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Datierung des Mittelalters
Noch einmal: anders würde ich den Cusaner gesehen haben vom Standpunkte der Philosophiegeschichte, anders vom Standpunkte einer Geschichte der Mystik, wieder anders in einer Geschichte der Wissenschaften. Und wiederum: nur in feiner Studierstube war der Cusaner seiner Zeit voraus, bald kühn, bald ängstlich, als Kirchenpolitiker jedoch, als handelnder Mensch also, hätte er selbst für das 15. Jahrhundert noch rückständig genannt werden sollen. Man muß überall zwischen der idealen und der realen Macht der mittelalterlichen Kirche unterscheiden. Die ideale Macht stützte sich auf Gedanken oder Worte, die seit der Mitte des 3. Jahrhunderts für wesentliche Eigenschaften der Dogmen ausgegeben und schließlich in allen päpstlichen Bullen wie Axiome wiederholt wurden; danach hieß die christliche Kirche, bereits seit dem Ende des 1. Jahrhunderts die katholische zubenannt: einzig, heilig, allgemein, ausschließlich und apostolisch; wer diese Eigenschaften der Kirche, die langsam die römische Kirche geworden war, nicht anerkannte, wurde ein Ketzer, konnte, wenn er für seine Überzeugung starb, nicht ein Märtyrer werden. Mit solchen idealistischen Schlagworten wurde die Macht der Kirche in ein System gebracht, in ein Recht der Kirche umgewandelt, nachträglich, für den Wortstreit in allen Kämpfen zwischen den Fürsten und den Päpsten. Als der Wortstreit, besonders seit dem 13. Jahrhundert, lauter und freier geführt wurde, ließen sich's die Aufklärer angelegen sein, die Einheit, die Heiligkeit, die Allgemeinheit, die Ausschließlichkeit und endlich auch die Apostolizität, d. h. die Ursprünglichkeit oder Echtheit der römischen Kirchenlehre, zu bestreiten. Sie mußten in diesem geistigen Kampfe zunächst unterliegen, weil der aus dem Altertum gerettete Wissensrest allein beim Klerus war, eben nur die wenigen Aufklärer ausgenommen, und weil die Laien eine träge, des Lesens und Schreibens unkundige Masse bildeten. Sie mußten aber auch darum unterliegen, weil diese Wortwaffen nur offiziell, nur zum schönen Scheine gebraucht wurden, weil die reale Macht der Kirche auf Menschen und Dingen beruhte, auf dem knechtischen Gehorsam der Laien und auf dem Reichtum der Geistlichen. Jede Form des Aberglaubens und jede Fälschung von Urkunden wurde von der Kirche skrupellos angewandt, um den Gehorsam von Fürsten und Völkern zu erzwingen, um den Reichtum der Geistlichen zu vermehren. Schon aus diesem Grunde geht es nicht an, mit der sogenannten Reformation die Zeit des Mittelalters abschließen zu lassen; denn die Reformatoren befreiten ja Fürsten und Völker nicht von der Knechtschaft, von der Unterwerfung unter kirchliche Sätze; es lag nur an äußeren Verhältnissen, daß die Reformatoren die Fürsten zu Herren ihrer Kirchen zu machen schienen, als Papst-Fürsten, als die gottgewollten Obrigkeiten, wobei den Geistlichen die Deutung von Gottes Wort vorbehalten blieb, daß die protestantische Geistlichkeit in einer weniger opferbereiten Zeit sich mit irdischen Gütern zufrieden gab, die den Reichtümern der römischen Kirche gegenüber als Armut erscheinen mußte. Einzigkeit, Heiligkeit, Allgemeingültigkeit, Ausschließlichkeit und Echtheit der von ihnen gegründeten Kirchen lehrten auch die Reformatoren, erst recht ihre kleinen Nachfolger. Das Mittelalter hörte nicht früher auf, als bis alle diese Unterlagen der Unduldsamkeit langsam vernichtet wurden, ungefähr um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Eigentlich mit dem Westfälischen Frieden. Die reale Macht der römischen Kirche wurde durch die Reformation in Europa eingeschränkt, in einigen Staaten vernichtet; aber die geistige Macht kirchlicher Autorität wurde nicht angetastet; ja, durch den Kampf zwischen Reformation und Gegenreformation wurde die theologische Streitlust noch mehr aufgepeitscht und lieferte die Theorie zu den großen Religionskriegen, die erst jetzt an die Stelle der mittelalterlichen Kreuzzüge und der Ketzerverfolgungen traten und das Mittelalter nur noch blutiger und barbarischer fortsetzten. Erst der Westfälische Friede setzte also diesen Zuständen ein Ziel (vgl. S. 332).
Es wäre an der Zeit, auch aus unseren Schulen die Einteilung der Weltgeschichte zu verbannen, wo das Mittelalter ungefähr um das Jahr 1500 aufhört. Protestantische Geschichtschreiber lassen die sogenannte Neuzeit mit der Reformation beginnen, und katholische Schriftsteller haben diese Geschichtsklitterung übernommen, wenn sie auch die Entdeckung Amerikas, die Erfindung des Buchdrucks und die Einführung der Schießwaffen als die Ereignisse betrachten, die Epoche gemacht haben. Ich will diese drei Ereignisse in ihren Wirkungen wahrlich nicht unterschätzen; aber diese Wirkungen brauchten Jahrhunderte zu der Entwicklung, die wir mit falscher Optik in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts verlegen, selbst die Kulturtat der Erfindung beweglicher Lettern diente vorerst nur kirchlichen, sodann humanistischen Zwecken, diente höchstens der streitenden und später der toten Reformation, bis die Völker außer dem Lesen auch noch das Denken gelernt hatten und jetzt erst der mechanische Buchdruck allerdings die Ausbreitung des freien Denkens in einer Weise beschleunigte, die vorher nicht möglich gewesen wäre. Nur gegen die Absicht der Reformatoren hat die Reformation langsam zu der Selbstzersetzung des Kirchenglaubens geführt; Luther, Calvin, Zwingli hatten die Kirche und den mittelalterlichen Geist retten wollen. Es wäre an der Zeit, diese gesamte theologische Bewegung als eine mittelalterliche Erscheinung zu begreifen. Die neue Zeit beginnt wirklich erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts.
Selbstverständlich wäre es wieder Willkür, für den Gebrauch von Schulkindern bestimmt, wenn man nun etwa das Jahr 1648 für den Beginn der neuen Zeit auswählen wollte. Selbstverständlich gehen die Anfänge der Geistesbefreiung auf die Renaissance und noch weiter zurück. Doch um die Zeit des Westfälischen Friedens drängen sich so viele Tatsachen der politischen und der wissenschaftlichen Geschichte zusammen, daß die abendländische Welt doch mit überraschender Schnelligkeit eine neue Richtung einzuschlagen scheint. Einige Daten mögen die Bedeutung der Jahrzehnte um 1650 beweisen. Die neue Naturwissenschaft oder Physik im weiteren Sinne knüpft an die Lebensarbeit von Galilei an, und der stirbt 1642; das Barometer wird 1644 erfunden, die Pendeluhr 1655, und beide Werkzeuge finden Anwendungen, die über Wettervorhersage und praktische Zeitmessung weit hinausgehen. Das Fernrohr war 1634 erfunden worden und die weltstürzende Hypothese von der Gravitation war im Geiste Newtons schon 1666 fertig, wenn er auch noch viele Jahre für die rechnerische Begründung nötig hatte. Die neuere Medizin und Physiologie beginnt mit William Harvey, der seine Lehre vom Blutkreislauf 1628 veröffentlichte, 1649 verteidigte und seine Schrift, die durch den Satz » omne animal ex ovo« den antiken und mittelalterlichen Fabeln ein Ende machte, 1651 herausgab. Um die gleiche Zeit erstand die moderne Anatomie durch die Anwendung des Mikroskops; und Sydenham gab wieder einmal das Beispiel einer nichtmetaphysischen Medizin. Die Mathematik, die Grundlage aller exakten Wissenschaften, erfand sich ihre modernen Methoden und Kalküle erst im 17. Jahrhundert, dem saeculum mathematicum. Descartes gab seine analytische Geometrie, das Organon aller höheren Mathematik, 1637 heraus; Infinitesimalrechnung und Wahrscheinlichkeitsrechnung folgten. Die Philosophie desselben Descartes (der Discours ist ebenfalls von 1637), die vom absoluten Zweifel wenigstens ausgegangen war, wenn auch nicht bei ihm stehenzubleiben wagte, und das neue Vernunftrecht von Hugo Grotius wirkten auf Hobbes, der 1651 seinen Leviathan in englischer Sprache herausgab und in diesem Buche zum ersten Male die Theorie des modernen, unkirchlichen Staates aufstellte. Ihm folgte Spinoza 1670 mit seinem theologisch-politischen Traktat, der die Bibelkritik begründete und die Toleranz forderte.
Noch ein Umstand würde dafür sprechen, in unseren Darstellungen das Mittelalter später enden zu lassen, als es nach dem Herkommen geschieht; nichts ist bezeichnender für das christliche Mittelalter als der Teufelswahn und der Hexenwahn, wir haben aber gesehen, daß die infamste Schmach der Christenheit, eben die Hexenprozesse, erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts aufzuhören begann, daß die päpstliche Bulle, die die Hexenprozesse amtlich einführte, just in das Jahrzehnt fällt, mit welchem man gewöhnlich das Mittelalter abschließt. Noch näher: die Hexenbulle ist 1484 herausgekommen, ein Jahr vorher war Martin Luther geboren worden.
Luther
Luthers Bedeutung für die Weltgeschichte, d. h. für die Völkergeschichte des Abendlandes, Luthers Bedeutung für die deutsche Kultur und die deutsche Sprache wird in keiner Weise herabgemindert, wenn entschieden gegen die geschichtliche Fälschung Protest erhoben wird, als hätte er den Grund zur Geistesfreiheit gelegt und zur Gewissensfreiheit. Die von ihm mit allen Mitteln eines Politikers errichtete neue Kirche unterschied sich von der katholischen Kirche des Mittelalters nur in sehr wenigen Glaubenssätzen und in einigen Vorschriften des Kultus Dafür, daß Luthers Abfall von Rom nicht auf den Kern der Sache ging, nur einen lustigen Beleg anstatt einer theologischen Abhandlung. Zum Lutherjubiläum von 1883 konnte ein katholischer Geistlicher (er unterschreibt sich G. M. Sch., sein Wohnort München) sich den Spaß machen, einen »Römisch-katholischen Katechismus von Dr. Martin Luther, weiland Professor in Wittenberg« herauszugeben. Das Büchlein (in Würzburg bei F. K. Bucher erschienen) enthält alle Lehren der katholischen Kirche, auch die über Beichte, Fegfeuer, Heiligen- und Marienverehrung, mit eigenen Worten Luthers, die freilich frühen und späten Schriften entnommen und oft aus dem Zusammenhange gerissen sind. Immerhin wirft die Möglichkeit einer solchen Zusammenstellung ein Licht auf den Geist von Luthers Befreiungstat.; für die eigene Ketzerei verlangte er Duldung und hat da das gewaltige Verdienst, zum ersten Male eine Ketzerei durchgesetzt zu haben; gegen die Ketzereien in der neuen Kirche aber wurde er mit den Jahren und mit dem wachsenden Erfolge immer unduldsamer, und seiner Kirche fehlte es nur mitunter an der Macht, niemals an dem Willen, die Andersgläubigen mit Feuer und Schwert zu verfolgen. Seit 1525 war Luther wahrlich kein Freiheitskämpfer mehr. Wahr ist allein, daß sein Kampf gegen die unfehlbare Autorität der römischen Kirche langsam und gegen seine Absicht eine Kritik der alten Theologie stärkte, so daß innerhalb der protestantischen Welt, aber außerhalb der lutherischen Kirche, durch Bibelkritik und Begriffskritik eine Bewegung entstand, in deren Folge endlich Männer möglich waren, die sich noch Protestanten nannten, doch im Sinne Luthers kaum mehr Christen waren. Wenn nun diese Herren vom liberalen Protestantenverein sich von ihrer Pietät gegen den starken Reformator verleiten lassen, Geistesfreiheit und Gewissensfreiheit, die wirklich in der protestantischen Welt weit mehr als in der katholischen gefördert worden sind, dem Luther selbst in die Gesinnung zu legen, so treiben sie – oft in gutem Glauben – das gleiche Fälscherhandwerk wie einst die Kirchenväter und die Evangelisten selbst, die im Alten Testament überall Verkündigungen der Lehre Jesu nachweisen wollten.
Richtig ist, daß Luther in den Zeiten des heftigsten Kampfes mit seiner unerhörten Sprachkraft gegen die Verfolgung der Ketzer und gegen jeden Gewissenszwang auftrat; das mußte er, wenn er das Recht auf seine eigene Ketzerei behaupten wollte. Da sprach er zu den Fürsten: »Es wäre ja viel erträglicher, obgleich ihre Untertanen irrten, daß sie sie schlechtweg irren ließen, denn daß sie sie zur Lüge und anders zu sagen dringen, denn sie im Herzen haben.« Da fand er die duldsamen Worte: »Ketzerei ist ein geistlich Ding, das kann man mit keinem Eisen hauen, mit keinem Feuer verbrennen, mit keinem Wasser ertränken. Es ist allein das Gotteswort da, das tut's.« Richtig ist auch natürlich, daß Luther, selbst von seinem Gewissen getrieben, mit Lebensgefahr gegen die päpstliche Macht aufzutreten und die Bibel nach seiner persönlichen Überzeugung zu deuten, in beschränktem Umkreise für das Recht des Gewissens, der Überzeugung, der Persönlichkeit seine ganze Kraft eingesetzt. Er hat prachtvolle Worte geprägt über die führende Stellung des Gewissens im Glauben. Es sei das stärkste und zugleich empfindlichste Vermögen der Menschenseele, es befreie von allen Menschengesetzen. »Es ist nichts Zärtlicheres im Himmel und auf Erden und das weniger Schimpfs leiden kann denn das Gewissen. Man spricht, es sei ein zärtlich Ding um ein Auge; aber das Gewissen ist noch viel zärtlicher.« Wenn man's so liest, möcht's leidlich scheinen. Der Atheist und Anarchist Knutsen, der ohne jede Nachwirkung die Sekte der »Gewissener« zu stiften suchte, hätte sich auf solche Sätze Luthers berufen können. Und Eduard v. Hartmann hat mit Recht die »Selbstzersetzung des Christentums« auf die Notwendigkeit zurückgeführt, die den frommen Luther zwang, seine eigene gewissenhafte Deutung der Bibelworte an die Stelle der römischen Tradition zu setzen.
