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IX. Die Entstehung unserer Republik

100.

Man sagt, daß die Staaten sich durch diejenigen politischen Kräfte erhalten, durch die und aus denen sie entstanden sind. Darin liegt viel Wahres; darum will ich jetzt meinen Bericht über die Auslandsarbeit in einer systematischeren Darlegung der politischen und juridischen Bedeutung der ganzen Befreiungsaktion Zusammenfassen und zeigen, wie unsere Republik entstanden ist, wie wir unsere Selbständigkeit erlangt haben.

Allgemein gesprochen, ist unsere Unabhängigkeit aus dem Sturze Österreich-Ungarns und der Weltkonflagration entstanden; die Alliierten besiegten Deutschland und Österreich, sie ermöglichten und erkämpften dadurch unsere Befreiung. Die siegreichen Alliierten regelten in den Friedenskonferenzen die Neuordnung West- und Mitteleuropas; an diesen Friedenskonferenzen nahmen wir von Anfang an teil und unterschrieben die Friedensabkommen, denn wir waren von den Alliierten schon während des Krieges in den Areopag der kämpfenden und entscheidenden Nationen aufgenommen worden. Die Alliierten hatten unser politisches und Befreiungsprogramm anerkannt und angenommen.

Unsere Selbständigkeit wurde dann auch von unseren früheren Gegnern durch ihre Unterschriften auf den Friedensverträgen und ihre verfassungsmäßige Ratifikation anerkannt.

Wir erlangten unsere Unabhängigkeit durch den Widerstand und die Revolution gegen Österreich-Ungarn; wir erkämpften unsere Selbständigkeit in Frankreich, Italien, Rußland, wie es Präsident Poincaré kurz gesagt hat. Diese Revolution war jedoch eigentümlich gewesen. In bewaffneter Form wurde sie nicht daheim auf unserem Territorium durchgeführt, sondern jenseits der Grenze auf fremden Territorien.

Wir mußten uns als Nation am bewaffneten Weltkrieg beteiligen; ohne diese Beteiligung hätten wir unsere Selbständigkeit nicht erlangt, – gewiß nicht in dem Maße, in dem wir sie erlangt haben. Darin besteht der Sinn und politische Wert unserer Legionen in Rußland, Frankreich und Italien. Die Legionen gewannen uns die Sympathien und die Hilfe der Westmächte, die Legionen und die Anabasis in Sibirien gewannen uns die Sympathien der breiten alliierten Öffentlichkeit und den Respekt selbst unserer Feinde.

Neben den Legionen trugen zu unserer Befreiung wesentlich jene Soldaten bei, die in der österreichischen Armee durch tätigen und passiven Widerstand zu ihrer Auflösung beitrugen und besonders diejenigen, die ihren Widerstand gegen das Österreichertum mit dem Tode bezahlten. Mit jeder Hinrichtung gruben sich Wien und Budapest ihr Grab, denn sie bewiesen, daß sich unsere Nation gegen sie auf Leben und Tod in Opposition befand. Wir im Auslande deuteten auf jede neue Hinrichtung hin und klagten Österreich öffentlich an. Wir erhoben Anklage dagegen um all seiner Verfolgungen und Grausamkeiten willen. Ein schönes Beispiel dieser Stimmung war, wie ich festgestellt habe, der junge Bildhauer Sapík: zur russischen Front berufen, nahm er in Prag von seinen Freunden Abschied: »Ich weiß, daß ich falle, aber gegen die Russen gebe ich keinen Schuß ab.« Kaum war er an die Front gekommen, so fiel er – sein Versprechen hat er gewiß gehalten. Und solcher Sapíks gab es Tausende und Tausende.

Ferner trugen zur Befreiung alle jene Bürger bei, die unter dem österreichischen Militärterror hingerichtet, die zum Tode verurteilt (Dr. Kramář, Dr. Rašín), eingekerkert, ihres Eigentums verlustig erklärt und sonst wie gepeinigt wurden. Auch all derjenigen aus allen Schichten des tschechischen Volkes soll gedacht werden, von denen die Geschichte keine Kenntnis nehmen wird, denen jedoch die bittere Kriegszeit durch die österreichische Verfolgung noch bitterer gemacht wurde. Durch die Aufzeigung dieser Tatsachen überzeugten wir das alliierte Ausland von unserer auf Leben und Tod gegen Österreich-Ungarn gerichteten Entschlossenheit. Unsere Selbständigkeit wurde durch Blut erobert.

Ein anderer Faktor im Auslande war unser Nationalrat, seine diplomatische Aktion und Propaganda: wir formierten die Legionen und erweiterten sie zur Armee, wir nützten die Teilnahme der Legionen am Weltkriege diplomatisch aus. Der Nationalrat im Auslande war ein Organ heimischer Politiker, die das Wesen des Weltkrieges und der Gesamtlage begriffen und den schicksalsvollen Entschluß gefaßt hatten, entweder direkt und offen die Revolution im Auslande zu betreiben, wohin sie sich begaben, weil die Revolution im Inlande nicht möglich war, oder durch ihre geheime, unterirdische Aktion den Kampf im Auslande wirksam zu unterstützen. Die Hauptaufgabe war, überall, auch in Rußland, die überkommene Austrophilie zu brechen, und das ist uns gelungen.

Wir im Auslande verstanden es ferner, die Alliierten von unserem Recht auf Selbständigkeit, unserem historischen und Naturrecht zu überzeugen: wir verstanden es, den Alliierten das wahre Wesen der Habsburger und ihres Absolutismus zu enthüllen, zu zeigen, daß in Österreich-Ungarn mit Hilfe einer Scheinverfassung eine Mehrheit von einer Minderheit beherrscht werde, daß Österreich und Ungarn ebenso überlebt und eine Anomalie seien wie der Zarismus Preußens und Rußlands. Von Preußen und Rußland glaubte man das im Westen selbst; es war unsere Aufgabe, die Alliierten davon zu überzeugen, daß der Wiener Zarismus um nichts besser, sondern vielfach schlimmer sei. Wir wiesen auf das grausame Vorgehen Österreichs gegen seine Völker hin, die mit ihm nicht eines Sinnes waren, auf seine Abhängigkeit von Deutschland und dessen pangermanischem Plan, doch auch auf seine große Schuld am Kriege; demgegenüber beanspruchten wir unser Recht auf Selbständigkeit, indem wir uns auf unseren Anteil an der kulturellen Entwicklung Europas beriefen. Die vierjährige Propaganda wußte diese unsere Auffassung selbst in den Volkskreisen der alliierten Nationen zu verbreiten und genügend zu festigen.

Die Austrophilie war, wie ich gezeigt habe, in allen alliierten und neutralen Ländern sehr stark: sie zu besiegen, gelang nicht leicht und nicht schnell, – hatten wir doch selbst fast alle so lange die Notwendigkeit Österreichs vor der ganzen Welt dargetan und verfochten! Eine intensive austrophile Gegenpropaganda arbeitete gegen uns und erschwerte unsere Aufgabe, doch wurde der Sieg unserer Propaganda um so wirksamer. Die Alliierten kannten Österreich-Ungarn nicht so gut wie wir, kannten überhaupt nicht die verwickelten nationalen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse in Osteuropa. Dagegen konnten wir ihnen gegen Österreich und Deutschland ein durch langjährige Erfahrungen und das Studium Osteuropas sachlich begründetes Programm bieten. Ich habe beim Bericht über die erste programmatische Unterredung mit Briand gesagt, daß wir den Alliierten ein politisches Programm gaben: das ist keine Übertreibung, unsere Freunde in Frankreich, England und Amerika gestehen das selbst.

Die Austrophilie beruhte nicht, wie hervorgehoben werden muß, nur auf der Sympathie für Österreich und Wien, sondern auf der traditionellen Anschauung, Österreich sei ein Damm gegen Österreich; obwohl der Weltkrieg eine deutliche Widerlegung dieser Anschauung war, erhielt sie sich doch überall.

Wir brachten den Alliierten nicht nur unser Programm, sondern auch die Programme für die Befreiung der anderen Nationen und für den ganzen Wiederaufbau Europas. Davon zeugt »Das neue Europa«, das am Ende des Krieges den alliierten Staatsmännern für die Friedenskonferenzen in französischer und englischer Sprache überreicht wurde. In unserer ausländischen Propaganda und Tätigkeit waren wir von den Alliierten finanziell unabhängig. Wir wiesen allerlei, selbst die freundschaftlichsten Angebote zurück. Das ist u. a. auch ein Grund, warum wir den Versuch der russischen Regierung, sich ihren bezahlten offiziellen Nationalrat zu schaffen, desavouierten. Einzig im Falle unseres amerikanischen Geheimdienstes verschaffte ich eine englische Unterstützung; das war jedoch richtig, denn es handelte sich um eine spezielle, ausschließlich den Alliierten gewidmete Tätigkeit. Und nicht nur die Propaganda, sondern auch die Legionen hielten wir zwar auf Kredit, aber doch selbständig aus.

Ich wußte, daß ich das künftige Budget damit belaste, aber die Sache verstand sich für mich von selbst. Ich beobachtete mehrere Fälle von Abhängigkeit, und sie bestärkten mich in meiner Taktik. Wie wichtig dieser Entschluß war, wird daraus erhellen, daß einige Politiker in den alliierten Ländern von diesem Vorgehen überrascht waren; einige stellten sich ungeheuere Fonds vor, mit denen wir disponieren. Sie erklärten sich das mit einer Finanzaktion aus der Heimat, und das vermehrte in den Augen vieler unser revolutionäres Prestige. Ich erfuhr jedoch, daß österreichische Agenten uns bei den Franzosen denunzierten, wir bekämen diese Fonds von Österreich! Und es fanden sich sogar Leute, die uns für ein Werkzeug – Deutschlands ausgaben! Das ist nur ein Beispiel für die Schwierigkeiten, mit denen wir zu kämpfen hatten; zugleich wirft es ein Licht auf die Geheimnisse der österreichischen und deutschen Propaganda. Mein Standpunkt war und ist: Wir hatten und haben Anrecht auf unseren Staat, aber dieses Anrecht müssen wir selbst verfechten, die Selbständigkeit müssen wir neu erobern und durch eigene Kraft erhalten; wir brauchten um nichts zu bitten und baten um nichts, wenn wir uns auch um die Freundschaft und die Hilfe aller Alliierten bewarben. Wir hatten, haben und werden immer die Pflicht zu angespannter Arbeit und Opferbereitschaft haben.

Bei dieser Sache ging es nicht nur um den Grundsatz, denn praktisch bedeutete es, daß unser Nationalrat und unsere Armee selbständig seien, keineswegs bloß ein politisches Organ der Alliierten.

101.

An der Revolution beteiligte sich unser Volk nicht nur durch die Legionen und den ausländischen Nationalrat, sondern beteiligte sich auch in der Heimat an ihr: das bezeugen die Todesstrafen an Zivilisten, die Todesurteile für die führenden Politiker, die Konfiskationen, Einkerkerungen und all die Strafen, mit denen Wien unsere Nation verfolgte. Daheim lebte derselbe kämpferische Geist wie draußen. Die Revolution draußen war dadurch möglich, daß man ihr daheim von Anbeginn und während der ganzen Dauer des Krieges zustimmte. Ich darf sagen: allgemein zustimmte.

In der Heimat gab es in den ersten drei Jahren des Krieges keine von allen politischen Führern, resp. Abgeordneten und Parteien betätigte einheitliche Abwehraktion. Die politische Führung der Parteien war durch die Regierung gelähmt, die Parteien sahen sich bald ihrer Führer beraubt (Abg. Klofáč, später Dr. Kramář, Dr. Rašín waren gefangengesetzt, Abg. Stříbrný in die Armee gesteckt usw.) und die Nation blieb so ohne sichtbare Führung ihrer politischen Parteien.

Eine bewaffnete Revolution in der Heimat war bis ans Ende des Krieges im Programm der führenden Parteien nicht enthalten, sie konnte es nicht sein und brauchte es nicht zu sein. Aber die ganze Nation stand gegen Österreich und bewährte ihren reifen Sinn und ihre Entschlossenheit zur passiven Resistenz, ja im geeigneten Augenblick auch zum aktiven Widerstand. Wenn unsere Verbündeten einen Aufstand erwarteten und uns sein Ausbleiben von Zeit zu Zeit vorwarfen, so war es unrichtig und unberechtigt; es genügte, daß sich die Masse unseres Volkes dem politischen und militärischen Terror nicht unterwarf. Einzelne büßten ihren Widerstand mit dem Tode; die große Masse der Nation bewahrte ihre Zucht und erhielt sich durch Arbeit gesund und dadurch unzerbrechbar. Die Stimmung war zeitweise gedrückt (das erlebte ich in den ersten vier Monaten des Krieges), einzelne Menschen und vielleicht auch Gruppen wurden kleinmütig, aber diese Stimmung entsprang mehr der Unsicherheit, als der Angst.

In der Verpflegung, in der Entwicklung des Genossenschaftswesens bewies unser Volk während des Krieges, wie mir scheint, eine sehr bemerkenswerte organisatorische Fähigkeit und auch politischen Sinn. Dadurch trug es wesentlich dazu bei, daß der antiösterreichische Entschluß nicht durch Hunger untergraben wurde. Diese Arbeit wurde in Böhmen und Mähren geleistet; sie wurde, soweit ich sie verfolgen kann, eben nur in den böhmischen Ländern getan. (In gewissem Grade auch in Wien, aber dort sorgte für die Verproviantierung, besonders mit Schlachtvieh, in erster Linie der Staat.) Wenn unser Volk den Freunden im Auslande mitunter zu passiv erschien, so war das keine richtige Erkenntnis; hier bewährte sich eben auch politisch die sogenannte Kleinarbeit. Die Hilfsaktion des »Tschechischen Herzens« war nicht nur ein humanes, sondern auch ein politisches Unternehmen.

In dieser Kleinarbeit und in der allgemeinen Zucht kam die Erziehung zur Geltung, die wir seit der Zeit unserer Wiedergeburt genossen haben: das Streben Dobrovkýs, Jungmanns, Kollárs, Palackýs, Šafaříks und Havličeks, auch Riegers, Sladkovskýs und ihrer jüngeren Nachfolger, unsere Literatur, Kunst, Publizistik und vor allem unsere Schulen hatten diesen Zustand der allgemeinen und politischen Bildung und Bewußtheit geschaffen, dessen Folge die imponierende Übereinstimmung der Nation war. Ich habe gehört, wie Smetanas Musik im Kriege überall anfeuernd und stärkend wirkte; Smetana hatte sich in seiner Jugend an der Revolution 1848 beteiligt, mit seinen Opern und seiner Musik war er unserer Befreiung vorausgeeilt, – die Libuša ist mehr als eine Prophezeiung, sie ist das musikalische Festspiel der innerlich schon befreiten Nation. Oder ein anderes Beispiel: in Prag waren zu jener Zeit die Schriften Palackýs ausverkauft. – die denkenden Menschen versenkten sich in das nationale Programm und das Vermächtnis des Vaters der Nation. Das sind schöne Beweise von politischer Reife. Den Wert und das Niveau dieser Erziehung darf ich an der Tatsache messen, daß sich unter uns weder daheim, noch im Auslande, glaube ich, ein Verräter fand, (Ich habe Štefániks Verdacht erwähnt; ich weise daraufhin, daß nach neuester Schätzung 235 Deutsche wegen Hochverrates verurteilt wurden, während man in den alliierten Ländern 140 Fälle zählt.)

