Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII. Die Weltrevolution und Deutschland

(Von Washington nach Prag über London, Paris, Padua: 20.Nov.-21. Dez. 1918)

 

»Die Slawen selbst werden diesen Kampf nicht provozieren. Mag dann das Kriegsglück eine Zeitlang unentschieden hin und her wogen: am Ende, dessen bin ich sicher, werden die Deutschen von der Mehrzahl ihrer Feinde in Osten und Westen dennoch erdrückt werden; und es dürfte auch die Zeit kommen, wo selbst das Andenken des gefeierten und genialen Fünf-Milliarden-Mannes von ihnen verwünscht werden wird, – bis nämlich jene fünf Milliarden samt Zinsen werden zurückerstattet werden müssen.«

Franz Palacký: »Gedenkblätter«, Schlußwort vom Jahre 1874.

 

83.

Am Ende wiederum auf der See und nun ohne Furcht vor den deutschen Unterseebooten! Die letzte Gelegenheit zum Ausruhen und zur Gewissenserforschung; aber das Präsidentum war ein Hindernis dabei. Nicht nur auf dem amerikanischen Festlande, sondern auch auf dem Dampfer merkte ich bei jedem Schritt, daß ich meine persönliche Freiheit und mein Privatleben verloren hatte – ich war nun ein öffentlicher, offizieller Mensch, immer und überall offiziell. So wollte man es, so verlangten es nicht nur unsere Staatsangehörigen, sondern auch die fremden, und die Regierungen ließen den neugebackenen Souverän von ihren Geheimen selbst auf dem Schiffe bewachen ...

Ein lieber Zufall wollte es, daß ich am Geburtstag meiner Frau in See ging; wir feierten den Tag mit unserer Olga im Stillen, mit der gewohnten Anzahl von Rosen und mit Erinnerungen – nein, nicht mit Erinnerungen, denn das Denken und Fühlen zweier einander nahen Seelen, die durch die Entfernung vereinsamt sind, ist etwas anderes als nur Erinnern ...

Das Meer, das Meer! Hirn und Nerven ruhen aus. Meer und nichts als Himmel und Meer Tag und Nacht; das Dröhnen der Maschinen und Schrauben stört nicht. Während des Aufenthaltes im Auslande hatte ich mir den regelmäßigen Schlaf abgewöhnt; ich glaube, daß ich in der ganzen Zeit keine fünf Nächte richtig geschlafen habe; das Gehirn war immer in Tätigkeit wie eine aufgezogene Uhr, überlegend, vergleichend, rechnend, abwägend, was der kommende Tag auf den Kriegsschauplätzen, in den Ministerien der verschiedenen Länder bringen werde – ein beständiges Abmessen der Distanz und der Abweichungen von unserem Ziele. Das Meer beruhigt die Nerven; auch die Beobachtung des Schiffes beruhigt; ich besichtigte die »Carmania« und ließ mir von den Offizieren die Fortschritte der Schiffahrt erklären. Ich erinnerte mich meiner ersten Schiffsreise von Frankreich nach Amerika (1878) und des damaligen verhältnismäßig unvollkommenen Dampfers. Damals fuhr ich als Unbekannter nach Amerika, ohne Stellung, aber voll Hoffnung und Unternehmungslust – jetzt kehrte ich aus demselben New York, vielleicht auf derselben Wasserbahn, als Präsident zurück, gleichfalls voll Hoffnung, daß mir die weitere Arbeit glücken werde.

Nachdem ich zum Präsidenten gewählt worden war, richteten gleich in Amerika und dann auch in England und überall, auch daheim, unzählige Menschen die stereotype Frage an mich, wie ich mich als Präsident fühle, da ich unsere Unabhängigkeit durchgesetzt habe? Selbstverständlich müsse ich vollkommen glücklich sein; in Prag besuchte mich ein bekannter Schriftsteller aus Deutschland, nur um angeblich einen wirklich glücklichen Menschen mit eigenen Augen zu sehen. Einen glücklichen?

Ich dachte als Präsident nur an die Fortsetzung der Arbeit und an die Verantwortung, die wir alle, die politisch zu denken und zu arbeiten verstehen, nach dem Kriege wieder zu tragen haben werden. Glücklich, glücklicher fühlte ich mich nicht; aber mich freute die Erkenntnis des inneren Zusammenhanges, wenn man will, der Logik meiner langen Lebensarbeit: von der Überprüfung des eigenen Lebens und meiner Auslandstätigkeit sprang ich über zu der des Weltkrieges, der politischen Entwicklung Europas seit 1848, der Zeit meines eigenen Lebens, und suchte in der Unmenge von Einzelheiten den roten Faden der gesetzmäßigen Entwicklung.