Aber eben hier, in der Unterwerfung unter das Gotteswort, hörte die Gewissensfreiheit Luthers auf. Er hatte einmal gesagt: »Wenn man die Gewissen mit äußerlichen Gesetzen anfängt zu binden, so geht bald der Glaube und das christliche Wesen unter.« Und er ahnte gar nicht, daß nur ein äußerliches Gesetz, die Tradition nämlich, ihn zwang, die Bibel als Gottes Wort anzuerkennen. Er glaubte freilich, das freiwillig zu glauben und den Glauben an das Dasein eines Gottesworts von Gott selbst ins Herz gelegt erhalten zu haben; er wußte nicht, daß dieser vermeintlich angeborene Glaube ihm nur anerzogen war. Und klammert sich im Eifer seiner Streitigkeiten an den Buchstaben wie nur je ein Papist.
Freiheit
Wenn nun schon der Theologe Luther eine sehr enge Gewissensfreiheit lehrt und als anerkannter Führer keinen Widerspruch anders gerichteter Gewissen duldet, so steht es noch viel schlimmer um den Politiker Luther. Der hat mit dem Begriffe der Freiheit, auch der Gewissensfreiheit, ein bedenkliches Spiel getrieben. Wie er die von Gott gesetzte Obrigkeit in ihren herrischen Gelüsten unterstützte, so verlangte er von den Untertanen jeden Verzicht auf die Freiheit, so oft es die öffentliche Ordnung wünschenswert erscheinen ließ. Dieser Verzicht auf die Gewissensfreiheit sollte nach Luthers Worten nur die Angelegenheiten betreffen, bei denen der Leib des Menschen in Frage kommt; aber unmerklich gewann so die Obrigkeit auch über Seelenangelegenheiten Gewalt, und aus Luthers Lehre entstand der gewissenmörderische Grundsatz: cujus regio illius religio. Luther nahm sich heraus, den Leuten, deren Gewissen anders urteilte als das seine, ein Gewissen überhaupt abzusprechen; und wer kein Gewissen habe, der verdiene auch keine Gewissensfreiheit. An dieser Nichtswürdigkeit erkennt man den Luther, der jede Schandtat gegen die Schwarmgeister und gegen die unglücklichen Bauern guthieß. Wer die Freiheit Christi nicht so verstand wie er selbst, der gehörte zum mutwilligen Pöbel und zum halsstarrigen Volke. »Darum gehöret auch ein ander Meister für sie, nämlich der Henker und Stockmeister, der sie lehre: wenn sie nicht wollen Gutes tun in Gottes Namen, daß sie es tun in eines anderen Namen und keinen Dank, sondern höllisch Feuer und alle Plage zu Lohn haben.« Die Feindschaft Luthers gegen jede Art von Volksbefreiung tritt in seinem Verhalten gegen die Bauern nur besonders grell in die Erscheinung; gerade weil er ein Staatsmann war, ein ganz vorzüglicher Realpolitiker, und weil er zugleich eine tiefe Neigung zu geistlicher Herrschsucht hatte, wurde die ganze Bewegung seiner Reformation zu einem unehrlichen Spiel, bei welchem die Politik immer den Ausschlag gab. Wenn auch nur die Zeitstimmung, von den Forderungen der Radikalen zu schweigen, sich hätte durchsetzen können, so wäre das gesamte Deutschland wie ein Mann von der römischen Herrschaft abgefallen und die westlichen Königreiche hätten sich der neuen Kirche angeschlossen; die päpstliche Diplomatie verstand es aber meisterlich, die Machtgier der Großen in höchster Not für ihre Zwecke zu benützen und nicht nur das Abendland, sondern auch Deutschland zu spalten. Auf dem ungeheuren Schachbrett, auf welchem Kaiser Karl seine Züge zog, war Luther wirklich nur ein Bauer; der Kaiser hatte seine Interessen auf der ganzen Welt zu verteidigen, hatte mit den Gegenzügen des Papstes und des Königs Franz zu rechnen und ließ schon 1521 ganz deutlich nach Rom seinen Grundsatz melden, daß eine Hand die andere wasche: er wolle dem Papste in kirchlichen Fragen gefällig sein, wenn der Papst ihm sonst gefällig wäre. Die Kriege mit Franz I. hatten mit der Religion nicht das mindeste zu schaffen; sie waren eine Fortsetzung der alten dynastischen Streitigkeiten zwischen Burgund und Frankreich. Gewiß war dem Spanier Karl der deutsche Mönch Luther ein höchst widerwärtiger Störenfried, aber in der Politik wäre ihm der Teufel selbst als Verbündeter willkommen gewesen.
Nicht anders waren die deutschen Kurfürsten als Politiker frei von kirchlichen Rücksichten; hatten sie doch nur wenige Jahrzehnte früher ernsthaft daran gedacht, den böhmischen Utraquisten Georg von Podiebrad zum deutschen Könige zu wählen. Und als erst Luther nach zweijährigem Zögern, im Handeln so tapfer wie Melanchthon im Denken, zum Abfall von Rom entschlossen war, da sahen die deutschen Fürsten überall nur eine günstige Gelegenheit, auf Grund der neuen Kirche eine Landeshoheit zu errichten. Und Luther ging mit den Fürsten; so entwickelte sich der Protestantismus, der immerhin groß begonnen hatte, zu einem Geschäfte der Territorialherren.
Geld
Welche Rolle gar das Geschäft im engeren Sinne, das bare Geld, in der Reformationsbewegung spielte, das wäre einer besonderen Untersuchung wert, die ganz groteske Zusammenhänge bieten würde. Um die bayerischen Theologen gegen das Evangelium ungünstig zu stimmen, bewilligte ihnen der Papst, daß in jedem Domkapitel mindestens eine der reichen Domherrnpfründen einem Professor der Theologie zufallen sollte; und wir wissen von manchem Mitläufer (wie Johann Haner) Einer der Humanisten, die – dem Glaubenseifer Luthers innerlich fremd, Mitläufer nur aus Ehrgeiz oder Geldgier – für das Renegatentum prädestiniert waren., der durch Aussicht auf bessere Versorgung verführt wurde, der Reformation wieder untreu zu werden. Es stand um die geistlichen Kämpfer oft nicht anders als um die Landsknechte: kein Kreuzer, kein Schweizer; wird doch sogar von dem gewaltigen Kriegsmann Pescara berichtet, er habe just am Tage von Pavia gerufen: »Gott gebe mir hundert Jahre Krieg und nicht Einen Schlachttag; aber heute ist kein Ausweg.« Luther selbst ist für seine Person frei von so schmutzigem Handel, aber nicht die Bewegung. Der Zorn gegen den ganzen Ablaßunfug richtete sich ja dagegen, daß vom Auslande Geld gemacht wurde; als die Beute einmal dem Kurfürsten von Mainz zugute kommen sollte, hatte sein weltlicher Bruder, der Kurfürst von Brandenburg, gar nichts gegen den Ablaßkram. Das tollste Stück ist die Beteiligung des Bankhauses Fugger an der Finanzierung des Ablasses. Die Fugger hatten dem geistlichen Kurfürsten von Mainz eine große Summe vorgestreckt, die ihnen mit 50 Prozent der einlaufenden Ablaßgelder Zug um Zug immer sofort zurückgezahlt werden sollte; Agenten des Bankhauses wurden also den Ablaßkrämern beigegeben und hatten das Recht, allabendlich die Hälfte der Lösung einzustreichen; es ist sehr wahrscheinlich, daß die Fugger, um das Unterpfand ihres Darlehens besorgt, die Bulle des Papstes gegen Luther, die freilich erst Öl ins Feuer goß, in Rom durchgesetzt hatten, wie denn die Fugger auch die Kaiserwahl Karls wohl begünstigt und die Kosten der Disputation Dr. Ecks bezahlt haben mögen. Bereits vorher, in den Händeln von Reuchlin, scheint das Geld oft die Entscheidung herbeigeführt zu haben; die Briefe der Dunkelmänner sind voll von Anspielungen auf die Bestechungen, die die Dominikaner in Rom verübten; natürlich wird von der anderen Seite der Partei Reuchlins derselbe Vorwurf gemacht. Es wäre eben eine grobe Ungerechtigkeit, nur die Papisten am Golde hängen zu lassen. Nicht nur die Fürsten und die Ritter, auch die Prediger des Evangeliums hatten menschliche Bedürfnisse und brauchten Geld; Franz von Sickingen und der Bauernführer Florian Geyer waren wahrlich echte Ritter und verfolgten hohe Ziele, aber auch sie schauten das Geld nicht zu genau auf seine Herkunft an; und die Bekenner des Evangeliums, die Fanatiker ausgenommen, waren nicht besser, nicht schlimmer als die Ritter. Die sogenannte Reformation war ein Krieg, mindestens ein Parteikampf, und war ohne Geld nicht zu führen. Die Bauern hatten es schwer genug zu büßen, daß sie ihren Krieg begonnen hatten, ohne sich vorher mit allen Kriegsmitteln zu versehen.
Bauernkrieg
Während die Reformation gegenüber dem Indifferentismus der Kirchenfürsten eine Erneuerung oder Stärkung des Gott- und Kirchenglaubens bedeutete, während sogar der Katholizismus, durch die Erfolge der Reformation zur Besinnung gebracht, ernster und tiefer zu werden versuchte, war mit dem deutschen Bauernaufstand weit eher ein Kampf um geistige Befreiung verbunden. Oder hätte doch verbunden werden können, wenn der Aufstand nicht so schnell und so blutig niedergeschlagen worden wäre. Die katholische Geschichtschreibung lügt, da sie den Bauernkrieg zu einer unmittelbaren Folge der Reformation macht; die lutherische Geschichtschreibung lügt noch schändlicher, da sie gar keinen Zusammenhang zwischen der neuen evangelischen Freiheit und den Forderungen der Bauern zugestehen will. In Wahrheit waren die deutschen Bauern durch die römisch-rechtliche Ausgestaltung des Lehnswesens und durch die Ohnmacht der Kaiser langsam zu Leibeigenen geworden. In dieser verzweifelten Lage griffen sie nach jeder Idee und nach jeder Macht, die sich ihnen darzubieten schien: hussitischer Kommunismus, evangelische Freiheit, Demokratie der oberdeutschen Städte, nationale Ritterbünde, alles war willkommen, wenn es nur Befreiung der Bauernschaft von ihren Blutsaugern versprach. Hätte ein mächtiger deutscher Fürst die Bewegung, etwa im Geiste Sickingens, großzügig und ehrlich gelenkt, so hätte es schon damals zu einem nationalen Staate kommen können, in welchem die armen Stadtbürger und die elenden Bauern ihre Rechnung gefunden hätten. Der wilde Kommunismus Münzers brauchte nicht gefürchtet zu werden: »der Schlachttag über das gemästete Vieh, die ihre Herzen geweidet haben mit allem Wollust in des gemeinen Mannes Armut.« Die deutschen Handwerker und Bauern waren weder ganz so biblisch noch ganz so blutgierig. In ihren zwölf Artikeln waren sie vernünftig und verlangten fast bescheiden, was man heute einen Rechtsstaat nennt. Der sogenannte Heilbronner Entwurf geht offenbar auf die Reformatio Sigismundi zurück, die man ja für das Programm eines deutschen Kaisers hielt, also für keine Utopie. Hätten die Bauern gesiegt oder hätte ein deutscher Staatsmann die Adeligen unterworfen und eine Verständigung auf Grund der zwölf Artikel erreicht, dann hätte es am Ende zu einer deutschen Verfassung kommen können, die sich meinetwegen im Geiste der Zeit auf die Bibel gründete, aber in Wahrheit die Lebensmöglichkeit eines freien Bauernstandes und eines freien Bürgerstandes unter einem mächtigen Königtum schuf. Als Luther den »mordischen und raubischen Bauern« in den Rücken fiel, beging er eine ruchlose Ungerechtigkeit; er tat so, als teilte er seine Hiebe unparteiisch zwischen Herren und Bauern aus, als müßten nur zunächst die Bauern auf Selbsthilfe verzichten; in Wirklichkeit gab es im deutschen Reiche keine Staatsgewalt, der zu gehorchen gewesen wäre; gegen die Selbsthilfe der adeligen Schinder und Schatzer gab es keinen anderen Rat als den Aufstand.
Und wieder: hätte Luther sich 1525 an die Spitze der Bauern gestellt, hätte er in seinem theologischen Herzen einige politische Voraussicht und den Mut zu einem solchen Entschlusse finden können, dann hätte das Abendland schon damals eine große Revolution erlebt, eine bessere Revolution als die von 1789; und auch das, was nach Luthers Meinung allein nottat, die sogenannte Reformation, wäre nicht zu kurz gekommen, denn die leibliche Übermacht der Bauern, verbunden mit dem geistlichen Ansehen Luthers, wäre so groß gewesen, daß die gesamte Organisation der römischen Kirche überall und für immer zertrümmert worden wäre. Durch seine doppelt feige Absage an die Bauern hat Luther sein eigenes Kind zu einem Krüppel werden lassen; er glaubte klug zu handeln und war dumm, da er sich und die neue Kirche den Landesfürsten unterwarf.