Und es waren nicht bloß die Literatur, Kunst und Publizistik, die uns erzogen und vorbereitet haben, – die Nation ist ein organisiertes Ganzes, ihre Organisation wurde von unseren kulturellen nationalen Institutionen, dem Sokol und anderen Vereinen und Genossenschaften und von unseren politischen Parteien, durchgeführt.

Bei allem Parallelismus im Vorgehen und in den Handlungen der unzähligen Individuen, aus denen die Nation sich zusammensetzt, mußte es doch ein, wenn nicht führendes, so wenigstens doch einigendes und verbindendes Zentrum geben. Der einigende Führer war die Presse, vor allem jene Blätter, die durch taktische Gewandtheit dem militärischen Terror widerstanden; sie erhielten durch zielbewußte Geschicklichkeit die sinkenden Geister aufrecht, sie sprachen in einer dem Feinde unverständlichen Sprache, die jedoch jeder Tscheche verstand. Das notwendige Zentrum, das die Parteien verband, war in einigen einverständlich arbeitenden politischen Führern gegeben. Eine wichtige Rolle spielte gleich in der ersten Zeit des Krieges die sogenannte Maffia, die den Kampf in der Heimat und die vermittelnde Verbindung Prags mit uns im Auslande leitete. Durch Verbreitung von Nachrichten aus der Welt der Entente hielt auch sie die Stimmung und den Kampfgeist aufrecht.

Was die politischen Parteien betrifft, so dauerte die persönliche und programmatische Zersplitterung der Vorkriegsjahre noch längere Zeit; aber nach einem vergeblichen Konzentrationsversuch im Jahre 1915 organisierten sich Ende 1916 der »Tschechische Verband« aus den Abgeordneten und der »Nationalausschuß«.

Gegen Ende des Krieges entstand (13. Juli 1918) ein neuer »Nationalausschuß«, der sich von der früheren Organisation gleichen Namens unterschied; wir erblickten in ihm eine Konsolidierung der Parteien schon deshalb, weil er sie nun alle umfaßte. Wir versprachen uns von ihm ein konsequenteres und einheitlicheres Vorgehen gegen Österreich.

In welchem Verhältnis der »Sozialistische Rat« vom 6. September 1918 zum Nationalausschuß stand, ist aus den bisher veröffentlichten Quellen nicht genau zu ersehen. Es scheint, daß auf die Konstituierung dieses sozialistischen Organs die Sehnsucht, die sozialistischen Massen zu einigen, und die russische Revolution Einfluß gehabt hatten.

Es war natürlich, daß zwischen der politischen Stimmung des Volkes und der Politik der verantwortlichen Abgeordneten infolge der Entwicklung der Lage auf den Kriegsschauplätzen ein Unterschied und ein gewisser Gegensatz entstand. Ich habe mich schon über das Desaveu vom Januar 1917 geäußert; ich habe auch auf die politische Unbestimmtheit hingewiesen, die darin lag, daß die Befreiung und der Anschluß der Slowakei an die böhmischen Länder nicht in den ursprünglichen Entwürfen der programmatischen Erklärung für die erste Sitzung des österreichischen Reichsrates verlangt worden waren; aber durch den endgültigen Wortlaut der staatsrechtlichen Erklärung vom 30. Mai 1917 war die Versäumnis nachgeholt worden. Ich weiß selbst am besten und erfuhr es lebhaft an mir draußen, daß der Anschluß der Slowakei keine leichte Aufgabe war: die Slowaken waren überall unbekannt, die Austro- und Magyarophilen beriefen sich gegen uns auf viele Erklärungen unserer führenden Männer (Dr. Rieger) und unsere offizielle Politik, die das historische Recht wiederholt nur für die, wie man zu sagen pflegt, historischen Länder reklamiert haben. Es ist bezeichnend, daß sich gegen den Anschluß der Slowakei ein Historiker stellte.

Bei Beurteilung der Politik unserer Abgeordneten muß beachtet werden, daß Österreich und Deutschland in den ersten Jahren siegreich waren und daß Rußland, von dem wir so viel erhofft, Enttäuschungen bereitete. Dadurch wird begreiflich, daß eine gewisse Skepsis gegen das Befreiungsprogramm aufkommen konnte und daß manche Abgeordnete zögerten. Ein österreichischer General soll über die Haltung der Tschechen gesagt haben: »Sie rücken ein wie Lämmer, sie schlagen sich wie Löwen, und wenn wir verlieren, freuen sie sich wie Kinder.« Das ist nicht ganz richtig, charakterisiert aber doch die gewisse Unentschlossenheit und eigentliche Unsicherheit, die ihren Grund in der unglücklichen Lage eines unselbständigen, unter militärischem Terror schmachtenden Volkes hat.

Vielleicht hatte seit Ende des Jahres 1916 Kaiser Karl und seine vertrauliche Mitteilung, Österreich verhandle bereits über den Frieden und werde ihn erreichen, einen gewissen Einfluß. Das Desaveu vom Januar 1917 fällt in die Zeit, in der Kaiser Karl die Verhandlungen begonnen hatte.

Schließlich hegten vielleicht manche Abgeordnete, der eine schwächer, der andere stärker, Zweifel daran, ob wir selbständig zu sein verstehen, ob wir die Selbständigkeit nicht nur zu erobern, sondern auch zu erhalten wissen, – das war nicht immer durch österreichischen Terror hervorgerufene Angst nur, sondern notwendige politische Überlegung. Wir draußen sandten zwar häufig Situationsberichte nach Hause, schilderten die Lage der Wirklichkeit gemäß günstig und forderten zum Ausharren auf; aber durch den Druck von Wien und die Isolierung unserer Abgeordneten vom politischen Ausland wurde erreicht, daß unsere Nachrichten nicht genügend wirkten; vielleicht hielt man sie für übertrieben.

Im Volke gab es kein Schwanken, wenn auch die optimistische Stimmung öfter mit pessimistischer wechselte; als ich ins Ausland fortging, reiste ich mit der Überzeugung, das Volk wünsche die völlige Selbständigkeit: eine Selbständigkeit ohne Österreich und ohne die Habsburger. Das war ein Programm, das sich aus der ganzen Entwicklung während des österreichischen Regimes ergeben hatte. In der ersten Zeit des Krieges konnte man diese Überzeugung nicht frei äußern, Österreich und Deutschland waren noch ziemlich stark und siegreich; aber im Frühjahr 1917 wurde Wien unter dem neuen Kaiser bereits ohnmächtig, während in Prag die Hoffnung stieg; bald nach dem Desaveu ließen sich unsere Schriftsteller hören, dann folgten in längerer Reihe entschiedenere, wenn auch noch vorsichtig formulierte Kundgebungen. In der Arbeiterschaft, unter Führung der Metallarbeiter aus Daňeks Fabriken, herrschte schon im Frühjahr 1917 eine sehr starke politische Erregung; die Führer veranstalteten unter der Losung »Hunger« öffentliche Straßenkundgebungen und entsandten zum Statthalter eine Abordnung, die die Freilassung Dr. Kramářs und Dr. Adlers forderte. Sie stellten sich dann, soweit sie nicht in die Armee gesteckt wurden, den Abgeordneten zur Verfügung.

Seit dem Sommer, gewiß seit dem Herbst 1917 kam uns draußen das Vorgehen der Abgeordneten in der antiösterreichischen Richtung einheitlicher und bestimmter vor. So konnten wir die Erklärungen vom 6. Januar und 13. April 1918 für unsere politische Aktion ausgiebig verwenden. Allmählich vereinigte der neue Nationalausschuß (seit Juli 1918) alle Parteien auf das Programm der vollständigen Unabhängigkeit des tschechoslowakischen Staates, also auf das Programm unserer Revolution im Auslande. Und als die Zeit herangereift war, erteilten die Führer des Nationalausschusses in Genf die vollständige, formelle, feierliche Sanktion dieser Revolution draußen, während die anderen Führer daheim den Umsturz in gleichem Sinne, wenn auch taktisch den Verhältnissen des zerfallenden alten Staates angepaßt, ausführten.

Ich kann hier unsere Kolonien nicht unerwähnt lassen; auch sie erfüllten ihre nationale Pflicht. Als Zweig der Nation in fernen Ländern, anderen Weltteilen, lebt jede Kolonie in völlig verschiedenen Verhältnissen und Umgebungen; trotz dieser Isolierung von der Heimat und dem politischen Zentrum, trotz allen Verschiedenheiten des neuen Aufenthaltes in der Fremde vereinigten sie sich im Streben nach der Selbständigkeit der Nation und trugen jede ihr Schärflein zur Verwirklichung des gemeinsamen Programms bei. Die politischen und persönlichen Gegensätze wurden verhältnismäßig leicht überwunden; selbst das Vorgehen des Abgeordneten Dürich wurde ohne Schaden paralysiert. Die Disziplin unserer Leute sticht gerade angesichts der Fehler einzelner Menschen und Gruppen hervor.

102.

Diese allgemeine Darlegung unserer Revolution im Auslande und in der Heimat muß jetzt detailliert ausgeführt, die Erlangung der Selbständigkeit politisch und juridisch genau gewertet werden.

Bei Beurteilung der Freiheitsbewegung und der Erlangung unserer Selbständigkeit muß unterschieden werden zwischen den Umständen, wie unser Staat politisch, de facto, materiell entstand und denen, wie er de jure, juridisch, formell entstand. Es ist ein Problem, wie unser historisches und unser Naturrecht auf den selbständigen Staat von den Alliierten und dann auch von den Zentralmächten anerkannt und wie unsere Revolution im Auslande und in der Heimat legalisiert wurde.

Bei meiner Arbeit im Auslande hatte ich stets die schließliche juridische Formulierung unseres politischen Programms im Sinn; ich war auf Probleme gefaßt, die sich bei der Friedenskonferenz in juridischer und internationaler Hinsicht ergeben würden. Daher trachtete ich unser Recht auf Selbständigkeit in allen unseren Kundgebungen möglichst genau zu formulieren und es der ausländischen politischen Öffentlichkeit vertraut zu machen. Das eben bildete den Kern unserer Propaganda. Ich ging vom historischen Staatsrecht der böhmischen Länder aus, wonach uns die vollständige Restitution unseres Staates gebührte, manchmal führte ich aus, daß unser Staat de jure noch bestehe. (Ich erinnere mich meiner eigenen Polemik gegen die »Transsubstantiation«!) Aber ich betonte immer auch das Naturrecht, besonders im Hinblick auf die Slowakei.

Ich war mir bewußt, selbst ebenso wie der ausländische Nationalrat revolutionäres Organ zu sein, und erwartete daher, daß die offiziellen Repräsentanten der Staaten sich mir gegenüber auf den legitimistischen Standpunkt stellen. Das geschah anfangs, auch unseren Militärgefangenen gegenüber. Doch geschah es nicht überall gleich konsequent und nicht feindselig; aber es bedurfte des Taktes und der geeigneten Ausnützung der gegen die von Deutschland geführten Staaten wachsenden Stimmung, um den Nationalrat möglichst rasch in regelrechte Beziehung zu den Regierungen zu bringen. Eine weitere Errungenschaft war die ausdrückliche Anerkennung. Die Alliierten befanden sich in richtigem (ich möchte fast sagen: offiziellem) Kriege gegen Österreich-Ungarn und hielten sich an die international gültigen Gebräuche und Normen. Als diese Bräuche jedoch von Deutschland und Österreich verletzt wurden (der Einbruch in Belgien, die Unterstützung der Agitation gegen England in Irland und anderswo, die Propaganda gegen Amerika in Amerika selbst und anderswo usw.), da verblaßte der Legitimismus, und wir wurden zunächst de facto, später auch de jure anerkannt. In unserer Propaganda enthüllten wir deshalb stets die deutsche und die österreichische Wühlagitation (die Tätigkeit Voskas, Dr. Osuskýs u. a.).

Mit der Zeit verbreitete unsere Propaganda die Kenntnis und die Anerkennung unseres historischen Staatsrechtes; die radikaleren Politiker und radikalen Parteien erkannten unser Naturrecht, unsere Revolution an. Das Streben nach Befreiung wirkte in den westlichen Ländern an sich sympathisch.

Als Abgeordneter wurde ich nach den konstitutionellen Voraussetzungen nicht allein als Sprecher meines Bezirkes, sondern der ganzen Nation angesehen. Man schenkte mir Glauben, wenn ich mich der Wahrheit gemäß darauf berief, daß ich mich programmatisch mit der Mehrheit unserer politischen Parteien und Führer verständigt habe. Auf dieses Moment legte man draußen überall Nachdruck, und meine Freunde Mr. Steed und Seton-Watson hatten für England gleich 1914 Wert auf die genaue Feststellung dieses Faktums gelegt; Minister Balfour hegte noch bei den Verhandlungen über unsere Anerkennung mit Dr. Beneš gewisse Zweifel, ob der Nationalrat genügend die ganze Nation repräsentiere. Da ich den Parlamentarismus des Westens kannte, hatte ich vor meiner Abreise mein politisches Programm allen Führern, mit denen ich verhandelt, vorgelegt und von ihnen ihr Urteil und ihre Zustimmung erbeten; allerdings konnte ich mich nicht ganz formell für die Parteien binden und nicht ihre schriftliche Bestätigung erhalten, aber die Zustimmung, die sie ausgesprochen hatten, genügte mir, um mich auf sie berufen zu dürfen. Von der Schweiz aus hatte ich nachträglich (1915) diese Legitimation direkt verlangt.

Der ausländische Nationalrat gewann, nachdem er sich (1916) regelrecht konstituiert hatte, allmählich Autorität, die in dem Maße zunahm, in dem wir die Armee organisierten und so durch unsere Beteiligung am Kriege auch ein gewisser Machtfaktor wurden. Durch die Organisation des Heeres bewiesen wir jedermann, daß wir es ernst meinen. Der Nationalrat wurde zu einer Regierung de facto, die alliierten Regierungen erkannten ihn und unsere Armee Schritt für Schritt an. Aus den einzelnen Formulierungen der Anerkennung geht hervor, wie weit der Nationalrat (später die Vorläufige Regierung) de facto und wie weit und in welchem Maße er de jure anerkannt wurde. Ein vergleichendes Studium dieser verschiedenen Formulierungen ist sehr interessant; wer das Recht als logischen Ausdruck faktischer Ereignisse zu verstehen weiß, der wird aus ihnen ein gut Teil der Kriegs- und politischen Situation herauslesen.

Der Nationalrat (die Vorläufige Regierung) befand sich im Auslande, nicht auf dem Territorium, das wir für den tschechischen Staat bestimmten, und ebenso stand auch unsere Armee auf fremdem Territorium und war auf ihm entstanden; es fanden sich Politiker und Juristen, die dadurch beunruhigt wurden, aber ich wies auf das Analogon der Serben auf Korfu hin. Wie wir gleich sehen werden, bildete diese Schwierigkeit für die Alliierten am Ende kein Hindernis.

Die Anerkennung des Nationalrates – zunächst nur meiner Person – und unseres nationalen Programms erfolgte anfangs eigentlich durch einzelne politische Persönlichkeiten. Hierher gehört z. B. die erwähnte Entschließung des amerikanischen Senators Kenyon im Kongreß, der am 25. Mai 1917 die Selbständigkeit der tschechischen Nation als Friedensbedingung erklärte. Solche vereinzelte Stimmen von Abgeordneten gab es auch im französischen Parlament, in England, Rußland und anderswo.

