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Drittes Kapitel. Im Zuchthaus

Die Maschine stieß einige gellende Pfiffe aus, die Räder kreischten unter dem Drucke der angezogenen Bremsen, und der Personenzug fuhr in den Bahnhof ein. Die Wagen kamen zum Halten, und einige Coupees wurden geöffnet.

»Station Hochberg. Fünf Minuten Aufenthalt!« ertönte der Ruf der Schaffner.

»Ihr Aufenthalt wird wohl etwas länger dauern,« meinte ein Passagier, der nebst noch einem andern in einem Einzelcoupee dritter Klasse gesessen hatte, in strengem Tone.

Er trug die Uniform eines Amtswachtmeisters und hielt den linken Arm in einer Binde.

»Geht Niemanden etwas an,« antwortete grob der Andere. »Es hat sich hier schon mancher, der erst gar aufgeblasen that, für längere Zeit vor Anker gelegt. Ich glaube gar, es sind auch schon Wachtmeisters hier geblieben, Wachtmeisters; merken Sie sich das!«

Der Sprecher war eine rohe untersetzte Gestalt, in ein sehr abgetragenes Gewand gekleidet. Er trug unter demselben ein rauhmaschenes Hemde; sein Gesicht war gewaschen und sein Haar gekämmt, aber diese Reinlichkeit wollte zu dem Manne nicht recht passen; es hatte ganz den Anschein, als ob sie ihm ungewohnt oder gar aufgedrungen worden sei. Was aber am meisten auffiel, war, daß er »geschlossen« war. Seine Hände waren in einer eisernen »Bretzel« vereinigt, welche man zu noch größerer Sicherheit an einen starken, um den Leib geschlungenen Riemen befestigt hatte. Der Mann war ganz sicher ein Gefangener.

»Schon gut. Jetzt aussteigen!« antwortete der Transporteur.

»Na, na; nur sachte. Ich steige aus, wenn es mir beliebt!« klang es noch zurück.

»Meinetwegen. Aber nur schnell!«

Der Wachtmeister schob ihn aus dem Wagen. Der Gefangene bückte sich schnell um, sah das ihn umwogende Gedränge und glaubte, Rettung in demselben zu finden. Mit einem schnellen Sprunge war er mitten zwischen die ausgestiegenen Passagiere hinein und versuchte, sich durch sie hindurchzudrängen.

»Haltet ihn auf!« rief der Wachtmeister.

Dieser Ruf war eigentlich überflüssig. Man hatte in dem Manne sofort einen flüchtigen Gefangenen erkannt und ihn umringt und festgehalten.

»Hier ist er. Nehmen Sie ihn.«

»Danke, meine Herren! Das war ein geradezu unbegreiflich alberner Versuch mir zu entkommen.«

Ein auf dem Bahnhofe stationirter Gensdarm trat herbei.

»Soll ich Ihnen bei dem Transporte helfen, Herr Amtswachtmeister?« frug er.

»Danke bestens! Er ist mir sicher genug, werde ihn nun aber noch fester nehmen.«

Er zog eine Leine aus der Tasche, band sie dem Gefangenen um den Arm und führte ihn in dieser Weise neben sich fort. Sein Weg ging nach dem äußersten und höchsten Theile der Stadt, wo hinter ungewöhnlich hohen Mauern die Thürme und Gebäude eines schloßähnlichen Baues hervorragten. Das war Schloß Hochberg, welches seit langer Zeit viele Hunderte derjenigen Unglücklichen in seinen Mauern barg, welche sich gegen die Gesetze vergangen hatten und nun gezwungen waren, dies durch die Entziehung ihrer Freiheit zu büßen. Hochberg war das Zuchthaus für Norland.

Die Straße endete vor einem breiten, finsteren, massiv mit Eisen beschlagenem Thore, an welchem ein mächtiger Klopfer befestigt war. Der Transporteur ergriff denselben und ließ ihn erschallen. Wie mußte dieser Klang jeden nicht gefühllosen Menschen berühren, der hier gezwungen war, mit dem bisher zurückgelegten Theile seines Lebens abzuschließen!

Ein kleiner Schieber öffnete sich, an welchem ein bärtiges Gesicht erschien.

»Wer da!«

»Transporteur mit Zuwachs.«

»Herein.«

Das Thor öffnete sich. Die beiden Ankömmlinge traten in eine finstere tunnelförmige Mauerflur. Der militärische Posten, welcher geöffnet hatte, schloß wieder und öffnete dann eine andere Thür, welche in einen kleinen Hof führte.

»Gerade aus!«

Der Transporteur nickte. Er war nicht zum ersten Male hier und mit den Räumlichkeiten dieses Hauses bereits vertraut, wenigstens so weit es ihm gestattet war sie zu betreten. Er führte seinen Gefangenen über den Hof hinüber in ein kleines Stübchen, dessen einziges Fenster mit starken eisernen Kreuzstäben versehen war. Hier saß der Aufseher von der Thorwache, welcher das Höfchen überblicken und den kleinsten Verkehr ganz genau kontroliren konnte. Er hatte jede ein- oder ausgehende Person in das Passirbuch zu verzeichnen.

»Guten Morgen, Herr Aufseher!«

»Guten Morgen, Herr Amtswachtmeister. Wieder Einen?«

»Wie Sie sehen.«

»Bitte, tragen Sie sich hier ein!«

Der Transporteur vermerkte seinen Namen in das Buch und frug dann:

»Der Herr Regierungsrath selbst da?«

»Ja. Werde klingeln.«

Er bewegte einen Glockenzug. Eine Klingel ertönte in der Ferne, worauf ein zweiter Aufseher erschien.

»Zuwachs!« meldete der Thorhabende.

»Kommen Sie!« forderte der Andere den Wachtmeister auf.

Er führte ihn aus dem Zimmer durch einen langen Gang zu einer Thür, hinter welcher er verschwand um ihn anzumelden. Nach einigen Augenblicken kam er wieder zum Vorschein.

»Herein!«

Der Transporteur trat ein, zog die Thür hinter sich zu und stand an derselben in strammer militärischer Haltung ohne zu grüßen. Er wußte, daß er erst auf die Anrede des Direktors zu sprechen hatte. Dieser, welcher, wie bereits bemerkt, den Charakter eines Regierungsrathes hatte, war ein hoch und stark gebauter Mann. Er trug die Uniform höherer Anstaltsbeamten mit Bouillons und einen langen Stoßdegen. Der dichte Schnurrbart stand ihm à la maggiar zu beiden Seiten weit ab, und sein ganzes Aeußere zeigte, daß mit ihm nicht wohl zu scherzen sei. Er blickte den Eingetretenen gar nicht an, bis er nach einiger Zeit die Feder weglegte und, noch immer mit den vor ihm liegenden Papieren beschäftigt, in kurzem Tone frug:

»Wer?«

»Amtswachtmeister Haller aus Fallum, Herr Regierungsrath.«

»Was bringen Sie?«

»Männlichen Zuwachs, einen.«

»Namen?«

»Heinrich Hartig aus Fallum.«

»Stand?«

»Fischer oder Schiffer.«

»Einlieferungsakten!«

Der Transporteur überreichte ihm das Aktenheft, welches er bereits parat gehalten hatte.

»Schön, haben Sie persönliche Bemerkungen?«

»Zu Befehl, Herr Regierungsrath.«

»Welche? Aber kurz!«

»Hartig war angeklagt, seine Frau und seinen Stiefsohn lebensgefährlich und kontinuirlich maltraitirt zu haben. Er kam unter meine Bewachung, machte einen Fluchtversuch und versetzte mir dabei drei Messerstiche hier in Hand und Arm. Er ist ein Trinker, ein bösartiger, gefühlloser und auch frecher Gesell, der sich sogar noch während des heutigen Transportes renitent erwiesen hat. Er meinte unter anderem, daß auch bereits schon Amtswachtmeister auf dem Zuchthause gewesen seien, und versuchte noch auf dem Bahnhofe zu entspringen, wurde aber vom Publikum sofort ergriffen.«

»Fertig!«

»Zu Befehl!«

»Werden ihn zu fassen wissen. Erhält dritte Disziplinarklasse und zwanzig Tage Kostentziehung gleich als Anfang und Willkommen. Hier, Ihre Empfangsbescheinigung, Herr Wachtmeister. Adieu.«

Während der Direktor nun Einblick in die Einlieferungsakten des neuen Züchtlings nahm, kehrte der Transporteur in das Stübchen des Thorhabenden zurück, um die dort abgelegte Kopfbedeckung zu holen.

»Leben Sie wohl, Hartig,« meinte er, sich zum Gehen anschickend. »Haben Sie vielleicht etwas an Ihre Frau und Ihre Kinder auszurichten? Es ist zum letzten Male, daß dies auf solche Weise geschehen kann.«

»Packen Sie sich fort!« lautete die dankbare Antwort.

»Gut! Adieu, Herr Aufseher!«

»Adieu, Herr Wachtmeister!«

Er ging. Der Gefangene war von diesem Augenblicke an von der Außenwelt abgeschlossen, war keine Person, sondern nur ein Gegenstand, auf den sich die physiologischen Bestrebungen seiner Vorgesetzten richteten, und besaß keine Selbstbestimmung, keinen freien Willen mehr. Nach einiger Zeit öffnete sich die Thür wieder, und abermals trat ein Aufseher ein.

»Komm!« meinte dieser, nachdem er ihn mit einem kurzen Blicke überflogen hatte.

»Oho! Hier geht es wohl per Du?«

Der Thorhabende, welcher bisher schweigsam dagesessen hatte, wandte sich jetzt zu seinem Kollegen.

»Ein ganz und gar frecher und unverschämter Bengel. Muß scharf gehalten werden.«

»Wird es schon spüren. Vorwärts!«

Er faßte ihn und schob ihn zur Thür hinaus. Es ging denselben Korridor hinunter, welchen vorhin der Transporteur durchschritten hatte, dann rechts ab bis an eine vollständig eiserne Thür. Als zwei große Vorlegeschlösser von derselben entfernt und drei starke Riegel zurückgeschoben waren, zeigte sich hinter dieser Thür ein schmaler kurzer Gang, welcher keine Fenster besaß und deshalb von einer Lampe beleuchtet wurde. Zu beiden Seiten desselben befanden sich je acht ähnlich verschlossene eiserne Thüren, deren jede einen sieben Fuß hohen, vier Fuß breiten und fünf Fuß tiefen Raum verschloß, in welchem nichts zu sehen war, als ein Heizungsrohr für den Winter, ein Wasserkrug, ein niedriger Schemel zum Sitzen und eine eiserne, tief in die Mauer eingefügte Kette. Die nur anderthalb Fuß im Quadrat haltenden Fensterchen waren innen mit einer durchlöcherten Eisenplatte und von außen mit einem starken Doppelgitter versehen. Von hier hätte ein Löwe sich keinen Austritt verschaffen können.

Dies waren die Zu- und Abgangszellen des Zuchthauses von Hochberg, die schlimmsten Zellen der ganzen Anstalt. Es ist nothwendig, dem eingelieferten Verbrecher seine Lage sofort in ihrer häßlichsten Gestalt zu zeigen und denjenigen, welcher seine Strafzeit überstanden hat, noch vor dem Rückfalle abzuschrecken. Jeder Züchtling verlebt den ersten und den letzten Tag seiner Detentionszeit in einer dieser fürchterlichen Zellen.

Der Aufseher öffnete eine derselben.

»Hier herein!«

»Was, hier? Gibt es keine bessere?«

»Nein.«

»Da waren sie doch in Fallum hübscher!«

»Im Hotel de Saxe sind sie noch hübscher, kosten aber auch zehn bis zwanzig Mark per Tag. Zeig Deine Taschen!«

»Donnerwetter, ich lasse mich nicht Du heißen!«

»Wirst es schon leiden. Zeige Deine Taschen!« klang es jetzt barscher als vorher.

»Ich habe ja nichts darin!«

»Davon will ich mich ja eben überzeugen. Na, oder soll ich nachhelfen?«

Die Fesseln hatte der Transporteur wieder mit sich genommen. Der Gefangene konnte also die Arme wieder bewegen. Von dem strengen Tone des Aufsehers doch eingeschüchtert, wandte er alle seine Taschen um. Dann durchsuchte ihn der Beamte noch außerdem sehr sorgfältig von Kopf bis zu Fuß.

»Wie hast Du geheißen?«

»Hartig.«

»Was warst Du?«

»Schiffer.«

»Was hast Du begangen?«

»Müssen Sie das wissen?«

»Das lese ich schon später, Du brauchst mir es also nicht zu sagen. Doch will ich Dich im Guten darauf aufmerksam machen, daß es besser für Dich ist, wenn Du hier gegen Deine Vorgesetzten höflich und zuvorkommend bist. Du bist noch keine halbe Stunde da und hast doch bereits schon eine Strafe von zwanzig Tagen Kostentziehung erhalten.«

»Ich? Möchte wissen wofür!«

»Weil Du gegen den Amtswachtmeister grob gewesen bist und hast entfliehen wollen. Hier in der Anstalt wird der allergeringste Fehler sehr streng bestraft. Ihr seid hier, zur Strafe und zur Besserung. Wer willig und arbeitsam ist, kann nicht klagen, wer aber widerstrebt, dem geht es nicht gut. Merke Dir das! Also wie lange Strafzeit hast Du?«

»Vier Jahre.«

»Weshalb?«

»Weil ich meine Frau und meinen Stiefjungen geschlagen und den Wachtmeister gestochen haben soll.«

»Haben soll? Sage doch gleich: geschlagen und gestochen habe, denn Du hast es doch gethan! Kannst Du lesen?«

»Ein Bischen, wenn es groß gedruckt ist.«

»Hier an der Thür klebt ein Zettel, darauf steht wie Ihr Euch im Allgemeinen zu verhalten habt. Licht kommt wohl genug zum Fenster herein. Lies ihn genau durch bis ich wieder komme, und beherzige es!«

Er verließ die Zelle. Die Schlösser klirrten, und die Riegel rasselten, dann war es still. Die fürchterliche Umgebung verfehlte doch ihren Eindruck nicht auf den Gefangenen. Es war ihm, als hätte ihn Jemand vor den Kopf geschlagen. Er ließ sich auf dem alten hölzernen Schemel nieder und legte das Gesicht in die beiden hohlen Hände. Aber sein Auge blieb trocken, und keine Thräne der Erleichterung oder der Reue drang zwischen seinen Fingern hervor. So saß er lange, lange Zeit bis die Schlösser wieder klirrten und die Riegel abermals rasselten. Der Aufseher öffnete zum zweiten Male.