Eine Vergleichung zwischen dem Bauernkrieg und der großen französischen Revolution kann nur demjenigen zu kühn erscheinen, der an den Worten klebt und nur das wahrnimmt, was die Gemeinsprache des Mittelalters von der Gemeinsprache der Aufklärungszeit unterscheidet. Sieht und hört man aber genauer hin, so erblickt und vernimmt man bereits 1525 sogar die Schlagworte von 1789; die Fahne mit dem Bundschuh hätte recht gut schon die Umschrift tragen können, auf gut deutsch: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Es ist nur ein Nebenumstand, daß die Prediger des Bauernkriegs sich bei diesen Forderungen unmittelbar auf die Bibel beriefen, die Prediger des Konvents auf Rousseau, den Naturrechtler; denn die Bauernprediger, die so fanatisch nach Brüderlichkeit aller Menschen, nach Gleichheit von Recht und Besitz, nach evangelischer Freiheit schrien, hatten sich eben auch nur, wie die Naturrechtler, aus der Bibel eine Naturreligion, eine Vernunftreligion zurechtgelegt. Das ist ja die Tragik und Komik zugleich in Luthers Stellungnahme zu der Bauernbewegung: er glaubte, die Bauern hätten seinen theologikalischen Abfall von Rom mißverstanden oder mißbraucht, hätten Reformation mit Revolution verwechselt. Ist ja gar nicht wahr. Seit Wiclif und Hus, um nicht weiter zurückzugreifen, war es vorbei mit der Autorität der Theologen, in Deutschland als dem Lande ohne nationales Regiment mit jeder Autorität. Die Bauern beriefen sich eigentlich nur auf ihre eigene Vernunft, ihre eigene Logik und bemühten die Heilige Schrift nur, weil sie die bekannteste von allen Schriften war; höchstens daß die geistlichen Bauernführer (wie Münzer) blutdürstiger redeten als die anderen, weil sie von dem Texte des barbarischen Alten Testaments ausgingen. Das eben war einem Luther unerträglich, daß die Bauern sich um Jenseits und Seelenheil gar nicht kümmerten, daß sie breit und fest auf der Erde standen und nur die Befreiung von jeder weltlichen und kirchlichen Autorität annahmen, selbstverständlich nicht ohne die hergebrachten biblischen Redensarten. Die Bauern waren Antipapisten, aber nicht Protestanten. Schon in den Sturmzeichen, die dem Bauernkriege im Breisgau voraus gegangen waren, langte der Bundschuh nach einem Ideale der Gerechtigkeit, die freilich göttliche Gerechtigkeit genannt wurde. Wie in aller Welt hätte man sie anders benennen können und sollen? Die zwölf Artikel waren ganz diesseitig gerichtet: freie Jagd, freie Fischerei, freie Holzung; Abstellung der Bedrückungen durch das fremde römische Recht, Aufhebung der Leibeigenschaft, bescheidene Abschüttelung der Zehnten; fast wie eingeschmuggelt in diese Forderungen der Bauernemanzipation der antikirchliche Wunsch, die Prediger selbst wählen zu dürfen. Doch selbst dieser Zug, der an geistliche Reform erinnerte, war diesseitiger als es schien: den Pfarrern sollte ein mäßiges Einkommen zufallen, die gehäuften Pfründen, das Eigentum der Kirchenfürsten und die ungeheuren Klostergüter sollten säkularisiert werden zugunsten des Reichs, zur Steuerentlastung der Bauern. Kein Wunder, daß (wie 1789) die Gier der Kapitalisten erwachte, als sie erst von Einziehung der Kirchengüter reden hörten; es klingt nach 1789 und auch noch viel moderner, wenn ein so ruhiger Satiriker wie Mutianus behauptet, die Bauern seien zu der ganzen Bewegung von den Städten aufgereizt worden durch jüdische Emissäre.
Nur sehr wenige von den Bauernführern hatten so große politische Ziele: Errichtung eines starken demokratischen Kaisertums (mit Berufung auf das Neue Testament), Einheit des deutschen Reichs in Zoll und Münze, einheitliche nationale Rechtsprechung. All das war ja lange vor Luther in der sogenannten Reformatio Sigismundi vorgebildet und dann, unmittelbar vor Ausbruch des Bauernkriegs, in der »Notdurft deutscher Nation« neuerdings aufgestellt worden. Ein Traum, der jetzt durch zwei hervorragende Menschen Wirklichkeit werden zu wollen schien, durch Weygand von Miltenberg und durch Wendel Hipler; Idealismus genug steckte in diesem Traume: durch die Kraft des Volkes das Imperium deutscher Nation wieder aufzurichten, das an dem christlichen Imperium der Päpste und an der Ichsucht der deutschen Fürsten zugrunde gegangen war, das auch jetzt, seitdem Kaiser und Päpste sich gegen die Fürsten vereinigten, von oben her unrettbar schien; aber kirchlich war dieser demokratische Traum nicht.
Unkirchlichkeit
Für die Unkirchlichkeit der Führer nur zwei Beispiele. Thomas Münzer war doch gewiß theologischer und frömmer als die eigentlichen Bauernführer, war ein religiöser Schwärmer; aber auch er war so ausschließlich politisch gerichtet, auf Anwendung von Gewalt bedacht, daß er nur mit Verachtung von dem »gedichteten Evangelium« Luthers sprach, von der gedichteten Güte des »honigsüßen Christus«, daß er Befreiung von den Fürsten zur Voraussetzung der Reformation machte und – worüber gar nicht zu lachen ist – freie Jagd und freie Fischerei, selbst freie Holzung, aus der natürlichen Freiheit der Kreatur erklärte. Und auch dieser Schwärmer hatte sein Seelenheil nicht vor Augen, da er nach dem Gemetzel von Frankenhausen gefangen, gefoltert und zur Hinrichtung abgeführt wurde; er hatte nur ein Gelächter zur Antwort und besann sich in seiner letzten Stunde auf keinen Artikel des Glaubens. Zwei Jahre vorher war Franz von Sickingen, der von einem aristokratischen Imperium deutscher Nation geträumt hatte, der gleichen höheren Macht unterlegen wie die Bauern: den Kanonen. Auf den Tod verwundet lag er in seinem Burggewölbe. Da wies er jeden geistlichen Beistand zurück und antwortete seinem Kaplan, der ihm die letzte Beichte abnehmen wollte: »Ich habe Gott in meinem Herzen gebeichtet.«
Nicht aus der Diesseitigkeit der Bauernbewegung möchte ich die Grausamkeit erklärt wissen, mit der die Rebellen überall da vorgingen, wo man sich ihnen widersetzte; denn diese Grausamkeit wurde denn doch maßlos überboten durch den adeligen und legitimistischen Führer des fürstlichen Heeres, den siegreichen Bauernjörg, der nicht wie ein Christ, aber auch nicht fühllos wie eine Bombe unter den armen Teufeln wütete; eine platzende Bombe zerschmettert Menschenleiber nur aus mechanischer Notwendigkeit; der Bauernjörg und seine Profosen zerrissen den Bauern die Glieder, Arme und Beine, Ohren, Nasen und Zungen, mit Lust an den Schmerzen, aus Bosheit und Rachsucht, in der Absicht und in der Hoffnung, durch ein solches Strafgericht die Wiederkehr einer solchen Revolution unmöglich zu machen. Rom und Luther dankten Gott für die Niederwerfung der Bauern.
Erasmus
Bevor ich nach der breiten Darstellung des Kampfes gegen die christliche Hexenreligion und nach der gebotenen kurzen Erwähnung der sogenannten Reformation zu der eigentlichen Geschichte der Geistesbefreiung zurückkehre, möchte ich aber doch, als Gegenbild zu Luther, den Mann in seiner wahren Gestalt zeigen, der vor dem Auftreten Luthers der gefeiertste Gelehrte seiner Zeit war, für den verwegensten Aufklärer galt, dann aber mit der kleinen Reformation nichts zu schaffen haben wollte, sicherlich zurückgehalten von der Bänglichkeit seiner armen Seele, aber doch auch wieder zurückgehalten von einer geistigen Überlegenheit, die denen um Luther unverständlich und unbegreiflich war; dessen Andenken nachher bei Katholiken und Protestanten geschändet worden ist, als ob es schmählich wäre, im Kriege zwischen zwei Lügenparteien abseits zu stehen und seine eigene selbstgewählte Arbeit zu leisten. Ich meine natürlich den Humanisten Erasmus von Rotterdam und leugne nicht, daß mir dieser Bücherschreiber, als ich ihn erst in seiner ganzen Wirksamkeit kennengelernt hatte, lieber geworden ist als irgendein Draufgänger des Reformationszeitalters. Er war tragischer als mancher Held; und er hatte ein so feines Lächeln über die Dummheit der Gegner, die ihn von rechts und von links umschrien. Und weil ich nun einmal den geschichtlichen Zusammenhang – scheinbar wenigstens – durchbrochen habe, mag auch kurz der stärkste Vorläufer des Erasmus hier seine Stelle finden, der Humanist Laurentius Valla, der innerhalb der Theologie alle Kräfte der italienischen Renaissance vereinigt hat, gegen die Theologie. Ein glorreicher Kämpfer für die freie historische Forschung, von Päpsten und Königen verwöhnt, dem Lebensgenusse freudig ergeben, dafür von dem boshaften Poggio maßlos beschimpft; in allen seinen wissenschaftlichen Arbeiten von hohem Ernste, eigentlich ein Bahnbrecher.
Laurentius Valla
Nachwirksamer als alle anderen italienischen Humanisten wurde Laurentius Valla dadurch, daß er mit seiner ganzen Leistung einem Erasmus ein Vorbild war. Valla (geb. 1405, gest. 1457) war ein geweihter Priester, hatte aber an den Universitäten die Stellung eines Lehrers der Eloquenz. Seine humanistischen Schriften unterscheiden sich nicht wesentlich von denen geringerer Zeitgenossen; er spottete über das schlechte Latein der Juristen, machte sich des Epikureismus verdächtig und versicherte, wenn er angegriffen wurde, seine Rechtgläubigkeit oft mit ironischen Redewendungen. Aber er ging weiter und wandte eine sehr gründliche Philologie auf geschichtliche Sätze an, die der Kirche oft wichtiger waren als Glaubenssätze: er bezweifelte die Echtheit eines angesehenen Briefwechsels Christi, bezweifelte, daß der Dionysius Areopagita, der Mystiker, ein Zeitgenosse der Apostel war, bezweifelte den alten Ursprung des apostolischen Glaubensbekenntnisses, ja wies in der Vulgata zahlreiche Übersetzungsfehler nach. Seinen Nachruhm verdankt Valla aber der Kühnheit, mit der er (um 1440) die Konstantinische Schenkung, also die Grundlage der weltlichen Macht des Papstes, für eine Fälschung erklärte. Diese Schrift, die aber erst viel später, 1517, von Hutten neu herausgegeben, politische Früchte trug, war gar nicht eine nüchterne historische Untersuchung, wie man solche Fragen jetzt etwa behandelt, sondern gleich ein Sturmlauf gegen die Verweltlichung der Kirche. Durch diese kritische Tat wurde Valla nicht bloß ein Vorläufer Luthers, wie Bellarmin ihn nannte, sondern – was mehr sagen will – ein Vorläufer aller Befreier von historischem und biblischem Autoritätsglauben. So wurde für die Aufklärung noch viel wichtiger als seine » declamatio« gegen die Konstantinische Schenkung die Bibelkritik, die er ohne Lärm und Aufsehen durch eine Vergleichung der Vulgata mit dem griechischen Texte des Neuen Testaments übte; dieses tapfere Werk ist gar erst fünfzig Jahre später zum ersten Male herausgegeben worden, von Erasmus.
Gegenüber diesen beiden kritischen Leistungen treten für uns die zahlreichen Werke zurück, durch die er bei Lebzeiten den Ruf eines Heiden, eines Epikureers, eines Unchristen erlangte. Denkt man bei dem vieldeutigen Worte Renaissance zunächst an das Streben, Geistesfreiheit gegen jede kirchliche Autorität durchzusetzen, dann war Valla der bedeutendste unter allen Renaissancemenschen, »der beste Wal«, wie ihn Luther einmal in seinen Tischreden mit einem gräßlichen und doch guten Kalauer nannte. Leute, die an die göttliche Vorsehung glauben, mögen zwei Umstände zu deuten suchen, die das Lebenswerk Vallas in erstaunlicher Weise förderten: daß er, der rücksichtslose Kritiker, der Liebling von Päpsten war, allerdings von humanistischen Päpsten, und daß die Buchdruckerkunst just erfunden zu sein schien, um wenigstens die humanistischen Schriften Vallas bald nach seinem Tode in immer neuen Auflagen zu verbreiten.
Valla wäre kein richtiger Humanist gewesen, wenn er nicht seinem Jähzorn und seiner Grobheit in der Polemik hätte die Zügel schießen lassen; die Art, wie er und Poggio einander beschimpften (Worte wie Fälscher, Dieb, Säufer, Päderast usw. fliegen nur so her und hin), ist als ein Zug der Zeit interessant, für uns aber nicht wichtig; rechtgläubige und ketzerische Humanisten waren gleich grob, in bestem Latein. Und dieser rücksichtslose Kritiker der Kirchentradition schmiedete die Waffen, die dann Erasmus für alle Folgezeit schärfte und bereitstellte.
Erasmus
In eine Geschichte der Geistesbefreiung gehört Erasmus von Rotterdam (geb. 1467, gest. 1536) freilich nicht als ein Bekenner, denn niemand von seinen Zeitgenossen erfuhr jemals, woran dieser Humanist eigentlich glaubte; er kann uns aber als großes Beispiel dafür dienen, daß selbst in der Reformationszeit unter der theologischen Oberfläche eine Freidenkerei bestand, die nicht wagen durfte, ihre Überzeugung auszusprechen. Gewiß war einige Vorsicht oder Feigheit ein ausgeprägter Charakterzug seiner Persönlichkeit; daß er aber feige sein mußte, wenn er nicht zugrunde gehen wollte, das muß man ihm doch zugute halten.
Nur widerwillig war er ein Klostergeistlicher geworden. Als ein natürliches Kind, übrigens von seinen Vormündern, die ihn dem Kloster zutrieben, um sein Erbe betrogen, hatte er nur geringe Aussicht emporzukommen; um so weniger, weil die Klostergenossen nicht zu ihm paßten und er nicht zu ihnen. Er haßte die Roheit und Unwissenheit der Mönche. Er war zum Büchermenschen geboren; seine ganze Sehnsucht ging nach Erwerb der Bildung, die man heute noch unter dem Schlagworte des Humanismus zusammenfaßt: Kenntnis der heidnischen Schriftsteller und eine schöne Gewandtheit im Gebrauche der klassischen Sprache der Römer. Unter seinen Mönchen war diese Bildung nicht zu gewinnen. Mit der Schlauheit, die er in seinem ganzen Leben bewies, verschaffte er sich als neunzehnjähriger Jüngling die Erlaubnis, zu Paris Theologie studieren zu dürfen. Seinen Unterhalt verdiente er durch Unterricht. Wenige Jahre später wurde es ihm möglich gemacht, nach England zu gehen, wo sein Freund Colet entscheidenden Einfluß auf ihn gewann; in Paris schwor man noch damals und lange nachher auf die Scholastiker; durch Colet lernte Erasmus diese Zwittertheologen verachten: ihr angebranntes Gehirn, ihre verschrobenen Köpfe, ihre barbarische Sprache und das Spinngewebe ihres Systems. Er warf sich mit Eifer auf das Studium der Griechen, obgleich damals von den Thomisten sowohl wie von den Scotisten die Kenntnis der griechischen Sprache beinahe als Ketzerei angesehen wurde. Man sollte das Neue Testament allein in der lateinischen Vulgata lesen und das griechische Original gar nicht verstehen können. Erasmus aber, der sich von seinen geringen Ersparnissen lieber ein griechisches Buch als einen neuen Anzug kaufte, glaubte bald an das Dogma vom klassischen Altertum, und seine ersten eigenen Schriften verrieten schon seine Neigung. Er übersetzte Stücke aus dem Lukianos. Aber wie bis zu seinem Ende, so war er in seinen literarischen Anfängen von reichen Gönnern abhängig, nach der Sitte der Zeit und nach seinem Charakter. Für einige Gulden verfaßte er Grabschriften, in denen er z. B. einen ihm widerwärtigen Bischof pries; ohne Würde widmete er seine kleinen Bücher Regenten, Standespersonen und angesehenen Gelehrten; diese Leute waren für die erwiesene Ehre nicht undankbar, Erasmus erhielt von allen Seiten Unterstützungen, sein Ansehen wuchs.
