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Wahrheit
Ich habe (Wörtb. d. Phil., Art. »Wahrheit«) hoffentlich überzeugend nachgewiesen, daß »Wahrheit« ein relativer Begriff sei, daß zwischen Wahrheit und Glaube kein Unterschied bestehe, daß »glauben« nichts weiter bedeute als: geloben, ja-sagen, gut-heißen, für-wahr-halten. Aus subjektiven Gründen natürlich für wahr halten; denn Wissen unterscheidet sich von Glauben nur durch einen höheren Grad von Wahrscheinlichkeit. Man hat aus guten Gründen zwei Arten von Glauben unterschieden: den Eigenglauben und den (aus dem Glauben oder dem vermeintlichen Wissen eines andern beruhenden) historischen Glauben; man hat, von Schwierigkeiten des Begriffes gedrängt, ganz unlogisch wieder zwei Formen des Eigenglaubens angenommen: den Glauben des Individuums (eine alte Frau hält sich selbst für eine Hexe) und den Glauben der Menge (ein ganzes Volk glaubt an Hexen). Ich brauche nicht erst zu versichern, daß ein solcher Eigenglaube dadurch nicht wahrscheinlicher werde, daß er von Millionen geteilt wird.
Die ganze feine Distinktion wird dadurch hinfällig, daß auch der historische Glaube, also die Zuversicht auf das Wissen eines andern, fast immer oder immer erst dann wirksam wird, wenn der historische Glaube gemeinsamer Eigenglaube geworden ist. Jeder religiöse Glaube, auch der Glaube an Gott (was immer man zu seiner Begründung aus der Vernunft gesagt haben mag), beruht auf Tradition und zuletzt aus einem historischen Glauben, den man in diesem Falle Offenbarungsglauben nennt. Wer für andere historische Traditionen aus Mangel an Autoritätsglauben wenig Zuversicht hat, um so weniger, je weiter in die vorgeschichtliche Zeit die Meldung eines geschichtlichen Ereignisses zurückgeht, der wird natürlich um so weniger geneigt sein, die Kunde von der allerältesten Tatsache der Weltgeschichte zu glauben, daß Gott nämlich die Welt geschaffen habe. Schließlich ist die so viel jüngere und wahrscheinlichere Legende von der Gründung Roms für die Kritik lange nicht so herausfordernd.
Auf die Textkritik jenes uralten Satzes (die aber den ganzen Inhalt einer »Geschichte des Theismus« ausmachen müßte) kommt es mir hier viel weniger an, als eben auf den einfachen Hinweis darauf, daß der Glaube an Gott – ganz logisch betrachtet und ohne jede sogenannte Blasphemie – teils zu der Art des Massenglaubens gehört, wie der Glaube an den Teufel oder an die Hexen, teils zu der Art des historischen Glaubens, wie der Glaube an die Gründung Roms durch Romulus und der Glaube an die Gründung der schweizerischen Eidgenossenschaft durch Wilhelm Teil. Die Vergleichung mit solchen legendären Persönlichkeiten kann am besten erklären, warum die Welt es nicht dulden will, nicht von Gott geschaffen worden zu sein; so wahr das Festhalten an alten Überzeugungen mit Recht als ethisch geschätzt wird, so wahr waren ethische Mächte im Spiel, als das gelehrte Europa sich seinen Romulus (und seinen Homeros) nicht nehmen lassen wollte, als die Schweiz die Existenz des historischen Tell verteidigte. Ganz ähnliche ethische Mächte, nur in besonders individueller Färbung, bewirken eine Empörung, sobald ein Mensch die Nachricht für wahr halten soll, der Mann, den er bisher für seinen Vater hielt, sei nicht sein Vater gewesen; er, der bisher so sichere Mensch, sei unbekannter Herkunft, sei ein »natürliches« Kind.
Dieser Gedankengang kann und will nichts behaupten, als daß die Frage nach dem Dasein Gottes eine historische, eine Frage des historischen Glaubens ist. Es hat nach dem Auftreten des Christentums gut anderthalb Jahrtausende gedauert, bevor freie Menschen (immer noch mit Lebensgefahr) daran dachten, den Sinn der Evangelien und den leibhaftigen Erdenwandel Jesu Christi philologisch zu untersuchen, also historisch. Nur einen Schritt weiter auf diesem Wege scheint mir die Pflicht zu liegen, die Nachricht von dem Dasein der Götter überhaupt, insbesondere die Nachricht von der Weltschöpfung durch den alten Judengott, wie sie den ersten Satz der Bibel ausmacht, einfach als einen Gegenstand historischer Kritik zu behandeln, die Frage nach dem Dasein Gottes als eine historische Frage.