»Komm!«

Er folgte willig aus der Zelle hinaus und durch mehrere Gänge bis in einen größeren von Wasserdunst erfüllten Raum, welcher durch niedrige bretterne Scheidewände in mehrere Abtheilungen geschieden war. In jeder derselben stand eine Badewanne und ein Schemel dabei. Auf einem dieser Schemel lagen einige Kleidungsstücke, und dabei stand ein Mann, der Scheere und Kamm in der Hand hielt. Er trug eine Jacke und Hose von starkem, grobem, braunem Tuche und harte rindslederne Schuhe an den Füßen. Die Haare waren ihm kurz verschoren, dennoch aber sah man es ihm an, daß er früher wohl gute Tage gesehen und feinere Kleider getragen habe.

»Nummer Zwei, ein Zuwachs!« meinte der Aufseher. »Kleide ihn ein. Ich habe jetzt Weiteres zu thun. Aber macht mir ja keine Dummheiten! In einer halben Stunde bin ich wieder hier.«

Er ging und schloß hinter sich ab. Die Beiden befanden sich ganz allein in dem Raume.

»Vierundsiebenzig, setze Dich!« gebot der Mann.

»Wer?«

»Du! Du hast jetzt keinen Namen mehr, sondern die Nummer Vierundsiebenzig; nur bei dieser wirst Du genannt.«

»Donnerwetter, das ist hübsch!«

»Fluche nicht!« flüsterte der Mann. Dann fügte er lauter hinzu: »Setzen sollst Du Dich, habe ich gesagt. Oder hörst Du schwer?«

Hartig ließ sich auf den Schemel nieder. Der Andere griff zu Kamm und Scheere.

»Was soll denn das werden, he?« frug der erstere.

»Die Haare müssen herunter. Dann badest Du Dich und ziehst die Anstaltskleidung an. Die Deinige kommt in diesen Sack, der Deine Nummer hat, und wird aufgehoben, bis Du wieder entlassen wirst.«

»Na, dann zu, wenn es nicht anders möglich ist!«

Das Schneiden des Haares begann. Dabei flüsterte der Nummer zwei Genannte:

»Bewege die Lippen nicht wenn Du sprichst. Wir werden scharf beobachtet!«

»Wo?«

»Durch die kleinen Löcher über den Badewannen. Was bist Du?«

»Schiffer.«

»Woher?«

»Aus Fallum.«

»Ah, das Seebad Fallum?«

»Ja. Kennst Du es?«

»War öfters dort. Weißt Du nicht, ob Prinz Hugo von Süderland in der gegenwärtigen Saison das Bad besucht?«

»Vor sechs Wochen war er noch da. Seit dieser Zeit bin ich gefangen. Kennst Du ihn?«

»Sehr gut.«

»Wer bist Du denn?«

»Das ist Nebensache!« Dennoch aber siegte die den meisten Menschen innewohnende und sogar sich in der tiefsten Erniedrigung regende Eitelkeit so, daß er hinzusetzte: »Ich war nichts Gewöhnliches; der Prinz war mein Freund.«

»Ah!« machte Hartig verwundert.

»Leise! Ist seine Schwester, Prinzeß Asta, verheirathet?«

»Freilich. Mit dem Kronprinzen Max, der früher ein Schmied gewesen sein soll. Ich bin wegen dem tollen Prinzen hier.«

»Nicht möglich! Wie so?«

»Er fuhr auf dem Boote und stürzte die Tochter des Generals Helbig in das Wasser. Mein Junge warf ihn wieder hinein, und ich züchtigte den Buben ein wenig zu derb. Darüber wurde ich angezeigt und eingesteckt. Ich wollte ausreißen und stieß dem Wachtmeister dabei das Messer in den Arm. Dafür habe ich vier Jahre bekommen.«

»Und der Junge?«

»Nichts. Der Prinz hat noch die Kosten bezahlt.«

»Ja, das sind die jetzigen Zustände; früher unter der alten Regierung war es besser!«

»Du meinst, als die Raumburgs noch am Ruder waren? Ja, da wurde nicht so kurzer Prozeß mit einem gemacht; da ging es fein hübsch langsam. Wenn das noch wäre, so säße ich nicht hier. Nun aber ist der alte Herzog todt, elend umgekommen, und sein Sohn, der Prinz von Raumburg, soll gar im Zuchthause stecken!«

Der Sprecher ahnte nicht, daß er gerade diesen Prinzen vor sich habe.

»Waren die drei Schwestern des Generals von Helbig im Seebade?« frug dieser.

»Ja.«

»Dachte es. Die kommen alle Jahre hin. Aber jetzt bin ich fertig. Nun ziehe Dich aus und steige in die Wanne. Deine Kleider habe ich wegzunehmen!«

»Was bist Du hier denn eigentlich?«

»Badewärter.«

»Und was bekommst Du dafür?«

»Sechs Pfennige täglich.«

»Alle Wetter, ist das viel!«

»Ja, das ist auch viel. Du bekommst volle drei Monate nichts, dann aber täglich drei Pfennige, aber auch nur dann, wenn Du Dein Pensum vollständig fertig bringst.«

»Was ist Pensum?«

»Die Zahl, wie viel Du täglich zu arbeiten hast. Bringst Du das nicht, so wirst Du bestraft, mit Arrest, mit Kostentziehung oder gar mit Prügeln. Und weil Du dritte Disziplinarklasse hast, so wird Dir von Deinen drei Pfennigen zur Strafe täglich einer abgezogen. Du bekommst dann also blos zwei.«

»Was ist das mit der Klasse?«

»Wer schlecht eingeliefert oder hier bestraft wird, bekommt dritte, wer gut eingeliefert wird, zweite, und wer sich sehr lange Zeit ausgezeichnet beträgt, erste Klasse. Die erste Klasse trägt blanke, die zweite trägt gelbe und die dritte trägt schwarze Knöpfe.«

»So hast Du also erste Klasse?«

»Ja; aber nicht, weil ich mich lange Zeit gut geführt habe, denn ich bin noch nicht sehr lange hier, sondern der Direktor berücksichtigt mich, weil ich draußen etwas Vornehmes gewesen bin. Das Amt eines Badewärters ist auch ein Vorzug. Es ist ein Vertrauensposten, weil ich da mit jedem Gefangenen zu sprechen komme. Ich kann also den Gefangenen sehr viel nützen. Willst Du mir einen Gefallen thun?«

»Ja. Welchen?«

»Du sollst mir einem andern Gefangenen ein paar Zeilen geben.«

»Die schreibst Du erst?«

»Nein; dazu wäre jetzt keine Zeit. Ich habe sie bereits fertig, für den Fall, daß ich Einen finde, der bereit ist, sie mir zu besorgen.«

»Komme ich denn mit ihm zusammen?«

»Ja. Du kommst gleich von hier weg zum Anstaltsarzte, der Dich zu untersuchen hat. Bei ihm sitzt ein Gefangener, der seinen Schreiber macht. An ihn hast Du das Billet zu geben.«

»Wird es Niemand sehen?«

»Nein. Er kennt mein Zeichen und sieht Jeden aufmerksam an. Wenn Du die Jacke ausziehest, so niesest Du und wischest Dir dann mit der linken Hand das rechte und mit der rechten das linke Auge zu. Er wird sofort hinkommen und Dich mit entkleiden helfen. Dabei nimmt er das Papier an sich, welches ich Dir nachher unter das Halstuch binden werde. Es wird Dir nützlich sein. Wer Kaffee oder sonst etwas Außergewöhnliches haben will, muß den Arzt bitten, dieser gibt dem Schreiber seine Entscheidung, und was dieser schreibt, das gilt und wird nicht mehr kontrolirt. Da kann es vorkommen, daß er viel mehr schreibt, als er eigentlich sollte, oder sogar daß er einem etwas notirt, der um gar nichts gebeten hat. Bekommst Du also einmal etwas, so sage nur zum Aufseher, Du hättest den Arzt darum gebeten!«

»Werde es merken! Welche Arbeit werde ich bekommen?«

»Das weiß ich noch nicht, denn das bestimmt im Laufe des Tages der Arbeitsinspektor.«

Unterdessen war das Bad beendet, und das Einkleiden begann. Der Badewärter war ihm dabei behilflich und legte ihm auch das Halstuch um.

»Du hast doch den Brief vergessen!« flüsterte Hartig.

»Sorge Dich nicht! Er ist an seiner Stelle; aber ich wäre sehr ungeschickt, wenn Du es bemerkt hättest, denn dann hätte es der Aufseher draußen auch gesehen.«

»Er belauscht uns also wirklich?«

»Ja. Du wirst sehen, daß er hereinkommt, sobald wir fertig sind. Diese Leute halten sich allein für sehr klug und weise und sind noch dreimal dummer als dumm.«

Wirklich hatte Hartig kaum die Arme in die Aermel seiner Jacke gesteckt, so trat der Aufseher herein.

»Fertig?«

»Gleich, Herr Aufseher!«

»Wieder einmal fleißig geschwatzt?«

»Kein Wort! Oder glauben Sie, daß Unsereiner das Bedürfniß hat, sich solchen Leuten mitzutheilen?«

»Hoffe es auch nicht. Also vorwärts wieder!«

Hartig wurde in ein anderes Gebäude geführt, wo ihn der Aufseher in ein Zimmer schob, in welchem ein Herr in Civil an einem Schreibtische saß. An der andern Seite saß ein dicker Mann in der Sträflingskleidung und schrieb, ohne von dem Papiere aufzublicken. Dieser erstere war der Anstaltsoberarzt. Er fixirte den Angekommenen einen Augenblick; dann frug er in dem kurzen Ton dieser Beamten:

»Wer bist Du?«

»Schiffer.«

»Wie alt?«

»Fünfzig.«

»Einmal krank gewesen?«

»Nein.«

»Fehlt Dir jetzt etwas?«

»Nein, aber Hunger habe ich immer.«

»Ach so!« lachte der Arzt. »Die Herren Gefangenen haben während der Untersuchungshaft auf schmaler Kost gesessen und wollen sich nun hier herausfüttern lassen. Bleibt draußen, und macht keine Dummheiten, wenn Ihr nicht leiden wollt! Ziehe Dich aus!«

Er bog sich auf seine Schreiberei zurück. Hartig fuhr langsam aus der Jacke und nieste; dann wischte er sich die Augen in der angegebenen Weise. Sofort erhob sich der dicke Schreiber und trat zu ihm.

»Na, das hat ja noch gar keine Spur von Geschicke! Wie lange soll da der Herr Oberarzt warten, he? Herunter damit!«

Er band ihm das Halstuch ab und warf es zur Erde, half ihm auch beim Ablegen der übrigen Kleidungsstücke. Als dies geschehen war, erhob sich der Arzt und untersuchte Hartig sehr genau. Er hatte heute Zeit dazu, denn es war kein zweiter Gefangener eingeliefert worden. Während dieser Prozedur bemerkte Hartig, daß der Schreiber hinter dem Tische einen kleinen Zettel las und schnell einen zweiten schrieb. Als die ärztliche Untersuchung beendet war, trat er wieder zu Hartig heran und half ihm beim Anlegen der Kleider. Dabei steckte er ihm den zweiten Zettel abermals, aber jetzt hinten und von oben unter das Halstuch und flüsterte:

»Beim Arbeitsinspektor wieder niesen!«

Die Prozedur war beendet, und Hartig wurde entlassen. Draußen vor der Thür empfing ihn der Aufseher wieder, welcher ihn in seine Zelle zurückbrachte und dann verließ. Während dieser Pause wagte der Gefangene es, den Zettel herauszunehmen und zu öffnen, obgleich es möglich war, daß man ihn beobachtete. Er war in einer fremden Sprache geschrieben. Sein Verfasser und derjenige, an den er gerichtet war, konnten keine ganz gewöhnlichen Leute sein.

Jetzt dauerte es einige Stunden, ehe die Riegel wieder zurückgezogen wurden und der Aufseher wieder öffnete. Er brachte Wasser und Brod.

»Hast Du beim Arzte um doppelte Ration Brod gebeten?«

»Ja.«

»Bist Du denn ein so starker Esser?«

»Ein Seemann hat stets Hunger.«

»Hier aber hört die See auf. Ein Zugänger erhält gewöhnlich täglich ein halbes Pfund Brod und erst später, wenn er wiederholt darum bittet, ein ganzes und auch anderthalb Pfund. Dir aber sind gleich zwei Pfund zugeschrieben worden. Da heißt es nun auch fleißig sein, damit Du diese Vergünstigung nicht etwa wieder verlierst. Der Herr Oberarzt muß heut bei sehr guter Laune gewesen sein. Jetzt komm!«

Das Versprechen des Badewärters war also doch bereits in Erfüllung gegangen. Der dicke Krankenschreiber hatte aus eigener Machtvollkommenheit zwei Pfund Brod notirt. Und diese Anstaltsbeamten sagen, daß der Gefangene keinen Willen habe, sie wollen ihn als Gegenstand irgend einer Besserungsmethode behandeln!

Wieder ging es über mehrere Höfe bis vor eine Thür.

»Den Herrn da drinnen hast Du »Herr Arbeitsinspektor« zu tituliren!« bedeutete der Aufseher und schob dann den Gefangenen in das Zimmer.

Der Beamte war noch jung und hatte ein wohlwollendes Gesicht. Die stramme Uniform stand ihm recht gut, und es sah ganz so aus, als ob er sich dessen auch bewußt sei. Auch hier blieb der Aufseher vor der Thür, um seinen Pflegling draußen zu erwarten.

»Was bist Du?« frug der Inspektor gerade so wie vorher der Arzt.

»Schiffer.«

»Schiffer, also kräftig.« Er blätterte dabei in einigen Papieren herum. »Hier finde ich, daß Du vom Arzte zwei Pfund Brod erhalten hast; da mußt Du auch arbeiten können. Gesund bist Du?«

»Ja.«

»Hast Du vielleicht außer Deinem Berufe nebenbei ein Handwerk betrieben?«

»Nein,« antwortete er niesend und sich dann die Augen wischend.

»Aber im Winter, wo der Fischfang und die Schifffahrt feiert, was hast Du da gethan?«

»Hm,« räusperte sich der Gefangene verlegen, während der Schreiber, welcher an einem Seitentische beschäftigt war, der Scene mit Spannung folgte.

»Ach so, ich verstehe! Nichts hast Du gemacht. Gespielt, was?«

»Blos Abends,« entschuldigte sich Hartig.