Wichtiger als seine ersten vielgelesenen populären Schriften war seine Ausgabe des Laurentius Valla; Valla hatte fast zuerst an der Vulgata Kritik geübt und eine bessere Übersetzung des Neuen Testaments gefordert. Erasmus verteidigte diese Neuerung, nur aus philologischen, nicht offen aus theologischen Gründen, und gab damit den Anstoß zu der Textkritik, die von nun an nicht mehr aufhörte und kaum zwanzig Jahre später Luthers Bibelübersetzung möglich machte.
Erasmus reiste dann, jetzt bereits ein gefeierter Humanist, nach Italien (1506), später wieder nach England; überall erhielt er große Versprechungen, von Julius II. und von Heinrich VIII., die nachher nicht erfüllt wurden. Ein englischer Erzbischof verschaffte ihm endlich eine gute Pfründe, den Anfang zu des Erasmus Wohlhabenheit. Er hätte sogar in Italien oder in England noch reicher bezahlte Stellungen bekleiden können, aber er wollte nirgends die Landessprache erlernen; er lebte durch viele Jahre in Frankreich, in England, in Italien und in Deutschland und sprach weder französisch noch englisch, noch italienisch, noch deutsch. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, noch auf eine andere Sprache als die klassischen irgendwelchen Wert zu legen.
In England schloß er sich wieder an Colet an, war mit ihm als Pädagoge tätig und bekämpfte auch hier die scholastische Methode; wir erfahren mit einiger Überraschung, daß Erasmus schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts einige Grundsätze der soviel späteren Kinderfreunde lehrte: daß man den Kindern die Grundlagen spielend beibringen und sie z. B. Leckerbissen in Form von Buchstaben verspeisen lassen sollte.
Einen ungewöhnlichen Erfolg hatte Erasmus (1511), noch während seines zweiten Aufenthaltes in England, mit der eigentlich harmloseren Satire »Lob der Narrheit«. Zunächst fand man an hohen Stellen nichts dagegen einzuwenden, daß da die Mönche ein bißchen durchgehechelt wurden; an den fürstlichen Höfen lachte man über die feinen Bosheiten und der neue Papst, Leo X., lachte ebenfalls. Als vier Jahre später ein Theologe in Löwen den guten Erasmus wegen seines Spottes und wegen seiner Neuerungen zu ermahnen für schicklich hielt, verlief der Streit noch ganz gemütlich; noch hatte Luther die Gegensätze nicht durch sein Auftreten verbittert. Erasmus konnte in einem der öffentlichen Briefe, die damals oft die Dienste der heutigen Zeitungen leisteten, lachend fragen, ob denn wirklich alle Geistlichen dadurch beleidigt würden, daß man sich über einige Dummköpfe unter ihnen lustig mache. Aber er schlägt auch schon ernstere Töne in diesem Briefe an: über den Schaden, den die einfältige Lehre Christi durch die Scholastik, durch menschliche Träumereien und durch weltliche Vorschriften erlitten habe. Er plane eine Neuausgabe des heiligen Hieronymus, In dem späteren Streite mit Luther wird es beinahe symbolisch, daß Erasmus sich immer auf Hieronymus beruft, den gründlichen Kenner der Schrift und ihrer Sprachen, Luther auf Augustinus, den begeisterten Dogmatiker. Luther hatte von den Bibelkritikern, die ihm vorausgingen, sehr viel gelernt, nur nicht den Hauptgedanken, daß die Bibel anzusehen sei, wie andere Bücher auch. Luther besaß eben den Glauben, und was für einen Erasmus besaß den Glauben nicht. Wie vorurteilslos Erasmus solchen Fragen gegenüberstand, das kam freilich in religiösen Dingen kaum heraus, weil er dogmatischen Streitigkeiten vor und nach aus dem Wege ging; er überragte aber die deutschen und auch die italienischen Humanisten überall. Er war sogar, wozu in jenen Tagen Tapferkeit gehörte, nicht einmal auf das alleinseligmachende Dogma vom ciceronianischen Latein eingeschworen; daß er nicht nur andere Lateiner gelten ließ, daß er sogar gelegentlich mittelalterliches Latein – etwa mit dem entschuldigenden Zusatze »wie man zu sagen pflegt« – einflocht, trug ihm von seiten der italienischen Ciceronianer Angriffe und Beschimpfungen ein. Ich habe schon einmal gesagt, daß das Latein im Gebrauche der Mönche gewissermaßen noch lebendig war und erst durch die Humanisten zu einer toten Sprache wurde; Erasmus war vielleicht der letzte Gelehrte, der so schrieb, als ob das Latein seine Muttersprache gewesen wäre. des alten Bibelübersetzers; die Vulgata müsse von Philologen mit den Urschriften verglichen, und das Original müsse kritisch geprüft werden. Der Theologe von Löwen erklärte sich für besiegt.
Da ihm die Versprechungen nicht gehalten wurden, suchte er ein Unterkommen außerhalb Englands; nicht eigentlich mehr aus Not, sondern weil seine Ansprüche an Wohlleben und an geselligen Verkehr sich gesteigert hatten. Man stellte ihm eine Versorgung in dem Kloster in Aussicht, in das er einst eingetreten war; einer seiner Freunde war dort Prior geworden. Erasmus lehnte in einem kecken Briefe ab, »es wäre denn eine Stelle in einem Nonnenkloster gemeint«. Ernsthaft fügte er hinzu: die geistlichen Orden haben zum Verfall der wahren Lehre Christi nicht wenig mitgewirkt; man finde auch bei den besten nicht den Geist Christi, sondern eine jüdische Zeremonialreligion.
Endlich glückte es, daß Erasmus (1516) vom Kanzler Karls, des späteren Kaisers, zum Hofrat ernannt wurde; er erhielt Titel und Gehalt ohne weitere Pflichten und durfte als freier Schriftsteller leben, zuerst in Brüssel, dann in Löwen. Auch von seiner Ernennung zum Bischof war die Rede, wie nachher, als man ihn gegen Luther werben wollte, von einem Kardinalshute; doch scheint es mir nicht ausgemacht, ob Erasmus in solchen Fällen sich selber täuschte oder getäuscht wurde.
In dem gleichen Jahre 1516 erschien die von Erasmus besorgte erste Ausgabe des Neuen Testaments mit seiner selbständigen lateinischen Übersetzung. Die Ausgabe ist nach den Forderungen der neueren Philologie kein Meisterwerk; aber sie bildete die Unterlage für Luthers deutsche Übersetzung und arbeitete besonders in den Anmerkungen der Reformation vor. Es finden sich da Stellen, in denen gegen den Aberglauben, gegen die Habsucht der Priester und gegen die Heuchelei der Mönche kaum weniger scharf geeifert wird, als bald darauf in den Schriften Luthers; ganz rücksichtslos ist der Spott über den Zölibat, der die Ehe verbietet und die Hurerei gestattet, über gewisse Reliquien, wie die Milch der Maria, die Vorhaut Christi, den Kamm der Anna, die Stiefel Josephs. Auch begann Erasmus 1517 Paraphrasen über das Neue Testament herauszugeben, die bald in die Volkssprachen übersetzt wurden, von Leo Jud in die deutsche; Luther spottete über diese Arbeit (er nannte sie mit einem Wortwitze Paraphroneses), hatte wieder vom Standpunkte des Glaubens nicht unrecht; aber Erasmus verbreitete unter den jungen Geistlichen seiner Zeit doch durch diese populären Homilien etwas guten Geschmack und viel Rationalismus.
Als um diese Zeit Luther zum ersten Male auftrat, zunächst gegen die Mißbräuche in der katholischen Kirche, ahnte man weder in Rom noch an den Höfen die ganze Tragweite dieser Bewegung. Erasmus stand auf dem Gipfel seines Ruhms, so sehr, daß erzählt wurde, er hätte Luthern bei dessen ersten Schriften geholfen. Gerade damals kam es der Stellung des Erasmus zugute, daß er von überallher verlockende Anerbietungen bekam, so nach Paris von Franz I., so nach der Universität Ingolstadt. Er wurde weiter in literarische Streitigkeiten verwickelt, sogar mit dem berühmten und gleichaltrigen französischen Humanisten Budé oder Budäus; das war aber nur ein Gelehrtenzank, in welchem von Reformation oder Evangelium noch nicht die Rede war. Hinneigung zu Luther wurde ihm meines Wissens zum ersten Male von dem Löwener Karmeliter Nikolaus Egmond vorgeworfen; es kam nach heftigen Angriffen von der Kanzel zu einer persönlichen Aussprache vor dem Rektor der Universität; wir besitzen darüber einen sehr dramatischen und sehr lustigen Bericht von Erasmus selbst, der ganz ahnungslos sich zu seiner Unaufrichtigkeit bekennt. In dem wütenden Zwiegespräch habe er gesagt, er halte es nicht mit Luthern, wenigstens nicht in dem Sinne, in dem Egmond verstanden wurde und verstanden werden wollte. »Tobe meinetwegen gegen Luthern, bis du berstest; nur mich laß ungehudelt; du magst dich an Luthern vergreifen, aber nicht an mir.« Er habe niemals für Luthern geschrieben und schreibe jetzt nicht gegen ihn, aus Ängstlichkeit, aus Unfähigkeit, wegen anderer Geschäfte, aber auch darum nicht, weil es grausam wäre, einen schon besiegten Mann noch als Feind zu behandeln. Egmond schrie: »So schreibe eben dies, wir seien über Luthern Meister geworden.« Aber auch das lehnte Erasmus ab: den Sieg sollen austrompeten, die ihn erfochten haben; und ob es geschehen sei, wisse er noch nicht. Der Papst stellte sich endlich auf die Seite des Erasmus.
Wo wir aus jenen ersten Jahren der Reformation andere Briefe mit denen des Erasmus vergleichen können, erscheint seine Kampfweise in noch zweideutigerem Lichte; die rein gelehrte Gegnerschaft des verdienstvollen Fabre d'Estaples suchte er durch Drohungen zum Schweigen zu bringen; gegen den berüchtigten Eck verteidigt er zwar mit bei ihm seltenem Mute seine geringe Meinung von Augustinus und seine Behauptung, die Apostel hätten kein gutes Griechisch gesprochen, versicherte aber seine Rechtgläubigkeit, so daß Eck ihn auffordern durfte, sich mit ihm gegen Luthern zu verbinden. In einem philologischen Streite mit dem Engländer Lee verteidigte sich Erasmus unehrlich, da er über die ernsthaftesten Einwürfe mit Stillschweigen hinwegging; und als das Buch Lees eine kirchliche Zensur des Erasmus in Spanien herbeizuführen drohte, dem Stammlande des Kaisers und dem Hauptsitze der Inquisition, da ließ Erasmus kein Mittel des Stolzes und der Demut unbenützt, um einer drohenden Verfolgung zuvorzukommen. Die Mönchsorden waren gegen ihn, Franziskaner und Dominikaner vereinigt; aber er hatte auf seiner Seite nicht nur den spanischen Freigeist Vives, sondern auch die kaiserliche Regierung und einige Bischöfe; so durfte er es wagen, in einer Schutzschrift gegen die spanischen Mönche, in der er freilich seine Rechtgläubigkeit wieder beteuerte, von der Inquisition einige Toleranz zu verlangen. Dieser Theologenzank dauerte noch viele Jahre und endete eigentlich erst, als sein Hauptgegner starb (1530), der Spanier Stunica, der den Erasmus sogar gegen das Verbot der Päpste als einen Lutheraner denunziert hatte, ja als den eigentlichen Hauptführer in der ganzen antirömischen Bewegung. Erasmus schwebte in nicht geringer Gefahr, weil man aus seinen älteren Schriften nicht nur lutherische Sätze (gegen den Primat des Papstes, Heiligendienst und dergleichen), sondern auch Leugnung der Gottheit Christi und des Heiligen Geistes, ferner Ketzereien über die Bibel und die Sakramente nachzuweisen suchte; es ist immerhin anzuerkennen, daß Erasmus zwar seine Ketzereien in dogmatischen Dingen bestritt, aber den Primat des Papstes nicht ohne weiteres zugab; mit glatten Worten versicherte er seine Unterwerfung unter jeden guten, aber auch unter jeden schlechten Papst. Gegen einen anderen Spanier wagte er sich noch weiter vor, natürlich sehr behutsam in den Ausdrücken. Es gebe doch Stellen in der Bibel, welche sich gegen die Gottheit Christi deuten ließen; aus Rücksicht auf das Volk dürfe man seine Gedanken nicht offen aussprechen.
Berquin
Ein helles Licht auf die Internationalität aller dieser Kämpfe und auf die Berechtigung der Sorge des Erasmus wirft das Schicksal eines seiner Freunde, des charaktervollen Louis de Berquin. Der eigentlich heimatlose Erasmus hätte leicht als Hofrat des Kaisers vor die spanische Inquisition gezogen werden können; und nur ein Zufall seines Lebensganges war es gewesen, daß er dem Rufe des französischen Königs nicht gefolgt war. In Frankreich starb nun Berquin (1529) den Feuertod als erstes Opfer der Reformation. Es war ein Hauptverbrechen Berquins, daß er Schriften von Erasmus und Luther ins Französische übersetzt hatte; es war ein zweites Verbrechen, daß er, im Vertrauen auf die Gunst des Königs Franz, auf die Zustimmung von dessen Schwester, Margarete von Navarra, und auf das Ansehen des gelehrten Budé, seinen Prozeß mit Hartnäckigkeit und Trotz führte. Als die jahrelangen Verhandlungen, gerade weil Luther sich in Deutschland durchzusetzen schien, eine für Berquin üble Wendung nahmen, sagte sich Erasmus mit gewohnter Ängstlichkeit von seiner Sache los, riet aber doch noch zu einer Flucht nach Deutschland.
