie werden das nicht thun. Ich wollte Ihnen nichts mittheilen. Nun Sie mich aber gezwungen haben, bitte ich Sie, den gnädigen Herrn rufen zu lassen. Er wird bestätigen, was ich gesagt habe.«
Der Rittmeister betrachtete den Sprecher mit weit geöffneten Augen. Dann sagte er:
»Sie sprechen wirklich im Ernste?«
»Ja.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin ein armer Teufel, ein Tischler, und heiße Merlin.«
Das war wieder ein falscher Name, den er sich gab.
»Gut! Kommen Sie!«
Bei diesen in entschlossenem Tone gesprochenen Worten faßte ihn der Rittmeister beim Arme, schob ihn durch eine Thür und dann durch eine zweite, worauf sie sich in der Bibliothek befanden. Dort saß der Graf am Studiertische; er sah auf und richtete einen erstaunt fragenden Blick auf seinen Sohn.
»Pardon, Vater, daß ich störe!« sagte dieser. »Ist Dir vielleicht dieser Mann bekannt? Der Angeredete stand von seinem Stuhle auf, betrachtete den Bajazzo und antwortete:
»Nein. Ich habe ihn nie gesehen, wenigstens nie bemerkt.«
»Er scheint verrückt zu sein; er behauptet, daß ich nicht Dein Sohn bin.«
Der Graf wechselte die Farbe, faßte sich aber schnell und sagte achselzuckend:
»Dann ist er allerdings geistig gestört. Laß ihn gehen.«
Er hatte in dieser Angelegenheit einen einzigen Vertrauten, nämlich Vater Main. Da dieser flüchtig war und nicht wiederkehren konnte, fühlte er sich seiner Sache sicher. Aber der Bajazzo meinte:
»Bitte, Erlaucht, mir zu glauben, daß ich im vollen Besitze meiner Sinne bin. Ja, Sie hatten einen Sohn. Er starb. Ihre Frau Gemahlin war so schwach, so kränklich; sie durfte den Tod des Kindes nicht erfahren. Um sie am Leben zu erhalten, thaten Sie einen für Sie schweren Schritt. Sie verheimlichten ihr den Tod Ihres Sohnes und adoptirten einen anderen Knaben von demselben Alter. Dies war nur dadurch ermöglicht, daß Ihre Frau Gemahlin sich wegen ihrer leidenden Gesundheit für längere Zeit außer Landes befand.«
»Wer hat Ihnen dieses Märchen aufgebunden?«
Seine Stimme klang bei diesen Worten eigenthümlich belegt. Er mußte sich alle Mühe geben, gleichgiltig zu erscheinen.
»Es ist kein Märchen!«
»Was sonst?«
»Die Wahrheit. Sie gaben damals Ihrem Kammerdiener den Auftrag, nach einem geeigneten Kinde zu suchen.«
»Was Sie sagen!«
»Sie schenkten diesem Manne Vertrauen. Später tauschte er es! Sie jagten ihn fort. Er wurde nachher unter dem Namen Vater Main bekannt und berüchtigt.«
»Alle Teufel! Woher haben Sie diese Geschichte?«
»Vom Vater Main.«
»Der Schurke lügt!«
»O, nein, denn ich bin es, der ihm damals den Knaben lieferte, gnädiger Herr.«
»Sie? Sie –!«
»Ja.«
Er nannte das Jahr, den Monat und den Tag ganz genau. Das war dem Grafen zu viel. Er griff sich an den Kopf. Er wußte nicht, was er sagen solle.
»Vater,« sagte der Rittmeister, »beweise diesem Manne, daß er sich irrt!«
Der Graf wendete sich ab. Er kämpfte mit sich selbst. Dann kehrte er sich wieder zu dem Bajazzo und befahl ihm:
»Treten Sie in das vorige Zimmer zurück, und warten Sie, bis ich Sie rufe!«
Der Bajazzo gehorchte. Vater und Sohn standen sich gegenüber; Einer so erregt wie der Andere.