»Und am Tage?«

»Geschlafen.«

»Schön! Das heißt also, Du hast vom Abend bis an den Morgen gespielt und dann den Tag verschlafen. Hast Du Weib und Kinder?«

»Ja.«

»Also Familie, und ein so lüderliches Leben! Scheinst mir ein sauberer Kerl zu sein! Ich werde Dir eine Arbeit geben, bei der Du mir nicht so leicht einschlafen sollst. Das sage ich Dir: das Pensum ist sehr schwer, bringst Du es aber nicht, so hilft Dir Deine doppelte Brodration nichts; ich gebe Dir Kostentziehung, und zwar genug!«

Der gute Inspektor war wirklich in Rage gekommen, auch mit dem Schreiber schien dies der Fall zu sein. Er erhob sich und trat näher.

»Und auch unordentlich ist er,« meinte er, der seinen Vorgesetzten sehr gut kennen mußte, um diese Theilnahme am Gespräche zu wagen. »Dieser Knopf ist auf, und das Halstuch guckt hinten über den Kragen in die Höhe. Die Herren Aufseher sehen nicht darauf. Ich habe nur immer nachzubessern, damit die Leute anständig vor dem Herrn Inspektor erscheinen!«

Dabei knöpfte er ihm die aufgesprungene Jacke zu und nestelte emsig an dem Halstuche herum. Dann trat er wieder zurück und setzte sich mit zufriedener Miene nieder.

»Richtig ist es,« meinte der Inspektor. »Wenn ein Zuwachs kommt, muß ihn mein Schreiber immer in das Geschicke richten. Ich werde mich beschweren. Also, was geben wir Dir für Arbeit?« Er sann eine Weile nach und meinte dann zu seinem Schreiber:

»Notiren Sie ihn unter die Schmiede, und besorgen Sie das Uebrige: Ich habe mich zu beeilen, daß ich den Zug nicht versäume. Du aber kannst jetzt gehen!«

Hartig verließ das Gemach und wurde von seinem Aufseher in seine Zelle zurückgeführt. Er blieb dort nicht lange allein, denn bald wurde wieder geöffnet und der Aufseher trat in Begleitung des Anstaltskoches herein.

»Also dies ist der Mann?« frug der letztere, den Gefangenen musternd.

»Ja, er hat ungeheures Glück,« antwortete der Aufseher. »Wird mit zwanzig Tagen Kostentziehung eingeliefert und bekommt doppeltes Brod und Beschäftigung in der Küche, während andere sich Jahre lang zu einem solchen Posten melden und immer wieder abgewiesen werden. Ich bin neugierig, wie der Herr Direktor die Kostentziehung mit der Küchenarbeit und der Brodration zusammenreimen wird.«

»Das ist nicht unsere Sache,« meinte der Koch. »Es liegt hier jedenfalls ein Versehen vor, ich aber habe mich nach der Notiz des Herrn Arbeitsinspektors zu richten und diesem hier zu sagen, daß er morgen früh in der Küche antreten wird. Besorgen Sie ihm eine weiße Schürze und eine Küchenmütze.«

Unterdessen stand der Schreiber des Arbeitsinspektors an seinem Fenster und blickte hinaus auf den Hof. Er war allein, denn sein Vorgesetzter hatte die Anstalt verlassen, um seiner vorhin gethanen Aeußerung nach eine Reise zu unternehmen. Der Schreiber schien von einer peinigenden Unruhe erfüllt zu sein, und immer wieder zog er den Zettel hervor, welchen er unter dem Halstuche des Zuganges herausgenommen hatte. Dieser war in französischer Sprache verfaßt und lautete zu deutsch:

»Endlich ist es Zeit, wie mich Raumburg benachrichtigt. Warte in Deiner Expedition auf uns.«

Da kam ein einzelner Züchtling ohne Begleitung eines Aufsehers über den Hof. Es war der Schreiber des Oberarztes. Er trat ein. Beide kannten einander sehr gut. Der eine war Direktor und der andere Oberarzt einer Irrenanstalt gewesen und hatten sich derartiger Vergehen schuldig gemacht, daß sie sich jetzt für lebenslang im Zuchthause befanden.

»Der Inspektor fort?« frug der dicke frühere Irrenhausdirektor.

»Ja,« antwortete sein früherer Untergebener. »Woher weißt Du, daß er verreisen will?«

»Er war am Vormittage beim Doktor und sagte es diesem. Bist Du bereit?«

»Natürlich. Ich wage das Leben, wenn es sein muß. Aber wie?«

»Weiß es selbst noch nicht. Raumburg schrieb mir heute, daß ich um die jetzige Zeit bei Dir sein solle.«

»Er kommt also auch?«

»Jedenfalls.«

»Wie gut, daß die zur ersten Disziplinarklasse Gehörigen die Erlaubniß haben, ohne Beaufsichtigung ihrer Arbeit nachgehen zu können. Wenn man mich hier bei Dir sieht, können wir sagen, daß wir uns über irgend eine Schreiberei zu besprechen haben. Hast Du den Ueberbringer der Zeilen belohnt?«

»Ja. Ich habe ihm doppeltes Brod geschrieben.«

»Dachte mir, daß dies nur von Dir käme.«

»Und Du?«

»Ich habe mir den Spaß gemacht, ihn unter die Küchenarbeiter zu schreiben. Wir gehen fort, und ich habe keine Unannehmlichkeit davon. Doch schau, da kommt Raumburg!«

Der Züchtling Nummer Zwei kam über den Hof herüber und in das Zimmer.

»Gut, daß Sie schon beisammen sind! Sie haben meine Bemerkung erhalten?«

»Ja.«

»Sie gehen mit?«

»Versteht sich! Aber welche Vorbereitungen haben Sie getroffen?«

»Ich noch gar keine, aber wir werden draußen erwartet.«

»Von wem?«

»Das möchte ich jetzt noch verschweigen. Im Gasthofe des nächsten Dorfes hat sich ein Kutscher einquartirt, der seine Pferde stets angeschirrt bereit hält. Eine Minute nach unserem Eintreffen dort kann es fortgehen.«

»Das wäre ganz gut. Aber wie kommen wir aus der Anstalt?«

»Sehr einfach: als Aufseher verkleidet. Da hält uns der Posten nicht an.«

»Alle Teufel, das ist verwegen! Am hellen lichten Tage ganz gemüthlich hinauszuspazieren! Aber die Kleider?«

»Bekommen wir bei dem Thorhabenden.«

»Wird sich hüten!«

»Freiwillig gibt er sie natürlich nicht her. Wir nehmen sie ihm.«

»Dann gibt es einen Kampf, welcher Lärmen verursachen wird.«

»Das werde ich schon zu vermeiden wissen. Jeder Aufseher, welcher von zu Hause kommt und die Anstalt betritt, hat Mütze und Kapot beim Thorhabenden abzulegen. Diese Sachen werden in die Garderobe gehängt, welche sich neben der Wachtstube befindet. Das ist genug für uns, denn wir brauchen ja jeder nur Kapot und Mütze, um ganz sicher für Aufseher gehalten zu werden.«

»Man wird uns aber dennoch erkennen.«

»Warum?«

»Wir sind rasirt, wie jeder Gefangene, und sämmtliche Aufseher tragen Bärte.«

»Ich habe mich vorgesehen. Bei meiner Arbeit kommen mir die größten Bärte, die ich abschneiden muß, in die Hände. Ich habe die Haare zu den schönsten falschen Bärten verarbeitet. Hier probiren Sie einmal!«

Er zog ein Papierpaket unter der Jacke hervor und öffnete es. Die drei Bärte, welche es enthielt, paßten ganz genau, und es gehörte ein sehr scharfes Auge dazu, um zu erkennen, daß sie falsch seien.

»Das ist vortrefflich!« meinte der einstige Direktor. »Aber wir können unsere Hosen und Schuhe nicht verbergen.«

»Unter dem Thore ist es finster.«

»Aber, wenn man uns auf dem Hofe begegnet? Selbst wenn wir vollständige Uniform trügen, würde jeder Aufseher, auf den wir treffen, wegen unsern fremden Gesichtern aufmerksam werden und uns anhalten.«

»Ich werde dafür sorgen, daß uns Niemand begegnet.«

»Wie wollen Sie das fertig bringen?«

»Sie wissen, daß ich sehr oft Befehle des Direktors an andere Beamte zu überbringen habe. Ich werde eine augenblickliche Konferenz im Speisesaale anheißen.«

»Gefährlich!«

»Gar nicht, denn der Direktor ist jetzt nicht in der Anstalt. Ich brauche diesen Befehl nur den beiden Oberaufsehern zu überbringen, so sind in fünf Minuten alle Aufseher außer dem Wachthabenden und den Visitatoren, die nicht von ihren Leuten fortkönnen, im Speisesaale versammelt. Also einmal fest und sicher: Sie fliehen wirklich mit?«

»Ja; lieber todt als länger hier!«

»Gut; so gehe ich jetzt. Zwei Minuten, nachdem Sie mich wieder vorübergehen sehen, kommen Sie zum Thorhabenden, aber einzeln, damit es nicht auffällt.«.

Er ging.

»Ein verwegener Kerl!« meinte der Arbeitsschreiber. »Er hätte Anlagen, ganz so zu werden, wie sein Vater früher war. Ich möchte doch wissen, warum er sich gerade für uns Beide so interessirt und uns gern mit frei sehen möchte.«

»Einestheils, weil wir seinem Vater, dem Herzoge von Raumburg, so treu dienten und deshalb in die gegenwärtige Lage kamen, und anderntheils, weil er glaubt, daß unsere Anhänglichkeit ihm später von Nutzen sein wird. Wir können uns seine Sorge für uns sehr gefallen lassen. Ohne ihn würde uns eine Flucht schwerlich gelingen, und wenn wir die Freiheit erreichen, gewährt er uns mit seinen Verbindungen die beste Sicherheit, daß wir nicht in die Hände unserer Verfolger zurückgerathen. Es versteht sich ganz von selbst, daß unsere Flucht ein ungeheures Aufsehen erregen und man Alles aufbieten wird, uns wieder zu ergreifen.«

»Wenn ihnen dies gelänge, würde ich mich tödten.«

»Ich mich auch; vorher aber würde ich mich nach allen Kräften zur Wehre setzen. Ehe man mich fängt müssen erst Einige daran glauben. Ich habe aus dem Bestecke des Arztes einige Messer zu mir gesteckt, mit denen man sich schon vertheidigen kann. Willst Du eins?«

»Ja. Gib her!«

Jetzt schritten einige Aufseher eilig vorüber.

»Schau, seine Finte beginnt bereits zu wirken. Die gehen nach dem Speisesaale.«

»Dieser Gedanke von ihm war ausgezeichnet. Nun wird für uns der Weg frei.«

Einige Augenblicke später schritt der Badewärter langsam über den Hof und gab ein leises, für andere unbemerkbares Zeichen, daß Alles gut gehe. Er begab sich in die Wachtstube, wo sich der Thorhabende ganz allein befand.

»Herr Aufseher!«

»Was willst Du?«

»Der Herr Aufseher Wendler ist bei mir im Bade. Er hat die Seife vergessen, die in der Tasche seines Kapots steckt. Sie sollten so freundlich sein und sie ihm schicken.«

»Gleich. Warte hier!«

Er trat in die nebenan befindliche Garderobe und suchte. Nach kurzer Zeit meinte er:

»Es steckt keine Seife drin. Komm heraus und suche selbst einmal nach!«

Der Badewärter warf einen raschen Blick durch das Fenster und sah den Arbeitsschreiber bereits kommen. Ein anderer Mensch war nirgends weiter zu sehen. Es war Zeit. Er trat zu dem Aufseher.

»Hier sind die Taschen!« sprach dieser.

»Schön. Werde Ihnen zeigen, daß ich mehr Geschick besitze als Sie, mein Gutester!«

Mit diesen Worten faßte er den Aufseher von hinten bei der Gurgel und drückte diese zusammen, daß der Ueberfallene keinen Laut von sich geben konnte. Er versuchte sich zu befreien, brachte es aber nur zu einigen kurzen konvulsivischen Bewegungen.

In diesem Augenblicke trat der Schreiber ein und eilte sofort herbei.

»Nehmen Sie sein Taschentuch und stecken Sie es ihm in den Mund!« gebot Raumburg.

Der Schreiber gehorchte, mußte aber mit seinem Messer die Zähne des Aufsehers auseinanderbrechen.

»Nehmen Sie die Schnur hier aus meiner Tasche und binden Sie ihm die Hände auf den Rücken und die Füße zusammen!«

Dies geschah, und hier konnte auch der Krankenschreiber mithelfen, welcher unterdessen hinzugekommen war. Dann wurde der gefesselte und geknebelte Mann in den Winkel geworfen.

»Hier hängt sein Degen, den er abgelegt hat,« meinte Raumburg. »Ich werde ihn umschnallen, da ich unter uns wohl derjenige bin, der am besten mit dieser Waffe umzugehen versteht. Nun schnell die Ueberröcke an und die Mützen auf. Dann fort.«

Den beiden Andern ging denn doch der Athem etwas laut. In solchen Fällen handelt auch der Muthigste nicht ohne einige Erregung. So vorbereitet verließen sie das Zimmer. Der Badewärter verschloß es und steckte den Schlüssel zu sich.

»Nun straks über den Hof und zwar in militärischer sicherer Haltung.«

Sie gelangten unangefochten an das Innenthor des Eingangs und klopften.

»Wer da!« ließ sich im Thorgewölbe die Stimme des Postens vernehmen.

»Drei Aufseher zum Ausgehen,« antwortete Raumburg fest.

»Können passiren!«

Es öffnete sich zuerst das innere und dann auch das äußere Thor, und Raumburg selbst zog dieses letztere hinter sich zu, damit es dem Posten nicht einfallen solle ihnen nachzublicken.

»Gott sei Dank; es scheint zu gelingen! Nun schnell die Mauer entlang und in das Freie; denn den betretenen Weg müssen wir vermeiden.«

Nicht gar zu eilig, denn das hätte Verdacht erregen können, aber doch mit möglichster Schnelligkeit gingen sie längs der Mauer hin und gelangten in das offene Feld. Hier sahen sie einen schmalen Fußpfad, welcher zum nächsten Dorfe führte und, wie sich von hier oben leicht bemerken ließ, jetzt nicht begangen war. Ihn schlugen sie ein.

»Nun können Sie uns wohl auch sagen, auf welche Weise Sie in Verbindung mit der Außenwelt gelangten,« meinte der frühere Irrenhausdirektor zu Raumburg.