Beda, ein Doktor der Sorbonne, hatte die Verfolgung und furchtbare Hinrichtung Berquins mit Leidenschaft auf sich genommen und gegen den Willen des Königs erreicht; man kann sich vorstellen, wie ein Erasmus erschrecken mußte, als dieser Beda sich (seit 1524) auch gegen ihn wandte; in einem einleitenden Briefe verlangte er von ihm nicht mehr und nicht weniger, als daß er alle Ketzereien widerriefe, die in seinen älteren Schriften zu finden waren. Die erste Antwort des Erasmus ist nicht ohne Selbstbewußtsein; er unterwirft sich allen Dogmen, die von Konzilien gutgeheißen worden waren, unterwirft sich aber nicht allen Spitzfindigkeiten der Scholastiker. In den Schulen gehe es so zu wie beim Brett- und Kartenspiel: »hat man da die Spielgesetze nicht ausgemacht, so ist es um das Spiel geschehen«. Mit ergreifender Bitterkeit, vielleicht mit einer leisen Drohung, gesteht er oft zu, furchtsam gewesen zu sein und nicht freimütig genug; die Niederträchtigkeit der Mönche fordere einen ganz anderen Mann, als er sei; und er rührt an die Tragik seines Lebens, daß man nämlich eben die Schriften, die man jetzt angreife, unbefangen bewunderte, solange die lutherische Bewegung nicht begonnen hatte. Beda scheint nun eine gerichtliche Verfolgung des Erasmus betrieben zu haben; dieser wehrte sich (1525-1527) bald feige, bald hitzig, je nachdem er sich auf den Schutz des französischen Königs verlassen zu können glaubte oder nicht. Endlich (im Dezember 1527) wurde er von der Sorbonne als ein Ketzer verdammt und ihm nicht weniger als einunddreißig heterodoxe Sätze vorgeworfen; insbesondere wurde von der Sorbonne ausführlich behauptet und begründet, daß die Lehre der Toleranz ketzerisch wäre, daß die Kirche ebenso ein Recht hätte, zur Vernichtung notorischer Ketzer aufzufordern wie zum Kriege gegen die Türken. Es ist nun sehr beachtenswert, daß Erasmus, der freilich zu seinem Glücke nicht in Frankreich lebte, zwar der Obrigkeit gegenüber bei jeder Gelegenheit feierlich von seiner Rechtgläubigkeit sprach, aber mit einer inneren Tapferkeit, die er seiner Charakterschwäche gewiß mühsam abringen mußte, in seinen nächsten Schriften fortfuhr, die Lehrweise der Scholastiker, also die herrschende Lehrweise der Kirche, zu verspotten und Duldung für jede Meinung in Religionssachen zu verlangen. Seine vorlutherischen Schriften widerrief er nicht und tilgte auch die Ketzereien nicht, wie er in einer besonders schwachen Stunde dem Beda einmal zugesagt hatte. Um so gieriger forschten seine Feinde in diesen alten Büchern, um den Erasmus zu einem Arianer, einem Unchristen, einem Atheisten stempeln zu können; stand doch in den Kolloquien das verwegene Wort: » Sancte Socrates, ora pro nobis.« Seine Feinde wurden immer zahlreicher; in Frankreich, in Flandern und in Italien; überall wurde er für einen Lutheraner erklärt, für einen vorsichtigen und darum um so gefährlicheren Lutheraner; dabei wurde er von den deutschen Lutheranern erst kalt und dann schlecht behandelt. Mit tiefem Kummer sah er sich von beiden Seiten gedrängt, sich offen und unzweideutig zu einer der beiden Parteien zu bekennen. Erasmus schwankte. In seinem Herzen war er doch wirklich ein Unchrist, mindestens ein Indifferentist. Als Politiker, als Ratgeber von Papst und Kaiser, vertrat er eine Richtung, die in jenen Tagen Aussicht auf Erfolg zu haben schien: eine Reformation ohne Luther, eine Reform der katholischen Kirche durch die Kirche selbst. Er wurde nicht müde, in eindringlichen Briefen dies als die einzige Lösung der Schwierigkeiten zu empfehlen. Er leugnete in diesen Briefen gar nicht, daß er viele Forderungen Luthers guthieße; wo er sich sicher glaubte, winkte er sogar mit dem Zaunpfahl: er könnte gezwungen werden, mit dem ganzen Ansehen seines Namens zu den Lutheranern überzugehen. An einen neugewonnenen Freund schreibt er ungefähr: »Für das Christentum wird es gleich schädlich sein, ob die eine oder die andere Partei siegt. Die Evangelischen befördern Selbstsucht und Anarchie, die Katholischen sind abergläubischer und heuchlerischer als je zuvor.«
Ich habe die Entwicklung des Erasmus, ohne mich genau an die Zeitfolge zu halten, bis etwa zu dem Streite fortgeführt, der ihn zum Unheil für die Geltung seines guten Namens endgültig von Luther trennte. Ich habe nachzutragen, daß er sich in den Niederlanden längst nicht mehr sicher fühlte und seit 1521 in Basel lebte. Kluge Überlegung mag ihn zu dieser Wahl bestimmt haben; er durfte glauben, in dieser Stadt, die seit kurzem der Eidgenossenschaft zugehörte und wo eben erst die Macht des Bischofs gebrochen wurde, einer größeren Freiheit zu genießen als unter der Herrschaft seines kaiserlichen Herrn; dazu kam, daß Buchdruck und Buchhandel in Basel bereits mit diesen Gewerben in Venedig und Amsterdam wetteifern konnte. In der Vorstellung des Auslandes lebte Erasmus seit 1521 in Deutschland; wie er denn überhaupt bei Franzosen und Engländern von jeher für einen Deutschen gegolten hatte. Niederländer oder Niederdeutscher, das wurde nicht so genau geschieden. Er selbst dachte nicht viel anders über seine Nationalität; er schämte sich ein wenig seiner nordischen Aussprache des Latein und wollte darum in Italien keine öffentlichen Vorlesungen halten. Und auch seine Feinde warfen ihm mitunter Eigenheiten der deutschen Gelehrten vor: Weitläufigkeiten und Wiederholungen. Es ist schon erwähnt, daß er übrigens keine moderne Sprache reden oder schreiben lernte, weder italienisch noch französisch noch deutsch; und die holländische Muttersprache hielt er unter der Würde der Feder.
Reformation
Sein wahres Gesicht in den Jahren der religiösen Kämpfe ist auch darum schwer zu erkennen, weil fast alle wichtigen Briefe in der toten Gelehrtensprache geschrieben sind, die zwar bei Erasmus – wie gesagt – lebendiger erscheint als sonst bei einem Humanisten, aber doch durch ihre durchschnittlich anderthalb Jahrtausend alten Ausdrücke die neue und werdende Weltanschauung nur etwa umschreibt, nicht ausspricht. Die tote Sprache war von selbst zweideutig, auch wenn Erasmus nicht heucheln wollte. Trotz dieser Schwierigkeit kann kein Zweifel darüber bleiben, daß der gelehrteste und scharfsinnigste Humanist der Zeit die Reformation vorbereitet hatte und in seiner inneren Freiheit noch weit über die Freiheit Luthers hinausging.
Erasmus war also in seiner gesamten kritischen Richtung mindestens ein Gesinnungsgenosse der Reformatoren; in der Bibelkritik ein Schüler von Valla, ein besserer Graecist als dieser und ein gründlicherer Kenner des Hieronymus, dazu von Jugend auf ein leidenschaftlicher Gegner der Mönche und der Scholastiker. Es war das Schicksal des Erasmus, daß ein Mann ganz anderen Schlages – wie Erasmus selbst wußte –, daß Luther, der Tatenmensch, der von der christlichen Mystik herkam, ihn nötigte, in einer Sache Farbe zu bekennen, die ganz und gar nicht Sache des Erasmus war: in der Frage des Evangeliums. Erasmus hatte das Neue Testament kritisch herausgegeben; Luther glaubte an die Worte einer Schrift, die für Erasmus eine Schrift war wie andere alte Schriften. Nach seiner Herzensmeinung wahrscheinlich weniger wert war als etwa Ciceros »Officien« und »Tusculanen«, die er ebenfalls herausgab. Erasmus war kein Christ, mochte er auch zum katholischen Geistlichen geweiht worden sein und mochte er auch in den Jahren der Religionskämpfe immer häufiger und immer beflissener seine Unterwerfung unter die Kirche – nicht seine Übereinstimmung mit der Kirche – bekennen. Weil er eigentlich ungläubig war, besaß er kein Verständnis für die Ziele Luthers; den neuen Glaubensartikeln stand er ebenso skeptisch gegenüber wie den alten, und meinte auch wohl, für die bürgerliche Ruhe und den ungehemmten Fortschritt der Wissenschaften wäre ein Festhalten an religiösen alten Irrtümern weniger gefährlich, als das wilde Eintreten für neue Irrtümer. Hätte Erasmus mit der Überlegenheit seiner Skepsis dem Kampfe der beiden Parteien zuschauen und lachend wie in seiner Jugend spotten können, wir würden in ihm den freiesten Geist aus der Reformationszeit zu verehren haben. So gut aber wurde es ihm nicht. Seine Gönner gehörten zur herrschenden Partei, einige seiner humanistischen Freunde zu den Rebellen; zu seinen Gönnern gehörte der Kaiser, der König von England, Päpste und Kardinäle, zu seinen Freunden Melanchthon und Oekolampadius. Von beiden Seiten wurde an ihm gezerrt. Er war der berühmteste Gelehrte seiner Zeit, bei Beginn der Reformation schon auf der Höhe seines Ansehens; die Katholischen und die Evangelischen legten außerordentlichen Wert darauf, diesen Mann den ihrigen nennen zu dürfen. Wenn er hätte ehrlich sein können und dürfen, so hätte er beiden Parteien antworten müssen: »Der Gegenstand eueres Streites ist mir ganz und gar gleichgültig. Ich habe lange vor Luther über den Aberglauben der Mönche und über die frechen Ansprüche Roms gespottet, in meiner Weise; aber ich verstehe die Dogmen Luthers ebensowenig wie die Dogmen Roms. Ich bleibe in der katholischen Kirche, mit dem Vorbehalte, ebenso ungläubig und gottlos zu sein wie meine lieben Kardinäle und Päpste. Ein Lustspiel von Terentius ist mir lieber als alle Evangelien.«
Erasmus und Luther
Er gab eine solche Erklärung nicht ab. Schlimmer noch; obgleich seine kritischen Neigungen ihn zu den Reformatoren führten und obgleich seine beste Natur ihn berechtigte oder verpflichtete, sich am Kampfe nicht zu beteiligen, ließ er sich langsam und widerstrebend auf die katholische Seite hinüberziehen. Sehr menschliche Rücksichten wirkten da zusammen; er glaubte nicht an den Sieg der Reformation gegen die ungeheure Macht des Papstes und des Kaisers; er fürchtete für die Wissenschaften oder den Humanismus, er fürchtete aber auch für die Humanisten, vor allem für sich selbst, er wollte seine reichen Einnahmen nicht verlieren, noch weniger sein Leben; endlich war Erasmus maßlos eitel und mochte es schon schwer ertragen, daß die neue Bewegung sich immer weniger mit Poesie und Rhetorik beschäftigte, daß die um Luther einen Erasmus verächtlich zu behandeln anfingen. Trotz alledem hätte Erasmus vielleicht bis zu seinem Tode geschwiegen oder hätte sich gar in seiner vorsichtigen Weise doch ehrlicher für das Evangelium erklärt, wenn Hutten ihn nicht durch eine Schmähschrift aufs äußerste gereizt und ihn nicht bald darauf Luther selbst, der sich lange bezähmt hatte, herausgefordert hätte; gegen Hutten war das Auftreten des Erasmus unwürdig, menschlich und schriftstellerisch; im Streite mit Luther, der uns hier zunächst angeht, erscheint Erasmus als der stärkere Theologe und als der stärkere Philosoph. Das ist merkwürdig genug, weil Luther doch mit Spinoza und Schopenhauer die Unfreiheit des menschlichen Willens zu lehren scheint, Erasmus ganz herkömmlich die Willensfreiheit. Wir wollen aber, bevor dieser Streit zwischen Luther und Erasmus besonders untersucht wird, an der Hand der Schriften und der Briefe (die damals so gut wie öffentliche Schriften waren) aufzeigen, wie Erasmus allmählich in das gegnerische Lager hinübergezogen und hinübergetrieben wurde.