»Vater, wie ist's? Er lügt! Er sagt die Unwahrheit!«
Der Graf schüttelte leise den Kopf und antwortete in gedämpftem Tone:
»Es kommt so plötzlich über mich. Ich kann nicht widerstreben. Bernard, er sagt die Wahrheit.«
Da lehnte sich der Offizier an den Tisch. Er hielt sich an demselben fest. Er zitterte.
»Mein Gott!« stöhnte er. »Ich nicht – Dein – Sohn! Ich – ich – – o, mein Heiland!«
Da aber trat der Graf zu ihm, nahm seine beiden Hände und sagte in zärtlichem Tone:
»O doch, Du bist mein Sohn; Du bist und bleibst mein Kind. Du solltest nie erfahren, daß Du von anderen Eltern seiest. Nun aber dieser Mann gekommen ist, war es mir unmöglich, es zu verschweigen. Komm, setze Dich nieder!«
Er zog ihn in einen Sessel nieder, nahm selbst auch Platz und erklärte ihm sodann:
»Es ist allerdings so, wie er sagte: Die Gräfin war durch die Geburt unseres einzigen Kindes außerordentlich angegriffen. Ihre Nerven litten; ihre Brust wurde krank. Sie mußte den Knaben mir überlassen, um ein anderes Klima aufzusuchen. Meine damaligen amtlichen Pflichten erlaubten mir nicht, sie zu begleiten. Da starb der Knabe. Ich wußte, daß sie seinen Tod nicht überleben werde. Ich mußte die Geliebte retten. Ich gab dem Diener Auftrag, mir einen andern Knaben zu suchen.«
Der Rittmeister hörte diese Worte wie im Traume, wie von Weitem.
»Und dieser andere Knabe war ich?« fragte er.
»Ja.«
»Wer waren meine Eltern?«
»Arme Schuhmachersleute. Sie gaben Dich sehr gern her und erhielten von mir eine Entschädigung.«
»O Gott, o Gott!«
»Fasse Dich! Was Du hörst, ist ja kein Unglück, sondern vielmehr ein Glück.«
»Verkauft haben sie mich, verkauft!«
»Sie waren arm. Sie wußten, daß Dir dadurch ein Glück gegeben wurde, welches sie Dir nicht bieten konnten.«
»Und doch kann ich den Gedanken nicht fassen, das
Kind anderer Eltern zu sein, nicht Dein – – ah, nicht Ihr – Ihr – – Ihr Sohn zu sein, Erlaucht.«
»Unsinn, Unsinn! Was fällt Dir ein!« rief der Graf. »Es bleibt Alles, wie es war. Du bist mein Sohn, mein Erbe. Daran wird nichts geändert.«
»Hast – – hast Du selbst mit meinen Eltern gesprochen?«
»Nein. Es ging Alles durch jenen Diener.«
»So weißt Du nicht, ob sie noch leben?«
»Nein. Sie haben Dich vollständig abgetreten. Ich hatte nichts mehr mit ihnen zu schaffen.«
Der Rittmeister stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Seine Brust arbeitete. Endlich nach einer langen Weile blieb er vor dem Grafen stehen und fragte:
»Es soll wirklich so bleiben, wie es ist?«
»Natürlich, natürlich!«
»Dann bin ich Dir allerdings einen Dank schuldig, dessen Größe gar nicht zu ermessen ist. Vater, ich – – –!«
Er konnte nicht weiter sprechen. Thränen entquollen seinem Auge. Er schluchzte wie ein Kind. Der Graf nahm ihn in die Arme, drückte ihn an sich und sagte:
»Beruhige Dich, Bernard! Du bist mir stets ein guter Sohn gewesen. Du bist mir werth und theuer wie mein eigenes Kind. Wir bleiben die Alten!«
»Aber welche Absicht führt diesen Mann hierher? Er sagt, daß der Diener mich von ihm bekommen habe!«
»Wollen sehen. Ich werde mich erkundigen. Bist Du gefaßt genug, daß ich ihn rufen kann?«
»Rufe ihn!«