Wir sind also frei, werden frei sein, haben eine unabhängige Republik! Ein Märchen – – ich sagte es mir immer wieder, oft unwillkürlich, manchmal auch bewußt laut, daß wir wirklich frei sind und unsere Re-pu-blik haben!

Mir war still zu Mute – ganze Tage schritt ich auf dem Deck hin und her, meine Augen irrten über die See, doch im Kopfe hämmerten die neuen Aufgaben, die Erwartung der Friedensverhandlungen und ihrer Ergebnisse, Sorge über Sorge! Und zugleich mit Zukunftsplänen ordnete ich mir die Hauptgeschehnisse des vierjährigen Krieges und revidierte meine Befreiungsarbeit.

In dem Wirbel von Gedanken wurde mir eines klar: bei aller Wissenschaft und Philosophie, bei aller Vernunft und Weisheit, bei aller Vorsicht und Voraussicht nimmt das Leben des Individuums und der Nation in bedeutendem Maße einen anderen Verlauf, als wir wünschen, wollen, erstreben; und trotzdem ist Logik darin, die wir ex post entdecken. Die Pläne und alle Anstrengungen der begabtesten politischen Führer, derjenigen, die die Geschichte schaffen, äußern sich als vaticinatio ex eventu.

Während der ganzen Kriegszeit hatte ich stets die beiden kriegführenden Parteien, ihre Pläne und Bemühungen verglichen. Auf deutscher Seite waren die Bereitschaft, die Durchdachtheit der gesamten großen Aktion und der Wagemut, die künftige Entwicklung der eigenen Nation, Europas und der Welt zu bestimmen, sichtbar; aber das Ende, die Ergebnisse enthüllten die verhängnisvollen Irrtümer der unleugbar großen Nation, einer Nation der Denker und in vieler Hinsicht des Lehrmeisters aller Nationen. Auf der anderen Seite waren die Alliierten einzeln und als Ganzes uneinheitlich, hatten von Anbeginn keinen positiven Plan (siegen wollten beide Parteien, aber das ist kein Plan), begingen große politische und strategische Fehler und errangen dennoch den Sieg; nicht allein durch die eigene Überlegenheit, sondern auch durch die Fehler des Gegners. Die Schlacht an der Marne ist mir solch ein Beispiel der menschlichen Verblendung im Großen; nehmen wir an, daß die Franzosen selbst den Sieg nicht erwartet haben, wie manche französische Strategen zugeben, und daß die Deutschen nur infolge des Fehlers eines subalternen Offiziers, des jetzt aus der Literatur über die Marne berüchtigten Obersten Hentsch, verloren haben, wird die Frage: Warum? dadurch nicht desto dringender? – Oder ein anderes Beispiel: im Jahre 1917  und Anfang 1918 konnten die Österreicher und vielleicht auch die Deutschen von den Alliierten einen Frieden erlangen, durch den wir und die anderen nun befreiten Nationen weniger gewonnen hätten; die Alliierten waren zum Frieden geneigt, manche sogar allzu sehr: ein klares, redliches Wort über Belgien, die offene Trennung von Deutschland hätte England und Frankreich gegen Österreich-Ungarn weich gemacht: die Unaufrichtigkeit der offiziellen Politik Wiens und Berlins, die unzähmbare Herrschsucht und Verblendung trugen dazu bei, daß die Alliierten aushielten und siegten. Wer erwartete zu Beginn des Krieges den Sturz Rußlands und die kommunistische Republik, wer sah die Revolution voraus, die sich überall aus dem Kriege entwickelt und die politische Oberfläche Europas und der ganzen Welt geändert hat? ... Der weise Shakespeare hat es bereits gut gesagt: »Our indiscretion sometimes serves us well, when our deep plots do pall; and that should teach us, there's a divinity that shapes our ends, rough-hew them how we will.«

Daraus aber, daß die Vorsehung sich um uns und die Welt kümmert, ist kein untätiger Fatalismus abzuleiten, sondern ein optimistischer Synergismus, das strenge Gebot entschlossenster Arbeit, der Arbeit für die Idee. Nur so dürfen wir den sogenannten glücklichen Zufall erwarten, die innere Logik des Lebens und der Geschichte, und sich auf Gottes Hilfe verlassen.