»Das war nicht so schwierig, als ich vorher meinte,« antwortete dieser. »Als Badewärter hatte ich sehr oft in der Küche zu thun, des heißen Wassers wegen. Der Fleischer, welcher das wenige Fleisch, das in das Anstaltsessen geschnitten wird, zu liefern hat, kommt täglich des Morgens zu einer bestimmten Stunde, um dasselbe abzugeben. Er gehört zu denjenigen nicht amtlichen Personen, denen der Zutritt ohne besondere vorherige Anmeldung gestattet ist. Als ich ihn zum ersten Male sah, erkannte ich in ihm einen früheren Ulanen, der, als ich noch den Grad eines Rittmeisters besaß, mein Bursche gewesen war. Er war ein treuer williger Kerl gewesen, und ich hatte ihn bei seiner Verabschiedung unterstützt, so daß er heirathen und eine eigene Fleischerei anfangen konnte. Er war mir also einige Dankbarkeit schuldig. Er erschrak förmlich, als auch er mich erkannte, ließ sich aber nichts weiter merken. Aus einigen Worten, welche er scheinbar an den Koch richtete, hörte ich, daß er mich wiedersehen wolle, und so suchte ich es einzurichten, daß ich am nächsten Tage zu derselben Stunde wieder in die Küche mußte. Er ließ ein zusammengewickeltes Papierchen fallen, auf welches ich den Fuß setzte, um es dann unbemerkt aufzuheben. Er frug mich in den wenigen Zeilen, welche es enthielt, ob er etwas für mich thun könne, und erklärte sich zu allem bereit, was ich von ihm wünschen werde. Ich hielt mich in fortwährendem Verkehre mit ihm und ließ durch ihn einen Brief an Prinz Hugo von Süderland abgehen.«

»Den tollen Prinzen?«

»Ja. Dieser antwortete mir, daß er gern nach Kräften für mich handeln und sorgen werde, und hat mir einen Vertrauten geschickt, der mich mit einem Wagen erwartet, um uns über die Grenze und dann einstweilen in ein sicheres Asyl zu bringen.«

»Werden auch wir dem Prinzen willkommen sein?«

»Ich verbürge mich dafür.«

»Dann gestatte ich mir in Beziehung auf unsere Reise nach der Grenze einige Bedenken.«

»Welche?«

»Es ist zu Wagen nicht geheuer dort, wir Beide haben dies zur Genüge erfahren.«

»Ah, ich weiß, daß Sie da oben gefangen worden sind.«

»Allerdings. Die Bahn können wir freilich nicht benutzen, aber der Wagen bietet uns bei den wenigen Pässen, welche durch das Gebirge führen, ganz dieselbe Gefahr. Man wird bei der Nachricht von unserer Flucht diese Pässe sofort besetzen, so daß ein Wagen nicht passiren kann ohne durchsucht zu werden.«

»Hm, das ist richtig! Es wäre da wohl vortheilhafter, wenn wir die Tour zu Fuße machten. Da kann man leichter ausweichen und ist freier und ungebundener in allen seinen Bewegungen. Ich möchte mich beinahe dafür entscheiden. Was sagen Sie dazu?«

»Ich rathe es sehr.«

»Gut, so sei es entschieden. Aber heut und morgen kommen wir noch nicht in die Berge. Da nehmen wir den Wagen. Dort ist das Dorf. Aber kommt uns da nicht ein Mann entgegen?«

»Ein Spaziergänger.«

»Es scheint so, denn er schlendert dahin, als ob er sich nur ein wenig ausgehen wolle. Aber, hat er nicht etwas in der Hand?«

»Allerdings. Es scheint eine Peitsche oder etwas dem Aehnliches zu sein.«

»Wenn es eine Peitsche ist, so ist er unser Mann. Es ist ausgemacht, daß er dieses Erkennungszeichen mit sich führen und so viel wie möglich gegen die Anstalt zu patroulliren soll. Sehen Sie, auch er hat uns bemerkt und bleibt stehen. Er ist es jedenfalls.«

Sie kamen näher. Er zog die Mütze und grüßte höflich. Raumburg dankte und frug:

»Sagen Sie einmal, lieber Mann, sind Sie da aus diesem Dorfe?«

»Nein.«

»Woher sonst?«

»Weit her.«

»Was thun Sie hier?«

»Ich warte.«

»Ah, richtig! Sie sind aus Himmelstein?«

Der Mann nickte erfreut. Er wußte jetzt, daß er nicht umsonst gewartet habe.

»Ja, meine Herren.«

»Wohl ein Schloßbedienter des Prinzen?«

»Der Schloßvogt selbst. Welcher von den Herren ist es, den ich fahren soll?«

»Wir sind es alle Drei.«

»Ah, ich weiß nur von Einem!«

»Thut nichts. Ich bin Derjenige, an den Sie adressirt sind, mein Name ist von Raumburg. Diese Herren hier sind meine Freunde, welche ich Ihrem Herrn sehr zu empfehlen habe. Wie lange Zeit brauchen Sie um uns aufnehmen zu können?«

»Nicht volle zehn Minuten von jetzt an. Ich brauche nur die Pferde, welche bereits eingeschirrt sind, aus dem Stalle zu ziehen und an den Wagen zu hängen.«

»So kommen Sie!«

»In das Dorf? Nein, meine Herren; es ist nicht nothwendig, daß Sie sich dort sehen lassen; das würde Ihre Spur ja sofort verrathen. Man ist übrigens bereits aufmerksam auf mich geworden, weil ich die Pferde gar nicht ausgeschirrt habe und immerwährend hier spazieren gegangen bin. Gehen Sie rechts um das Dorf herum und dann möglichst in der Nähe der Straße weiter. Ich komme sofort nach, und dann können Sie einsteigen.«

»Sind Sie für mich mit allem Nöthigen versehen?«

»Mit Kleidungsstücken nur für Sie, und zwar auch nur für den ersten Augenblick, da ich nicht weiß, ob sie passen werden. Doch sind solche Dinge ja in jedem Laden sehr leicht zu bekommen, nur müssen wir diese Gegend erst hinter uns haben.«

»Und Geld?«

»So viel, wie Sie bis Schloß Himmelstein nur immer brauchen können. Seine Hoheit haben mir diese Börse und diese Brieftasche gegeben, um Beides Ihnen zu überreichen.«

»Danke! Also spannen Sie schleunigst an, damit wir nicht auf Sie zu warten brauchen.«

Der Schloßvogt eilte in das Dorf zurück, und die drei Flüchtlinge wandten sich um dasselbe herum. Sie gelangten hinter demselben auf die Straße, und da sie Niemand da bemerkten, schritten sie langsam auf derselben vorwärts. Sie sollten bald erkennen, was für eine große Unvorsichtigkeit sie damit begingen. Als sie an eine Biegung der Straße kamen, wo die Fortsetzung der letzteren ihnen durch ein Gebüsch verdeckt gewesen war, zuckte Raumburg vor heftigem Schreck zusammen.

»Alle Teufel, ein Gensdarm!«

»Wahrhaftig!« rief auch der Krankenschreiber. »Was thun wir?«

»Fliehen,« meinte der frühere Oberarzt. »Dort seitwärts in die Büsche hinein!«

»Nein, das geht nicht. Er hat uns bereits gesehen. Vorwärts, wir gehen gerade auf ihn zu!« entschied Raumburg.

»Aber er hat den Karabiner!«

»Und wir sechs Hände. Fürchten Sie sich?«

Der Gensdarm kam langsam näher, den Karabiner über die Schulter gehangen. Er hielt sie für Strafanstaltsbeamte und hob schon die Hand zum militärischen Gruße zur Mütze empor, ließ sie aber überrascht wieder sinken. Er war aufmerksam geworden.

»Guten Tag, meine Herren! Wohin?«

»Spazieren,« antwortete Raumburg.

»Sie haben frei?«

»Ja, Nachtdienst gehabt; da gibt es stets einen offenen Tag.«

»Habe Sie noch niemals gesehen und kenne doch die Kameraden alle. Sie sind wohl noch nicht lange hier angestellt?«

»Schon seit geraumer Zeit; doch sind wir erst vor Kurzem hieher versetzt worden.«

»Es scheint, Sie haben sich noch nicht vollständig equipirt, oder trugen Sie an Ihrem früheren Dienstorte Schuhe und Hosen von Sträflingstuch?«

»Allerdings.«

»Auch ein Sträflingshalstuch anstatt der Binde? Ah, mein Lieber, machen Sie den Mund zu, sonst fällt Ihnen der Schnurrbart hinein! Meine Herren, Sie haben wohl die Güte, mit mir nach dem Dorfe zurückzukehren!«

»Warum?«

»Sie kommen mir verdächtig vor.«

»Verdächtig? Anstaltsaufseher? Das ist denn doch im höchsten Grade spaßhaft!«

»Nicht ganz so spaßhaft wie die Maskerade, welche Sie treiben, trotzdem wir nicht in der Fastenzeit leben. Bitte, drehen Sie sich um; Sie begleiten mich!«

»Meinetwegen!« antwortete Raumburg gleichmüthig. »Wir wollen den Spaß mitmachen und haben keineswegs etwas dagegen, wenn ein Gensdarm Lust hat, sich da von den Bauern auslachen zu lassen.«

»Das mit dem Auslachen wird sich wohl finden! Ah, was ist denn das?«

Ein dumpfer, weithin dröhnender Ton war von der Stadt her erschollen. Der Sicherheitsbeamte blieb horchend stehen und ließ dann den Karabiner von der Schulter schlüpfen.

»Ein Kanonenschuß – – noch einer – – und jetzt ein dritter! Holla, es sind drei Züchtlinge entsprungen, und die seid Ihr. Vorwärts marsch, zurück!«

»Herzlich gern, Herr Wachtmeister!« antwortete Raumburg.

Er hatte seinen Wagen kommen sehen, der mit zwei ausgezeichneten Braunen bespannt war. Der Schloßvogt saß auf dem Bocke. Er sah den Gensdarm, welcher die Drei geführt brachte, und ließ sofort die Pferde halten. Absteigen, den einen Wagenschlag öffnen und wieder aufspringen war bei ihm das Werk eines Augenblicks. Er wußte, daß jetzt alles auf ihn ankam.

»Herr Wachtmeister,« rief er, als dieser mit seiner Begleitung herangekommen war; »haben Sie die Schüsse gehört? Es sind drei Züchtlinge entsprungen.«

»Habe sie bereits erwischt. Hier sind sie!«

»Donnerwetter! Dachte mir gleich so etwas, als ich Sie sah. Aber besser ist besser: ich habe schon aufgemacht; wollen Sie nicht meinen Wagen nehmen? Da haben Sie die Hallunken sicherer.«

»Ists Ihr Ernst?«

»Freilich! Ich versäume höchstens eine halbe Stunde Zeit, und die bringe ich schnell wieder ein. Ein Glas Bier fällt wohl auch ab?«

»Das und noch mehr. Ich nehme Ihr Anerbieten an.«

»Wo lade ich ab?«

»Vor dem Anstaltsthore. Lenken Sie um!«

»Ist auch Zeit, wenn Sie drinnen sind. Man darf solche Schlingels nicht so lange auf der Straße stehen lassen.«

»Gut! Vorwärts, eingestiegen!«

Der Vogt hielt die Peitsche hiebgerecht, nahm die Pferde hoch in die Zügel und wartete auf den entscheidenden Augenblick, der ja gleich kommen mußte. Erst stiegen die beiden Schreiber ein, dann folgte Raumburg. Jetzt legte der Gensdarm die Hand an den Schlag.

»Herr Wachtmeister!« rief der Kutscher.

»Was?«

»Sie haben am Ende doch die Unrechten! Sind das nicht Züchtlinge, die drei Männer, welche dort über die Wiese gesprungen kommen?«

»Wo?«

»Rechts da drüben!«

Die Kutsche stand zwischen dem Gensdarm und der Gegend, nach welcher der Schloßvogt zeigte. Darum nahm der Beamte die Hand vom Schlage und trat nach hinten, um besser sehen zu können. Da sauste die Peitsche auf die Pferde nieder; diese stiegen in die Höhe und zogen mit einem schnellen Rucke an.

»Adieu, Herr Wachtmeister; es sind doch die Richtigen!« klang es lachend vom Bocke hernieder.

Der Geprellte faßte sich schnell. Er hob den Karabiner in die Höhe und rief:

»Halt, oder ich schieße!«

Das Gebot wurde nicht beachtet. Der Schuß krachte und noch einer – die Kugeln schlugen beide in den Wagen ein; dieser jedoch flog in sausendem Galoppe weiter. Die Vögel waren zum zweiten Male entwischt. – –

 

Am späten Nachmittage des folgenden Tages ritten auf der Gebirgsstraße ein Knabe und ein Mädchen auf kleinen schottischen Ponnys dahin. Der Knabe mochte etwas über vierzehn und das Mädchen ungefähr zehn Jahre zählen, doch war das letztere im Reiten sichtlich bewanderter als der erstere.