Wichtiger ist die Anerkennung unserer Rechte, in concreto des Nationalrates und der Armee, durch einzelne Minister und dann durch Regierungen. Ich habe das Schema aller Anerkennungen wiedergegeben Am Ende des Buches. Anm. d. Übersetzers.; daraus ist ersichtlich, daß die Anerkennungen mit unserem militärischen Fortschritt eng zusammenhängen. Darum sind das Ende des Jahres 1917 und das Jahr 1918 für uns entscheidend.

Es entsteht die Frage, welche Bedeutung den einzelnen Anerkennungsakten zukomme. Das hängt von den Verhältnissen ab, unter denen sie entstanden, und von der Bedeutung derjenigen, deren Erklärungen sie sind. Gewiß ist die Anerkennung des Präsidenten Wilson sehr hervorragend, weil die staatsrechtliche Stellung des amerikanischen Präsidenten, sein Verhältnis zur eigentlichen Regierung hervorragend ist. In England, in Italien und Frankreich ist die Stellung der Regierung eine andere, als in Amerika; in diesen Ländern ist die Regierung stärker, dort gibt es keine dem amerikanischen Präsidenten konstitutionell entsprechende Autorität, der englische und der italienische König und der französische Präsident verantworten nicht so die Regierungsakte wie er, und daher ist die Anerkennung durch die Regierung hier wirksamer. Allerdings war auch das Gewicht Amerikas als großen Staates im Kriege für alle Alliierten zugegebenermaßen sehr bedeutend. Darum wirkte die Autorität von Wilsons letzter Antwort auf das österreichische Angebot so mächtig.

Allen Anerkennungen gingen Verhandlungen des Nationalrates (der Vorläufigen Regierung) mit den alliierten Regierungen voraus. Manche Abkommen sind geradezu beiderseitige Verträge. Die Anerkennungen sind nicht bloße vorsichtig stilisierte, unverbindliche Versprechen.

Wichtig ist es ferner, die zeitliche Reihenfolge der einzelnen Anerkennungen durch die Alliierten abzuschätzen. Z. B. – ich gebe hier überhaupt nur Beispiele – fällt ins Gewicht, daß die erste offizielle Anerkennung von Frankreich kam, wie denn Frankreich durch seine Initiative für uns viel bedeutet. Ich meine die erste Anerkennung Briands (3. Februar 1916), ferner die Initiative Frankreichs in der Erklärung der Alliierten an Wilson im Januar 1917, die Initiative bei der Formation unserer Armee in Rußland, den ersten Vertrag der Republik mit dem Nationalrat, das Dekret über die Organisation unserer Armee im Dezember 1917 und schließlich die Entsendung des ersten Gesandten zu uns.

Daneben gebührt es sich, zu vermerken, daß ich die ersten politischen Beziehungen zu England, Rußland, Serbien und Italien gleich 1915 anknüpfte: die von Herrn Voska aus Prag nach London überbrachte Bestellung – das Memorandum aus Holland – der Verkehr mit der englischen und der serbischen diplomatischen Vertretung in Rom – das Memorandum an Minister Grey – die erste Fühlungnahme mit dem russischen Botschafter in London – die Verbindung mit der italienischen Gesandtschaft in der Schweiz.

Überhaupt muß die Anerkennung durch die einzelnen Staaten nach allen gegebenen Umständen gewertet werden. England ist z. B. als Monarchie konservativer, trotzdem akzeptierte es bereitwillig den Nationalrat und erkannte auch unser Staatsrecht an. Deshalb schätzte ich mir, daß Ministerpräsident Asquith verhältnismäßig so früh den Vorsitz bei meinem ersten Vortrag an der Londoner Universität übernahm; die Deklaration gar, die von Dr. Beneš mit Balfour vereinbart wurde, stellt eine formell sehr vollständige Anerkennung dar. Deshalb habe ich sie wörtlich angeführt.

In ähnlicher Weise war das monarchische Italien sehr frühzeitig, zunächst mit mir (in Bern) und später mit Štefánik und Beneš in fortwährender Fühlung; die Form seiner Anerkennung durch Sonnino, auch durch Orlando unterscheidet sich durch eine gewisse Reserve, die es sich im Hinblick auf die Südslawen auferlegte. Aber Italien unterstützte die Bildung der Legionen, sobald es sich entschieden hatte, sehr bereitwillig; namentlich sind wir ihm für die Formation der Landwehrabteilungen noch nach Schließung des Waffenstillstandes zu Dank verpflichtet.

Ebenso müßte jede einzelne Anerkennung, wie wir sie mit dem Fortschreiten der Zeit erlangten, kritisch gewertet werden.

Und es versteht sich von selbst, daß Maß und Grad der einzelnen Anerkennungen kritisch zu werten sind. Es ist ein großer Unterschied, ob z. B. unser Recht auf Selbständigkeit oder diese Selbständigkeit selbst direkt anerkannt wird; es ist ein gewisser Unterschied zwischen der Anerkennung unseres Nationalrates und später der unserer Vorläufigen Regierung. Die Verhandlungen mit den alliierten Regierungen über die Anerkennungsformel waren oft sehr eingehend und schwierig; als Beispiel können da die Verhandlungen mit Balfour dienen. Dr. Beneš hat darüber schon öffentlich berichtet; ich ergänze ihn durch den Hinweis, wie das Zögern des englischen Ministers, den Nationalrat direkt als Regierung anzuerkennen, glücklich durch das Wort »trustee« überwunden wurde; Mr. Steed hatte es Dr. Beneš vorgeschlagen.

103.

Mit der Wertung der einzelnen Anerkennungen durch die Regierungen und Staaten entsteht die Frage, wann und wie unser Staat entstanden ist und seit wann er existiert. Wie und wann erfolgte die internationale Anerkennung unseres Staates, welche rechtliche (internationale) Bedeutung haben die einzelnen Anerkennungen, welche sind rechtlich (international) entscheidend?

Mit der Beantwortung dieser Fragen haben die Staatswissenschaftler und Staatsrechtslehrer keine leichte Aufgabe, wie übrigens auch bei der Bestimmung des Entstehens anderer neuer Staaten: der Weltkrieg und die Weltrevolution riefen ganz besondere, neue politische und rechtliche Zustände hervor, die bisherigen rechtlichen und international anerkannten Regeln genügen deshalb nicht. Das gilt für alle neuen Staaten, das gilt auch für unseren Staat; ich will mich nicht mit anderen Staaten befassen und mich auf das Hauptproblem der Entstehung und anfänglichen Entwicklung unseres Staates beschränken. Die allgemeine Kriegslage und unsere Stellung in Österreich-Ungarn brachten es mit sich, daß unsere Selbständigkeit rechtlich und international auf der internationalen Anerkennung vor allem seitens der Alliierten beruhte.

Um mich nicht bei allgemeinen Betrachtungen aufzuhalten, will ich zur bisherigen Debatte übergehen. Der englische Historiker der Pariser Friedenskonferenz, Mr. Temperley, schreibt die entscheidende gültige Anerkennung der Zulassung von tschechoslowakischen Bevollmächtigten zur Plenarsitzung der Pariser Friedenskonferenz am 18. Januar 1919 zu. Dieser Akt, sagt er, sei die volle, endgültige und restlose Anerkennung unseres Staates und seiner Selbständigkeit. Aber Mr. Temperley ist doch nicht sicher, ob er nicht den 5. November 1918 als Beginn unseres Staates erklären soll; an diesem Tage sind die Vertreter des Nationalausschusses aus Genf angekommen, wo der Nationalausschuß in direkter Verbindung mit dem Pariser Nationalrat gewesen war; dieser »direkten« Verbindung legt Mr. Temperley so große Wichtigkeit zu, weil manche Anerkennung, die der ausländische Nationalrat erlangt hatte, eine unleugbare staatsschöpferische Autorität habe. Solch eine Anerkennung sieht Mr. Temperley in der Deklaration Balfours (9. August), Wilsons (3. September), Pichons (15. Oktober) und Sonninos (24. Oktober 1918).

Seton-Watson nimmt die Anschauung Mr. Temperleys von dem staatsschöpferischen Wert der Zulassung zur Friedenskonferenz an, legt aber annähernd gleiches Gewicht der Anerkennung durch England (durch Balfour, 9. August), die Vereinigten Staaten (Wilson, 3. September) und vor allem durch Frankreich (Pichon, 15. Oktober 1918) bei. Ähnlich erblicken andere Theoretiker und Politiker die staatsschöpferische Gültigkeit in der Anerkennung, die der Vorläufigen Regierung und bereits dem Nationalrat zuteil wurde.

Die staatsrechtliche Schwierigkeit bei der Anerkennung unseres Staates liegt darin, daß die Entstehung eines selbständigen Staates gewöhnlich auf eigenem Territorium, das von der Bevölkerung bewohnt wird, die den Staat bildet, erfolgt. In unserem Falle wurde jedoch unsere Auslandsregierung anerkannt, unsere gleichfalls außerhalb des eigenen Landes kämpfende Armee und dadurch der Staat, resp. die staatliche Selbständigkeit – daher das Dilemma Mr. Temperleys und anderer Juristen und Staatswissenschaftler. Die Wirklichkeit richtete sich nicht nach den bisherigen Theorien und Gebräuchen.

Das staatswissenschaftliche und juridische Problem der Entstehung unseres Staates kompliziert sich durch den Umsturz daheim: der Nationalausschuß proklamierte sich in seinem Manifest am 28. Oktober ausdrücklich als Regierung (»seit dem heutigen Tage«, d. i. seit 28. Oktober), und das erste Gesetz und ebenso das Manifest des Nationalausschusses proklamieren die Entstehung des tschechoslowakischen Staates. Das erste Gesetz ist (wenn auch abgeändert) in die offizielle Sammlung der Gesetze und Verordnungen aufgenommen worden, wodurch der Beginn einer besonderen, selbständigen Legislative dokumentiert wird.

Die Sache verhält sich also folgendermaßen: der ausländische Nationalrat proklamierte sich nach vielen vorangegangenen Anerkennungen als Regierung des Tschechoslowakischen Staates und wurde von den Alliierten als solche anerkannt; er wurde auch von den Repräsentanten des Nationalausschusses und dessen Vorsitzendem anerkannt; andererseits proklamierte sich der Nationalausschuß in Prag gleichfalls als Regierung: wir hatten demnach eine gewisse Zeit zwei Regierungen, eine ausländische, von den Alliierten anerkannte, und eine inländische, die sich mit dem Recht der Revolution proklamiert hatte.

Die Eigenart unserer Revolution, die im Auslande und in der Heimat stattfand – im Auslande, das mit dem Lande nicht zusammenhing, – verursachte es, daß wir zwei Aktionszentren besaßen, das eine im Auslande, das andere in Prag. Wichtig war, daß diese beiden Zentren, de facto Regierungen (die Namen Nationalausschuß u. a. entscheiden nicht in der Sache), einmütig vorgingen, daß es nicht zu Gegensätzen kam, wie z. B. zwischen der ausländischen und der inländischen polnischen Regierung. Die heimische Regierung stand, sobald sie eingesetzt worden war, der Lage nach an der Spitze der Verwaltung und erhielt dadurch ihren Charakter und ihre Gültigkeit; die Regierung draußen, die unvollständig war, hatte neben der Regierung daheim eine militärische und diplomatische Aufgabe und war speziell für die Friedensverhandlungen bestimmt. Das ergab sich aus den Verhältnissen, und es handelte sich dann darum, beide Regierungen zu vereinigen.

Seit wann dauert also unser Staat?

Von der Anerkennung der ausländischen Vorläufigen Regierung (des Nationalrates) durch die Alliierten und unsere heimischen politischen Führer leiteten manche Publizisten ab, daß unser Staat seit dem 14. Oktober 1918 bestehe, an welchem Tage den Alliierten die Einsetzung der Vorläufigen Regierung notifiziert wurde. Die Vorläufige Regierung wurde durch die Alliierten anerkannt; die erste Anerkennung erfolgte am 15. Oktober durch die französische Regierung, und ihr legt, wie erklärt, Seton-Watson die Hauptbedeutung bei. Ich stimme zu und glaube, daß unser Staat rechtlich seit diesem Datum besteht.

Ebenso wurde die Meinung geäußert, der Staat existiere seit der Washingtoner Deklaration (18. Oktober); aber aus der wiedergegebenen Geschichte dieser Deklaration geht hervor, daß sie die Deklaration einer schon bestehenden Regierung ist; somit entscheidet das Datum, an dem diese Regierung anerkannt worden war.

Der Nationalausschuß daheim proklamierte sich als Regierung am 28. Oktober, und dieses Datum wird jetzt allgemein als der Tag angenommen, an dem unser Staat zu bestehen begann.

Die alliierten Regierungen verhandelten mit der Vorläufigen Regierung (im Auslande) als mit dem wahren Repräsentanten der Nation und des Staates von der Zeit angefangen, da sie sie anerkannt hatten. Die Anerkennungen, die während des Krieges vereinbart worden waren, galten auch nach dem Kriege und vor allem für die Friedenskonferenz. Ein beredter Beweis dafür ist die Einladung des Dr. Beneš zur Beratung über den Waffenstillstand mit Deutschland, die am 4. November abgehalten wurde; Dr. Beneš wurde demnach als Repräsentant des selbständigen, alliierten Staates angesehen, und seine Unterschrift befindet sich mit den übrigen auf dem Protokoll dieser historischen Verhandlung. Die internationale Bedeutung des Aktes tritt am besten hervor, wenn wir das Vorgehen der Großmächte gegen die anderen entstehenden Staaten, besonders Jugoslawien und Polen, vergleichen. Zur Friedenskonferenz wurde Serbien als alliierter und selbständiger Staat eingeladen; es dauerte längere Zeit, bis Kroatien, das man als Teil Österreich-Ungarns betrachtete, als Teil Jugoslawiens anerkannt wurde, und daher bereitete auch die Anerkennung Jugoslawiens (nicht etwa Serbiens) Schwierigkeiten. Unsere Slowakei wurde von allem Anfang an, obgleich sie ebenso zu Ungarn gehört hatte wie Kroatien, von den Alliierten als Bestandteil unseres Einheitsstaates aufgefaßt. Was Polen betrifft, wurde die Regierung Moraczewski in Warschau, die vom Polnischen Ausschuß in Paris (Dmowski und Paderewski) nicht anerkannt wurde, erst (im Februar 1919) in Paris ausdrücklich anerkannt. Unsere Vorläufige Regierung (im Auslande) funktionierte in Konsequenz der vorangegangenen Anerkennungen in Paris seit Beginn der Friedenskonferenzen.

Als die Waffenstillstandsverhandlungen eingeleitet wurden, aus denen der ganzen Lage nach der Frieden hervorgehen mußte, bereitete die französische Regierung einen Entwurf vor, wie in der Friedenskonferenz vorzugehen sei. Über diesen Plan habe ich einen Bericht von Dr. Beneš. Jetzt ist der ganze Plan durch Mr. Baker veröffentlicht worden. Der französische Botschafter in Washington, M. Jusserand, übergab ihn am 29. November der amerikanischen Regierung; er enthält einen Abschnitt über die neuen Staaten. Zwischen der schon anerkannten Tschechoslowakei und den Staaten, die in Bildung begriffen sind wie Jugoslawien u. a., wird ein Unterschied gemacht. Selbstverständlich zweifelte niemand daran, daß diese Staaten bestehen werden und die Alliierten ihre Erschaffung als ihren Plan betrachteten, aber es ist ein Unterschied zwischen einem Plan, einem Versprechen und der wirklichen, vollzogenen Anerkennung. Unser ausländischer Nationalrat war (danach hatte ich auch in Rußland so sehr getrachtet!) durch die Alliierten als höchste Autorität unserer Auslandsarmee anerkannt worden und dadurch nach den geltenden Anschauungen als Regierung, allerdings als Vorläufige – und die Regierung ist die Regierung des Staates.