Der Graf öffnete die Thür und ließ den Bajazzo wieder eintreten. Er fragte ihn:
»Sie behaupten also, daß Main damals den Knaben von Ihnen bekommen habe?«
»Ja.«
»Er sagte doch, das Kind von armen Schuhmachersleuten erhalten zu haben!«
»Er hat gelogen, um das Geld, welches Sie für die Eltern bestimmten, für sich zu behalten.«
»Hm! Dann aber wären Sie wohl der Vater?«
»Nein. Der Knabe war ein Findelkind.«
»Ah! So sind seine Eltern unbekannt?«
»Ja.«
»Wer hat ihn gefunden?«
»Ich.«
»Wo?«
»Im Walde. Ich befand mich damals auf der Wanderschaft. Ich wollte nach Paris. In den Ardennen fand ich im tiefen Schnee einen halb erfrorenen Knaben. Ich nahm ihn auf. Niemand wollte ihn mir wieder abnehmen. Ich behielt ihn bei mir und brachte ihn mit nach Paris. Da traf ich Ihren Diener. Er sah den Jungen. Er nahm ihn mit.«
»Das wäre ja ein wunderbares Zusammentreffen der Umstände gewesen!«
»Allerdings wunderbar.«
»Ist denn seitens der Behörde nicht nachgeforscht worden, wer die Eltern des Knaben sein könnten?«
»Nein. Ich verstand diese Sache nicht; ich kannte die Gesetze nicht. Ich hielt mich für berechtigt, das Kind als mein Eigenthum zu betrachten.«
»Vielleicht wurde es ausgesetzt.«
»Ich glaube doch eher, daß es verloren gegangen ist.«
»Haben Sie eine Ursache, dies anzunehmen?«
»Ja. Einem Kinde, welches man aussetzt, nimmt man Alles, wodurch seine Abstammung verrathen werden könnte.«
»Hatte dieser Knabe denn etwas Derartiges bei sich?«
»Ja.«
»Was hatte er bei sich?«
»Einen Zahn.«
»Einen Zahn? Hm! Sonderbar! Wohl in Fassung?«
»Ja.« »Ist dieser Zahn noch vorhanden?«
»Ich glaube, daß es noch möglich ist, ihn zu schaffen.«
»Wirklich, wirklich?« fragte der Rittmeister schnell.
»Ja.«
»Wer hat ihn?«
»Hm! Das möchte ich eigentlich nicht verrathen.«
»Ich verstehe Sie. Es handelt sich um eine Belohnung.«
Der Bajazzo ließ ein verlegenes Lächeln sehen und sagte:
»Herr Rittmeister, Sie wären damals erfroren, wenn ich mich nicht Ihrer angenommen hätte.«
»Das mag wahr sein. Weiter!«
»Ich bin arm, sehr arm!«
»Gut! Ist also der Zahn noch da?« fragte der Graf.
»Ich will ihn schaffen, wenn der gnädige Herr bedenken wollen, daß ich jetzt in Noth bin.«
Der Graf machte eine Bewegung der Ungeduld und fragte:
»Wie viel verlangen Sie?«
»Wie viel geben Sie?«
»Mann, das ist doch keine Sache, um welche man handeln und feilschen kann wie um einen Sack Kartoffeln. Sie haben den Knaben gefunden. Sie sind also jedenfalls selbst im Besitze dieses Zahnes. Geben Sie ihn heraus, und ich garantire Ihnen, daß Sie eine gute Belohnung erhalten werden.«
»Geben Sie mir Ihr Wort?«
»Ja doch, ja!«
»Nun gut. Ich will Ihnen vertrauen. Hier ist er.«
Er zog den Zahn nebst Kette hervor und gab ihn hin. Die beiden Anderen betrachteten den Gegenstand.
»Morbleu!« rief der Graf. »Eine Grafenkrone!«
»Wahrhaftig!« stimmte der Rittmeister bei. »Diesen Zahn habe ich an mir gehabt?«
»Ja, mit der Kette um den Hals.«
»Warum haben Sie Beides damals nicht mit hergegeben?«
»Ich will aufrichtig sein. Ich dachte, später einmal zu einer Belohnung zu kommen.«
»Mensch, da haben Sie einen großen Fehler begangen. Wo wohnen Sie?«
Der Gefragte gab ihm eine Wohnung an, wie sie ihm grad einfiel.