Aus meiner Tätigkeit im Auslande und meinem ganzen Leben suche ich mir in meinen Erinnerungen Beispiele dafür zusammen, wie meine Pläne mißglückten und das Ergebnis meiner Bemühungen trotz alledem besser war als meine Klugheit. Wie ungeduldig war ich z. B., sooft die alliierten Armeen nicht rasch genug Fortschritte machten, aber wie hat uns gerade die lange Dauer des Krieges dazu verholfen, daß wir durch unsere Propaganda bekannt wurden und uns mit unserem Heere am Kriege beteiligen konnten! Hätten die Alliierten rasch gesiegt, so würden wir unsere Unabhängigkeit nicht erreicht haben; Österreich wäre in irgendeiner Form bestehen geblieben. In den Nachrichten nach Prag drängte ich darauf, Abgeordnete und Journalisten zu mir ins Ausland zu schicken; sie kamen nicht, die Arbeit wurde ohne sie getan, und wenn ich mir die Sache wohl überlege, war es besser, daß wir allein blieben und alle unsere Kräfte anspannen und systematischer und einheitlicher arbeiten konnten. Ebenso unerwartet nützte uns die sibirische Anabasis und vieles andere. Wenn ich in frühere Zeiten zurückgehe, denke ich oft daran, wie ungern ich i. J. 1882 von Wien nach Prag übersiedelte, was für weltumstürzende Pläne ich damals hatte und wie ich statt dessen in Prag genötigt war, mich in das Studium unseres Volkes zu versenken und mich frühzeitig an seiner Politik zu beteiligen – das ganze Leben ist voll Sinn und Widersinn! Von glücklichen Zufällen erlebte ich stets, auch im Auslande, eine ganze Menge. Es war ein glücklicher Zufall, daß ich nach Ausbruch des Krieges der Polizei eine Reise nach Holland begründen konnte und daß ich überhaupt einen auf drei Jahre gültigen Paß besaß, der kurz vor dem Kriege ausgestellt worden war; im Kriege hätte ich ihn nicht mehr bekommen. (Ich erfahre jetzt, daß der Polizeipräsident Křikava in Ungnade gefallen war, weil er mich ins Ausland hatte reisen lassen.) Nur durch einen glücklichen Zufall entwischte ich an der Grenze nach Italien; den Grenzbeamten bewegten schwere Zweifel, ob er mich durchlassen solle, und ehe auf seine Anfrage die telegraphische Antwort kam, war ich ihm davongefahren. Aus der Schweiz wollte ich noch einmal nach Hause reisen, hatte bereits um ein Visum ersucht, aber die Freunde in Prag erfuhren rechtzeitig, daß ich sofort verhaftet und bestraft worden wäre. Ein glücklicher Zufall kam mir 1916 bei meiner Reise von London nach Paris zustatten; ich hatte die Überfahrt auf dem Schiffe »Sussex« vorgesehen, aber Dr. Beneš paßte der Zeitpunkt nicht, er telegraphierte mir, nicht zu reisen, die »Sussex« wurde von den Deutschen versenkt, und diese Versenkung war, wie gesagt, die Ursache eines nachdrücklichen amerikanischen Protestes. Auch auf der Fahrt von Schottland nach Norwegen befand ich mich auf einem Schiff, das nur durch die Geistesgegenwart des Kapitäns im letzten Augenblick vor der Explosion einer deutschen Mine gerettet wurde. Und wieviele solcher glücklichen Zufälle erlebte ich während der Revolution und der Kämpfe in Petersburg, Moskau und Kiew! Wäre ich abergläubischer, als ich bin, so würde ich in Wilhelms Fehler verfallen, der sich für ein besonderes Werkzeug Gottes hielt. Aber der Glaube an Theologie darf uns, wie ich wiederholen möchte, weder zur Untätigkeit noch zum Stolz verführen – man darf nie vergessen, daß die Vorsehung nicht für uns allein zu sorgen hat! Denn dasselbe kann Dr. Beneš von sich sagen, dem es gelang, in Prag vor den Augen der Polizei zu arbeiten, die Maffia zu organisieren und glücklich über die Grenze zu kommen. Und mit was für einem Paß! Als er mir ihn zeigte, erschrak ich geradezu – so anfängerhaft war er geschmiert und umgeschrieben, auf den ersten Blick hätte ich ihn als verdächtig erkannt. Aber der deutsche Zollbeamte beachtete es nicht. Während der Revolution in Rußland, war ich oft, wenn ich unversehrt aus den Straßenkämpfen kam, nicht allein gewesen, sondern von Hůza begleitet, dem ebenfalls nichts passiert ist. Ich erinnere mich noch eines solchen glücklichen Zufalls: wir gingen mit Klecanda nach dem Kiewer Bahnhof zu Muravjev – plötzlich fiel ein Schuß, eine Kugel schlug vor uns in die Telegraphenstange, beide spürten wir den von ihr erzeugten Luftdruck –, die gleiche Vorsehung wachte also über uns beiden.