Wie unsere Regierung von den fremden Staaten voll akzeptiert wurde, erhellt auch daraus, daß Dr. Beneš als ihr Außenminister – vor dem Umsturz in der Heimat – die ersten diplomatischen Vertreter bestellte und diese von den fremden Regierungen angenommen wurden. Als später Ministerpräsident Dr. Kramář als Delegierter zur Friedenskonferenz ging, erhielt er von mir (als dem Präsidenten) ein gleiches Beglaubigungsschreiben wie Dr. Beneš; aber Dr. Beneš hatte nicht nur infolge seiner Anwesenheit in Paris, sondern auch infolge der früheren Anerkennungen in den Friedensangelegenheiten verhandelt, bevor er noch das Beglaubigungsschreiben erhalten hatte.

Dr. Beneš wird nach der Anerkennung unserer Vorläufigen Regierung in allen offiziellen Kundgebungen der alliierten Regierungen Minister genannt.

Einen interessanten Beweis für diese Auslegung bietet die Tatsache, daß die französische Regierung und die Pariser politischen Kreise durch die Proklamation des Nationalausschusses und die Ereignisse vom 28. Oktober in Prag beunruhigt waren, da sie vermuteten, die Prager Regierung sei austrophil und gegen die Regierung im Auslande gewählt worden. Vielleicht waren Nachrichten über den Umsturz aus Wien nach Paris gelangt, und die schilderten ihn im Sinne von Karls Manifest.

Unsere Führer daheim sahen auf der Genfer Konferenz die Bedeutung der alliierten Anerkennungen, namentlich der Wilsons, ein; sie stimmten in ihren Abmachungen mit Dr. Beneš der Vorläufigen Regierung im Auslande und allen ihren Schritten zu. Dr. Beneš wird auch von ihnen ausdrücklich Minister genannt. Die Genfer Delegation – die von den Prager Geschehnissen am 28. Oktober offenbar nichts wußte – bestätigt dadurch die Erklärungen des Vorsitzenden des Tschechischen Verbandes vom 2. und des Nationalausschusses vom 19. Oktober, in denen die Frage der tschechoslowakischen Selbständigkeit als internationale Frage bezeichnet worden war, die nicht im Lande gelöst werde.

Aber unter dem Druck der Lage mußte der Nationalausschuß als leitendes Organ am 28. Oktober eingreifen und proklamierte sich als Regierung; die ausländische Regierung wurde sodann, wie wir gleich sehen werden, liquidiert.

Wir stehen also vor der Tatsache, daß wir seit dem 28. Oktober zwei Regierungen hatten, eine daheim, eine andere, ältere, in Paris. Da müssen wir zwischen dem Bestehen unseres Staates und der offiziellen Ansetzung, von der dieses Bestehen international anzuerkennen sei, unterscheiden.

Für das Datum des 28. Oktober spricht der Umsturz, wie er in Prag und im ganzen Lande geschah; die ganze Nation erblickte im Umsturz den Beginn des selbständigen, von Österreich und den Habsburgern losgelösten Staates. Und schließlich spricht für den 28. Oktober der formale Grund, daß sich die Nation auf ihrem Territorium öffentlich selbständig erklärte; das betrachten, wie wir gesehen haben, manche Staatsrechtler als notwendige Bedingung des sich erschaffenden Staates.

Die Frage, von wann an unser Staat bestehe, ist auch praktisch wichtig; z. B. könnte das auf die Festsetzung der Reparationspflichten Einfluß haben. Die Reparationskommission (sie ist allerdings kein politisches Organ!) hat bestimmt (15. April 1921), daß die Tschechoslowakei durch den Umsturz am 28. Oktober 1918 ein den Krieg mit führender Staat geworden sei.

Ich entscheide mich für das Datum des 28. Oktober aus den beiden erwähnten Gründen: daß nämlich der Umsturz vom 28. Oktober von der ganzen Nation als Beginn unserer Selbständigkeit gilt und daß an diesem Tag die Proklamation der Unabhängigkeit durch den Nationalausschuß auf eigenem Territorium erfolgt ist.

Diese Fragen wurden bei uns juristisch noch nicht gründlich untersucht. Die Staatswissenschaftler und Theoretiker des Verfassungsrechtes werden beim Studium der Entstehung und Entwicklung unseres Staates mehr als ein interessantes und erstaunliches Problem finden; nicht nur bei uns, sondern auch in den anderen, nach dem Kriege entstandenen Staaten waren genaue rechtliche Formulierungen der wirklichen Verhältnisse nicht sofort gegeben. Aus diesem Grunde wird die Kritik auch in den Verhandlungen über den Waffenstillstand und die Friedensverträge mehr als eine Lücke entdecken. Wie in allen Fällen von Revolution haben wir bisher keine nähere Zusammenstellung der Ereignisse; diese jagten einander so schnell und waren an sich so unbestimmt und ungenau, daß sich bei den Verhandlungen, Erklärungen und Endformulierungen Schwierigkeiten und Ungenauigkeiten ergeben.

104.

Diese Betrachtungen erfordern ein paar Worte über den Umsturz vom 28. Oktober. Eine ins Einzelne gehende Geschichte der Geschehnisse ist noch nicht bekannt, aber für unseren Zweck genügt ein Blick in die offiziellen Dokumente und das, was die Führer des Umsturzes schon der Öffentlichkeit mitgeteilt haben.

Als Minister Andrássy in der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober die Bedingungen Wilsons annahm, verbreiteten die Prager Blätter diese Nachricht durch Sonderaushänge; Dr. Rašín und Dr. Soukup berichten über die Bedeutung von Andrássys Zugeständnis mit den Worten: »Das war das letzte Wort Österreich-Ungarns und das Ende des Habsburgerreiches.« Und in dem am selben Tage verfaßten Manifest wendet sich Dr. Rašín an die Nation mit den Worten: »Du wirst die Erwartung der ganzen Kulturwelt nicht enttäuschen, die sich, mit Segen auf den Lippen, deiner ruhmvollen Geschichte erinnert, die in den unsterblichen Taten der tschechoslowakischen Legionen auf dem westlichen Kriegsschauplatz und in Sibirien gipfelt ... Wahre rein den Schild, wie ihn deine nationale Armee gewahrt hat: die tschechoslowakischen Legionen! ... Unsere Befreier Masaryk und Wilson dürfen nicht enttäuscht werden in ihrer Überzeugung, daß sie die Freiheit einem Volke erobert haben, das sich selbst zu regieren weiß ...«

Dr. Rašín wiederholte so, was die Abgeordneten am 2. Oktober 1918 in Wien erklärt hatten. Abgeordneter Staněk, der Vorsitzende des Tschechischen Verbandes, hatte eine Rede gehalten, in der diese Anerkennung des ausländischen Nationalrates und unserer Legionen durch alle tschechischen Abgeordneten ausgesprochen war: »Sie wollten uns nicht zu den Friedensverhandlungen zulassen, aber jetzt werden Sie tschechische Vertreter bei den Friedensverhandlungen haben, gegen Ihren Willen, und zwar als Vertreter der tschechoslowakischen Brigaden. Mit ihnen werden Sie über die tschechische Frage verhandeln müssen, nicht mit uns, und daher verhandeln wir nicht mit Ihnen. Diese Frage wird anderswo gelöst werden, als hier in Österreich. Hier gibt es keine Machtfaktoren zur Lösung dieser Frage.« Und denselben Standpunkt nahm der Nationalausschuß in seiner Proklamation vom 19. Oktober nach dem Manifest Karls ein: er identifiziert sich mit der Erklärung des Tschechischen Verbandes, daß über die tschechische Frage nicht in Österreich verhandelt werde, und sagt: »Die tschechische Frage hat aufgehört, eine Frage der inneren Regelung Österreich-Ungarns zu sein, sie ist eine internationale Frage geworden und wird gemeinsam mit allen Weltfragen gelöst werden. Sie kann auch nicht ohne Zustimmung und Verständigung mit jenem international anerkannten Teil der Nation gelöst werden, der sich außerhalb der böhmischen Grenzen befindet.«

Es ist klar, welche große Bedeutung Dr. Rašin und Dr. Soukup der Antwort Wilsons und der Note Andrássys, die diese Antwort anerkennt, zuschreiben; wir wissen von Dr. Rašin aus seiner Schilderung des Umsturzes (in seiner »Maffia«), wie sehnsüchtig er die vollständige Kapitulation Österreichs erwartet hatte, und die erblickte er in der Note Andrássys. An diese Kapitulation schließt sich der Umsturz vom 28. Oktober und erhält von ihr seinen ganzen Charakter, vor allem seinen ruhigen, unblutigen Verlauf.

In der Diskussion über den 28. Oktober wurde gesagt, daß der Umsturz in gewissem Maße verspätet war, daß er hätte dem Manifest Karls (16. Oktober) oder der Antwort Wilsons an Österreich (bei uns am 21. Oktober veröffentlicht) folgen sollen. Ich selbst hatte nach unserer Proklamation der Vorläufigen Regierung, die, ebenso wie Wilsons Antwort, dem Manifest Karls entgegenarbeitete, eine Kundgebung der Unseren daheim erwartet; dazu kam es auch durch die Erklärung des Nationalausschusses über Karls Manifest. Wir sehen jetzt, daß Dr. Rašin, ich glaube in Übereinstimmung mit dem ganzen Nationalausschuß, auf die völlige Kapitulation Österreich-Ungarns wartete, und die sah er sachlich und formal in Andrássys Annahme von Wilsons Programm. Mir scheint, daß dieser Vorgang richtig war; er entsprach den Machtverhältnissen der gegnerischen Parteien, Österreichs und seiner Militärmacht, und unserer Heimat und ihrer schwächeren Kräfte. Es ist klar, daß Dr. Rašin und seine Freunde, indem sie sich auf die Anerkennung des Programms Wilsons durch Österreich und sogar durch einen ungarischen Politiker stützten, den Umsturz daheim dem höchsten Erfolg der ausländischen Vorläufigen Regierung verknüpften und daß der Umsturz vom 28. Oktober dadurch eine Synthese der Revolution im In- und Auslande wurde.

Denen, die den Umsturz nach dem Manifest Karls und dem Wiener Umsturz erwarteten, muß gesagt werden, daß es damals noch einer Revolution bedurft hätte, und die konnten wir nicht durchführen. Und wenn die Verhandlungen mit Wien und in Wien über die Umbildung der historischen Länder in einen Nationalitätenstaat auch nur ein taktischer Zug gewesen wäre, sie hätten doch irgendwie verpflichtet und nach außen nicht gut gewirkt. Die späteren Verhandlungen mit dem Statthalter in Prag unter veränderten Umständen waren nicht so augenfällig und weniger verbindlich. Eher hätte die Auflösung an der italienischen Front ein Ausgangspunkt der Umsturzaktion sein können, aber das kurze Ausharren bis zur Kapitulation vor Wilson verbürgte einen sichereren und leichteren Erfolg. Ich gebe zu, daß die Situation von einer radikaleren Fraktion hätte ausgenützt werden können, wenn sie sich organisiert hätte.

In dem Bericht über den Umsturz von Dr. Rašin und Dr. Soukup im Jahrbuch der tschechoslowakischen Nationalversammlung lesen wir, daß der Nationalausschuß am 28. und 29. Oktober mit den österreichischen Militär- und Zivilbehörden verhandelte; wir lesen da, daß nach längeren Verhandlungen mit dem militärischen Landeskommando (28. Oktober) eine »Vereinbarung« getroffen wurde: die Vertreter der Militärmacht erkannten die »Mitarbeit« des Nationalausschusses an und verpflichteten sich, gegen seinen Willen nichts zu unternehmen. Dementsprechend wurde am 29. Oktober von den Abgeordneten Soukup, Stříbrný, Rašin und Švehla mit dem Statthalter abgemacht, daß der Nationalausschuß als ausführendes Organ der souveränen Nation (nicht des Staates!) »anerkannt« werde und daß er die »Mitleitung« der öffentlichen Verwaltung übernehme.

Dieser Bericht bedarf wegen seiner Kürze und Unbestimmtheit der Ergänzung und Auslegung durch die Beteiligten; es handelt sich um die »Vereinbarung«, darum, was die »Mitarbeit« und die »Mitleitung« bedeutete; auf wie lange, resp. in welchem Sinne und zu welchem Zwecke?

Es ist natürlich, daß der Prager Statthalter als Vertreter der österreichischen Regierung die Verhandlungen mit dem Nationalausschuß auf Grund des Manifestes Karls und vielleicht auf Grund des Programms von Lammasch für die Errichtung der Bundesstaaten, das am 22. Oktober vom Kaiser gebilligt worden war, geführt hat; als kaiserlicher Statthalter konnte er nicht über die Errichtung einer Republik und eines Staates verhandeln, der von Österreich und der Dynastie unabhängig war. Graf Coudenhove deutet bekanntlich an, der Nationalausschuß habe in den Verhandlungen mit ihm auf den Wunsch des Kaisers hingewiesen, Nationalregierungen zu bilden, was allerdings einen Bundesstaat im Rahmen eines neuen Österreich bedeutet hätte: die Dokumente vom 28. Oktober bestätigen diese Auslegung nicht.

Der Text des ersten Gesetzes und des Manifestes stimmt mit dem Manifest Karls nicht überein. Karl forderte die Integrität Ungarns, Gesetz und Manifest vom 28. Oktober sprechen dagegen vom »Tschechoslowakischen« Staate und, offenbar im Hinblick auf die Slowakei, von den Gaubehörden. Andererseits ist es wahr, daß auch in Karls Manifest von »Tschechoslowaken« gesprochen wird. Im Gesetz wird ferner bestimmt, daß die Staatsform von der Nationalversammlung und dem Pariser Nationalrat (der Vorläufigen Regierung) festgesetzt werde; das steht im Widerspruch zu Karls Manifest, das über die Form des Bundesstaates keinen Zweifel übrig läßt. Dem ersten Gesetz und dem Manifest entspräche eher das Programm von Lammasch. Auch in der Einleitung zum Gesetz wird der Tschechoslowakische Staat unabhängig geheißen; das ist juridisch ein ungenauer Begriff, steht aber doch dem völlig unbestimmten staatsrechtlichen Programm in Karls Manifest entgegen.

Allerdings kann zwischen dem Wortlaut des Gesetzes und des Manifestes und dem, was der Nationalausschuß aus vielleicht taktischen Gründen zu Coudenhove gesagt hat, ein Unterschied bestehen; es bleibt nichts anderes übrig, als einen authentischen Bericht abzuwarten. Man kann zugeben, daß der Text des ersten Gesetzes und des Manifestes unbestimmt ist. Im ersten Gesetz bezeichnet sich der Nationalausschuß in der Einleitung als ausführendes Organ der staatlichen Souveränität, aber im § 1 wird der Begriff Souveränität auf die Souveränität im Innern eingeschränkt; die Staatsform wird nämlich der Entscheidung der Nationalversammlung und des Nationalrates in Paris überlassen, und beide werden unbestimmt »Organe des einmütigen Willens der Nation« genannt. Im Manifest nennt sich der Nationalausschuß zwar Regierung, bezeichnet sich aber auch ziemlich ungenau als »einzig berechtigtes und verantwortliches Organ«.