»Das ist eigentlich sonderbar bei Dir,« meinte das Mädchen. »Du hast drei Väter.«

»Wieso, Magda?«

»Nun, Du hast einen Vater, den hast Du gar niemals gesehen, dann hast Du einen Vater, der ist Dein Stiefvater, und endlich hast Du noch einen Vater, der ist auch mein Papa.«

»Ja, ich muß Papa zu ihm sagen, aber hat er mich denn auch wirklich so lieb, wie ein Vater gewöhnlich seine Kinder liebt?«

»Der Papa? Der hat Dich sehr lieb, das kannst Du mir glauben. Ich war dabei, als er mit Herrn Walther von Dir sprach.«

»Was hat er da gesagt?«

»Ja, das darf ich Dir eigentlich gar nicht verrathen, Kurt; denn sonst wirst Du mir am Ende gar stolz, und Du weißt doch, daß ich dies niemals gern leiden mag.«

»Ich verspreche Dir, daß ich nicht stolz werde. Ich habe übrigens auch gar keine Anlagen dazu.«

»Er sagte nämlich so:« Dabei setzte sich das hübsche Kind auf ihrem Ponny in eine sehr würdevolle Positur zurecht, um die Haltung und Miene nachzuahmen, welche ihr Vater bei den betreffenden Worten gezeigt hatte. »Mein lieber Herr Walther, Sie sind der Erzieher meiner Tochter, und ich freue mich Ihnen sagen zu können, daß ich mir Ihnen sehr zufrieden bin. Ich habe ihnen jetzt auch meinen Pflegesohn übergeben. Er ist ein armer Schifferknabe und hat nur einen solchen Unterricht genossen, wie er in einer gewöhnlichen Volksschule ertheilt wird; aber er besitzt ausgezeichnete Anlagen und eine Lust zum Lernen, die ihm helfen wird auch größere Schwierigkeiten zu überwinden. Er hat ein sehr gutes Herz, ist offen und ehrlich in allen Fällen; man muß ihm herzlich gut sein, und ich wünsche, daß auch Sie ihm Ihre Liebe widmen. Er soll Marineoffizier werden, haben Sie die Güte, Ihren Unterricht nach diesem Plane zu arrangiren! Siehst Du, so hat Papa gesagt, und noch vieles Andere dazu, was Alles sehr gut und schön geklungen hat.«

»Das freut mich sehr. Das hätte meine Mutter hören sollen, die wäre recht glücklich darüber gewesen. Sie hat mir geboten, Alles zu thun um die Zufriedenheit Deines Papa zu erlangen.«

»Ich habe es ihr bereits erzählt. Aber, Kurt, Du sollst nicht sagen »Deines« Papa; er ist ja auch Dein Vater, und ich bin also Deine Schwester. Ich freue mich unendlich, daß ich einen Bruder habe, denn das ist viel besser als vorher. Auch die Tanten haben Dich sehr gern. Sie gewinnen nicht gleich Jemanden lieb, aber Du, weißt Du, wodurch Du ihre Zuneigung sogleich erobert hast?«

»Nun?«

»Dadurch, daß Du so muthig und klug gegen den tollen Prinzen gewesen bist, und dann auch ganz besonders damit, daß Du damals die Frösche und Krebse entfernt hast. Auch unser alter guter Kunz ist Dir sehr gut. Wenn er von Dir spricht, so wirst Du gar nicht anders als »unser Junge« oder »unser Kurt« von ihm genannt.«

»Ja, wir haben es gegen früher wie im Himmel bei Euch, und das gönne ich meiner armen guten Mutter von ganzem Herzen. Sie grämt sich gar sehr darüber, daß mein Stiefvater jetzt in das – das – – das – – –«

»Sage nur das Wort, lieber Kurt; Du bist doch nicht schuld daran!«

»In das – Zuchthaus gekommen ist, wollte ich sagen.«

»O, wie schrecklich muß es dort sein! Man kann sich gar nicht wundern, wenn einmal Einer zu fliehen versucht, wie der Kutscher gestern erzählte. Wie war denn das eigentlich? Du bist ja mit dabei gewesen.«

»Nun, ich mußte den Papa und Kunz, als sie abreisten, mit zur Station begleiten, und da trafen wir im Wartesaale einen Herrn in Uniform. Der war, wie er Papa erzählte, Arbeitsinspektor im Zuchthause und mit dem letzten Zuge gekommen, um mit einem Geschäftsmanne zu verhandeln, der in der Strafanstalt sehr viel arbeiten läßt. Während dieser Mittheilung hörten wir, daß die Bahnbeamten sich etwas zuriefen. Es war soeben eine Depesche gekommen, welche an alle Stationen des Landes gerichtet ist. Sie lautete, daß drei sehr vornehme, sehr wichtige und auch sehr gefährliche Gefangene entsprungen seien, nämlich der Prinz von Raumburg und zwei Aerzte, von denen der eine Direktor und der andere Oberarzt im Irrenhause gewesen sind. Du kannst Dir denken, wie der Arbeitsinspektor erschrocken ist. Der frühere Oberarzt war sein Schreiber im Zuchthause; er gab die vorgenommene Besprechung auf und kehrte gleich mit dem nächsten Zuge, welchen auch Papa benutzte, in die Anstalt zurück.«

»Das sind allerdings drei sehr gefährliche Leute. Der Prinz hat mit seinem Vater, der nun todt ist, eine Verschwörung gegen unsern guten König angezettelt und das Land um ungeheure Summen betrogen, wie sich nachher herausstellte. Auch gemordet haben sie, heimlich und öffentlich, und viele Leute, die ihnen im Wege waren, als Wahnsinnige in das Irrenhaus gebracht, wo sie so gemartert wurden, daß sie wirklich wahnsinnig werden oder sterben mußten.«

»Das ist ja ganz und gar entsetzlich! Woher hast Du es denn erfahren?«

»Papa und die Tanten haben sehr oft davon gesprochen. Der alte Herzog hatte auch den Krieg angestiftet und das Land an den König von Süderland verrathen, das Volk sollte Revolution machen und er wollte dabei König werden. Aber es ist ihm nicht geglückt. Der tolle Prinz kam zwar mit seinen Soldaten in das Land; aber der General von Sternburg hat ihn umzingelt, und Papa ist mit seinem Heere ganz unvermuthet in Süderland eingefallen und hat die Hauptstadt erobert. Deshalb kann ihn der tolle Prinz nicht leiden. Die beiden Aerzte, welche mit entsprungen sind, sind ganz gewiß dieselben, von denen Papa erzählt hat. Sie haben dem alten Raumburg geholfen die Feinde desselben wahnsinnig zu machen. Ich wollte, sie würden wieder erwischt und in das Zuchthaus zurückgeschafft!«

»Man wird sie schon ertappen. Die ganze Polizei ist auf den Beinen, und alle Straßen sind besetzt um sie abzufangen. Die Depesche lautete nämlich, daß sie in einem Wagen, der mit zwei Braunen bespannt ist, die Straße nach dem Gebirge zu eingeschlagen haben.«

»Schrecklich! Wenn wir ihnen hier begegneten!«

»Oh, die sollten uns nur etwas thun! Ich habe mich vor dem tollen Prinzen nicht gefürchtet, und nun vor ihnen erst recht nicht. Ich könnte sie nicht aufhalten, denn ich bin zu klein dazu; aber Dir sollten sie kein böses Auge machen; das wollte ich mir sehr verbitten!«

»Oder wenn sie nach Helbigsdorf kämen! Der Papa ist mit Kunz verreist, und die Tanten sind auf Besuch hinüber zu Barons. Die kommen ja erst morgen wieder.«

»Nach Helbigsdorf sollen sie erst recht nicht kommen.«

»Und unser Herr Walther ist auch fort, auf Ferien zu seiner Braut nach Himmelstein!«

»Schadet nichts. Papa hat in seinem Waffenschranke eine ganze Menge von Degen und Pistolen, ich würde alle drei todtstechen oder niederschießen. Ich lerne das ja jetzt!«

»Ich habe dennoch Angst. Sie könnten Dich ja auch todt machen. Aber schau, wer sitzt dort unter dem Baume? Ich fürchte mich. Komm herüber auf die andere Seite!«

Die Straße führte durch den Wald. An dem einen Saume desselben lehnte unter einer knorrigen Fichte eine alte Frau. Sie war vollständig barfuß, trug einen einzigen Rock von grellrother Farbe, um die Schultern einen gelben, arg beschmutzten Ueberwurf und hatte ein blaues Tuch turbanartig um den Kopf geschlungen. Ihr Teint war tiefbraun; zahlreiche Runzeln durchfurchten ihr Gesicht, in welchem eine scharfe Nase über einem spitzigen Kinne thronte, und ihre Gestalt lag gebeugt auf dem Stocke, auf den sie die beiden Hände stützte. Mit ihren tiefliegenden schwarzdunklen Augen musterte sie aufmerksam die von ihrem Spazierritte heimkehrenden Kinder. Als diese herangekommen waren, streckte sie die Rechte bittend aus und trat unter dem Baume hervor.

»Gebt einer armen Zigeunerin etwas, Ihr blanken Kinder!«

Magda wollte ängstlich weiter reiten, aber Kurt hielt ihr Pferd und das seinige an.

»Eine Zigeunerin bist Du? Da habe ich ja noch gar keine gesehen!«

Sein offenes Angesicht und seine ehrlichen freundlichen Augen mochten der Alten gefallen.

»So sieh mich einmal ganz genau an,« meinte sie lächelnd, und ihre Augen zeigten dabei einen Ausdruck, wie man ihnen denselben so freundlich gar nicht zugetraut hätte. Dadurch und in Folge von Kurts Muthe wurde Magda auch beherzter.

»Du bist heute wohl schon sehr weit gegangen?« fragte sie.

»Nein; aber ich bin alt, und da wird man leichter müde als in der Jugend.«

»Also müde bist Du? Und wohl auch hungrig und durstig?«

»Beides ein wenig.«

»Da bist Du ja recht schlimm daran. Kurt, ich habe meinen Beutel vergessen. Bitte, gib ihr auch für mich etwas, damit sie zu Essen und zu Trinken kaufen kann!«

»Ja,« erwiderte dieser verlegen, »ich habe auch kein Geld mit. Was thun wir da?«

Das Mädchen blickte überlegend vor sich nieder. Die Zigeunerin nickte freundlich.

»Wenn Ihr nichts bei Euch habt, so könnt Ihr mir ja auch nichts geben. Es ist so gut, als hättet Ihr es gethan. Ihr seid gute Kinder. Gott segne Euch!«

Da hob Magda sehr entschlossen das Köpfchen.

»Nein, Du mußt etwas von uns haben. Aber sage mir vorher, ob es wahr ist, daß die Zigeuner so schlimme Leute sind. Die Tanten sagen, daß sie sogar Kinder stehlen.«

»Nein, das ist nicht wahr. Die Zigeuner sind so arm, daß sie froh sind, wenn sie gar keine Kinder haben. Und wenn einmal Einer etwas Böses thut, so sind die Andern doch nicht schuld daran.«

»Ja, das will ich auch gern glauben. Du siehst gar so mild und gut mit Deinen großen Augen und kannst sicherlich nur Gutes thun. Ich möchte gern, daß Du zu essen und zu trinken bekommst und Dich recht schön ausruhen kannst. Willst Du mit uns kommen?«

»Wohin?«

»Nach Helbigsdorf. Wir haben nur noch eine Viertelstunde bis dahin.«

»Ihr seid von Helbigsdorf?«

»Ja. Helbigsdorf ist unser,« antwortete Magda mit einem gewissen Selbstbewußtsein.

»Es gehört doch dem General von Helbig.«

»Das ist unser Papa. Willst Du mit? Du kannst bei uns essen und trinken so viel Du willst, und auch in einem schönen Bette schlafen. Wir geben Dir das ganz gern!«

Die Alte nickte zustimmend und kam über den Straßengraben herüber.

»Ja, ich gehe mit Euch, Ihr guten Kinder.«

Kurt sah ihren Bewegungen mit einigem Bedenken zu.

»Du bist sehr müde, wie es scheint, und wirst mit unsern Pferden gar nicht fortkommen.«

»So reitet Ihr voraus oder macht ein wenig langsamer.«

»Das geht nicht. Die Ponnys laufen nicht langsam, und zurücklassen wollen wir Dich auch nicht. Wenn Du Dich doch auf mein Pferdchen setzen könntest. Ich würde gern absteigen und es so führen, daß Du nicht fällst.«

»Wolltest Du das wirklich, mein guter Knabe?«

»Ja, sonst würde ich es Dir doch gar nicht anbieten. Willst Du es versuchen?«

»Ja, wenn Du es mir wirklich erlaubst.«

»So komm!«

Er stieg ab und wollte ihr behilflich sein. Zu seinem Erstaunen aber schwang sie sich mit einer Gewandtheit auf das Pferdchen, die er selbst noch gar nicht besaß.

»Ah, ging das schnell! Das sieht ja aus, als ob Du schon sehr viel geritten seist.«

»Das ist auch wirklich der Fall, mein Kind.«

Sie nahm ihm die Zügel aus der Hand, und es ging im raschen Schritte vorwärts. Die Zigeunerin ergriff zuerst das Wort:

»Also Ihr seid die Kinder des Herrn Generals von Helbig? Ich dachte, er hätte nur eine Tochter.«

»Das ist auch eigentlich richtig,« antwortete Magda, die jetzt ganz zutraulich geworden war. »Ich habe Kurt erst ganz kürzlich zum Bruder erhalten.«

»Wie so?«

»Wir waren im Seebad Fallum; da haben wir ihn kennen gelernt und ihn mit nach Helbigsdorf genommen, ihn und seine Mutter. Er hat mir das Leben gerettet und den tollen Prinzen mit sammt seinem Kahne umgefahren; darum ist er nun mein Bruder geworden.«

»Den tollen Prinzen, ah!«

»Kennst Du ihn?«

»Ja.«

»Du scheinst überhaupt recht sehr bekannt zu sein. Daß Papa eine Tochter habe, wußtest Du ja auch. Ist es wahr, daß die Zigeuner weissagen können und Dinge wissen, die sonst niemand weiß?«

»Es gibt welche unter ihnen, denen die Gabe verliehen ist, von der Du redest.«

»O, dann hast Du sie wohl auch?«

»Ja,« antwortete die Alte einfach.

»Dann bitte, weissage mir doch einmal!«

»Dazu bist Du noch zu jung, mein Kind. Die Züge Deines Gesichtes und die Linien Deiner Hand sind noch nicht genug entwickelt und ausgebildet. Später werde ich Dir weissagen.«

»Kannst Du mir nicht wenigstens etwas sagen?«

»Vielleicht,« lächelte die Zigeunerin. »Wie heißt Dein Brüderchen hier?«

»Kurt.«

»Nun gut: Kurt ist jetzt nur Dein Bruder, aber einst wird er Dein Mann sein.«

Magda schlug fröhlich die Hände zusammen und rief:

»Das ist prächtig. Ich möchte auch gar keinen Andern zum Manne haben! Aber ist es auch wahr, ist es auch wirklich sicher und gewiß?«

»Es ist wahr,« bestätigte die Alte halb scherzend, halb ernsthaft. »Aber er heißt doch wohl nicht Kurt allein, sondern er muß auch noch einen andern Namen besitzen!«

»Kurt Schubert.«

»Schubert? Was ist denn Dein eigentlicher Vater?«

Magda antwortete auch jetzt an des Knaben Statt:

»Ja, das ist etwas, wo Du zeigen könntest, daß Du mehr weißt als andere Leute. Er hat seinen Vater gar niemals gesehen, und das ist eine sehr traurige Geschichte. Sein Vater war Steuermann und ist mit seinem Schiffe in alle Welt gefahren, aber nicht wiedergekommen. Dann hat seine Mutter einen bösen Stiefvater heirathen müssen, der stets betrunken gewesen ist und jetzt nun gar im Zuchthause steckt.«

»Steuermann war er, und Schubert hieß er?« frug die Zigeunerin nachdenklich. »Balduin Schubert vielleicht?«

»Ja, Balduin!« rief Kurt schnell. »O, Du kennst seinen Namen?«

»Was weißt Du noch von ihm?«

»Nichts, als daß er einen Bruder hat, der Thomas hieß und Geselle in einer Hofschmiede war. Das hat mir meine Mutter erzählt.«

»Ich werde Euch doch beweisen, daß ich mehr weiß, als andere Leute. Ich werde Deiner Mutter von Deinem Vater erzählen, den ich kenne, und mit dem ich kürzlich noch gesprochen habe.«

»Ist es möglich? Ist es wahr?«

»Ja, Dein Vater ist jetzt Obersteuermann auf dem berühmten Kriegsschiffe »Tiger«. Ich habe einen Bruder, der auf demselben Schiffe Hochbootsmann ist.«

»O welch ein Glück; wie wird Mutter sich freuen. Komm, wir wollen schneller reiten!«

»Die Zigeuner sind wirklich klüger als wir,« meinte Magda nachdenklich. »Wie heißt Du denn eigentlich? Du mußt doch auch einen Namen haben.«

»Ich heiße Zarba.«

»Zarba?« rief das Mädchen ganz erstaunt. »Papa hat uns sehr viel erzählt von einer Zigeunerkönigin, welche Zarba heißt. Sie ist die Freundin des Königs und des Kronprinzen, den sie erst zum Kronprinzen gemacht hat. Sie ist auch die Freundin des Generals und des Kommodores von Sternburg und sogar die Verwandte der beiden jetzigen Herzoge von Raumburg. Den früheren Herzog hat nur sie allein gestürzt. Sie muß eine ganz außerordentliche Macht besitzen. Bist Du etwa diese Zarba?«

»Ich bin es.«

»Wirklich? O wie gut, daß wir Dich zu uns geladen haben, und wie schade, daß Papa nicht zu Hause ist! Aber Du sollst dennoch gerade so aufgenommen werden, als ob er da wäre. Darauf kannst Du Dich verlassen!«

»Ja, meine Mutter ist nämlich Wirthschafterin auf Helbigsdorf,« meinte Kurt altklug, »und da kannst Du Dir denken, daß Du sehr gut empfangen wirst.«

Nach kurzer Zeit erreichten sie ein größeres Dorf, an dessen Ende sich die stattlichen Gebäude eines Herrensitzes präsentirten. Als sie zwischen den sehr gut aussehenden Häusern dahinritten, sahen ihnen die Bewohner verwundert nach. Die Reiterin kam ihnen gar so sonderbar vor.