Erasmus hatte den Reformatoren des Glaubens mächtig vorgearbeitet, aber die Theologie lag nicht auf seinem Wege; als ein richtiger Humanist war er von der Philologie ausgegangen, als Humanist hatte er Bibel und Kirchenväter studiert wie andere Bücher des Altertums, hatte die größten Scholastiker, obgleich sie christliche Heilige waren, um ihrer Sprache und um ihrer Logik willen verhöhnt, sogar den heiligen Augustinus mißachtet und wieder als Humanist Satiren gegen die Mönche geschrieben, die freilich in Theorie und Praxis einem Seneca nicht ähnlich waren. Sein Ziel war: auch in den nordischen Ländern ein neues Geschlecht durch Verbreitung der römischen und griechischen Klassiker heranzubilden und so langsam ( paulatim) die bestehende elende Religion und Literatur ( irreligiosa religio et illiteratae litterae) abzuschaffen. Als nun Luther sein Werk begann und sehr bald von der Bekämpfung der offenkundigen Mißbräuche dazu geführt wurde, auch den Primat des Papstes zu bestreiten, stand Erasmus als wohlwollender Zuschauer bei Seite. In Briefen lobt er den vortrefflichen Mann; es wäre unverantwortlich, wenn man ihm nicht helfen wollte; jedermann rede mit Achtung von seinem Charakter. Aber schon 1518 ist er in der Hauptfrage so vorsichtig, wie er immer geblieben ist: er sei kein Freund von Tumulten, Luther sei nicht sanftmütig genug, die religiöse Bewegung sei den schönen Wissenschaften schädlich. Neben dieser ehrlichen Sorge eines ängstlichen Stubengelehrten findet sich schon damals auch die unehrliche Ausrede, die ebenfalls noch durch Jahre den Kardinälen gegenüber wiederholt wird, Erasmus habe noch keine Zeit gehabt, sich eingehend mit den Schriften Luthers zu beschäftigen. Luther selbst bewundert die Gelehrsamkeit des Erasmus, mißtraut aber schon 1516 seiner Frömmigkeit; es ist ihm auch verdächtig, daß er den Augustinus nicht schätzt. In einem Briefe von 1517 kommt gar schon der Kernpunkt des späteren Streites zum Vorschein; ein guter Grieche und Hebräer brauche noch kein wahrer Christ zu sein; Hieronymus mit allen seinen fünf Sprachen komme dem Augustinus mit seiner einzigen Sprache nicht gleich; bei Erasmus gelte das Menschliche mehr als das Göttliche; über die Gebrechen der Kirche müsse man seufzen und nicht lachen; dem freien Willen des Menschen solle man nichts zuschreiben, es gebe nichts außer der Gnade. Aber Luther ist noch (1518) klug genug, seine Verstimmung gegen Erasmus nicht öffentlich auszusprechen, weil er den gemeinsamen Feinden der Reformation und des Humanismus nicht in die Hände arbeiten will. Und 1519 schreibt Luther an Erasmus einen Brief so voll von schablonenhaften Lobsprüchen, daß kein Humanist sich der Floskeln zu schämen gehabt hätte. Erasmus antwortet sofort dem geliebten Bruder in Christo: zur Mäßigung mahnend, ein berühmter alter Herr dem jungen Draufgänger. Er habe unter den Unruhen daheim (in Löwen) viel zu leiden, man halte ihn für einen Anhänger Luthers und glaube, er habe ihm bei seinen Schriften geholfen. Man gewinne mehr durch Nachsicht als durch Hitze, müsse sein Herz vor Zorn, Haß und Eitelkeit bewahren. Das sei aber keine Ermahnung, sondern nur eine Bestärkung in Luthers christlichen Gesinnungen. In ähnlicher Weise, anerkennend und mäßigend, hatte Erasmus kurz vorher an Herzog Friedrich von Sachsen geschrieben, den Beschützer Luthers; mit gut gespielter Unparteilichkeit wird der Herzog doch ermuntert, den Reformator den Ketzerrichtern nicht preiszugeben. Der Brief an Luther ärgerte die Evangelischen, noch mehr aber die Katholischen. Erasmus rechtfertigte sich ganz wacker in einem Briefe an den Erzbischof von Mainz (November 1519); die Lutherschen Schriften seien ihm unangenehm, aber man müsse dem Manne gewogen sein, wenn er unschuldig ist, und ihn ohne Gewalt zurechtweisen, wenn er irrt; man habe an Luther manche Stelle ketzerisch gefunden, die sich ebenso bei den Heiligen Augustinus und Bernhard finde; die Kirche sei durch Menschensatzungen und scholastische Dogmen belastet; die Bettelorden wollen aus Gewinn- und Herrschsucht den Verstand unterdrücken, ihr Gewäsch über den Ablaß sei selbst Idioten unerträglich. Luther habe den mutigen Entschluß gefaßt, sich solcher Schamlosigkeit zu widersetzen, um Ehre oder Geld sei es ihm nicht zu tun gewesen. Darin sei Luther nur zu loben, über die Glaubensartikel wolle Erasmus jetzt nicht reden (wendet sich aber scharf gegen den Primat des Papstes). Man könne Luthern Unvorsichtigkeit vorwerfen, aber nicht Mangel an Religion. Man sei jetzt zu schnell mit dem Vorwurfe der Ketzerei. »Was ihnen nicht gefällt und was sie nicht verstehen, ist Ketzerei. Griechisch zu lesen und sich gut auszudrücken, ist Ketzerei.« Erasmus hatte diesen tapferen Brief dem Genossen Hutten zur Bestellung übergeben; Hutten ließ den Brief drucken, bevor er ihn dem Erzbischof übermittelte. Es entstand ein großes Geschrei. Erasmus gab nicht sofort nach; ein vornehmer Geist lasse sich belehren, aber nicht zwingen. »Nur der Tyrannen Sache ist es, Zwang auszuüben, nur der Esel Sache ist es, sich zwingen zu lassen ( cogere tantum tyrannorum est; cogi tantum asinorum).«
Auch noch da Luther durch die päpstliche Bulle förmlich in Bann getan war, hörte Erasmus nicht auf, bei hohen Herren für den Frieden zu reden, was damals soviel hieß, als Luthers Sache verteidigen. Vor dem Reichstage hatte er zu Köln (1520) eine Unterredung mit dem sächsischen Kurfürsten (Spalatin war Dolmetsch, Erasmus sprach nicht deutsch und Friedrich nicht lateinisch); damals fiel das Wort: das Verbrechen Luthers sei gewesen, dem Papste an die Tiara und den Mönchen an den Bauch zu greifen. Auch dem jungen Kaiser, der seine Wahl dem sächsischen Kurfürsten besonders verdankte, wurde Toleranz empfohlen. Es komme gar nicht darauf an, rät Erasmus um die gleiche Zeit in einem Briefe an Peutinger, was Luther verdiene, sondern darauf, was der öffentlichen Ruhe nütze; der Haß gegen Rom sei tief eingewurzelt.
Ganz unaufrichtig ist Erasmus in einem Briefe an Leo X.; wieder erklärt er, er habe die Schriften Luthers kaum gelesen und habe deren Drucklegung widerraten; kein Wunder, daß Rom ihn von dieser Zeit ab lebhaft anging, mit Drohungen und Versprechungen, sich öffentlich gegen Luther zu erklären und gegen ihn zu schreiben. Dazu verstand sich Erasmus noch lange nicht; aber auf dem Reichstage zu Worms (1521) zeigte sich Reich und Kirche der Reformation so feindlich, daß er noch vorsichtiger wurde als bisher und es sogar ablehnte, den Reichstag, zu dem er als kaiserlicher Rat eingeladen war, zu besuchen. Er hatte die Witterung gehabt, es stünde schlecht um die Sache Luthers. Er fing zu bereuen an, was er bisher immerhin zugunsten der Evangelischen geäußert hatte. Er lehnt es nicht mehr entschieden ab, gegen die Reformation aufzutreten. Der ganze Erasmus: es sei ihm nicht gegeben, um der Religion willen Leib und Leben zu wagen; er habe die Schreibart Luthers oft getadelt und der evangelischen Sache dadurch mehr geschadet, als die heftigsten Verfolgungen; aus Zorn darüber habe kein Freund Luthers ihm mehr geschrieben oder ihn grüßen lassen. Noch schämt er sich aber, seine bekannten Gesinnungen zu verleugnen, schämt sich besonders vor den Humanisten, die treu zu Luther hielten, vor Melanchthon, Hutten und Pirkheimer.
Inzwischen war Leo X. gestorben, und der neue Papst, Hadrian VI., beantwortete die schmeichlerische Begrüßung des Erasmus mit einer erneuten Aufforderung, seine Feder der römischen Sache zur Verfügung zu stellen. Erasmus lehnt es ab, selbst nach Rom zu kommen; er sei nicht jung und nicht gesund genug; er wäre besser dabei gefahren (anders ist die Stelle nicht zu verstehen), wenn er zu den Lutheranern übergegangen wäre, allgemein sei die Anhänglichkeit an Luther und die Feindschaft gegen Rom; der Heilige Vater täte gut daran, Toleranz zu üben, manche Mißbräuche abzuschaffen und einige Gewissensfreiheit zu gewähren. Hadrian starb bald, ohne eine Gegenäußerung; und in dem gleichen Jahre (1523), da jetzt Clemens VII. Papst wurde, brach der entscheidende Streit zwischen Erasmus und Hutten aus. Von da ab war Erasmus für die evangelische Sache verloren.
Erasmus und Hutten
Es ist traurig, über diesen Streit berichten zu müssen. Hutten war nicht ohne Fehl, aber Erasmus vergaß sich noch weit mehr. Es war in ganz Deutschland bekannt, daß Hutten jedes Schutzes beraubt, von Kaiser und Papst gehaßt, von Not und Syphilis entkräftet, seinem Ende nahe war, da er den alten Freund und Gönner Erasmus in Basel aufsuchen wollte. Der große Erasmus war für den Ärmsten nicht zu sprechen; ohne Scheu gestand er gegen Melanchthon, daß die Armut und die Krankheit des miles gloriosus ihn schreckte, daß er mit dem ehemaligen Freunde auch alle anderen Evangelischen von Basel in sein Haus bekommen hätte; aber heuchlerisch versichert er in diesem Briefe, Hutten sei nicht zu ihm gekommen, er habe den alten Freund nicht fortgeschickt; er schließe von seinem Verkehr übrigens weder Luthers Freunde noch Feinde aus. Ganz nichtswürdig benimmt sich Erasmus, da er erfährt, Hutten wolle eine Schrift gegen ihn herausgeben; er sucht ihn von dieser Absicht durch gelehrte Schmeicheleien und Scherze abzubringen, aber auch durch Drohungen. Hutten kehrt sich nicht daran und läßt seine »Herausforderung« erscheinen. Auch in dem persönlichen Gezänke dieser Schrift ist viel Recht auf Huttens Seite; leider auch da noch, wo er zu ergründen sucht, warum Erasmus, einst der Feind der Römlinge, jetzt mit ihnen gemeine Sache mache. Sein unersättlicher Ehrgeiz und Neid lasse niemand neben sich aufkommen; er sei vom Papste bestochen oder durch Versprechungen geblendet; er sei ein Feigling und halte die evangelische Sache für gefährdet.
Hutten hatte inzwischen, aus Basel und dann aus Mühlhausen vertrieben, in Zürich bei Zwingli eine Zuflucht gefunden; man weiß, daß er auf der Insel Ufnau im Hochsommer 1523 elend starb. Noch vorher hatte Erasmus in der infamsten Weise den Rat von Zürich und Zwingli selbst gegen den Sterbenden aufzuhetzen gesucht; als er aber in der gleichen Absicht seine Antwort »Schwamm des Erasmus gegen Huttens Anspritzungen« dem mächtigen Zwingli widmete, wußte er vielleicht wirklich noch nicht, daß sein Gegner schon tot war. Auch hier trennt er sich noch nicht bestimmt von Luthers Partei; er unterscheidet zwischen der edeln Denkart Luthers und dem Stegreifritter Hutten, der sich das Recht anmaße, seinen bei Wein, Spiel und Dirnen leer gewordenen Beutel durch irgendwelche Händel wieder zu füllen. Auch Hutten habe offenbar keine Lust, ein Märtyrer für Luthers Dogmen zu werden, er brauchte ja sonst nur nach Rom oder nach den Niederlanden zu reisen, anstatt sich zu verbergen. Luthers Lehre sei noch nicht die Wahrheit und Luthers Sprache dem Evangelium nicht förderlich. Zum Beschlusse der »Spongia« predigt er wieder den Bischöfen wie den Evangelischen nur Frieden, um der schönen Wissenschaften und um der Religion willen. Die Strafe des Feuertodes und ein erzwungener Widerruf habe geringen Nutzen. »Wenn wir darüber zanken, ob der Glaube allein, ohne Werke, selig machen könne, so gehen die Früchte des Glaubens und der Lohn der guten Werke darüber verloren.« Huttens Freunde nahmen den Kampf gegen Erasmus auf; vielleicht ist es symbolisch, daß die ganze Erbschaft Huttens, außer Schulden und einigen Briefen, nur in einer Schreibfeder bestand. Luther war mit Huttens Libell nicht zufrieden gewesen, noch unzufriedener war er mit der Antwort des Erasmus; der habe nun allen Kredit verloren; er sei ganz fern vom Christentum, was Luther bis dahin nur geargwohnt habe.
In den literarischen Kämpfen, die dem verhängnisvollen Streite mit Hutten folgten, mußte sich Erasmus harte Dinge sagen lassen; er zweifle gewiß sogar an den heiligen Schriften, er lache über das Heiligste, er lasse sich wie ein Hund durch ein Stück Brot locken. Melanchthon, der ja selbst ohne Luther ein Leisetreter gewesen wäre, und Luther gaben sich Mühe, eine Verbindung mit Erasmus aufrechtzuhalten. Erasmus, durch die Beschimpfungen der Huttenfreunde aufs äußerste gereizt, von der Mönchspartei immer wieder verfolgt, von Fürsten und Bischöfen aufs neue gelockt, entschloß sich endlich, sein Schweigen zu brechen; er kündigte diese Absicht in einem zweideutigen Briefe Luthern an. Luther dürfe gar nicht böse werden, wenn er aus Lernbegierde mit ihm disputiere. »Würde doch vielleicht Erasmus, wenn er gegen dich schreibt, dem Evangelium einen größeren Dienst erweisen, als gewisse Dummköpfe, die dich verteidigen.«
Willensfreiheit
Das Selbstbewußtsein des Erasmus war nicht unberechtigt. Es war ein meisterlicher Schachzug, daß er die religiösen Dogmen ganz beiseite ließ und sich streng auf eine philosophische Frage beschränkte, auf die der Willensfreiheit; so brauchte er seinen Überzeugungen nichts zu vergeben und trat dennoch als Gegner Luthers auf. Schon 1521 hatte er eine Schrift entworfen, mehr über als gegen Luther, ein Gespräch, in welchem ein Lutheraner und ein Katholik zu Worte kamen und ein Unparteiischer der gegenseitigen Duldung das Wort redete. Dieses Gespräch, das schon wegen seiner Form die letzte Meinung des Verfassers nicht verriet, war nicht erschienen. Jetzt glaubte Erasmus noch klüger zu handeln, da er mit seiner Person gegen Luther auftrat, aber nur gegen eine Meinung, die unmittelbar mit der Reformation nichts zu tun zu haben schien. Man weiß nicht, ob man lachen oder über die Heuchelei sich entrüsten soll, wenn man erfährt, Erasmus habe schon vor Abfassung jenes Gesprächs ausdrücklich die Erlaubnis des Papstes nachgesucht und durch ein Breve auch erhalten, zum Zwecke der Widerlegung die Schriften Luthers lesen zu dürfen.