In der Zeit, da in Prag der Umsturz vor sich ging, weilten Mitglieder und Vertrauensmänner des Nationalausschusses in Genf und verhandelten mit Dr. Beneš; die Bedeutung der Genfer Deputation wird dadurch bestimmt, daß sie durch den Vorsitzenden des Nationalausschusses selbst, Dr. Kramář, geführt wurde. Einige Abmachungen der Genfer Konferenz sind veröffentlicht worden; außerdem besitze ich den offiziellen Bericht des Dr. Beneš. Ich habe von der österreichischen Diplomatie gesagt, daß sie die Genfer Beratungen aufmerksam verfolgte; ich kenne jetzt vollständiger den Inhalt ihres eigenen Berichtes nach Wien.

Das Genfer Abkommen, datiert vom 31. Oktober, ist bestimmter als die Prager Dokumente vom 28. Oktober. Der Pariser Nationalrat (die Vorläufige Regierung), seine politischen Abmachungen und Entscheidungen werden anerkannt, Dr. Beneš desgleichen als Minister; damit ist auch die republikanische Staatsform, die von der ausländischen Regierung proklamiert wurde, anerkannt, denn es heißt da ausdrücklich, daß die Schritte des Pariser Nationalrates alle anerkannt werden. Diese Anerkennung betrifft die Washingtoner Deklaration, in der die Vorläufige Regierung die Richtlinien des erneuten Staates festgelegt hatte. In sehr bestimmter Weise werden die Bande mit Wien, Budapest und der habsburgischen Dynastie durchschnitten.

Die Form des Staates als Republik wurde in Genf vereinbart, aber darüber bisher nichts veröffentlicht. Die Prager Delegierten waren anscheinend zur öffentlichen Ausrufung der Republik nicht bevollmächtigt; in Prag zirkulierten unbestimmte Nachrichten über angebliche Verhandlungen des ausländischen Nationalrates mit dem Prinzen von Connaught und anderen eventuellen monarchischen Kandidaten für den Prager Thron, und deshalb befand sich der Nationalausschuß in Prag über die Staatsform vielleicht in Unsicherheit. Diese Unsicherheit wurde bei den Mitgliedern des Nationalausschusses, die nach Genf gekommen waren, zerstreut; Dr. Beneš unterrichtete sie davon, daß über den Thron keinerlei Abmachungen bestehen, forderte von der Delegation die Billigung unseres Vorgehens im Auslande und damit auch unsere Proklamierung der Republik. Ich besitze den Text des Telegramms, das Dr. Beneš aus Genf der französischen Regierung über die Genfer Abmachungen gesendet hat; darin wird an erster Stelle die Abmachung über das republikanische Regime angeführt. Wien hatte, wie ich sofort zeigen will, noch nach dem Umsturz getrachtet, die Alliierten zu gewinnen; gegen diese Bemühungen Wiens war dies ein sehr guter Gegenzug.

Das Genfer Abkommen wurde als vertraulich erklärt, es sollte vorläufig nicht veröffentlicht werden; man befürchtete Repressalien, und daher wurde in Genf sogar daran gedacht, über Deutschland zurückzureisen, und daheim mit Wien über die Sicherung der Rückreise verhandelt.

Nach der Rückkehr der Genfer Deputation trat in Prag die politische Klärung ein. Die Bande mit Österreich und der Dynastie waren in Genf formell zerschnitten worden, und die Entscheidung über die Staatsform geschah dann daheim gemäß der Entscheidung der ausländischen Regierung. Die politische, sogar die juridische Bedeutung der Genfer Deputation und ihrer Rückkehr nach Prag wird auch von Mr. Temperley in der erwähnten Darstellung hervorgehoben, die das Bestehen unseres Staates von der Rückkehr der Genfer Deputation anerkennt; die Begrüßung, die der Deputation in Prag zuteil wurde, zeugt davon, daß sich die politische Öffentlichkeit der Bedeutung der Genfer Verhandlungen mit der ausländischen Regierung gleichfalls bewußt war.

Es ist natürlich, daß sich die Genfer Deputation auch mit der Frage des Verhältnisses unserer ausländischen Regierung zu der sich eventuell in Prag konstituierenden Regierung befaßt hat. In jenem ersten Jahrbuch ist das Pariser Telegramm an den Nationalausschuß vom 20. Oktober veröffentlicht, worin die Bildung der ausländischen Regierung bekanntgegeben und ferner mitgeteilt wird, daß mit den Prager Führern vereinbart worden sei (wann, durch wen?), die Pariser Regierung werde die Prager Regierung, wenn sich nach Aufstand und Unruhen daheim eine bilde, in sich aufnehmen. Das Telegramm stammt nicht, wie im Jahrbuch gesagt wird, von Dr. Beneš, sondern von Dr. Borský; die Vereinbarung von Genf lautet daher anders. Aus dem, was veröffentlicht ist, läßt sich nicht ersehen, wie das Verhältnis der Pariser Vorläufigen Regierung zu der künftigen daheim geregelt wurde; aber in den bisher nicht veröffentlichten Abmachungen wird bestimmt, daß beide Regierungen verschmolzen werden, daß in die Prager Regierung die beiden Minister im Auslande, Dr. Beneš und Štefánik, eintreten. Ich hörte auf, Ministerpräsident und Finanzminister zu sein, sobald ich zum Präsidenten und die endgültige Regierung gewählt worden war.

Man könnte die Frage stellen, warum der Umsturz nicht vollständig und auf allen Gebieten der staatlichen und autonomen Verwaltung am 28. Oktober verwirklicht worden sei. Am 28. Oktober wurden vom Nationalausschuß die Kriegsgetreideanstalt, die Statthalterei, die Landesverwaltungskommission und das Landesmilitärkommando übernommen (eigentlich wurde über die Übernahme der Statthalterei nur verhandelt, das Militärkommando wurde nicht ganz, sondern gleichsam zur Hälfte übernommen); es ist gewiß kein Zufall, daß die Getreideanstalt als erste übernommen wurde – die Frage der Proviantierung war damals sehr wichtig, und der Nationalausschuß bekam dadurch auch die Truppen, die von der Getreideanstalt abhängig waren, in die Hand. Ich erblicke darin einen guten Plan. Am 29. Oktober wurden vom Nationalausschuß andere Ämter mit Beschlag belegt (die Polizeidirektion, das Oberste Landesgericht und die Oberste Staatsanwaltschaft), bis am 30. außer der Statthalterei das ganze Militärkommando übernommen wurde, nachdem es versucht hatte, die Macht wiederzuerobern. Das war der gefährlichste Augenblick der Revolution daheim. Diese militärische Kapitulation hat eine große Bedeutung, weil die Dynastie und der österreichische Staat ihr Bestehen eben auf die Truppen gegründet hatten. Die Ernennung des Abgeordneten Tusar zum Vertreter in Wien für die Verhandlungen mit Andrássy (30. Oktober) ist ein weiterer Schritt des Umsturzes, ebenso die Erklärung von Sv. Martin über den Anschluß der Slowaken (30. Oktober). Nach der Rückkehr der Genfer Sendboten am 5. November hatte der Nationalrat die endgültige Entscheidung in der Frage der Staatsform getroffen; Dr. Kramař als Führer der Genfer Delegation und Vorsitzender des Nationalausschusses hielt gleich bei der Begrüßung in Prag vor dem Bahnhof vom Automobil aus eine Rede, in der er öffentlich bekanntgab, daß wir eine freie, demokratische Volksrepublik haben werden.

Am 14. November war der Umsturz materiell und formell vollendet: es waren technische, keineswegs politische und juridische Hindernisse, die vierzehn Tage erfordert hatten, um die ganze Staats- und Landesverwaltung nicht bloß dem Namen nach, sondern auch wirklich in die Gewalt des Nationalausschusses zu bringen.

Eine vollständige Schilderung des Umsturzes wird sich damit befassen, wie dieser in den einzelnen Teilen des Landes vor sich ging. In den Bezirken der böhmischen Länder bestanden Revolutionsausschüsse, die nach den Befehlen aus Prag handelten. In Mähren, in Brünn, gingen die mährischen Mitglieder des Nationalausschusses parallel mit Prag vor, mit dem sie in ständiger telephonischer Verbindung waren.

Schließlich ist theoretisch wie auch praktisch die Frage wichtig, ob die Souveränität des Tschechoslowakischen Staates in der Slowakei gleichfalls am 28. Oktober sofort für das ganze Gebiet gültig wurde. Ich weiß, daß darüber zwischen einzelnen Ministerien bisher Meinungsverschiedenheiten bestehen, in die sogar das Oberste Verwaltungsgericht eingegriffen hat.

105.

Wichtig ist das Problem unserer Staatsform, das Problem von Monarchie und Republik.

Unser staatsrechtliches Programm war in der Zeit vor dem Kriege monarchisch-royalistisch; außer Einzelpersonen in verschiedenen Parteien waren nur die Sozialdemokraten als Partei republikanisch, doch dieser Republikanismus war eher programmatischer Art, eine wirkliche, direkte republikanische Propaganda gab es nicht. Ich ging im Dezember 1914 auch als theoretischer Republikaner fort, die Frage schien mir damals nicht akut zu sein, und ich wäre im äußersten Falle (wenn Rußland nicht gestürzt wäre usw.) auf die Wahl irgendeiner fremden Dynastie (womöglich nicht der russischen) eingegangen.

Jedenfalls ist die Feststellung wichtig, wann und wie draußen und daheim die Entscheidung für die republikanische Form getroffen wurde. Selbstverständlich ist die Frage der Staatsform unabhängig von der Frage der Entstehung des Staates; das Gesetz vom 28. Oktober läßt die Frage der Staatsform in suspenso.

Ich habe erwähnt, wie ich im Auslande den Alliierten über die Gesinnung unserer Parteien berichtet habe, daß nämlich die Mehrheit der Nation monarchisch sei; so berichtete ich in den Jahren 1914 und 1915. In meinem der französischen Regierung und den Alliierten im Februar 1916 überreichten Memorandum sprach ich mich aber schon offiziell für die Republik aus. Infolgedessen proklamierten wir in der Washingtoner Deklaration endgültig und feierlich die Republik, und diese Deklaration wurde in Genf und in Prag angenommen. Die russische Revolution hatte bei uns ebenso wie anderswo eine entschiedene Wendung zur republikanischen Gesinnung hervorgerufen; zum erstenmal wurde die Forderung öffentlich in den vom Sozialistischen Rat veranstalteten Arbeiterversammlungen vom 14. Oktober (1918) in Prag und in zahlreichen Städten und Ortschaften der Provinz erhoben. (Dr. Rašin behauptet in seiner »Maffia«, daß in Prag dies infolge der militärischen Vorkehrungen nicht geschehen sei, doch wurde die betreffende Proklamation durch Flugblätter im Volke verbreitet.) Über die Anschauungen des Nationalausschusses, d. h. seiner führenden Mitglieder, liegen keine Berichte vor. Nach einem schriftlichen Bericht von Lammasch erklärte Dr. Kramář noch auf der Reise nach Genf (22. Oktober) für seine Person, er sei Royalist, aber die Mehrheit republikanisch. Dieser Royalismus war jedoch kein staatsrechtlicher (habsburgischer) Royalismus; in Genf war Dr. Kramář wie alle Mitglieder der Delegation gegen Österreich und Habsburg, aber noch für eine Monarchie mit russischer Dynastie. Er war damals Vorsitzender des Nationalausschusses, seine Anschauung hatte dadurch Gewicht und vielleicht übte er auch auf manche Mitglieder des Nationalausschusses, gewiß auf manche seiner Parteifreunde, Einfluß aus. Aber unter dem Eindruck des Berichtes von Dr. Beneš über die Situation im Auslande nahm er das republikanische Programm an; so verstehe ich seine erwähnte öffentliche Rede bei der Rückkehr aus Genf.

Ich erinnere hier daran, daß auch General Štefánik der monarchischen Form zuneigte. Nach einigem Zögern akzeptierte er jedoch die Ausrufung der Republik, wie ich sie in der Washingtoner Deklaration formuliert habe.

Interessant sind in dieser Hinsicht auch die Verfassungsentwürfe, die dem Nationalausschuß im Jahre 1917 eingereicht wurden. Das radikalste Projekt sah eine Personalunion mit Österreich vor. Ich bemerke, daß die Anschauungen dieser Entwürfe im Sommer 1917 ausgesprochen wurden, also unter österreichischem Druck.

Wichtige Beratungen über Verfassung und Staatsform wurden im Oktober 1918 abgehalten (sie begannen am 14. Oktober); die juristische Grundlage arbeitete Dr. Pantůček aus. Sein Bericht darüber scheint mir wichtig zu sein, weil aus ihm hervorgeht, daß die führenden Abgeordneten schon vor dem 28. Oktober an die politischen Möglichkeiten gedacht haben. Und es ist offenkundig, daß man damals nicht mehr mit einem Staate im Rahmen der Habsburger Monarchie gerechnet hat, sondern mit einem ganz selbständigen und der Form nach republikanischen Staate.

106.

Für die Beurteilung des 28. Oktober in Prag wird die Geschichte Wiens und der Wiener Politik in der Zeit des Umsturzes von Bedeutung sein.

Ich habe die wichtigsten Kundgebungen dieser Politik bei der Schilderung der letzten Zeit meines Aufenthaltes in Washington erwähnt; hier will ich das Bild nach den seither erhaltenen Dokumenten ergänzen.

Karls Manifest war ein Versuch, uns, die Südslawen und zugleich Wilson zu gewinnen; gewiß erinnerte man sich in Wien, daß der Tschechische Verband in seiner in der Eröffnungssitzung des Zentralparlaments vorgetragenen Mai-Deklaration die Umbildung Österreich-Ungarns in einen Staatenbund gefordert hatte. Ich paralysierte Karls Manifest durch die Unabhängigkeitsdeklaration; Wilson ließ sich nicht gewinnen, da er auch durch Professor Herron gründlich informiert worden war.

Die Antwort Wilsons schlug in Wien wie ein Blitz ein. Der ehemalige österreichische Minister Redlich erzählt uns, daß Wilsons Antwort, als sie am 19. Oktober in Wien eintraf, am Hofe und am Ballhausplatz eine wahre Panik hervorrief, denn sie war, wie er sich ausdrückt, das Todesurteil der Habsburger Dynastie. Deshalb wurde Lammasch berufen und arbeitete sein Programm für die Umbildung Österreichs in einen Staatenbund aus, das, wie schon gesagt, am 20. Oktober vom Kaiser genehmigt wurde. Lammaschs Programm war für Österreich radikal und Wilson angepaßt: an der Friedenskonferenz sollten Vertreter aller Völker teilnehmen, dort sollte über alle territorialen Fragen entschieden werden, sogar die, ob die neuen Staaten in einem einheitlichen Bund vereinigt werden sollen.