Als sie durch das Thor kamen, empfing sie der Verwalter, um ihnen die Pferde abzunehmen. Er warf einen erstaunten mißmuthigen Blick auf die Zigeunerin.

»Was ist denn das für eine Gesellschaft? Eine Zigeunerin! Das sollte der Herr wissen!«

»Warum?« frug Magda.

»Weil dies keine Begleitung für Sie ist, gnädiges Fräulein.«

Die kleine zehnjährige Generalstochter blitzte ihn mit zornigen Augen an.

»Welche Begleitung passend für mich ist, muß ich selbst wissen, Herr Verwalter. Sie haben sich nur um das zu bekümmern, was Ihres Amtes ist!«

»Aber jetzt ist weder Ihr Herr Papa, noch eines der gnädigen Fräuleins, noch der Herr Erzieher da, und da habe ich als Verwalter die Aufsicht über Sie zu übernehmen!«

»Wer hat Ihnen gesagt, daß wir Beide der Aufsicht, und noch dazu der Ihrigen bedürfen? Doch nicht etwa Papa! Wenn ich ihm Ihre Worte erzählte, wäre Ihnen ein Verweis sicher. Aber ich will Ihnen verzeihen. Sie haben die Oekonomie zu leiten, so viel ich aber weiß, gehören wir Beide weder zum Gesinde noch zu den Thieren. Führen Sie die Pferde in den Stall. Komm, Zarba!«

Sie nahm die Zigeunerin bei der Hand und führte sie nach dem Portale des Wohnhauses. Kurt folgte ihnen. Der Verwalter blickte ihnen erschrocken nach.

»Zarba? Alle Wetter, da habe ich einen ganz gewaltigen Bock geschossen! Das also war Zarba, die berühmte Vajdzina Führerin, Königin. aller Zigeuner von Nor- und Süderland! Wer konnte das denken? Sie verkehrt mit Fürsten und Königen und kommt hierher barfuß und in Lumpen. Diesen Fehler muß ich schleunigst wieder gut machen. Und das kleine Fräulein, wie à propos das thut! In der steckt bereits ganz und gar der Alte, dem man auch nicht in die Quere kommen darf, sie kann die Reden setzen wie ein Professor. Wie gut und nobel sie das zum Vorschein brachte, daß sie so gnädig sein und mir verzeihen wolle. Ich werde mir sicher nicht wieder beikommen lassen sie beaufsichtigen zu wollen.«

Während dieses auf dem Herrensitze geschah, kam von der anderen Seite her ein Mann in das Dorf gegangen, welcher im Gasthofe einkehrte und sich ein Glas Bier geben ließ.

»Nicht wahr, dieser Ort hier heißt Helpigsdorf?« frug er den Wirth.

»Ja.«

»Und der Pesitzer des Schlosses da open ist der Herr General von Helpig?«

»Ja.«

»Er ist nicht zu Hause?«

»Nein, er ist verreist.«

»Aper seine drei Damen sind da?«

»Auch nicht. Sie sind auf Besuch in die Nachbarschaft.«

»So. Wer ist denn da anzutreffen?«

»Der Verwalter und die neue Wirthschafterin.«

»Die Wirthschafterin? Was ist denn das für eine Madame? Wie heißt sie?«

»Ihr Name ist Hartig.«

»Hartig? Hm. Sie ist wohl noch nicht längst in Helpigsdorf?«

»Erst seit kurzer Zeit. Der Herr General hat sie mit ihrem Sohne aus dem Seebade mitgebracht, wo er Beide kennen gelernt hat.«

»Aus dem Seepade; das stimmt; ich bin also am richtigen Orte angekommen.«

Er bezahlte sein Bier und ging nach dem Schlosse zu.

Die Sonne hatte sich gesenkt und war im Scheiden begriffen. Sie vergoldete die Giebel, Zinnen und Fenster des Schlosses und hüllte den gegenüberliegenden Waldesrand bereits in halbe Schatten. Dort standen drei Männer, welche die vor ihnen liegende Gegend musterten.

»Dem Wegweiser nach muß dies Helbigsdorf sein, eine Besitzung des Generals von Helbig, wenn ich mich recht erinnere. Im Walde schlafe ich nicht, Helbig kennt mich. Wir müssen also weiter, aber es fragt sich, in welche Richtung wir uns wenden.«

Der Sprecher war der Jüngste von den Dreien. Der Zweite, ein sehr dicker Mann, meinte:

»Ich habe auch keine Lust, im Walde zu schlafen und mir einen Rheumatismus zuzuziehen, aber ebensowenig habe ich Lust weiter zu gehen. Seit wir den Wagen verlassen haben, bin ich ermüdet zum Umfallen.«

»Ich auch,« stimmte der Dritte bei. »Diese Waldwege sind verteufelt anstrengend.«

»Hm,« machte der erste Sprecher. »Helbig ist sehr reich und hat viele Besitzungen, warum soll er gerade hier anwesend sein? Könnte ich erfahren, daß er nicht hier ist, so würde ich mich entschließen auf dem Schlosse zu bleiben; ein Gasthof ist mir zu gefährlich.«

»Das können wir ja gleich erfahren. Dort den Hohlweg kommt ein Briefträger herauf. Diese Leute wissen gewöhnlich Alles, und er hat sicher auf dem Schlosse zu thun gehabt.«

»Er kommt nach hier. Treten Sie zurück, daß er Sie nicht bemerkt. Ich werde so thun, als ob ich ihn begegnete, und ihn fragen.«

Die beiden Andern steckten sich in das Strauchwerk, er aber schritt in den Wald hinein und kehrte dann wieder um. Er richtete dies so ein, daß er gerade am Saume des Holzes auf den Briefboten stieß, der ihn höflich grüßte.

»Guten Abend,« antwortete er. »Ist dieses Schloß hier Schloß Helbigsdorf?«

»Ja.«

»Es gehört dem General von Helbig?«

»Allerdings.«

»Wissen Sie nicht, ob er anwesend ist?«

»Er ist nach der Residenz verreist.«

»Sind seine Schwestern hier?«

»Eigentlich, ja. Aber sie sind auch fort, auf Besuch bis morgen.«

»Wissen Sie dies gewiß?«

»Ich hatte an jede von ihnen einen Brief und erhielt diesen Bescheid.«

»Wer ist denn da zu treffen?«

»Der Verwalter und die Wirthschafterin, wenn man das kleine Fräulein nicht rechnet.«

»Wie alt ist dieses?«

»Zehn Jahre vielleicht.«

»Ich danke Ihnen!«

Der Briefträger verfolgte seinen Weg weiter, der Andere suchte seine Genossen auf.

Diese drei Männer waren die entsprungenen Züchtlinge, deren Aeußeres sich allerdings bedeutend verändert hatte. Sie trugen feine Touristenanzüge, und jeder von ihnen hatte eine grüne Botanisirbüchse über die Achsel gehängt.

»Wir sind sicher,« meinte Raumburg. »Der General ist nicht anwesend und seine Schwestern ebensowenig. Die andern Personen kennen mich nicht. Ich werde mir das Vergnügen machen, hier zu übernachten und dann später dem General zu schreiben, daß ich auf meiner Flucht seine Gastfreundschaft in Anspruch genommen habe. Er wird außer sich gerathen vor Aerger. Kommen Sie, wir umgehen das Dorf. Wir sind Touristen, das heißt Botaniker und Geologen; da kann es nicht auffallen, wenn wir über die Felder kommen.«

»Wird man uns auch behalten?«

»Versteht sich. Lassen Sie dies nur meine Sorge sein, und richten Sie sich ganz nach mir!«

Auch sie schritten dem Schlosse zu, dessen Fenster nun bereits im halben Lichte lagen.

Dort war die Zigeunerin von der Wirthschafterin sehr freundlich aufgenommen worden. Die beiden Kinder konnten das was sie erfahren hatten, nicht einen Augenblick verschweigen.

»Wissen Sie, wen wir ihnen gebracht haben, meine gute Frau Hartig?« frug Magda.

»Nun?«

»Das ist die berühmte Zarba, von der uns Papa so viel erzählt hat.«

»Wirklich?« rief die Frau mir einem ehrerbietigen Blicke auf die Vajdzina.

»Ja. Sie kann weissagen und ist allwissend. Sie hat auch mir bereits prophezeit.«

»So! Was denn, wenn ich es erfahren darf?«

»Daß Kurt einmal mein Mann wird.«

»Ah!« lächelte die Wirthschafterin. »Da würde ich doch Deine Schwiegermutter!«

»Allerdings. Und das freut mich sehr, denn eine bessere Schwiegermutter könnte ich im ganzen Leben niemals finden. Aber nun kommt die Hauptsache für Sie: Zarba kennt nämlich Ihren Bräutigam und weiß auch, wo er sich befindet.«

»Meinen Bräutigam? Ich habe ja keinen. Wen meinst Du, mein Kind?«

»Kurts Vater.«

»Ist es möglich? Nein, der ist todt, sonst wäre er gekommen.«

»Im Gegentheile, er lebt; nicht wahr, Zarba?«

»Ja, er lebt, und ich habe mit ihm gesprochen.«

Die Wirthschafterin erbleichte im freudigen Schrecke.

»Mein Gott, wenn dies wirklich wahr wäre! Schnell, schnell, sprechen Sie!«

»Sagen Sie mir erst alles, was Sie von ihm wissen!«

»Er hieß Balduin Schubert und war Steuermann auf einem Kauffahrer, als ich ihn kennen lernte. Verwandte hatte er nicht, als nur einen Bruder, von dem er mir erzählte, daß er bei dem Hofschmied Brandauer in der Residenz gelernt habe und jetzt dort Geselle sei. Dann ging er in See und ließ nichts wieder von sich hören. Oder ist er gekommen und hat mich nicht gefunden, denn ich wurde gezwungen, einen Andern zu heirathen und mußte mit diesem die Heimath verlassen.«

»Haben Sie sich nicht einmal an seinen Bruder gewendet?«

»Ich wollte ihm einmal schreiben, obgleich ich nicht wußte, ob er noch bei Brandauer sei; aber mein Mann kam dazu und las den Brief. Er behandelte mich darauf in der Weise, daß ich es nie wieder wagte; einen Brief zu verfassen. Er mochte meinen, Kurt zu verlieren, der fast ganz allein uns ernähren mußte. Also er lebt wirklich noch?«

»Ja. Er ist jetzt Obersteuermann auf dem »Tiger«, den der Kommodore Arthur von Sternburg befehligt. Dieser ist mehr sein Freund als sein Vorgesetzter, und ich kann versichern, daß es ihm sehr gut geht.«

»Wo haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Droben in den Bergen, während des letzten Krieges.«

»Wie sah er aus? War er gesund?«

»O, man sah ihm keine Krankheit an.«

»Hat er von mir gesprochen?«

»Nein, denn dazu gab es weder Zeit noch Gelegenheit.«

»Er hat mich sicher nicht vergessen, das weiß ich ganz gewiß. Könnte ich ihn doch einmal sehen!«

»Das wird wohl geschehen, jetzt zwar nicht, aber später sicher!« meinte Zarba. »Aber wer kommt denn da über den Hof?«

Sie traten an das Fenster und sahen den Mann, welcher sich im Gasthofe so genau erkundigt hatte. Ueber die Züge der Zigeunerin ging ein leises Lächeln. Sie mußte ihn kennen. Die Wirthschafterin bemerkte es und frug:

»Wer ist es?«

»Sie werden es gleich von ihm selbst erfahren. Ich werde mich einstweilen verbergen.«

Sie trat hinter das Kamin. Kaum war dies geschehen, so ging die Thüre auf. Der Eintretende grüßte und wandte sich an die Wirthschafterin.

»Entschuldigen Sie, Madame! Werden Sie pei dem Namen Hartig gerufen?«

»Ja.«

»So sind Sie die Frau Wirthschafterin des Herrn Generals von Helpig?«

»Allerdings.«

»So sind Sie diejenige Dame, mit der ich zu reden hape. Ich pin nämlich der Gastwirth und Schmiedemeister Schupert aus der Residenz.«

»Schubert? Ah! Wir haben soeben von Ihnen gesprochen. Seien Sie mir herzlich willkommen!«

»Freut mich sehr, daß ich Ihnen willkommen pin! Sie hapen soepen von mir gesprochen? Da muß ich Ihnen doch pereits ein Pischen pekannt sein.«

»O, ich kenne Ihren Namen schon fünfzehn Jahre lang.«

»Mein Pruder Palduin hat Ihnen denselben wohl gesagt?«

»Ja. Aber bitte, setzen Sie sich!«

»Ja, ich will Platz nehmen, denn wir werden wohl viel zu sprechen hapen.«

»Kann ich erfahren, wie Sie zu meiner Adresse gelangt sind?«

»Ich hape sie von Herrn General von Helpig pekommen. Sie müssen nämlich wissen: Der Hofschmied Prandauer, mein früherer Meister, gipt sein Geschäft auf, und der König Seine Majestät will mich zum Hofschmied machen. Die peiden Gesellen, nämlich der Heinrich und der Paldrian, werden da pei mir arpeiten, opgleich ich Ihnen unsere Gastwirthin und Kartoffelhändlerin Parpara Seidenmüller weggefischt hape, die nun meine Frau ist. Alle hohen Herrschaften, welche pei dem Meister arpeiten ließen, kommen nun zu mir, und auch der Herr General von Helpig kam gestern mit dem Kronprinzen Max. Wir hapen von Ihnen und meinem Pruder gesprochen; ich erfuhr, daß der alte Schwede einen Sohn hat, und hape mich sofort aufgemacht, um Sie und ihn aufzusuchen. Kann ich den Jungen einmal zu sehen pekommen?«

»Hier ist er!«

»Das? Dieser da? Sapperlot, ist das ein Prachtkerl! Junge, ich pin Dein Onkel und Du pist mein Neffe. Komm an mein Herz und giep mir einen tüchtigen Schmatz!«

»Da ist er!« jubelte Kurt, der ganz glücklich war, so plötzlich einen Oheim zu bekommen.