»Sind Sie bereit, zu beschwören, daß ich es bin, den Sie damals gefunden haben?«
»Ja.«
»Und daß ich diesen Zahn an der Kette bei mir getragen habe?«
»Ja.«
»Ich werde mir Ihre Wohnung notiren und mich zur angegebenen Zeit an Sie wenden. Wie aber kommt es, daß Sie grad heute zu uns kommen?«
»Die Noth – – von der ich sprach.«
»Gut,« sagte der Graf. »Sie sollen nicht umsonst gekommen sein. Sie brauchen Geld?«
»Ja.«
»Wie viel?«
»O, sehr viel!«
»Ungefähr?«
»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.«
Der Graf blickte ihn scharf an und sagte dann:
»Ich verstehe. Sie wollen uns das Geheimniß verkaufen. Wir sollen dafür so viel bezahlen, wie der Werth desselben für uns ist. Habe ich es errathen?«
»Ja, gnädiger Herr.«
Der Graf zog einen Kasten seines Schreibtisches auf, öffnete ein Päcktchen und zog eine Anzahl Banknoten hervor.
»Noch sind wir nicht Ihrer sicher,« sagte er. »Wir müssen erst sehen, wie diese Angelegenheit sich entwickelt. Ich gebe Ihnen jetzt tausend Franks. Später, wenn wir Klarheit haben, belohnen wir Sie nach Verdienst.«
Der Bajazzo bedankte sich und steckte die Noten ein.
»Haben Sie sonst noch eine Bemerkung?« fragte der Graf.
»Nein.«
»So gehen Sie für heute. Wir werden Sie jedenfalls in allernächster Zeit aufsuchen.«
Er ging. Als er die Straße erreichte, brummte er vor sich hin:
»Verdammtes Pech! Wäre der Sohn nicht dagewesen, so hätte ich mit dem Alten handeln können. Lumpige tausend Franken! Ich wäre doch der größte Esel, wenn ich dem Vater Main nur einen Sou davon gäbe!«
Er wollte an der betreffenden Thür vorüber, wurde aber durch einen leisen Ruf angehalten.
»Pst! Bajazzo!«
Er blieb stehen. Da stand Vater Main vor ihm.
»Ich bin fertig. Komm!« sagte er.
»Nein, nein!« meinte der frühere Schänkwirth. »Wir müssen aufpassen, ob man Dir vielleicht nachgeht. Komm einige Augenblicke mit hier herein!«
Er zog ihn hinter die Thür und fragte:
»Wie ist es gegangen?«
»Schlecht!«
»Doch nicht!«
»Sehr schlecht sogar.«
»Hast Du Geld?«
»Keine Centime.«
»Donnerwetter! So hast Du doch nicht etwa den Löwenzahn hingegeben!«
»Leider doch!«
»Bist Du verrückt?«
»Ich kann nicht dafür. Statt zum Alten wurde ich zum Jungen geführt. Er drohte mir gar mit Arretur. Ich habe mich herausgelogen. Ich sagte, daß ich ihn als Kind in den Ardennen gefunden hätte, mit dem Zahn an der Kette um den Hals. Sie sagten, es wäre eine gräfliche Krone daran.«
»Verdammt! Ist's wahr?«
»Ja.«
»Sie frugen natürlich, wer Du bist?«
»Ja. Ich bin der Tischler Merlin.«
»Und wo Du wohnst?«
»Ich habe die erste, beste Straße und Nummer angegeben.«
»Sie haben den Zahn?«
»Ja.«
»Und wollen Dich aufsuchen?«
»Ja. Dann soll ich meine Belohnung erhalten.«
»Verflucht! So sind wir geprellt!«
»Noch nicht. Ich kann ja wieder kommen. Wenn sie mich suchen und nicht finden, so haben sie sich meine Wohnung nicht richtig gemerkt.«
»Aber dumm bleibt es doch, sehr dumm! Du hättest das Geheimniß für eine sehr hohe Summe verkaufen können. Jedenfalls hast Du es verkehrt angefangen.«
»Oho! Wäre nur der junge Graf nicht dagewesen!«
»Na, der Zahn nützt ihnen doch nichts. Sie werden jenen deutschen Grafen von Goldberg niemals entdecken. Komm jetzt! Wie es scheint, läßt man Dich in Ruhe.«
Sie gingen. Als sie fort waren, begann es sich weiter hinten im Hausflur zu regen.