Schon das Wort » Diatribe« in der Überschrift kündigt nach dem Sprachgebrauche der Humanisten eine bloß philosophische Untersuchung an. Wenn die Darlegung uns nun fast durchaus enttäuscht, weil Erasmus sich unaufhörlich auf die Bibel und auf Kirchenväter beruft, weil er zum Kern der Frage gar nicht vordringt, so dürfen wir nicht vergessen, daß er sich eben nur die eine Aufgabe gestellt hatte, irgendwie als Gegner Luthers aufzutreten und als Kampfgegenstand nur darum – wie gesagt – die menschliche Willensfreiheit gewählt hatte, weil er in dieser Frage ganz ehrlich anderer Meinung war als Luther und den gesunden Menschenverstand auf seiner Seite wußte. So sehr aber war die Zeit theologisch gerichtet, so sehr bildete die Bibel den Mittelpunkt aller Gegensätze, daß auch Erasmus seine Aufgabe dahin einschränkte, die Falschheit von Luthers Lehrsatz (von der Unfreiheit des Willens) aus der Bibel und den Kirchenvätern zu beweisen. Nicht als Philosoph, sondern als Kirchenhistoriker wollte er Luther widerlegen. Halten wir uns heute an den Wortlaut der Sätze, so wie wir etwa seit Spinoza und Schopenhauer den Begriff des notwendigen Naturgeschehens (das ein notwendiges Handeln mitumfaßt) verstehen, so können wir leicht in den groben Irrtum verfallen, Erasmus für den rückständigen Geist zu halten, Luther für den Vertreter eines ganz modernen, heute noch der vulgären Weltanschauung fremden Gedankens; denn die besten Köpfe seit Spinoza lehren allerdings, der gesunde Menschenverstand glaube an eine Illusion, wenn er an die Willensfreiheit glaube; und unter uns sind es just die Materialisten, die – mit sehr dürftigen Gründen – den rein erkenntniskritischen Gedanken Spinozas und seiner Nachfolger zu einer unbedeutenden Moralkritik verdünnt haben. Von solchen Vorstellungen war Luther selbstverständlich himmelweit entfernt. Nicht Freiheit, sondern die äußerste Unfreiheit erzeugte in Luthers Herzen das Bedürfnis, jede menschliche Willensfreiheit zu leugnen; nicht immer die großen Gedanken, wie Vauvenargues meinte, wohl aber alle starken Gedanken kommen aus dem Herzen; Luther bewies leidenschaftlich die Knechtschaft des menschlichen Willens, weil er diese Knechtschaft brauchte. Er war aus der Mystik hergekommen; mystisch war sein felsenfestes Vertrauen, durch die Gnade Gottes zur Seligkeit berufen zu sein; sein Glaube, daß die Gnade einzig und allein die ewige Seligkeit gewähre, daß an dem Willen des Menschen nichts liege, aber auch gar nichts, daß gute Werke keine Bedeutung haben, daß am letzten Ende aller Enden sogar der Glaube an die Gnade wieder nur ein Werk der Gnade sei, diese inbrünstige Überzeugung war Mystizismus. Und man hätte ohne Anwendung sophistischer Künste selbst an Pantheismus erinnern dürfen, wie ihn später Bayle mißverstand, da doch nach einer solchen Lehre Gott allein in jedem Menschen alles Gute und alles Böse wollte oder tat. Nun war aber Luther nach Temperament und Charakter wahrlich kein Mystiker; die feinen Stimmungen der »Theologia deutsch« verwandelten sich in seinem harten Kopfe zu hanebüchener Wirklichkeit, ordneten sich dort neben die hanebüchenen Wirklichkeiten des Papismus, die zu bekämpfen sein Lebenswerk wurde, verknöcherten sich zu neuen Dogmen. Der Luther, der die Allweisheit und die Allmacht Gottes so handgreiflich und grobklotzig zu kennen glaubte, wie den schweren Tisch und den schweren Stuhl in seiner Stube, der erkannte so deutlich wie die Undurchdringlichkeit seines Eichentisches die Unmöglichkeit: daß im Menschen neben dem allweisen und allmächtigen göttlichen Willen noch ein freier Menschenwille Platz haben könne. So ein gelehrter Humanist, so ein sonst von Gott mit reichen Gaben ausgestatteter Erasmus mochte sich auf das Alte und das Neue Testament und auf den Hieronymus dazu soviel berufen wie er wollte, er blieb, wenn er die Unfreiheit des Willens nicht anerkannte, ein Skeptiker, ein Lukianist, am Ende gar doch ein Atheist.
Mir handelt es sich hier nur darum, ob Luther mit solchen Vorwürfen (die er übrigens in seiner langen Antwort mit erstaunlicher Zurückhaltung vortrug) im Rechte war oder nicht. Luther gibt in aller Gelindigkeit zu verstehen, Erasmus halte die ganze christliche Lehre für unnötig und eines Streites unwert; habe einige rechtgläubige Sätze nur einfließen lassen, um von den Päpsten und von den »Tyrannen« nicht für einen Unchristen gehalten zu werden. »Der Heilige Geist ist kein Skepticus.« Hinter seinem allerliebsten Freunde und Bruder Erasmus verberge sich ein Lukianus oder Epikurus. Erasmus wehrte sich gegen so gefährliche Anschuldigungen in Briefen und in seiner Replik mit wachsender Erbitterung; wir können aber nach vierhundert Jahren in aller Gemütsruhe feststellen, daß Erasmus trotz aller Bibelzitate auch in der Diatribe ganz gewiß nicht als ein rechtgläubiger Katholik redet, kaum als ein Christ. Von den Streitigkeiten über die Dreieinigkeit, über die unbefleckte Empfängnis, kurz über die Geheimnisse des Christentums spricht er (äußerst vorsichtig) wieder als von Dingen, über die man dem Volke seine wahre Meinung nicht sagen dürfe; pantheistische Lukubrationen (Gott sei in einer Mistkäferhöhle oder wer weiß sonstwo ebenso wie im Himmel) seien für die gemeinen Leute nicht geeignet. Ebenso brauchte man die Lehre von Wiclif und Luther, daß es keinen freien Willen gebe, nicht zu erörtern. Der gemeine Mann könne auf die Vorstellung nicht verzichten, daß er einen freien Willen besitze; diese Vorstellung entspreche aber auch der Kirchenlehre. Zu nicht geringem Schrecken der Papisten wie der Evangelischen beruft sich Erasmus nicht nur auf die rechtgläubigen alten Skribenten, sondern auch auf den Ketzer Pelagius, den Leugner einer Erbsünde, läßt sich auf freie Deutung der Bibelworte ein und greift gar zu bildlichen Erklärungen. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Diatribe der mehr moralische als theologische Gedanke, die Werke eines Menschen wären ihm nicht zuzurechnen, wenn er keinen freien Willen besäße. Er sieht die Schwierigkeit, die menschliche Willensfreiheit mit der allwissenden Vorsehung Gottes zu vereinigen, beruft sich auf eine schon recht freigeistige Äußerung von Laurentius Valla: auch eine Sonnenfinsternis erfolge nicht, weil sie vorher gewußt wurde; sie wurde vielmehr vorhergesagt, weil sie erfolgen mußte. Man sollte nach solchen Erklärungen erwarten, Erasmus wollte sich entschieden zum Glauben an die Willensfreiheit bekennen. Er tut es nicht, und man kann schwer sagen, ob ihn Vorsicht zurückhält oder eine bessere Einsicht. Er führt, wie schon Luther sich ausdrückte, einen Eiertanz aus. Die Gnade wirke in uns nicht durch den Willen, sondern an dem Willen. Und schließlich läßt er sich die halbschürige Meinung gefallen, die dem freien Willen etwas, der Gnade aber das allermeiste zuschreibt. So zeigt Erasmus in der ganzen Diatribe keinen Bekennermut; eigentlich ist sie aber auch gar keine Bekenntnisschrift. Erasmus scheint dem Streite, in den er sich doch hineingemischt hat, so fremd gegenüberzustehen, als ob ihn die Sache gar nichts anginge. Ein humaner Mensch, der eigentlich selbst gar kein Christ ist, scheint an der Lehre von der absoluten Gnadenwahl Anstoß zu nehmen und den Reformatoren an den wertvollsten Stellen der Diatribe zurufen zu wollen: »Treibt es nicht zu weit! Macht den Christengott nicht zu einem ungerechten und grausamen Wesen!« Und dem heidnischen Humanisten, der Erasmus im Grunde doch war, entschlüpft einmal der unchristliche Ausdruck Fatum.
Beide Männer, der beste Unchrist und der beste Christ der Zeit, hatten sich vorgenommen, einander zu schonen. Luthers Antwortbuch jedoch (das der evangelischen Kirche durch seine dogmatische Härte heute noch unbequem ist) trennte Erasmus und Luther für immer. Erasmus wollte nicht sehen, daß Luther wirklich sänftiglich mit ihm verfahren war; er behauptete (gegen den Kardinal Wolsey und gegen Luther selbst), Luther hätte noch gegen keinen Menschen so feindselig und so boshaft geschrieben, wie gegen ihn; aber die Beschuldigungen des Atheismus, des Epikureismus, des Skeptizismus und der Lästerung seien für ihn nicht gar so kränkend, weil sein Gewissen ihn freispreche. Öffentlich antwortete Erasmus in einer überaus zornigen neuen Diatribe »Hyperaspistes«, die er in äußerster Eile binnen zehn Tagen hinwarf und die im Februar 1526 erschien; eine Nachlese dieser Replik folgte im nächsten Jahr. Wie zweihundert Jahre darauf der ungelehrtere Toland es zu tun pflegte, so wählte Erasmus diesmal einen möglichst unverständlichen Titel; das griechische Wort bedeutet soviel wie Beschirmer oder Verteidiger; in der im gleichen Jahre herausgekommenen Übersetzung von Emser wird Hyperaspistes durch »Schirm- und Schutzbüchlein« wiedergegeben. Erasmus wendet sich gegen Luther äußerst gereizt und durchaus persönlich; ich will all den vermoderten Schimpf nicht nachschreiben. Die Beschuldigung des Atheismus lehnt er mit allen rhetorischen Künsten ab. »Wer hat je ein gotteslästerliches Wort aus meinem Munde gehört.« Doch abermals lautet sein Haupteinwurf gegen die ganze Art Luthers: religiöse Fragen mögen in den Schulen abgehandelt werden, gehören aber nicht vor das Volk. Es ist der Standpunkt der Volksverachtung, durch den sich nachher auch noch die Freigeister Bolingbroke und Voltaire, ja auch Friedrich der Große von den demokratischen Führern der Neuzeit unterscheiden.
Luther redete von da ab über Erasmus mit einer Verachtung, hinter der sich untilgbarer Haß verbarg. Am kaiserlichen Hofe war man mit der Diatribe zufrieden. Der Kirche blieb Erasmus verdächtig. Er klagt bitter darüber; aber mit jener inneren Tapferkeit, die ich an dem ängstlichen Manne schon rühmen mußte, blieb er dabei, den undankbaren vermittelnden Weg zwischen beiden Parteien zu suchen und anzuraten; auch als er in den Kämpfen der Stadt Basel um sein sachverständiges Urteil gebeten wurde. Trotz dieser Abgeklärtheit, die wir besser als seine Zeitgenossen würdigen sollten, litt er schwer darunter, daß die evangelischen Humanisten auch den brieflichen Verkehr mit ihm abbrachen; das erschien einem damaligen Gelehrten als eine capitis diminutio. In neuen Streitigkeiten wurde er zänkisch und boshaft; es fehlte nicht an heftigen Ausfällen gegen die Evangelischen, die – er zeigte da eine scharfe Voraussicht – mit Gefängnis und Holzstoß ebenso verfolgungssüchtig würden, wie die Papisten waren; er nannte die Mönche immer noch fette Schmeißfliegen, aber die neuen Prediger nannte er dürre Hungerschlucker.
Als die Reformation in Basel unter allerlei Stürmen siegte, begann sich Erasmus dort unbehaglich zu fühlen. Der Weltbürger blickte, so alt und krank er war, nach einem neuen Zufluchtsorte aus; an Berufungen fehlte es nicht: nach Frankreich, nach England, nach Polen und nach Brabant, wo er eigentlich zu Hause war. Er hielt sich nirgends für sicher, am wenigsten in England, wo Heinrich VIII. besonders unzuverlässig schien; freilich die widerrechtliche Hinrichtung des Thomas Morus, des Verfassers der Utopia, eines alten Freundes von Erasmus, erfolgte erst ein Jahr vor dessen eigenem Tode.
Erasmus hatte Basel mit gewohnter Schlauheit zum Wohnorte gewählt, nicht ganz so pedantisch rechnend, wie Schopenhauer sich dreihundert Jahre später für Frankfurt entschied, aber doch erst nach sorgfältiger Prüfung aller Vorteile und Nachteile. Die freiheitliche Gesinnung der dortigen Gelehrten und Buchdrucker (man konnte damals noch Buchdrucker und Gelehrter zugleich sein, auch Korrektor und Professor zugleich) war ihm sehr angenehm; daß aber eine Entscheidung fiel, daß die Reformation in Basel siegte, das paßte ihm denn doch wieder nicht, weil sein Ruf am päpstlichen und am kaiserlichen Hofe darunter leiden konnte. Er übersiedelte jetzt (1529) beinahe heimlich nach dem schönen Freiburg im Breisgau, wurde aber auch da noch einmal in die religiösen Kämpfe hineingezogen. An dem Reichstage von Augsburg nahm er zwar nicht teil, aber in Briefen und Flugschriften trat er noch wärmer als bisher für Frieden und Duldung ein. Da man es bei Erasmus schwerlich herausfordernde Tapferkeit nennen darf, könnte man es seiner wachsenden Rechthaberei zuschreiben, daß er in seinen Briefen gegen Katholiken die Evangelischen, gegen Evangelische die Katholiken in Schutz nahm. Einer seiner neuen Gegner warf ihm auch vor, er hätte sich zum Generalzensor der Welt aufgeworfen; aber Erasmus hatte die ehrliche Überzeugung, eine berechtigte vielleicht, daß der Menschheit viele »Tragödien« erspart worden wären, wenn man auf seinen Rat gehört hätte.