»So! Junge, Du gefällst mir ganz ausgezeichnet. Willst Du Schmied werden? Ich nehme Dich in die Lehre, und Du sollst es pei uns gut hapen!«

»Das geht nicht, Onkel, denn ich soll Marineoffizier werden.«

»Was? Marineoffizier? Das ist verteufelt hoch hinaus. Aper ich hape nichts dagegen, opgleich ich Dir sagen muß, daß es nach Offizier nichts Pesseres gipt, als ein tüchtiger Schmied zu sein. Was wird sich meine Parpara freuen, wenn sie erfährt, daß sie einen so schmucken Neffen hat! Junge, Du mußt mit mir nach der Residenz, damit sie Dich zu sehen pekommt.«

»Ich gehe mit, denn ich habe Ferien, weil unser Hauslehrer verreist ist; nicht wahr, Mutter?«

»Ich weiß nicht, ob es der Herr General erlauben wird.«

»Op der? Natürlich erlaupt er es; das versteht sich ja ganz von selper!«

»Ja, Papa erlaubt es,« stimmte Magda bei. »Ich fahre auch mit.«

»Du? Wer pist denn Du, Du kleines Mamsellchen?«

»Ich bin die Tochter von meinem Papa, dem General.«

»Vom Herrn General? Alle Wetter, da pist Du ja ein ganz vornehmes Fräulein. Na, das wird meine Parpara pei der Ehre jucken, wenn eine Paronesse mitkommt. Macht Euch fertig, Ihr kleines Volk; wenn wir uns peeilen, kommen wir noch mit dem Nachtzuge fort!«

»Nein, so schnell geht das nicht,« lachte die Wirthschafterin. »Heut bleiben Sie natürlich hier bei uns. Sie werden mir sehr viel von Ihrem Bruder zu erzählen haben.«

»Von Palduin? Da werde ich nicht viel erzählen können, denn ich hape lange Jahre selpst nicht viel von ihm erfahren.«

»Aber jetzt wissen Sie doch von ihm.«

»Allerdings. Er hat mir auch von Ihnen erzählt; aper daß er einen Jungen hat, das weiß er nicht. Er hat Sie sehr liep gehapt und pis heute noch nicht vergessen; aper er redet nicht gern davon. Der Kauffahrer, auf welchem er damals gewesen ist, verunglückte in der Südsee, und Palduin hat auf einem Walfischfänger Aufnahme gefunden, auf dem er drei volle Jahre gewesen ist. Er konnte also nicht zurück, und als er wiederkehrte, hörte er, daß Sie einen Mann genommen hatten und fortgezogen waren.«

»Ich wurde gezwungen.«

»Davon hörte er nichts. Er ging sofort wieder in See und ist pis vor kurzer Zeit in der Fremde gepliepen. Jetzt ist er wieder fort, und zwar auf dem perühmten »Tiger«, der früher ein Seeräuperschiff gewesen ist und das peste Fahrzeug in allen Meeren sein soll.«

»Wenn kommt er wieder?«

»Das weiß ich nicht, da er mir noch nicht geschriepen hat; aper wenn sein Prief kommt, werde ich es erfahren, und da wird auch der Ort genannt sein, wohin wir das Schreipen zu richten hapen, wenn wir ihn penachrichtigen wollen. Er hat versprochen, mich sofort zu pesuchen, sopald er zurückkehrt, und dann wird er seinen Freund, den Hochpootsmann Karavey mitpringen. Rathen Sie einmal, wer das ist!«

»Der Bruder von Zarba, der Zigeunerkönigin.«

»Wahrhaftig, Sie wissen es! Kennen Sie denn diese verteufelte Zarpa auch?«

»Ja.«

»Wo hapen Sie dieselpe kennen gelernt?«

»Hier. Sie war einmal auf Schloß Helbigsdorf.«

»Ah! Was wollte sie denn hier?«

»Sie wollte mir sagen, daß Ihr Bruder noch am Leben ist.«

»Ah! Sie ist allwissend. Was kein Mensch sonst erfährt, das weiß sie Alles. Wie hat sie Ihnen denn gefallen?«

»Gut, sehr gut.«

»Mir auch. Ich hape sie zuerst für eine Hexe gehalten, die dem Teufel ihre Seele verschriepen hat; später aber hape ich eingesehen, daß sie ein ganz ordentliches und tüchtiges Frauenzimmer ist, vor der man alle möglichen Sorten von Respekt hapen muß. Ich pin pegierig, op ich sie noch einmal zu sehen pekommen werde. Es sollte mich freuen.«

»Das kann sogleich geschehen!« ertönte eine Stimme hinter dem Kamin hervor.

Thomas drehte sich um und erblickte diejenige, von der er soeben gesprochen hatte. Er fuhr zurück und schlug die Hände zusammen.

»Da ist sie; wahrhaftig, da ist sie, wie sie leipt und lept! Das schlechte Weipsen hat sich versteckt, weil sie mich pelauschen wollte. Wo kommst Du denn her, Zarpa?«

»Ich komme von überall.«

»So, nun weiß ich es ganz genau! Und wo willst Du hin?«

»Ueberall.«

»Das ist noch pestimmter und eingehender gesprochen! Hast Du einen Prief von Deinem Pruder Karavey erhalten?«

»Nein. Der »Tiger« ist wahrscheinlich nach Amerika hinüber. Da kann noch keine Nachricht von ihm gekommen sein.«

»Sein Prief kann Dich doch auch gar nicht treffen, wenn Du von Ueperall kommst und nach Ueperall gehst!«

»Es ist dafür gesorgt, daß ich Alles bekomme, was ich zu bekommen habe.«

»Heut pleipst Du hier?«

»Ja.«

»Das ist gut! Da können wir schön peisammen sitzen und erzählen, was wir auf dem Herzen hapen. Hier, Madame Hartig, hapen Sie meinen Hut und meinen Regenschirm. Hepen Sie mir die Sachen auf; aper nehmen Sie pesonders den Regenschirm in Acht; er ist ein Erpstück von meiner Parpara ihrer Großmutter, und diese rothen Paraplues mit plaugelper Kante sind jetzt eine seltene Rarität geworden.«

»Wir bleiben nicht hier, sondern gehen hinauf in mein Zimmer,« meinte die Wirthschafterin. »Da ist es gemüthlicher ab im Salon. Wir nehmen dort das Abendbrod, und später weise ich Ihnen dann Ihre Zimmer an.«

Sie gingen nach einem Seitenflügel des Herrenhauses, wo Frau Hartig ihre Wohnung hatte, und waren eben daran es sich bequem zu machen, als der Verwalter erschien.

»Frau Hartig, kommen Sie schnell herüber!«

»Weshalb?«

»Es ist Besuch hier.«

»Für mich?«

»Nein, für den Herrn General. Drei vornehme Herren, welche sich auf der Reise befinden und mit Seiner Excellenz sprechen wollten.«

»Sapperlot!«fluchte Thomas Schubert. »Nun verlieren wir unsere Frau Hartig, denn nun wird sie um diese vornehmen Leute herumzuspringen hapen!«

»Sorgen Sie sich nicht, Sie sind mir lieber als alle vornehmen Herren, welche kommen, um den Herrn General zu besuchen. Ich werde möglichst kurz mit ihnen sein. Im Nothfalle kann ich sie ja dem Herrn Verwalter übergeben. Nicht?«

»Ja wohl,« antwortete dieser, der froh war eine Gelegenheit zu finden, welche ihm gestattete seinen Fehler wieder gut zu machen. »Ich werde Ihnen gern behilflich sein, so daß Sie sich ausschließlich Ihren Freunden widmen können.«

Er führte die Wirthschafterin in das Empfangszimmer, wo Raumburg mit seinen zwei Gefährten auf sie warteten.

»Ihre Dienerin, meine Herren! Wer gibt mir die Ehre –?«

Raumburg ergriff das Wort:

»Mein Name ist von Hellmann; ich bin Oberstlieutenant bei den Husaren und ein Freund des Generals von Helbig. Diese beiden Herren sind Verwandte von mir – hier der Herr Präsident und hier der Herr Kanzleirath von Hellmann. Wir sind auf einem Ausfluge begriffen, kamen in diese Gegend und beschlossen, unsern Freund zu besuchen. Leider ist er nicht anwesend, wie wir hören?«

»Er befindet sich in der Residenz.«

»Aber die drei gnädigen Fräulein Schwestern?«

»Sind zu Besuch in die Nachbarschaft.«

Die Wirthschafterin antwortete so kurz, weil diese drei Herren etwas an sich zu haben schienen, was ihr nicht gefiel. Was es eigentlich war, das konnte sie sich nicht sagen; aber sie fühlte, daß sie kein Vertrauen zu diesen Männern haben könnte.

»Das ist wirklich unangenehm,« fuhr Raumburg fort. »Wollen Sie uns nicht wenigstens den Herrschaften bei deren Rückkehr empfehlen?«

»Gewiß! Es wird ihnen sicher sehr leid thun, daß es ihnen nicht vergönnt war Sie zu empfangen.«

»So erlauben Sie uns, bevor wir gehen, eine Erkundigung. Es ist bereits spät, und wir sind zu ermüdet, als daß wir unsere Fußtour noch sehr weit fortsetzen möchten. Gibt es hier im Dorfe einen Gasthof, in welchem man findet, was man zu beanspruchen gewöhnt ist?«

Jetzt sah sich die Wirthschafterin doch von derjenigen Seite angegriffen, auf welcher sie aus Höflichkeit an ihre Verpflichtung denken mußte.

»Einen Gasthof gibt es allerdings hier, doch werden Ihnen dort die gewohnten Bequemlichkeiten nicht geboten. Es ist jedoch meine Pflicht, Sie an Stelle des Herrn Generals darauf aufmerksam zu machen, daß Ihnen unsere Zimmer ja gern zur Verfügung stehen. Ich sprach dies nur noch nicht aus, weil ich glaubte, daß Sie Ihre Wagen in der Nähe und sich ein weiteres Ziel vorgesteckt hätten. Darf ich annehmen, daß Sie meine Bitte nicht zurückweisen?«

»Falls wir Ihnen keine Unruhe verursachen.«

»Nicht im mindesten!«

»Wohl, so nehmen wir an. Aber ich bemerke Ihnen, daß wir heut keinerlei Ansprüche machen. Wir reisen so zu sagen inkognito; verstehen Sie wohl. Ein kleines Abendbrod und ein einfaches Bette zum Ausruhen, das ist Alles, um was wir Sie ersuchen.«

»Ich werde Ihren Anordnungen gern nachkommen. Wünschen die Herren noch in Gesellschaft zu bleiben, oder soll ich Ihnen Ihre Zimmer sogleich anweisen?«

»Wir bleiben noch.«

»So erlauben Sie, Ihnen den Herrn Verwalter zu empfehlen. Es wird ihm eine Ehre sein, Ihnen zu Diensten stehen zu dürfen.«

Sie ertheilte in der Küche ihre Befehle und kehrte dann zu Thomas und Zarba zurück.

Die beiden Kinder waren in den Garten gegangen. Jetzt kehrten sie wieder, und Magda meinte altklug:

»Frau Hartig, ich habe unsern Besuch gesehen.«

»Wo denn?«

»Im Garten, wo der Verwalter sie herumführt. Der Eine ist mir bekannt, doch komme ich nicht sogleich auf seinen Namen. Ich muß ihn bei Papa gesehen haben. Er ist ein Offizier.«

»Das stimmt auch. Ich will Dir den Namen sagen: Es ist der Oberstlieutenant von Hellmann, mein Kind. Die andern Herren sind Verwandte von ihm.«

»Von Hellmann? Nein. Dieser Herr muß anders heißen. Den Herrn Oberstlieutenant von Hellmann kenne ich sehr genau. Er ist ein kleiner hagerer Herr mit einem sehr gewaltigen Barte im ganzen Gesichte. Nein. Es kommt mir vor, als ob der Herr im Garten etwas viel Höheres gewesen sei, nicht blos Oberstlieutenant. Er muß General oder so etwas sein.«

»Du irrst Dich, mein Kind. Siehe ihn Dir noch einmal genau an. Da kommen sie eben über den Hof.«

»Ich sehe es ja, es ist der Oberstlieutenant von Hellmann nicht!«

Auch Thomas war aufgestanden und an das Fenster getreten. Er fuhr erschrocken einige Schritte zurück.

»Alle Teufel! Nein, das ist der Hellmann nicht. Das ist – hm, es ist doch wahrhaftig gar kein Irrthum möglich!«

»Wer ist es denn?« frug die Wirthschafterin.

»Hm, und drei sind es auch; das stimmt!«

»So sagen Sie aber doch, wer es ist!« bat sie.

Sie war bei dem Tone, welchen Thomas hatte, wirklich ängstlich geworden.

»Zarpa!« rief dieser. »Komme einmal herüper an das Fenster und siehe Dir den grauen Kerl an, der soepen in den Stall guckt!«

Sie folgte seiner Aufforderung.

»Raumburg!« meinte sie überrascht.

»Ja, Prinz Raumpurg, den ich damals mit gefangen hape!«

»Mein Gott, ist das möglich!« rief die erschrockene Wirthschafterin. »Er soll aus dem Gefängnisse entsprungen sein.«

»Das ist er auch, meine liepe Frau Hartig, und diese peiden andern Vagapunden mit ihm. Sie werden verfolgt und können nicht gut in einem Gasthofe pleipen; darum sind sie zu Ihnen gekommen.«

»Was thun wir?«

»Natürlich unsere Pflicht. Wir fangen sie.«

»Aber wie? Sie sind ja höchst gefährlich und werden sich zur Wehre stellen.«

Thomas warf ihr einen sehr überlegenen Blick zu.