Die Magyaren bereiteten Lammasch Schwierigkeiten, Wekerle ging auf die neuen Wiener Pläne nicht ein, sondern hielt sich an Karls Manifest und forderte die Personalunion mit Österreich; den Kroaten wurde nur die Revision des Ausgleichs von 1868 versprochen. In Wien tobte man, aber die Magyaren gaben nicht nach; die Politik Wiens war darauf gerichtet, die Tschechen und vor allem die Südslawen zu gewinnen. Allerdings beabsichtigte man dadurch, daß man die Kroaten gewann, uns Tschechen zu schwächen. Das alte »Divide et impera« gelang diesmal nicht mehr.

Die Situation verschlimmerte sich, als Ende Oktober, bevor es noch zur endgültigen Niederlage gekommen war, an der italienischen Front die Armee zerfiel; am 26. Oktober telegraphierte Karl an Wilhelm seinen »unabänderlichen Entschluß, innerhalb 24 Stunden um einen Sonderfrieden und unverzüglichen Waffenstillstand« zu ersuchen. Das geschah – Andrássy nahm in der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober Wilsons »Todesurteil« an.

In Wien herrschte bereits wahre Todesangst, und zwar vor dem Bolschewismus; das russische Vorbild, der Zusammenbruch der Armee durch Niederlagen und Hunger wirkte auf Hof, Regierung und Heereskommando wie Paralyse; das ist aus dem Geständnis der österreichischen Armeeführer jetzt mit aller Deutlichkeit zu ersehen. Von diesem Umstand aus versteht man auch die Handlungsweise Wiens nach Wilsons Antwort und der Niederlage in Italien.

Noch auf die Manifestationen des Sozialistischen Rates in Prag und in der Provinz am 14. Oktober hatte Wien durch Repressalien und Verfolgungen geantwortet; aus einem offiziellen Bericht geht hervor, wie damals die Proklamierung der Republik Schrecken hervorrief. Die Prager und die Brünner Statthalterei lieferten genaue Referate über jede Versammlung und die gehaltenen Reden; und insbesondere die Proklamierung der Republik wurde von den Behörden als unverzeihliches politisches Verbrechen betrachtet.

Das war vor Wilsons Antwort; nach ihr war Wien völlig betäubt. Dafür haben wir einen interessanten Beweis in der Geschichte der letzten Botschaft des Dr. Beneš nach Prag.

Der letzte Bericht des Dr. Beneš über die Situation draußen stammte vom 11. September; Dr. Šámal hatte ihn richtig erhalten und dem Exekutivausschuß (Abgeordneter Švehla, Dr. Rašin u. a.) übergeben. Dr. Beneš schrieb dann noch ausführlicher auf, was er am 11. September abgesandt hatte, und ließ einen Boten aus der Schweiz nach Prag abgehen. Der weibliche Bote wurde verhaftet und das österreichische Kriegsministerium bekam den Bericht des Dr. Beneš am 22. Oktober, am Tage, an dem Lammaschs Programm genehmigt wurde. In dem Bericht des Dr. Beneš war die Person, der der Bericht übergeben werden sollte, samt Adresse (Redakteur Bělehrádek) angegeben, – Wien reagierte nicht mehr darauf. Im Gegenteil, es stellte den Mitgliedern des Nationalausschusses die Pässe nach Genf aus und entschloß sich am Ende, mit Wilsons Programm einverstanden zu sein.

Von diesem Wiener Gesichtspunkt aus muß der Verlauf des Umsturzes in Prag beurteilt werden. Als Andrássys Kapitulation den Umsturz hervorrief, sah Wien seine Sache nicht für bedroht an. Der Ministerrat stimmte am 29. Oktober den Verhandlungen mit den Statthaltern in Prag und Brünn zu; eine gewisse Sorge äußerte der Minister des Innern über die Deutschen in Böhmen, doch erwartete er, der deutsche Nationalausschuß werde mit der Regierung eine Formel finden, wie unser deutsches Gebiet eine Sonderbehandlung erfahren solle.

Als die Prager Statthalterei von der Übereinkunft mit dem Nationalausschuß nach Wien Bericht erstattete, erhielt sie vom Ministerium des Innern den Befehl, den politischen Kundgebungen nichts in den Weg zu legen. Das Kriegsministerium befahl dem Militärkommando in Prag, und ebenso in Brünn und anderswo, gleich am 28. Oktober auf die ersten Nachrichten aus Prag hin, mit dem Nationalausschuß nötigenfalls zu verhandeln, und sandte in der Nacht auf den 29. Oktober eine ausführlichere Anweisung, die Vorschläge des Nationalausschusses anzunehmen. Das Prager Kommando und auch andere, ebenso die Zivilbehörden in Prag und überall in Böhmen und Mähren meldeten, man reiße die österreichischen Staatswappen und den Offizieren die Kokarden ab, – all dies verwunderte in Wien nicht mehr; die neuen Staaten würden in jedem Falle ihre eigenen Wappen und Embleme haben, und was die österreichische Armee betraf, wurde allen Kommanden der Plan bekanntgegeben, die Armee in ihre nationalen Teile zu zerlegen, nur sollte dies friedlich und ohne Revolte geschehen. Wien war so ratlos und aufgeregt, daß die Oberste Heeresleitung (am 29. Oktober) den Soldaten im Felde die Frage vorlegte, ob sie für die Republik oder für die Monarchie und Dynastie seien. Ruhe und Ordnung waren jetzt das Programm Wiens, das ihm die Angst vor dem Bolschewismus diktierte; Unruhe und Empörung konnten leicht in eine revolutionäre Bewegung übergehen, zumal der Hunger den Boden dafür vorbereitet hatte. Daher verlangte Wien auch in Böhmen vom Nationalausschuß, die Truppen mit Brot zu versorgen. Dabei gab auch die Absicht den Ausschlag, dem Auslande und vor allem den Alliierten nicht ein Bild von Zerrissenheit und Zerrüttung zu bieten; Wien bemühte sich nämlich nach dem Umsturz weiter mit aller Kraft, Wilson und die Alliierten für sich zu gewinnen, und dazu bedurfte es des Argumentes, daß die Völker und namentlich die Armee ruhig seien. Daher die Nachgiebigkeit des Militärkommandos gemäß dem Wiener Befehl auch in Prag. Dem Nationalausschuß kam bei seiner Taktik diese Nachgiebigkeit Wiens gelegen und er unterstützte sie direkt. Am 29. Oktober vereinbarte der Nationalausschuß mit dem Militärkommando die Zusammenarbeit zwecks Aufrechterhaltung der Ordnung, Verpflegung des Militärs und Abmarsches der fremden Truppen; der Abgeordnete Tusar, damals bereits Bevollmächtigter der tschechoslowakischen Regierung, erließ Anfang November namens des Nationalausschusses einen Aufruf an die tschechoslowakischen Soldaten, ihren bisherigen Vorgesetzten gehorsam zu sein, sie würden ins Gebiet unseres Staates gebracht werden, sobald die Eisenbahnen es gestatten und alle nötigen Vorbereitungen getroffen seien.

Wien wurde sich nicht mehr bewußt, daß seine Nachgiebigkeit gegen Prag eine zweischneidige Waffe war: wenn es auf die Ruhe und Ordnung in den böhmischen Ländern hinweisen konnte, so konnte und mußte das Ausland sehen, daß es dem Nationalausschuß gelungen war, den neuen Staat mit Ruhe und Besonnenheit zu errichten.

Wien drang mit seiner Taktik nicht durch, obgleich die österreichischen Gesandten und Emissäre in der Schweiz und anderen neutralen Ländern fieberhaft tätig waren; mit Hilfe austrophiler Politiker wurde beim Vatikan, in London, Washington, Paris, Rom gearbeitet. Alle Aktionen waren hauptsächlich darauf gerichtet, mit Wilson irgendwie in Fühlung zu kommen; das weitere Verhandeln werde, so hoffte man in Wien, schon glücken. Ich habe gesagt, daß sowohl das Manifest Karls als auch Lammasch und Andrássy zu spät kamen.

In jener Zeit versuchten die österreichischen Diplomaten, nicht nur England, sondern auch Frankreich gegen uns zu gewinnen. Vor dem Umsturz in Prag und nachher weilte Baron Chlumecky in der Schweiz; er hatte die Aufgabe, den Vatikan zur Unterstützung zu bewegen und mit Paris Beziehungen anzuknüpfen; Graf Mensdorff, den wir schon anläßlich der Friedensaktion in der Schweiz kennengelernt haben, erhielt die Aufgabe, in London direkt zu verhandeln und auch in Paris.

Das Genfer Abkommen zerstörte die letzte Wiener diplomatische Aktion gerade in diesem Punkt; Dr. Beneš forderte durch die Delegation von Prag die entschlossene Lösung der Bande mit Habsburg, und die Delegation tat es sehr nachdrücklich; er erstattete darüber sofort Bericht nach Paris und hob nach seiner Rückkehr dorthin diesen Entschluß unserer Vertreter gründlich hervor. Dadurch, daß Dr. Beneš dann als Minister der anerkannten Regierung den Beratungen über den Waffenstillstand mit Deutschland beiwohnte, konnten die Versuche Wiens, geheim zu verhandeln, keinen nennenswerten Einfluß ausüben.

Den völligen Mißerfolg hatte Wien auch seiner politischen und taktischen Ungeschicklichkeit zuzuschreiben; in Paris war man geradezu beleidigt, weil zu den Verhandlungen, die Mitte Oktober in der Schweiz geführt wurden, Graf Andrássy ausersehen worden war, der seit Kriegsbeginn keine geringere Germanophilie gezeigt hatte als Tisza; und diesem Germanophilen vertraute Karl in einer für Österreich so ernsten Zeit die auswärtige Politik an. Wenn Graf Mensdorff und Baron Chlumecky die Aufgabe hatten, geradezu Clémenceau zu gewinnen, so verhalf solch eine Ungeschicklichkeit und, nach alten diplomatischen Normen beurteilt, solche Taktlosigkeit nicht dazu. Ich weiß, daß weder Clémenceau noch irgendeine andere Persönlichkeit aus den Regierungskreisen den österreichischen Einflüsterungen zugänglich war.

Die Alliierten hatten von Österreich die bestimmte und klare Lösung des Bündnisses mit Deutschland erwartet, so wie England im Jahre 1917 eine klare Erklärung über Belgien und wie Frankreich sie über Elsaß-Lothringen erwartet hatte. Auf dieser Grundlage hätte man früher über den Frieden verhandelt. Wien hätte sich vielleicht vor dem Sturz retten können, wenn es sich von Deutschland losgesagt hätte und gegen seinen Verbündeten aufgetreten wäre. So weit traute sich die Wiener Unaufrichtigkeit nicht; nicht aus Charakter, sondern aus Furcht vor den Magyaren und den Deutschen. Wien entschloß sich zum Sonderfrieden und nahm Wilsons Bedingungen an, aber das war zu wenig, zu wenig gerade für Frankreich, wohin sich Karls Blicke seit seiner Thronbesteigung gewendet hatten.

Auf Grund des Programmes von Lammasch hätte Wien noch verhältnismäßig viel gewinnen können, wenn es rasch und energisch durchgeführt worden wäre (ich habe den Eindruck, daß Lammasch ohne Einfluß war). Lammasch schlug vor, daß alle Völker in der Friedenskonferenz vertreten sein sollen und daß in der Konferenz über die territorialen Fragen entschieden werde; Lammasch überließ, wie schon erwähnt, der Friedenskonferenz die Entscheidung über den Staatenbund. Auf dieser Grundlage hätte Wien seine Sache wirkungsvoll und, was uns anbelangt, mit Argumenten ad homines verfechten können; ähnlich ging die österreichische Friedensdelegation in Paris vor. Es hätte auf die Erklärung nicht nur des Prager Bürgermeisters Dr. Groš und ähnliche Akte, sondern auch vor allem auf das Desaveu der Abgeordneten hinweisen können; es hätte sich auf die Erklärung im neueröffneten Parlament berufen können, wo unsere Vertreter einen Staatenbund vorgeschlagen hatten, und auf andere Schritte tschechischer Abgeordneter. Der Umsturz wäre kein Hindernis gewesen; gewiß hätte Statthalter Coudenhove seine Behauptung wirksam vorgebracht. Tusars Appell an die Soldaten und andere Akte wären ein weiteres Glied des Wiener politischen Syllogismus gewesen.

Um so wichtiger erscheint in diesem Zusammenhang die Genfer Zusammenkunft, d. h. die Tatsache, daß sich der Nationalausschuß durch seinen Vorsitzenden Dr. Kramář mit unserem ersten Minister des Äußern als dem Repräsentanten unserer von den Alliierten anerkannten Regierung über ein klares und bestimmtes antiösterreichisches Programm einigte, das von Dr. Beneš den Alliierten präsentiert werden konnte. Im Lichte der Genfer Abmachungen ließen sich weder die erwähnten politischen Akte, zu denen es unter dem Drucke der österreichischen Soldateska gekommen war, noch das taktische Vorgehen beim Umsturz in Prag im Wiener Sinne ausnützen.

107.

Österreich selbst, Kaiser und Regierung, hatten in der letzten Kriegszeit unser Recht auf Selbständigkeit faktisch und rechtlich anerkannt; hierher gehören alle Verheißungen und Versuche einer Umbildung Österreichs aus den Jahren 1917 und 1918. Hierher gehört die Absicht Kaiser Karls, sich in Prag krönen zu lassen, die Statthalter Coudenhove unterstützt hatte; die Absicht wurde durch Mitglieder der Regierung und anscheinend durch die Drohung von unserer Seite, die Krönung könnte zur Blamage werden, zunichte gemacht. Von dem Krönungsplan und den Vorbereitungen dazu hatte ich in Amerika vernommen; daheim hörte ich etwas über fingierte Vorbereitungen zu einem Anschlag gegen den Krönungs-Eisenbahnzug.

Große Bedeutung hat die Tatsache, daß Österreich selbst Wilsons Standpunkt vom 18. Oktober zu den Rechten der Tschechoslowaken auf staatliche Selbstständigkeit anerkannte und daß diese Anerkennung der ungarische Politiker Andrássy als österreichisch-ungarischer Minister des Äußern unterschrieb. So wie Karls Manifest, war auch diese Anerkennung ein Versuch, sich die Tschechen zu erhalten.

Von deutscher Seite wurde der österreichischen Regierung vorgeworfen, unseren Delegierten die Pässe nach Genf ausgefolgt zu haben, denn sie habe gewußt, daß in Genf die heimischen und die ausländischen Delegierten zusammenkommen. Aber dieser Vorwurf entspricht nicht der Lage, wie sie in Wien durch Wilsons Antwort entstanden war; die Ausfolgung der Pässe und Ermöglichung der Genfer Zusammenkunft ist kein staatsrechtliches Präjudiz, sondern ein Versuch, die tschechischen Politiker durch solche Liebenswürdigkeit zu gewinnen. Der frühere österreichische Minister Redlich weist darauf hin, daß die deutschen Parteien, als sie am 21. Oktober formell den österreichischen Staat gründeten, den übrigen Nationen in der Aufteilung Österreichs vorangegangen seien, und gibt zu, daß das Manifest vom 16. Oktober diesen Nationen als Rechtsgrundlage für ihr Vorgehen habe gelten können. Deshalb soll jedoch betont werden, daß die politischen Ziele Wiens und Prags verschieden waren.

In der ersten Sitzung der Nationalversammlung am 14. November wurden unsere Bande mit Österreich endgültig zerrissen. Dr. Kramář verkündete die Absetzung Kaiser Karls und die Entstehung unserer Republik; die Abgeordneten stimmten über die Erklärung gar nicht ab und beschlossen kein Gesetz, wie aus der offiziellen Gesetzessammlung ersichtlich ist, – die Akklamation war so spontan und einmütig, daß eine Abstimmung überflüssig erschien.