»Das war eine Geduldsprobe!« sagte Martin. »Wir haben eine volle Stunde dagestanden, ohne uns regen zu dürfen.«
»Aber wir sind glänzend belohnt worden!«
»Glänzend? Das sehe ich nicht ein.«
»Das, was ich hier gehört habe, ist viel, sehr viel werth.«
»Sie sprachen von einem Zahne, von einer Grafenkrone, von einem Knaben. Wie reime ich das zusammen!«
»Das laß mir über. Jetzt wollen wir ihnen nach!«
Sie fanden bald, daß die Beiden in die Destillation gingen, wohin sie Belmonte bestellt hatten.
»Gehe ich mit hinein?« fragte Martin.
»Es ist nicht nothwendig. Nimm Bart und Perrücke ab und gehe nach Hause. Ich komme dann auch.«
Als er in die Destillation trat, fand er mehrere Gäste vor. Vater Main und der Bajazzo hatten sich in eine Ecke zurückgezogen. Er setzte sich zu ihnen und erhielt von ihnen ein Glas zugeschoben.
»Nun, haben Sie sich die Sache überlegt?« fragte er.
»Ja. Wir sind in's Reine gekommen,« antwortete Main.
»Mitzugehen?«
»Ja.«
»Topp?«
»Topp!«
Sie reichten sich die Hände, wobei Belmonte bemerkte:
»Sie werden es nicht bereuen. Bei uns und mit uns läßt es sich gar nicht übel leben.«
»Wir hoffen das. Wann kann es fortgehen?«
»Meinetwegen noch diese Nacht.«
»Hm! Der Andere, den ich auch engagirt habe, kann erst morgen früh acht Uhr.«
»So müssen auch wir bis dahin warten.«
»Ja. Wir kommen dann am Abende zu Hause an, grad noch, um zu essen und dann schlafen zu gehen.« –
Doctor Bertrand saß in seinem Studierzimmer und las die Zeitungsberichte. Sein Gesicht ließ nicht auf eine erfreuliche Stimmung schließen. Da erklangen draußen Schritte; es klopfte an, und auf seine Antwort trat – der alte Capitän herein.
Der Arzt erhob sich von seinem Sitze und grüßte höflich.
»Sie, Herr Capitän!« sagte er. »Ich hörte, daß Sie für längere Zeit von Ortry abwesend seien.«
»Das war, ist aber nicht mehr. Erlauben Sie, daß ich mich setze!«
Er nahm Platz, musterte den Arzt mit einem eigenthümlichen Blicke und sagte dann:
»Herr Doctor, Sie sind mein Hausarzt –«
Er hielt inne. Bertrand verneigte sich.
»Als solcher besitzen Sie mein Vertrauen – –«
»Danke!«
»Sind Sie sich bewußt, dasselbe zu verdienen?«
Bertrand blickte ihm ernst in das Gesicht und antwortete:
»Wenn ich glaubte, es nicht zu besitzen, würde ich auf die Ehre, Ihr Hausarzt zu sein, verzichten.«
»Gut. Und doch hat sich in letzter Zeit Mancherlei ereignet, was – na, still hiervon! Sie sind Oesterreicher?«
»Geborener.«
»Und von Herzen?«
»Ja.«
»So müssen Sie die Preußen hassen!«
»Ich hasse keinen Menschen deshalb, weil er ein Preuße ist.«
»Redensart! Preußen hat Oesterreich schändlich hintergangen. Es wird jetzt seine Strafe erleiden. Frankreich marschirt jetzt nach Berlin. Sie sollen Gelegenheit erhalten, sich glänzend zu rächen.«
»Ich?«
»Ja.«
»Hm! Von welcher Gelegenheit sprechen Sie?«
»Nun, haben Sie nicht den Aufruf des Kaisers an seine Nation gelesen?«
»Allerdings.«
»Er fordert das Volk auf, zum Schwerte zu greifen.«
»Die Armee.«