Oft las ich, wie darüber gespottet wurde, daß die Professoren Wilson und Masaryk, daß die Professoren und Gelehrten Beneš und Štefánik über Weltpolitik entscheiden – das Professorentum war hier nicht von Belang. Es gibt solche und solche Professoren. Entscheidend war, daß wir, wenigstens wir drei Tschechen, uns zum Professorentum und zu unserer Stellung durch Arbeit und Arbeitsamkeit durchgerungen hatten, daß ich arm geboren und niemals reich geworden bin; dadurch erwarb ich mir Menschen- und Lebenskenntnis und wurde bei allem Theoretisieren auch praktisch. Wie oft und wie bitter habe ich dennoch über meine Verhältnisse geklagt, obgleich gerade sie mir geholfen haben! Und das Gleiche gilt von Beneš und Štefánik. Professor wollte ich niemals sein; mein Plan war, Diplomat und Politiker zu werden. Ich war unglücklich, als ich in Wien nicht an die Orientalische Akademie und zur Diplomatenlaufbahn gelangen konnte; und am Ende – trotzdem noch Politiker und Diplomat! Ich wollte nicht Professor werden, und trotzdem machte das Schicksal mich frühzeitig zum Lehrer; nach kurzer Handwerkslehre gab ich Stunden und verdiente mir als Gymnasiast und Hochschüler das Brot durch Unterricht, dann blieb mir auch die Professur nicht erspart; aber auch sie half mir politisch und schadete mir nicht.

In der Philosophie bemühte ich mich um wissenschaftliche Philosophie, um wissenschaftliche Genauigkeit, Konkretheit und Realismus; ich fürchtete die zu schulmäßige Philosophie, dieses Überbleibsel und die Fortsetzung mittelalterlicher Scholastik. Besonders die Metaphysik zog mich nicht an und befriedigte mich nicht. Die Philosophie war mir vor allem Ethik, Soziologie und Politik; gelehrt würde man sagen, daß ich Aktivist bin, vielleicht auch Voluntarist – seit jeher war ich tätig, ein Arbeiter. Niemals erkannte ich den Gegensatz zwischen Theorie und Praxis an, d. h. zwischen richtiger Theorie und richtiger Praxis; immer widersetzte ich mich dem einseitigen Intellektualismus, aber auch der gedankenlosen Praxis. Plato war mein erster und wichtigster politischer Lehrer; nach Plato Vico, Rousseau, Comte, Marx u. a. Meine erste größere Schrift »Der Selbstmord« gibt in nuce eine Philosophie der Geschichte und eine Analyse der modernen Zeit; darin habe ich zum erstenmal die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Religiosität für den modernen Menschen und die Gesellschaft betont. Meine Metaphysik erlebte ich in der Kunst und besonders in der Poesie; die Poesie nützte mir auch in der Politik, allerdings eine realistische Poesie. Mein Leben lang war ich Leser philosophischer und wissenschaftlicher Werke, doch Zugleich der schönen Literatur und der Literaturkritik. Ich pflegte bewußt die Einbildungskraft; der Phantastik entging ich dank der Wissenschaft und ihrer Genauigkeit. In der Wissenschaft handelt es sich ja um die Erwerbung der richtigen Methode; ich strebte nach Kritizismus gegen die Oberflächlichkeit, ich drängte auf strenge Analyse und unerbittliche Analyse auch auf sozialem und historischem Gebiet. Aber die Analyse war für mich nicht das Ziel, sondern nur das Mittel; seit Anbeginn kennzeichneten Synthese und Organisation mein Streben. Dafür sind alle meine Werke Beweis.

Mein Auftreten in der Handschriftenfrage Die romantischen Fälschungen der Königinhofer und der Grünberger Handschrift als echt zu verteidigen, galt lange als nationale Ehrenpflicht; Masaryk machte 1886 dieser Heuchelei ein Ende. D. Übers. und meine kritische Tätigkeit bedauere ich nicht, wenn mich auch manchmal in der Erinnerung die Fehler verdrießen, die ich begangen habe.

Meine Gegner beklagten unter dem Vorwand, Vaterland und Nationalbewußtsein seien in Gefahr, meinen Rationalismus, obgleich ich grundsätzlich gegen den einseitigen Rationalismus war, der Gefühl und Willen und ihre psychologische und ethische Bedeutung außer acht läßt. Allerdings erkannte ich nicht jedes Gefühl an. Wie weit das damalige Krähwinkel reichte, ist daraus zu ersehen, daß ich vor Gericht darlegen mußte, meine Schrift über den Selbstmord preise nicht den Selbstmord!