»Hapen Sie keine Angst. Der Thomas Schupert wird mit solchen Hallunken ganz alleine fertig!«

»Sie gegen Drei!«

»Nötigenfalls. Aper eine solche Anstrengung ist ja gar nicht einmal nothwendig. Hapen Sie den Schlingels schon ihre Zimmer und Schlafstupen angewiesen?«

»Noch nicht. Das werde ich erst dann thun, wenn sie gegessen haben.«

»Gut. Dann suchen Sie es so einzurichten, daß sie sich nicht zu Hilfe kommen können.«

»Ich werde weit auseinander liegende Zimmer wählen.«

»Ja. Und wenn sie dort sind, dann spiele ich den Hausknecht oder den Zimmerkellner und nehme sie pei dieser Gelegenheit gefangen.«

Magda war bei dem Gehörten natürlich sehr erschrocken und hatte sich ängstlich in die Ecke des Sophas geschmiegt. Kurt aber hatte aufmerksam zugehört und schlich sich jetzt zur Thüre hinaus nach seinem Stübchen. Dort hatte er seine beiden Pistolen, welche er beim Schießunterrichte zu gebrauchen pflegte. Er lud sie und steckte sie zu sich. Dann ging er in den Hof hinunter. Auf der Treppe begegnete ihm der Verwalter mit den beiden einstigen Irrenärzten. Raumburg war zurückgelieben, um den Pferdestall einer Besichtigung zu unterwerfen. Kurt trat zu ihm.

»Wie gefallen Ihnen unsere Ponnys?« frug er treuherzig.

»Sie sind ausgezeichnet, mein Knabe,« antwortete Raumburg.

»Und der Rapphengst da?«

»Ein sehr edles Pferd. Ich kenne es. Der Herr General pflegt es zu reiten, wenn es gilt, ungewöhnliche Anstrengungen auszuhalten.«

»Ja, es wird auch höchst aufmerksam gepflegt. Sind Sie auch ein Freund von guten Hunden, Herr Oberstlieutenant?«

»Natürlich!«

»Hat Ihnen der Verwalter unsern Hundezwinger gezeigt?«

»Nein.«

»Bitte, den müssen Sie sehen. Wollen Sie mitkommen?«

»Gern.«

Kurt führte ihn zu einer Thür, hinter welcher bei ihrer Annäherung ein freudiges Gewinsel zu hören war.

»Nur still da drin. Ich komme!«

Er öffnete und war augenblicklich von einer Menge von Thieren umringt und umsprungen, von denen jedes einzelne ein Muster seiner Rasse war. Der Prinz von Raumburg fühlte sein Interesse steigen und trat tiefer in den Stall.

»Bitte, nicht zu weit hinter, Herr Oberstlieutenant. Das ist gefährlich! Da hinten liegt einer, der ist schlimmer als ein Tiger.«

»Ah, ein Wolfshund!«

»Das wäre weiter nichts; aber ein sibirischer. Wollen Sie ihn genau sehen?«

»Wenn es ohne Gefahr möglich ist.«

»So treten Sie an die Seite.«

Kurt ging nach dem hintersten Winkel.

»Wjuga, steh auf!«

Auf diesen Ruf erhob sich langsam ein mächtiges weißzottiges Geschöpf, welches einem Eisbären bei weitem ähnlicher sah als einem Hunde. Kurt kettete ihn los und führte ihn bis vor an die Thür. Raumburg stand im Innern des Stalles.

»Sehen Sie, Herr Oberstlieutenant, diese Fänge! Ein Kampf mit ihm ist unmöglich. Ich brauche gar nichts zu sagen, sondern nur mit der Zunge zu schnalzen und mit dem Finger auf Sie zu zeigen, so liegen Sie an der Erde. Wollen Sie dann wenigstens Ihr Leben retten, so dürfen Sie sich nicht im mindesten bewegen und nur ganz leise sprechen. Das erste überlaute Wort würde Ihnen das Leben kosten; er würde Sie zerfleischen.«

»Das traue ich ihm allerdings zu.«

»Nicht wahr! Ich werde es Ihnen zeigen. Passen Sie auf, jetzt schnalze ich mit der Zunge. Sehen Sie, da steht er schon vor Ihnen, weil Sie der Einzige sind, auf den sich dieses Zeichen beziehen kann. Erhebe ich den Finger, so liegen Sie augenblicklich an der Erde. Soll ich?«

»Das wollte ich mir allerdings verbitten,« antwortete Raumburg.

Das Gebahren des Knaben kam ihm nicht ganz geheuer vor.

»Und dennoch werde ich es thun, sobald Sie von jetzt an lauter sprechen als ich es wünsche!«

Raumburg sah ihn mehr erschrocken als überrascht an.

»Warum? Ich befehle die Unterbrechung dieses gefährlichen Scherzes!«

»Es ist kein Scherz, sondern es ist mein Ernst. Ich gebe Ihnen nochmals meine Versicherung, daß Sie beim ersten überlauten Worte niedergerissen werden.«

»Aber warum?«

»Weil ich Sie dahin senden werde, wohin Sie gehören.«

»Ah! Wohin?«

»Zurück in das Zuchthaus, Herr von Raumburg.«

»Alle Teu – !«

Das Wort blieb ihm in der Kehle stecken. Sein Ton war ein zorniger gewesen, und sofort fletschte der Eishund die fürchterlichen Zähne und machte Miene sich auf ihn zu stürzen.

»Sehen Sie, mein Herr, daß Wjuga nicht mit sich spassen läßt? Sie sind unser Gefangener. Ich werde jetzt die Thüre verschließen und Sie unter der Obhut meiner Hunde lassen. Da sind Sie sicher. Wenn ich zurückkomme, so stehen Sie entweder noch genau so wie jetzt, oder Ihr Körper liegt in Stücken hier am Boden.«

»Mensch – Junge – Kerl, Du bist verrückt; Du bist wahnsinnig!«

Kurt antwortete gar nicht. Er trat aus dem Zwinger und warf die Thüre zu. Er ging nach dem Empfangszimmer, wo er die beiden andern Entsprungenen mit dem Verwalter fand.

»Meine Herren, Mutter läßt Sie ersuchen, doch einmal zu ihr zu kommen.«

»Wer ist das?«

»Die Frau Wirthschafterin,« antwortete der Verwalter.

»Schön, mein Knabe. Führe uns zu ihr.«

»Kommen Sie. Der Herr Verwalter wird auch folgen.«

Er ging voran nach dem Zimmer seiner Mutter und ließ, dort vor der Thür angekommen, die Beiden zuerst eintreten. Der Verwalter folgte ihnen, und dann zog Kurt die Thür hinter sich zu.

Die Ueberraschung der zwei Männer war unbeschreiblich. Sie erkannten Zarba und wollten sich umwenden. Da aber stand Kurt mir einer gespannten Pistole in jeder Hand. Er blitzte sie mit seinen schwarzen Augen an und meinte:

»Meine Herren, wenn Sie nur ein Glied bewegen, so erschieße ich Sie! Onkel, binde sie.«

Der dicke Krankenschreiber schwitzte plötzlich vor ungeheurem Schrecke.

»Aber, meine Herren und Damen, was wollen Sie? Sie irren sich!«

»Nein,« sprach Zarba, »Wir irren uns nicht. Ihr seid die entsprungenen Tiger, welche man jetzt im ganzen Lande verfolgt. Ich habe in Eurer Höhle gesteckt, wo Ihr mich wahnsinnig machen wolltet, und kenne Euch genau. Versucht keinen Widerstand, denn er ist umsonst!«

»Aber ich versichere, daß Sie uns wirklich verkennen. Unser Cousin, der Herr Oberstlieutenant, wird dies bestätigen.«

»Ihr Cousin, der Herr von Raumburg, braucht nichts zu bestätigen,« lachte Kurt. »Wir sind auch ohne ihn unserer Sache gewiß. Uebrigens ist er bereits mein Gefangener.«

»Was!« rief Thomas. »Wo denn?«

»Im Hundezwinger.«

»Er kann doch nicht fliehen?«

»Das ist unmöglich. Der Eishund würde ihn in Stücke reißen.«

»Gut. Also her mit den Händen, meine liepen Spitzpupen! Werde Euch so pinden, daß Ihr mit mir zufrieden sein könnt.«

Sie sahen, daß ein Widerstand unmöglich war. Zwar wollten sie noch allerhand Einsprüche und Vorstellungen versuchen, doch da es ihnen nichts half, sahen sie sich endlich gezwungen, sich in ihr Schicksal zu ergeben. Kurz vor dem Antritte ihrer Flucht hatten beide versichert, daß sie lieber sterben als sich fangen lassen möchten und ihr Leben theuer verkaufen würden. Es kam weder zum Sterben noch zu einer Vertheidigung.

Die beiden Aerzte wurden gefesselt und in sicheren Gewahrsam gebracht. Dann begab man sich nach dem Hundezwinger. Als dieser geöffnet wurde, stand Raumburg noch gerade so, wie er vorhin gestanden hatte. Er mußte eine fürchterliche Angst ausgestanden haben, erbleichte aber noch tiefer, als er Thomas und Zarba erblickte.

»Ah, guten Tag, Herr General!« grüßte der erstere. »Wir pegegnen uns da auf einer Sommerpromenade. Wie pekommt Ihnen die frische Luft?«

Raumburg knirschte mit den Zähnen, antwortete aber kein Wort. Auch Zarba sprach nicht. Sie begnügte sich damit, den Vorgang einfach zu beobachten.

»Er erkennt uns und redet nicht, weil er einsieht, daß aller Widerstand vergeplich ist. Hm, ein Prinz und General läßt sich von einem vierzehnjährigen Jungen fangen! Kurt, läßt mich der Hund hinan?«

»Ja. Binde den Mann.«

Raumburg wurde gefesselt und zu den zwei Andern gebracht, die man in ein sicheres Gewölbe eingeschlossen und so angebunden harre, daß eine Flucht ganz unmöglich war. Als sie sich allein befanden, nahm nach einer langen lautlosen Weile der Arbeitsschreiber das Wort.

»Was nun!«

»Entsetzlich!« keuchte der Krankenschreiber. »Wer hätte dies gedacht!«

»Daß Ihr Beide so feige Tölpel wäret? Ja, das hätte ich nicht gedacht!«

»Feig? In wie fern?«

»Laßt Euch aus frischer freier Hand wegfangen, und habt die Revolver bei Euch!«

»Haben Sie es besser gemacht?«

»Konnte ich mich vertheidigen? Dieser Junge, den der Teufel holen mag, lockte mich in den Hundezwinger, wo ich bei der geringsten Bewegung zerrissen worden wäre!«

»Konnten wir uns vertheidigen? Uns lockte er in ein stark besetztes Zimmer, wo er uns bei der geringsten Bewegung erschossen hätte. Also, was nun?«

»Was nun? Albernheit! Eingeliefert werden wir wieder. Prügel bekommen wir und Fußeisen oder Klötze an die Beine; Kostentziehung und strengen Arrest. Herrgott, ich wollte, die ganze Menschheit hätte nur einen einzigen Kopf, und ich könnte ihn herunterhauen!«

»Würde Ihnen auch nichts nutzen! Wollen lieber unsere Lage überlegen, ob nicht doch vielleicht die Flucht noch möglich ist.«

»Tölpel!« meinte Raumburg verächtlich. »Diese Zarba, welche Ihr besser kennt als ich, wird schon dafür sorgen, daß wir fest sitzen. Wir kommen in das Zuchthaus zurück, daran gibt es gar keinen Zweifel, und so wie wir es dort jetzt hatten, bekommen wir es niemals wieder.«

»Ich tödte mich!« meinte der Krankenschreiber.

»Ich auch!« stimmte sein Gefährte bei.

»Ich nicht!« knirschte Raumburg. »Ich bleibe leben, um mich zu rächen.«

»Aber wenn! Für uns gibt es keine Hoffnung, daß wir jemals entlassen werden.«

»Nein; aber Hoffnung gibt es, daß man doch einmal fliehen kann. Und dann, das schwöre ich bei allen Teufeln, wird man mich nicht wieder ergreifen!«

»Hm, aber lange werden wir aushalten müssen, ehe sich uns eine Gelegenheit bieten wird. Man wird uns trennen; eine Verständigung ist also unmöglich.«

»Pah! Wir sind doch jetzt noch beisammen. Wir kennen alle Räume und die ganze Einrichtung des Zuchthauses. Wir können uns ja jetzt verständigen.«

»Recht so! Benützen wir diese letzte Gelegenheit, um einen Plan zur Flucht bis in das Eingehendste zu entwerfen!«

Während sie diese Berathung pflogen, hatte droben im Salon Thomas Schubert seinen Neffen beim Kopfe.

»Kerl, ich küsse Dir die Packen herunter. Ist erst vierzehn Jahre alt und fängt drei entsprungene Züchtlinge auf eigene Rechnung. – Wie wird meine Parpara den Mund vor lauter Erstaunen aufsperren, wenn ich ihr das erzähle. – Aper nun sagt einmal, wem üpergepen wir unsere Gefangenen?«

»Dem nächsten Militärkommando entweder, oder wir telegraphiren an die Anstaltsdirektion, die sie abholen lassen wird.«

»Das letztere ist das Peste. Aper nicht plos an die Direktion hapen wir zu telegraphiren, sondern noch an andere Leute.«

»An wen?«

»Zuerst an den König und dann noch an den Kronprinzen Max. Diese Peiden hapen das größeste Interesse daran, daß Raumpurg jetzt sicher sitzt.«

»Und an Papa,« meinte Magda.

»Natürlich. Und wer pesorgt die Depeschen? In der Schreiperei und mit der Feder pin ich nicht ganz so pewandert wie mit dem Hammer und der Zange.«

»Der Herr Verwalter wird sie abfassen und auch zur Station bringen.«

»Gut. Und pis die Gefangenen apgeholt werden, muß vor der Thür zum Gewölpe und auch vor dem Fenster desselpen Tag und Nacht ein Posten stehen!«

»Den ersten mache ich!« rief Kurt und verließ den Salon.

Nach einiger Zeit kam Magda herunter und sah ihn vor der Thür des Gewölbes hin und her patroulliren.

»Siehst Du jetzt, Magda, daß sie doch gekommen sind und ich sie gefangen habe!«

»Ja, Du hast noch niemals Angst oder Furcht gehabt und wirst einst ein großer Held werden.«

»Und Du meine Frau, meine Heldin!«

»Natürlich. Und weil eine Frau ihrem Mann Alles belohnen muß, so darf ich Dir jetzt für Deine Tapferkeit einen Kuß geben. Nicht wahr?«

»Ja. Komm schnell!«


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