»Nein, das ganze Volk. Wir werden uns erheben wie ein Mann. Frankreich wird ein einziger Riese sein, von Waffen starrend. Die Erde wird unter seinem Tritte erbeben. Man organisirt die Sehaaren der Franctireurs, über welche mir ein höheres Commando anvertraut worden ist. Sie werden beitreten.«
»Ich?«
»Ja.«
»Als Franctireur?«
»Ja, aber nicht als Compattant. Ich ertheile Ihnen hiermit Rang und Character eines Regimentsarztes. Wir bedürfen ärztlicher Kräfte. Sie sind der Erste, dem ich Gelegenheit gebe, sich Ruhm und Ehre zu erwerben.«
Bertrand schüttelte nachdenklich den Kopf und sagte:
»Danke, Herr Capitän! Ich muß ablehnen.«
»Ablehnen? Höre ich recht?«
»Ja, ablehnen.«
»Sie wollen auf die Ihnen angebotenen Lorbeeren verzichten?«
»Ja.«
»Aus welchem Grunde?«
»Ich bin für diese Stadt verpflichtet. Mein Wirkungskreis ist mir angewiesen. Ich muß bleiben. Ich darf nicht fort.«
»Wer verbietet es Ihnen?«
»Mein Gewissen.«
»Das heißt: Sie wollen einfach nicht? Wie nun, wenn man Sie zwingt?«
»Wer will mich zwingen?«
»Ich zum Beispiel. Wir brauchen Aerzte.«
»Meine bisherigen Patienten brauchen mich ebenso!«
»Schön, schön! Fast scheint es wahr zu sein, was man sich über Sie in die Ohren flüstert.«
»Was?«
»Sie sind ein Feind des Vaterlandes. Sie verrathen Frankreich.«
»Herr Capitain, wenn mir das ein Anderer sagte, den würde ich ganz einfach aus der Thür werfen.«
»Nun, warum thun Sie dies nicht auch mit mir?«
»Ich achte Ihren Stand und Ihr Alter.«
»Diese Achtung will ich dadurch belohnen, daß ich Sie warne. Man hat scharfe Augen und Ohren. Es gelten jetzt die Kriegsgesetze und Kriegsartikel.«
»Ich habe mit ihnen nichts zu schaffen.«
»Hm. Man hat Sie beobachtet. Man ist in letzter Zeit sehr mißtrauisch geworden.«
»Ich kann nicht dafür.«
»Wirklich nicht?«
»Nein.«
»Haben Sie nicht mit diesem Doctor Müller verkehrt?«
»Ich lernte ihn in Ortry kennen. Sie selbst haben ihn mir vorgestellt. Das war eine Empfehlung für mich.«
»Er war ein Undankbarer. Ferner haben Sie einen Menschen bei sich, welcher die ganze Gegend als Spion durchstreift.«
»Wer soll das sein?«
»Ihr Kräutersammler.«
»Er wurde mir von Comtesse Marion und ebenso von Mademoiselle Nanon empfohlen.«
»Diese Beiden sind ebenso undankbar wie jener Deutsche und buckelige Doctor der Philosophie. Wie hieß der Sammler?«
»Schneeberg.«
»Ein deutscher Name. Er war also ein Deutscher?«
»Ein Schweizer, glaube ich.«
»Wo befindet er sich gegenwärtig?«
»Ich weiß nicht. Ich habe ihn entlassen.«
»Daran haben Sie sehr recht gethan. Sodann hat man jenen Amerikaner Deep-hill bei Ihnen gesehen!«
»Hoffentlich soll das kein Vorwurf für mich sein!«
»Dieser Mensch war ein Feind Frankreichs.«
»Auch ihn lernte ich bei Ihnen kennen.«
»Er wurde mir empfohlen. Man hatte mich getäuscht. Also Sie weisen mein Anerbieten wirklich von der Hand?«
»Sie meinen das militairärztliche Engagement?«
»Ja.«
»Meine Pflicht gebietet mir, auf dem Posten, an welchem ich mich befinde, auszuharren.«
»Mögen Sie das nicht bereuen! Sie machen sich durch diese Weigerung verdächtig. Man wird ein sehr wachsames Auge auf Sie haben.«
*