In diesem Zusammenhang sei der Erledigung eines Ersuchens Kaiser Karls (4. November) gedacht, sich in Brandeis a. d. Elbe niederlassen zu können. Der Nationalausschuß wollte ihm unter der Bedingung stattgeben, daß der Kaiser dem Thron und allen Ansprüchen auf die böhmischen Länder entsage. Die kurze, gleichfalls in dem »Jahrbuch« wiedergegebene Nachricht darüber machte mich stutzig; es wäre taktisch verfehlt gewesen, dem Exkaiser die Möglichkeit zu geben, die ihm gestellten Bedingungen nicht zu erfüllen. Aber die Nachricht muß ergänzt werden; der Kaiser hatte sich nicht mit einem formellen Gesuch an den Nationalausschuß gewendet, sondern durch dritte Personen, und auf dieselbe Weise bekam er eine unformelle Antwort.

Und auch Ungarn empfand das Bedürfnis, sich den Slowaken anzunähern: der damalige Abgeordnete Hodža wurde von der ungarischen Regierung zu Verhandlungen nach Budapest eingeladen.

108.

Ein besonderes Problem bilden die separatistischen Versuche unserer Deutschen; ich habe mich schon über die Tatsache geäußert, daß sie sich auf vier Territorien als Deutschböhmen, Sudetenland, Süddeutsch-Mähren und Böhmerwaldgau organisierten. Diese Versuche geschahen nach dem Prager Umsturz; an politischer und administrativer Bedeutung lassen sie sich mit unserem Umsturz nicht vergleichen. Ich erblicke in dieser Unvollkommenheit einen Beweis, daß diese Teile der historischen Länder organisch mit uns zusammenhängen.

Wir okkupierten damals einen Teil des Gebietes militärisch; dabei wurden zwischen unseren Truppen und den deutschen Bürgern verschiedene Abkommen getroffen, von denen ich wenigstens zwei anführe. In Reichenberg, dem Sitz der »Regierung von Deutschböhmen«, wurden durch beiderseitige Vereinbarung am 16. Dezember 1918 der Magistrat und die eingesetzte tschechisch-deutsche Verwaltungskommission im Verhältnis von 4: 7 gebildet. Mit Eger kam es, wie von deutscher Seite behauptet wird, zu einer Vereinbarung, aus der Eger eine Bestätigung seines eigenen Staatsrechtes ableitet. Für dieses Recht beruft sich Eger bekanntlich auch auf Palacký und seine Anerkennung dieses Rechtes; es ist interessant, wie Čelakovský (in Ottos Konversationslexikon) die Entwicklung des Egerländischen Rechtes und seiner »Bohemisierung« schildert. Durch den Frieden von St. Germain wird die Zugehörigkeit des Egerlandes zu seinem historischen Staat bestätigt, und Österreich hat diesen Zustand durch seine Ratifikation anerkannt. Es wird angebracht sein, die Okkupation unseres deutschen Gebietes in rechtlicher Beziehung vollständig zu untersuchen.

Die staatsrechtliche Formulierung des Anschlusses der Slowakei befaßt unsere Theoretiker und Politiker schon längst. Ich erinnere hier an die Vollmacht zur Einnahme der Slowakei, die am 4. Dezember 1918 von der Entente ausgestellt wurde; die erste Bestimmung der slowakischen Südgrenze geschah nach vorangegangenen Beratungen mit militärischen Autoritäten (Foch, Weygand) am 13. Februar 1919 zwischen Dr. Beneš und Minister Pichon mit M. Berthelot; damals bemühte sich Károlyi um die Sicherung der »Gesamtheit« Ungarns.

Auch die Grenze gegen Polen wurde durch die Entente bestimmt. Ich erwähne zugleich den Anschluß kleiner österreichischer und preußischer Gebiete an unseren Staat.

Grundsätzlich fällt bei der Grenzregelung ins Gewicht, daß die Anerkennung des Rechtes auf die Selbständigkeit der Nation und ihres Staates größere Wichtigkeit hat als die Bestimmung des Territoriums; wir sehen nicht nur in unserem Falle, sondern auch im polnischen, jugoslawischen usw., daß die Grenzen durch Spezialkommissionen geregelt werden, allerdings nur lokal.

Auch das Problem der nationalen Minderheiten, der rechtlichen und administrativen Bestimmung der Machtvollkommenheit des Staates und der Nationalität (Nationalstaat – Nationalitätenstaat – Selbstbestimmungsrecht) fällt in dieses Kapitel.

Und schließlich haben wir das staatsrechtliche Problem Karpathorußlands und des Ausbaus dieses autonomen Gebietes, das uns von der Friedenskonferenz auf Grund des von seinen Volksangehörigen in Amerika und auch in der Heimat ausgesprochenen Wunsches zugesprochen wurde. Ein besonderes Problem bildete auch hier seit Anbeginn die Festsetzung der Grenzen.

109.

In theoretischer Hinsicht wird es sich bei der staatsrechtlichen Kritik unserer Revolution um die genauere Bestimmung des historischen und des Naturrechtes handeln; auf beides beriefen wir uns auch während des Krieges, daheim und im Auslande. Ich kann hier abermals meine literarischen Kämpfe um das historische und das Naturrecht nicht unerwähnt lassen. Vor dem Kriege trachtete ich in Übereinstimmung mit der Entwicklung der Rechtsphilosophie die historische und die naturrechtliche Anschauung in begriffliche Harmonie zu bringen. Meine Triebfeder in diesem Streit war die beständige Rücksicht auf die Slowakei. Daher auch mein damaliges Streben, das Verhältnis des Staates zur Nation festzusetzen und die Gültigkeit der Sprache für die Staatsverwaltung zu bestimmen. Ich habe schon bemerkt, daß Programm und Vorgehen mancher unserer Politiker auf die Slowakei nicht Rücksicht nahmen; ich selbst hatte beim Weggehen von Prag die feste Absicht, für die Gewinnung der Slowakei zu arbeiten. Ich war stets für das Natur- neben dem historischen Recht, das mir in seiner bei uns landläufigen Formulierung wegen seines deutschen reaktionären Ursprungs nicht gefiel; ich habe auf den Unterschied der Rechtsanschauung des Westens und Deutschlands hingewiesen. Meine Opponenten, die das historische Recht gegen mich verteidigten (obwohl ich es anerkannte), standen zu sehr unter deutschem Einfluß.

Ich kenne die Versuche der zeitgenössischen Rechts- und Staatsphilosophie, das historische und Naturrecht zu ersetzen, aber im Grunde handelt es sich um diese beiden Kategorien, und namentlich in den neueren Versuchen macht sich das richtige Element des Naturrechtes geltend, die Grundlage des Rechtes im Zusammenhang mit der wachsenden Internationalität auf allen Gebieten des Kulturlebens festzusetzen; die Humanitätsidee und das Streben nach Humanität kommen so auch auf juridischem Gebiet zur Geltung. Das Entstehen unserer Republik bietet den Theoretikern ziemlich interessantes Material dazu.

110.

Diese Betrachtungen erfordern eine Darlegung des Anteils Rußlands und überhaupt der Slawen an unserer Selbständigkeit.

Ich habe ausgeführt, wie und warum ich gleich zu Kriegsbeginn die Anschauung ablehnte, der Krieg sei ein Kampf zwischen Slawen und Germanen; und ich widersetzte mich seit allem Beginn und konsequent dem Plane, unser Geschick einseitig oder gar ausschließlich mit der zeitgenössischen russischen Politik zu verknüpfen. Das entsprang nicht aus Feindseligkeit gegen Rußland und die russische Nation, sondern aus der Erkenntnis seiner Schwäche, seiner geringen Kriegsbereitschaft und der gesamten Unvollkommenheit und Unhaltbarkeit des alten zarischen Regimes. Aber immer und beständig rechnete ich auch mit der Hilfe Rußlands und bewarb mich um sie; deshalb bahnte ich Beziehungen zu Petersburg gleich 1914 von Prag aus an und verhandelte im Auslande überall, wo ich es für richtig hielt, konsequent mit den russischen Botschaften.

Von Anfang an arbeitete ich mit den serbischen Gesandtschaften und offiziellen Vertretern, ebenso mit den slawischen Politikern im Auslande, vor allem den südslawischen und den polnischen. Soweit es möglich war, machten wir draußen gemeinsame Politik.

Aber für die slawische und russische Politik bestanden große Schwierigkeiten; nicht bloß Bulgarien war gegen Rußland und die Alliierten, sondern auch die Polen gingen gegen Rußland, ebenso die Ukrainer, sogar die Weißrussen, und Rußland hatte, als es durch die Niederlagen innerlich zusammengebrochen war, keinen direkten und entscheidenden Einfluß auf die Regelung Europas.

Zu Beginn des Krieges hatte der Zar mehrmals den Slawen und unserer Nation seine Sympathie ausgedrückt, desgleichen manche offiziellen Repräsentanten Rußlands. Doch dieser Ausdruck der Sympathie entsprang nicht aus einem bestimmten politischen und militärischen Plan, wie aus der Unbestimmtheit der Kundgebungen und daraus klar zu ersehen ist, daß die zarische Regierung keine verbindliche offizielle Erklärung abgab. Darin unterscheidet sich Rußland vom Westen: die westlichen Alliierten äußerten ihre Sympathien durch offizielle Erklärungen der verantwortlichen Regierung (der Minister) und dann auch durch unverbindliche Abmachungen mit unserem Nationalrat; vom zarischen Rußland hatten wir einige Versprechungen, eigentlich nur den Ausdruck der Sympathie, vor allem des Zaren, aber keine offiziellen Erklärungen und Abmachungen der Regierung. Die Kiewer Tschechen ersuchten wenigstens um eine Erklärung des Generalissimus, erhielten sie aber nicht. (Sein Manifest an die Tschechen ist, wie schon gesagt, eine Fälschung.)

Erst nach der Revolution gab Miljukov als Minister des Äußern Erklärungen für uns ab, und mit seiner Hilfe gelang es, den offiziösen »Nationalrat« zu beseitigen und die Genehmigung zur Formation des Heeres zu erwirken; aber die Bestimmungen dieser Formation waren einseitig, sie waren nicht das Ergebnis beiderseitiger Übereinkunft. Erst die schließliche Genehmigung durch General Duchonin geschah nach beiderseitigem Abkommen, als schon auch Kerenskijs Regierung ohne Macht und Autorität war.

Die Mehrzahl unserer Leute in Rußland und viele auch daheim empfingen die ersten russischen Kundgebungen gern, besonders die Äußerungen des Zaren stärkten das Bewußtsein unserer Leute in Rußland und auch in der Heimat. Dafür können wir dankbar sein. Es ist aber wahrscheinlich, daß der Zar in seiner Schwäche die Versprechungen selbst zurückgenommen hat. Das habe ich zur Genüge dargelegt.

Im Westen wirkten die Kundgebungen des Zaren gar nicht, obgleich man dort den Panslawismus und den Panrussismus noch fürchtete; das geschah infolge der unvollkommenen russischen Propaganda im Westen.

Wenn gesagt wird, Rußland habe um Serbiens und der Slawen willen Krieg geführt, so ist es nicht ganz richtig; für Serbien bestanden so wie früher für Bulgarien gewisse Sympathien in Rußland, doch dies hauptsächlich auf Grund der offiziellen Rechtgläubigkeit. Nicht die slawischen Brüder, sondern die rechtgläubigen Brüder hatte das offizielle Rußland im Sinn, besonders soweit es nach Konstantinopel trachtete und die freie Schiffahrt im Schwarzen Meere erstrebte. Auch während des Krieges sicherte es sich diesen Gegenstand seiner politischen Wünsche durch besondere Verträge.

Rußlands Verhandlungen über Dalmatien beim Londoner Pakt und überhaupt seine ganze Kriegspolitik ist ein Beweis, daß Rußland – die russische Diplomatie – im Westen in keiner slawischen Frage die Führung innehatte, keinen Plan besaß und seinen Botschaftern aus Petersburg keine Instruktionen gab. Fast unangenehm ist an seinem Verhältnis zu Polen zu sehen, wie es sich durch die Politik der Deutschen und Österreicher schieben ließ, als es die polnische Selbständigkeit zunächst in sehr vorsichtiger Form proklamierte und später auf Autonomie reduzierte. Das Wüten russischer Bureaukraten in Galizien trug allerdings zur Lösung der polnischen und slawischen Frage nicht bei.

Soweit es sich um die Formationen unserer Legionen handelt, stand Rußland gleichfalls hinter dem Westen zurück; wenn es einen slawischen und speziell einen tschechischen Plan gehabt hätte, hätten unsere Legionen sofort 1915, gewiß 1916 fertig sein müssen, als wir der russischen Regierung und dem Zaren durch Štefánik einen genauen Plan vorlegten, den Frankreich, der bewährte und alte Verbündete Rußlands, unterstützte. Ich habe die Geschichte der russischen Legionen ziemlich ausführlich geschildert.

In den in letzter Zeit veröffentlichten Dokumenten finde ich die Bestätigung dessen, was ich in Rußland erfahren habe, daß sich nämlich die zarische Regierung um uns Tschechen erst unter dem Drucke Frankreichs und Englands und ihrer uns bezeugten Gunst kümmerte; einen bewußten praktischen Plan über unsere Nation hatten die zarische Regierung und die Russen überhaupt nicht. Bedarf es noch eines Beispiels, so erwähne ich die Antwort der Alliierten auf Wilsons Anfrage über die Friedensbedingungen: daß wir in der Antwort besonders angeführt wurden, veranlaßten die Franzosen; Izvolskij unterschrieb nur den Entwurf der westlichen Alliierten für Rußland.

Dem zarischen Rußland folgte die Vorläufige Regierung. Einige ihrer Repräsentanten erkannten die politische Sehnsucht der slawischen Nationen (der Tschechen, Polen, Südslawen) an; diese revolutionäre Regierung hat das Verdienst um uns, daß sie uns endlich die von der zarischen Regierung versprochene, aber stets hinausgeschobene Formationsordnung unserer Truppen bestätigte, wenn es auch eine oktroierte Ordnung war.

Die Regierung Kerenskijs war anfangs gegen uns, nach Zborov legte sie uns keine Hindernisse in den Weg.

Die Bolschewiken setzten administrativ den Zarismus fort und waren sein eigentliches Kind; in der auswärtigen Politik gingen sie selbständiger und nach den Traditionen der Arbeiterinternationale vor. Für uns und unsere Bestrebungen hatten sie kein Verständnis. Trotzdem schlossen wir mit den Bolschewiken einen Vertrag, durch den sie indirekt unsere Selbständigkeit anerkannten; sie erkannten unsere Armee und unser Recht auf die bewaffnete Neutralität an. Später widerriefen sie diese Anerkennung, vereinbarten aber in Sibirien wieder den Waffenstillstand mit unserer Armee.

In meinem Schema führe ich auch die Anerkennung der sibirischen militärischen Regierung an.