Noch einmal kam es zu einem heftigen Zanke zwischen ihm und Luther. Luther sagte unter anderem, Erasmus denke bei den Alten nur an Demokritos und Epikuros und verstehe unter dem Worte »Gott« nur die vier Buchstaben G O T T. Erasmus antwortete gröblich: in Luthers Schriften bleibe wenig übrig, wenn man die Übertreibungen, Verleumdungen, Beschimpfungen und Beteuerungen, wenn man weiter die Anleihen bei Hus und Wiclif abziehe. Das Zerwürfnis zwischen Luther und Erasmus konnte aber nicht mehr tiefer gehen, als es schon war; höchstens daß Luther den ihm zum Mitstreiter wie geschaffenen Mann von da ab etwa in seinen Tischreden rücksichtslos beschimpfte, daß er das Schlagwort ausgab, das Evangelium müßte gerettet werden, auch wenn darüber der Humanismus in Trümmer gehen sollte, und daß er den friedlichen Erasmus für einen Feind aller Religionen erklärte. Maßlos und unanständig konnte der Mann Gottes in seinem Zorn werden, den wir leichter begreifen als verzeihen können: »Wer den Erasmus zerdrückt, der würget eine Wanze, und diese stinkt tot noch mehr als lebendig.«
In seiner Weise blieb auch Erasmus sich selber getreu, bis zum Tode; bis zum Tode hörte er nicht auf, die Sache der Denkfreiheit durch seine kritischen und humanistischen Schriften zu fördern, zugleich aber die Gunst der römischen Kirche durch ein Nachgeben in kleineren und größeren Fragen festzuhalten; dies letzte gelang ihm in solchem Maße, daß noch kurz vor seinem Tode der Plan wieder erörtert wurde, ihn durch die Verleihung der Kardinalswürde ganz für Rom zu gewinnen. Aber das Ende war schon nahe. Erasmus hatte sich auch in Freiburg nicht behaglich gefühlt und neigte dazu, sich in einer unmittelbaren Stadt des Kaisers niederzulassen, in Besançon, das damals mit Burgund ja gerade kaiserlich war. Er reiste vorher (Sommer 1535) nach Basel, um da geschäftliche Angelegenheiten zu ordnen. Bevor diese Geschäfte noch geendet waren, erkrankte er; sein Zustand verschlimmerte sich und er starb in der Nacht zum 12. Juli 1536. Nach den Berichten: als ein Philosoph und redlicher Christ, doch ohne Sakrament und ohne Beichte. Die Studenten trugen ihn zu Grabe.
Seitdem ist das Andenken seiner Persönlichkeit durch vier Jahrhunderte strittig gewesen. Als Philologe wurde er von beiden Parteien gleicherweise gepriesen; als Theologe wurde er gleicherweise von beiden Parteien (wenigstens von den heftigen Führern beider Parteien) für einen Heuchler, für einen epikureischen Indifferentisten erklärt. Dieser Indifferentismus, der uns heute so selbstverständlich ist, erschien den Zänkern der Reformationszeit als ein Verbrechen. In Wahrheit stand außerhalb des Zankes, war ein Dissident, wer wie Erasmus die Glaubensartikel auf einige wenige Punkte zusammenzog (Herbert von Cherbury tat hundert Jahre später nichts anderes und wird darum für den ersten Anreger des unchristlichen Deismus gehalten), wer sich den Entscheidungen der kirchlichen Autorität so äußerlich unterwarf, daß er (als man ihm Zweifel an der Eucharistie vorwarf) ärgerlich ironisch schreiben konnte, er könnte ebensogut ein Arianer oder ein Pelagianer sein, wenn diese Lehrmeinungen gebilligt worden wären. Erasmus war Dissident in einer Zeit, die für so etwas noch keinen Sinn hatte.
Ich habe keinen häßlichen Zug in seinem Bilde beschönigt und darf darum desto freier sagen: wer in Erasmus nur einen Feigling erblickt, tut dem außerordentlichen Manne bitteres Unrecht. Besaß Erasmus in keiner Weise den Mut des aktiven Widerstandes, den wir an Luther gern bewundern, so besaß er dafür – und das wird leicht übersehen – den Mut des passiven Widerstandes; und daß ihm die einseitige Beschränktheit fehlte, ohne die ein Draufgänger wie Luther nicht vorzustellen ist, das sollten moderne Menschen nicht an ihm tadeln. Gar nicht, daß er über alles zu lachen imstande war, auch über die sogenannten Geheimnisse des Glaubens, sogar über die ganze evangelische Bewegung. Er war lieber ein lachender Zuschauer als ein ernsthaft handelnder Mitkämpfer. Er war so frei, daß er über die wichtigsten Gegenstände des Männerstreites seine überlegenen Witze reißen konnte. Man pflegte Luthers Abfall von Rom eine Tragödie zu nennen; als nun einer nach dem anderen von den geistlichen Reformatoren eine Frau nahm, schrieb Erasmus lustig, die Bewegung hieße besser eine Komödie, weil die Sache immer mit einer Hochzeit endige. Ein erlesener Witz des Erasmus scheint es mir zu sein, daß er einmal (1524) ein Büchlein herausgab, das die Jungfernschaft und das Märtyrertum in eine Vergleichung zog und zu dem Ergebnisse kam: die Erhaltung der Jungfrauschaft sei auch ein Märtyrertum. Sein Lachen verstummte nicht einmal vor dem Kardinalat. Als man ihm kurz vor seinem Tode davon sprach, er würde noch Kardinal werden, sagte er: das wäre, wie wenn man einer Katze einen Reifrock anzöge.
Luther hatte also mit allen seinen Behauptungen über Erasmus fast ganz recht: er wäre ein Feind Christi, er verlachte alle Personen der Trinität, er spottete über die ganze Religion, er schriebe seine Bücher ebenso für Türken wie für Christen; nur die Werturteile Luthers über Erasmus sollten wir uns nicht aneignen. Für Luther war Indifferentismus schon Gottlosigkeit; wie in unsrem entsetzlichen Weltkriege eben ein schlechter Mensch schien, wem jeder Ausgang des Krieges fast gleich schmerzlich war. Die Bezeichnung »Indifferentist« war in der Reformationszeit und noch lange nachher ein Vorwurf. Pierre Bayle hat in seinem Artikel Acosta (Anmerkung H.) besonders scharfsinnig hervorgehoben, daß alle eifernden Religionsparteien dem Grundsatze huldigen: lieber eine falsche Religion als gar keine. Uriel Acosta wurde gerade darum von seinen Glaubensgenossen am meisten gehaßt und verfolgt, weil er nicht zum Christentum übertrat, weil er weder Jude, noch Christ, noch Mohammedaner sein wollte, weil er der natürlichen Religion huldigte. »Sein Indifferentismus war sein größtes Verbrechen.« Noch 1727 veröffentlichte der deutsche Magister Beyer eine Abhandlung über »die ursprünglichen Quellen des Indifferentismi oder die Ursachen der närrischen Meinung, man könne in allen Religionen selig werden«. In diesem Buche werden die Indifferentisten den Atheisten und den Naturalisten ungefähr gleichgestellt; als Quellen (es seien deren achtzehn) des Indifferentismus werden zumeist die Ansichten aufgeführt, die anderswo für Quellen des Atheismus ausgegeben werden, nur schreibt Beyer vom engsten lutherischen Standpunkte aus; seine Entdeckung: der Indifferentismus komme von der Gottlosigkeit her (wie die Armut von der Powerté).
Ganz unberechtigt war es freilich nicht, wenn die Eiferer jeden Indifferentisten wie einen gottlosen Menschen behandelten. Wir haben es noch mit einer Zeit zu tun, in welcher Duldung einer anderen als der eigenen Religion für einen Verrat an Gott galt; und Duldung oder Toleranz schien nur aus Indifferentismus erklärlich, solange religiöse Streitpunkte so im Vordergrunde waren wie im 16., im 17. und zum Teil noch im 18. Jahrhundert. Gewiß ist, daß allgemeine Toleranz zumeist von konfessionslosen Deisten und von Atheisten gefordert wurde, daß bei Locke z. B. sein Eintreten für die Duldung an der zur Schau getragenen Rechtgläubigkeit zweifeln läßt. Frommer Glaube war nur in seltenen Fällen duldsam, Zugehörigkeit zu einer religiösen Partei niemals.
Erasmus war wirklich ein Indifferentist in diesem erschrecklichen Sinne der Eiferer. Die Quelle seines Indifferentismus war der Zweifel. Gewiß, auch ein Luther kannte den Zweifel, als eine Versuchung des Teufels, als eine entsetzliche Qual, als eine Unterbrechung seines Seelenfriedens; für einen Erasmus war der Zweifel mehr als eine Gewohnheit, war ein regelmäßiger und maßgebender Seelenzustand, der gewiß niemals oder selten von Versuchungen des Glaubens unterbrochen wurde. Wie denn auch Luther das »Wort Gottes« buchstäblich glaubte, Erasmus es als ein Literaturerzeugnis kannte und kritisierte.
Alles in allem war Erasmus von Rotterdam ein erstaunlich freier Mensch für sich selbst, doch nur in geringem Maße ein Befreier für andere. Wenn es ein Tadel ist, daß er dem Martyrium des Feuertodes nicht so bereit entgegenging wie Luther, so ist dieser Tadel berechtigt; wir wollen aber doch nicht vergessen, daß die Gefahr, der sich Luther mit einer großen Wahrscheinlichkeit aussetzte, den passiven Mut des Erasmus ebenfalls bedrohte, freilich mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit. Bruno und Vanini, die viele Jahre nach Erasmus den Feuertod starben, haben sich über die christlichen Geheimnisse kaum sehr viel freier ausgesprochen, als Erasmus es namentlich vor dem Auftreten Luthers getan hatte. Vielleicht war er nur in der Wahl seines Aufenthaltsortes vorsichtiger gewesen als diese beiden Opfer der Denkfreiheit. Vielleicht war er auch unaufrichtiger als namentlich Bruno. Wer sich rein fühlt von Menschenklugheit, der erhebe den ersten Stein gegen ihn. Das beste Urteil über ihn prägten schon die Dunkelmännerbriefe: » Erasmus est homo pro se.«
Erasmus und der Arianismus
Ich habe schon die Frage gestreift, ob Erasmus mit Recht den Arianern oder Socinianern zugerechnet werden dürfe. Er selbst hat (wie gesagt) seine eigene Unterwerfung unter die Kirche offenbar verhöhnen wollen, da er seine Rechtgläubigkeit geflissentlich beteuerte: er wäre auch ein Arianer oder ein Pelagianer, wenn die Kirche die Lehre des Arius oder des Pelagius gutheißen wollte. Er wußte ja besser als damals andere, wie es um die Dogmengeschichte stand und wie menschlich, politisch und zufällig es bei der Niederlage des Arianismus zugegangen war: daß der Standpunkt der Kirche lange zweifelhaft war, daß der Arianismus eher eine gleich mächtige und gleich berechtigte Partei war als eine Ketzerei, daß die Arianer gelehrter und begabter waren als ihre Besieger. Gerade um diesen Punkt handelte es sich aber bei dem Verdachte, der bald von den Katholiken, bald von den Reformatoren gegen Erasmus ausgesprochen wurde: der Arianismus sei nach seiner Meinung keine Ketzerei, sondern eine wohlbegründete Lehre, die nur infolge geschichtlicher Tatsachen nicht rechtgläubige Kirchenlehre wurde. Die Arianer, so drückte sich Erasmus vorsichtig aus, seien eher Schismatiker als Ketzer gewesen. In die Enge getrieben, fügte er sich jedoch und gab alles zu, was man von ihm verlangte; doch einmal faßte er sich zu guter Stunde ein Herz und verriet in einem grimmigen Scherze seine wahre Gesinnung. Jawohl, er räume ein, daß die Arianer zugleich Schismatiker und Ketzer waren; das hätte auch in seinen früheren Äußerungen gelegen. »Das ist ebenso, als wenn ich gesagt hätte, Beda (sein gefährlichster Feind in Paris) sei noch mehr dumm als boshaft; dadurch würde ich doch seine Boshaftigkeit nicht leugnen, sondern nur behaupten, in Beda sei noch mehr Dummheit als Bosheit.«
Die Bedeutung dieser Stelle geht weit darüber hinaus, daß sie eine gute Probe der Gelehrtenpolemik der Zeit ist. Der Vorwurf des Arianismus besagte nicht mehr und nicht weniger, als daß der Beschuldigte die Gottheit Christi leugne und die allen christlichen Sekten gemeinsame Lehre der Dreieinigkeit; wer die Gottheit Christi leugnete und die Erbsünde dazu (wie wieder dem Erasmus nachgesagt wurde), der war wirklich kein Christ mehr. Und über einen solchen Vorwurf konnte Erasmus noch seine Witze machen. Kein Wunder, daß Faust. Socinus selber und seine nächsten Schüler sich auf Erasmus beriefen. Er, der dem großen Luther so oft als ein kleiner Bücherwurm entgegengestellt worden ist, hatte den größeren Abfall vollzogen, nicht den halben von Rom, sondern den ganzen vom Christusglauben. Der im Leben so furchtsame Erasmus war tapfer genug, um ohne die Tröstungen der einen oder der anderen Kirche in den Tod zu gehen. Er starb sine crux, sine lux, sine Deus, wie die Mönche in einem Latein berichteten, über das Erasmus sich gewiß im Grabe herumdrehte.
Dem Andenken des Erasmus erging es ähnlich wie seinem Denkmal in Rotterdam; das wurde abwechselnd als ein Heiligenbild verehrt und dann wieder beiseite geschafft. Sein Andenken wurde oft geschmäht. Er war kein heldischer Mann; aber seine Nachwirkung war stärker als die vieler Helden, die so lachend das Schwert führten, wie er die Feder. Erasmus, Reformator vor Luther, hatte es nicht gewagt, sich nach Beginn des Kampfes für Luther zu erklären; aber er hatte den ganz anderen Vorwurf des Arianismus mit ebensolcher Schwäche ertragen; und wir werden noch erfahren, welche Bedeutung für die Geistesbefreiung der Welt, für den Abfall vom Christentum der Arianismus hatte: wie die Leugnung der Gottheit Christi, als Socinianismus der Gipfel der religiösen Renaissance, zuerst flüchtig umherirrte, dann sich in den Niederlanden verbreitete, in England als Deismus, in Frankreich als Lehre der Enzyklopädisten siegte und endlich 1789 (vorübergehend) zur Abschaffung des Christentums führte.