Lehrreich war es, unsere Jungen in Rußland zu beobachten. Sie waren nach Rußland mit den unklaren abstrakten Anschauungen, wie sie bei uns über Rußland und die Slawen herrschten, gekommen. Dort lernten sie das wirkliche, das lebendige Rußland kennen; sie lernten das zarische Rußland kennen und liebten es nicht, verabscheuten die russische Zivil- und Militärbureaukratie und waren von den Verheißungen des Zaren enttäuscht. Aber sie lernten das russische Volk, den russischen Mužík kennen, und in dieses Volk verliebten sie sich; Rußland und Sibirien waren Tausenden von unseren Soldaten eine gute russische Schule; sie erkannten die Fehler, die großen Fehler aller russischen Regierungen, aber auch die natürlichen Verhältnisse des russischen Großreiches und ihren Einfluß auf die Entwicklung des russischen Menschen und erkannten seinen Charakter. In Rußland lernten unsere Jungen auch die Südslawen, Polen, Ukrainer kennen, – Rußland war ihnen eine gute slawische Schule.

Andererseits erfuhren die Russen durch unsere Legionäre von den Tschechen und Slowaken; bisher wußten die Slawisten und ein Teil der Intelligenz von uns, – durch den Krieg erfuhr von uns der Mužik, der in früherer Zeit etwas nur von den Bulgaren und Serben als den Rechtgläubigen und von den Polen als Katholiken wußte.

Die Antwort auf die Frage, wieweit Rußland und wieweit die westlichen Verbündeten uns befreit haben, kann demnach nicht unbestimmt sein. Der Anteil Rußlands ist klein, viel kleiner als der des Westens. Dabei denke ich daran, daß Rußland zu Beginn des Krieges, dann 1916 (Brusilov) und noch 1917 durch seine Armee den Alliierten und dadurch auch uns half; aber das taten auch die Serben, deren Verdienst um das Slawentum nicht kleiner ist, obgleich ihre Armee, die einer kleinen Nation, nur klein war. Ich denke daran, daß uns in Rußland die Organisation einer Armee ermöglicht wurde und daß diese Armee sich in Rußland zur Geltung brachte. Aber das ist kein Verdienst der russischen Politik. Im Weltkrieg war es der Plan der Zentralmächte gewesen, daß Österreich mit einiger Hilfe Deutschlands Rußland niederringe, während die Deutschen Frankreich vernichten wollten; dadurch kamen unsere tschechischen und slowakischen Soldaten an die russische Front und dadurch wurde die weitere Entwicklung möglich; das Verdienst Rußlands war dabei nicht aktiv. Rußland konnte uns nicht befreien, wie es die Serben und die Balkannationen nicht befreit hat, als deren Protektor es sich bei Kriegsbeginn feierlich proklamiert hatte. Auch Serbien glaubte den Versprechungen des Zaren wie wir, aber auch die Serben und die Südslawen mußten ihre Geschicke enger mit denen der westlichen Verbündeten verknüpfen, Rußland, das zarische und offizielle Rußland, war nicht slawisch, sondern byzantinisch. Unsere Russophilie hatte sich vor allem auf das russische Volk bezogen, – sie wurde durch den Krieg nicht abgeschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt.

111.

In den Polemiken um den 28. Oktober wurde auch geäußert, die Auslandsaktion habe keine so große Bedeutung gehabt: die Ansicht, die Alliierten hätten uns gegen Österreich gebraucht, eigentlich mißbraucht, um es zum Sonderfrieden zu nötigen. Das ist eine falsche und überflüssige Behauptung, denn die Alliierten haben ja diesen Frieden mit Österreich nicht geschlossen. Die Zusammenstellung der verschiedenen Anerkennungen, die Verhandlungen über sie und das ganze Vorgehen der Alliierten gegen uns widerlegt diese These von Grund aus. Allein schon die Antwort Wilsons an Österreich widerlegt sie vollständig. Ich war dabei anwesend und habe erlebt, wie die Antwort psychologisch und politisch entstanden ist; überhaupt war Wilson einer Schlauheit, wie sie hier vorausgesetzt wird, gar nicht fähig; andererseits wissen wir, wie gerade Wilsons Antwort zersetzend auf Österreich und zugleich anfeuernd bei uns daheim gewirkt hat: die »Kapitulation« Dr. Rašins ist ein genügendes Argument gegen die Theorie, die die Alliierten so unbesonnen herabsetzt. Das Ziel, das Programm der Alliierten war hoch; aber auch unter den Alliierten gab es Personen, Fraktionen und Richtungen, die ihm nicht dienten; dennoch verwirklichten die Alliierten trotz allen großen Schwierigkeiten ihre demokratische Mission gegen den reaktionären Absolutismus. Ähnlich siegte bei uns am Ende die Idee, siegten die Idealisten, nicht die Schlaumeier.

Vielleicht will man auf die Verhandlungen Karls durch Prinz Sixtus mit den Alliierten hinweisen. Ich habe auf die Gefährlichkeit dieser Verhandlungen und darauf hingewiesen, daß sie der Anerkennung widersprachen, die uns schon vorher zuteil geworden war; ich habe aber gezeigt, wie sie infolge ihrer inneren Unmöglichkeit und weil sie unorganisch waren, gescheitert sind, und daß gerade der französische Minister des Äußern mit den Verhandlungen nicht übereinstimmte, ebensowenig wie der italienische.

Ich habe auf die Versuche der Wiener Diplomatie hingewiesen, die Austrophilie im Auslande noch in der Zeit des Umsturzes auszunützen, – überhaupt darf ich sagen, daß ich meinen Bericht über die alliierte Politik während des Krieges mit gründlicher Kritik verbunden habe; meine Stellung legt mir natürlich eine gewisse Reserve in der Beurteilung auf, aber ich nehme an, daß ich mich von der Wirklichkeit und der Wahrheit nicht entfernt habe.

Von Einzelheiten könnten die Gegner der Alliierten z. B. auf den beabsichtigten Kongreß der unterdrückten Völker hindeuten, der nach dem Muster des römischen Kongresses am 15. Oktober 1918 in Paris veranstaltet werden sollte. Dr. Beneš weilte damals in Italien und sollte zum Kongreß nach Paris zurückkehren, doch wurde dieser auf Ersuchen der französischen Regierung verlegt. Dr. Beneš erstattete mir darüber folgenden Bericht:

Zu jener Zeit erhielten die Alliierten das Ersuchen der Zentralmächte, die Waffenstillstandsverhandlungen zu eröffnen (5. Oktober); nach Paris wurde die Interalliierte Kommission einberufen; in dieser verlangte Lord Robert Cecil namens Englands die Vertagung des Kongresses der unterdrückten Völker, damit er nicht gleichzeitig mit den Sitzungen der Interalliierten Kommission stattfinde. Diese kurze Nachricht kann man vermutlich dahin ergänzen, daß die Alliierten nicht wußten, was in der Interalliierten Kommission verhandelt werden und was das Ergebnis des Kongresses sein würde; man kann den alliierten Kommissaren nicht verübeln, daß sie die Verhandlungen ihrer Kommission nicht durch einen äußeren Druck gestört haben wollten.

Aber selbst wenn die alliierte Politik gegen uns im Auslande wirklich nur ein taktischer Zug zum Zweck der Kapitulation Österreichs und eines antideutschen Friedens gewesen wäre, so hätten die Alliierten uns gewiß nicht im Stich gelassen, gerade weil unsere Auslandspolitik und die Legionen Österreich dorthin gebracht haben, wo die Alliierten es haben wollten. Und wir wären nicht leer ausgegangen, denn die Alliierten wären durch ihre Anerkennung gebunden gewesen. Der Fetzen Papier des deutschen Reichskanzlers konnte sich in Paris nicht wiederholen. Dafür hätten wir gründlich gesorgt.

112.

Bei Beurteilung und Wertung der politischen Ereignisse, einzelner Aktionen und Handlungen kommt es am Ende auf die Absicht, den Plan, die Überzeugung und die Beweggründe der einzelnen Persönlichkeiten, Parteien und Völker an, die die Geschichte machen. Es genügt nicht, nur die äußeren Tatsachen und Einzelheiten zu registrieren und sich mit dem Ergebnis zufrieden zu geben. (»Wir haben eine Republik, wozu darüber streiten, wann und wie sie entstanden ist?«)

Die Pläne, Ziele, Beweggründe der Auslandsaktion habe ich eingehend dargelegt; ich hoffe, wir erhalten eine analoge Darstellung der Revolutionsaktion in der Heimat. Die genaue Feststellung dessen, was in vier Kriegsjahren, was am 28. Oktober 1918 in Prag geschah, d. h. was der Plan und Sinn des Umsturzes, wie die Gesinnung und der Entschluß der führenden Männer, der Parteien und überhaupt der Bevölkerung war, hat im Zusammenhang mit dem Sturze Österreichs und mit der Weltrevolution große Wichtigkeit für die Beurteilung nicht nur unserer politischen Reife, sondern auch unseres nationalen Charakters.

Die Frage, die Hauptfrage ist: war der Umsturz passiv oder aktiv? Wurde der Zusammenbruch Österreichs, der Zusammenbruch an der italienischen Front und im Innern nur in der Eile und im letzten Augenblick ausgenützt oder wurde der Umsturz überlegt herbeigeführt, war er gewollt? Und seit wann war er gewollt, seit wann und wie wurde daheim bewußt auf ihn hingearbeitet und durch wen? Waren wir am Ende des Krieges, nach den Erfahrungen von vier Jahren, nach den bitteren Erfahrungen daheim, auf einen wirklichen Umsturz des staatlichen Regimes, auf eine wirkliche, allerdings unblutige Revolution vorbereitet? Es genügt nicht, daß viele sich die Befreiung wünschten, – was haben wir getan, um sie zu erlangen, sie zu verwirklichen?

Die Frage ist eine Frage des nationalen Bewußtwerdens und Gewissens. Um nicht in abstracto zu sprechen: ich habe schon mehrmals daran erinnert, daß und warum ich mich Jahr um Jahr mit dem Problem der Revolution befaßt habe. Das war kein leeres Spiel mit Begriffen. Ich analysierte mich selbst und gleichzeitig unseren nationalen Charakter, ich analysierte auch die russische Seele, denn wir waren Russophile, um mir klar zu werden, ob unser und das slawische Humanitätsprogramm nur passiv sei, ob wir uns nur verteidigen werden, wenn uns andere unsanft unterdrücken, oder ob wir politisch vorzugehen und zu handeln vermögen, selbständig, aus eigenem Willen und aus Überlegung, aktiv, aus innerem Entschluß, nicht nur unter Druck – ob wir mit einem Wort unsere eigenen Herren sein können?

Deshalb habe ich mich soviel mit der Frage beschäftigt, wie Chelčický und seine Brüder neben Žižka möglich waren?« War Chelčický passiv und liegt seine Passivität in unserer Natur, in unserem Blute, in unserem Charakter, in unserer Seele? Oder wurde Chelčický durch das gegenteilige Extrem Žižka hervorgerufen, war er nur in der Taktik passiv, nicht aus seinem unserem Charakter entspringenden Prinzips?

Und Žižka? Palacký meint, auch die Hussiten hätten sich nur verteidigt. Das bedeutet, daß wir de facto von außen gelenkt, gedrängt, genötigt wurden? Und daß wir erst Helden wurden, wenn es uns schlecht erging?

Chelčický war nicht passiv, er war im Gegenteil sehr aktiv, entschlossen, radikal, er war kompromißlos. Chelčický war nicht weniger aktiv, nicht weniger radikal, nicht weniger furchtlos als Žižka; Chelčický und Žižka bilden Avers- und Reversseite desselben harten böhmischen Groschens. Der Fehler Chelčickýs beruht auf der unrichtigen Auffassung der menschlichen Natur.

Von diesem Gesichtspunkt aus beobachtete ich z. B. auch unsere Jungen in Rußland und in Sibirien: wir besaßen eine Armee und waren ihre, unsere eigenen Herren: wir konnten selbständig mit uns disponieren, – waren wir stets gleich wachsam und unsere eigenen Führers? Daß wir schwach waren, wenn es uns schlecht ging, daran ist kein Zweifel; aber ich hörte öfter von denkenden Militärs, daß unser Soldat, wenn er vom Feinde nicht bedrängt werde, nicht so wachsam sei, wie wenn er bedrängt werde. Ist das richtig und in welchem Maße?

In diesem Zusammenhang könnte auf die Tatsache hingedeutet werden, daß wir unsere Selbständigkeit verloren hatten, daß wir unseren Staat nicht hatten erhalten können. Und man könnte weiter sagen (in Wirklichkeit sagt man es), daß eben unser Hussitentum, daß unser Brüdertum, daß unsere ganze Reformation – und die Reformation ist die intimste Offenbarung der moralischen und nationalen Existenz – unfertig, politisch unselig war und eben mit der Niederlage und dem Verlust der staatlichen Selbständigkeit endete. Die lutherische Reformation war politisch konstruktiver.

Als ich so immer wieder über unser nationales Humanitätsprogramm nachdachte, kam ich zu der Erkenntnis, daß der Humanitismus nicht eine angeborene und im Charakter verwurzelte Passivität, sondern daß er die rechte Grundlage für eine erfolgreiche praktische Politik sei. Die Eroberung unserer Selbständigkeit, die Errichtung unseres Staates beweist es.

Der Streit um den 28. Oktober ist mir ein Streit um unsere staatsschöpferische Fähigkeit und Staatlichkeit, um die politische Konstruktivität, die Aktivität im Sinne politischer (nicht nur administrativer!) Führung, Führerschaft, ob wir unser Herr, der Herr unseres Staates und auf die Dauer Herr sein können.

Wie in der Zeit Hussens, so geht es jetzt darum, nicht nur die heimische, sondern die ganze europäische, ja die Weltsituation zu begreifen; infolge der geographischen Lage und der Geschichte ist und muß unsere Politik europäisch und Weltpolitik sein, wenn wir auch eine kleine Nation sind, ja gerade darum, weil wir klein sind: können wir also bei der gegebenen Weltlage die eroberte Selbständigkeit uns erhalten, stets und dauernd erhalten? Haben wir dazu Fähigkeiten genug, Verstand genug, Umsicht genug? Willen genug, Entschluß genug, Ausdauer genug?

Das ist der Kern des Streites um den 28. Oktober. Ich habe die Frage für mich vor dem Kriege und bald nach Beginn des Krieges bejaht: zur revolutionären Aktion im Auslande habe ich mich in der Überzeugung entschlossen, daß die Nation daheim und ihre Führer den Sieg der Alliierten geschickt ausnützen und daß wir alle an der Verwirklichung unseres politischen Maximalprogramms arbeiten werden. Unsere Revolution wurde wirklich gut und in einer Weise durchgeführt, daß die Gewähr für eine erfolgreiche Politik in der nachrevolutionären Zeit geboten ist.

Stellt man jedoch die bestimmte Frage, ob wir mehr durch die ausländische oder durch die inländische Aktion befreit wurden, so antworte ich: darüber gab es anfangs keine Meinungsverschiedenheit; Dr. Rašín in seinem Manifest vom 28. Oktober, die Genfer Deputation, ihr Führer und Vorsitzender des Nationalausschusses, Dr. Kramář?, in seinen Äußerungen und, wie ich glaube, die allgemeine Stimme des Volkes, die sich beim Empfang der Genfer Delegation und vor allem bei meiner und der Rückkehr der ersten Abteilungen der Legionen kund gab, sind Zeugen für die Anschauung, daß entscheidend die Aktion im Auslande war. Aber die Auslandsaktion wurde durch den allgemeinen Widerstand der Nation gegen Österreich-Ungarn und den Umsturz nach der Kapitulation Wiens vor Wilson ermöglicht.


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