In der Politik beobachtete und studierte ich die Menschen so, wie ich in der modernen Poesie, im Roman die Charaktere kritisierte und studierte. Um sie politisch zu organisieren, muß man die Menschen kennen, sie auswählen und ihnen angemessene Aufgaben stellen. Beizeiten eignete ich mir solch ein geradezu monographisches Beobachten der Menschen, mit denen ich verkehrte und die im Vordergrund des öffentlichen Lebens standen, an. Ich sammelte alle möglichen Daten über Freund und Feind; ich suchte Biographien und Berichte über alle politisch tätigen Menschen zusammen. Ehe ich mit Politikern und Staatsmännern in Fühlung trat, las ich ihre Schriften oder Reden, informierte mich auf alle mögliche Weise über sie. Diese Eigenschaft äußerte sich in mir, wie ich mich erinnere, seit der Kindheit; im 14. Lebensjahr, als ich Lehrer werden sollte, fiel mir Lavaters »Physiognomik« in die Hände; ich las sie mit großer Begierde und begriff ihre Bedeutung für den Lehrer. Daher blieb mir dann vielleicht dies beständige Studieren der Menschen. Und meiner selbst!

In die Politik geriet ich bald nach meiner Ankunft in Prag und kam mit allen unseren führenden Leuten in Verbindung. Die erste Abgeordnetentätigkeit im Reichsrat und im Landtag (1891-93) gefiel mir, befriedigte mich aber nicht; mich bedrückte die Parteilichkeit, diese Enge, diese Kirchenstrenge der kleinen Parteien und Parteichen. Aber vor allem fühlte ich das Bedürfnis, mich noch besser politisch zu bilden und Mitarbeiter zu gewinnen. Ich war noch nicht reif. Ich ging nicht nur auf Politik im Parlament, sondern auf Politik in weiterem Sinne aus: auf Kulturpolitik, auf – wie ich zu sagen pflegte – unpolitische Politik und daher auch auf publizistische Wirksamkeit. Deshalb versenkte ich mich nach dem ersten parlamentarischen Anlauf in das Studium unserer Wiedergeburt, in das Studium Dobrovskýs, Kollárs, Palackýs, Havlíčeks und der Zeitgenossen. Ich schöpfte aus ihnen Lehren über die weitere Entwicklung unserer Nation, Lehren über unser Ziel und unsere weitere wesentliche Arbeit.

Die tschechische Frage faßte ich stets als Weltfrage auf; daher stammt mein fortwährendes Vergleichen unserer Geschichte mit derjenigen ganz Österreichs und Europas; meine gesamte publizistische Arbeit und meine Werke verfolgten das Ziel, unsere Nation sozusagen dem Organismus der Weltgeschichte und -politik einzufügen. Dadurch, daß wir unter der Firma Österreichs lebten, wußte Europa von uns wenig. Daher meine Reisen in Europa und Amerika, mein Studium der wichtigsten Kulturländer, ihrer Geschichte, Philosophie und Literatur. Ich kannte von meinen Reisen aus eigener Anschauung Österreich, Deutschland, Amerika, England, Rußland, den Balkan und Italien; Frankreich hatte ich nicht berührt, da ich seine Kultur und Sprache seit den Gymnasialjahren ohnedies stets studiert und ihrer Entwicklung sorgfältig gefolgt war. Diese Kenntnis der Welt bewährte sich im Kriege, allerdings auch meine Sprachenkenntnis, dank der ich mit den Menschen direkten Verkehr pflegen konnte.

Im zweiten Zeitabschnitt meiner Abgeordnetentätigkeit (seit dem Jahre 1907) studierte ich möglichst sorgfältig Österreich und seine ganze Struktur. Ich sammelte in Wien und überall Belege über den Kaiser, den ganzen Hof und die ganze habsburgische Familie; eingehend beobachtete ich die Erzherzöge Franz Ferdinand, Friedrich u. a. Ich fehlte nicht bei den Reichsratssitzungen, las dort aber häufig politische Werke und besonders Memoiren. Ich drang als Abgeordneter pflichtgemäß in den Staatsmechanismus ein und beobachtete diesen administrativen Mechanismus. Auch mit dem Studium und der Beobachtung der Armee befaßte ich mich viel; ich erinnere mich z. B., wie ich in Wien Daten über Conrad von Hötzendorf zusammensuchte, als man anfing, von ihm zu reden; ich sprach mehr als einmal oder disputierte vielmehr mit Machar über ihn, weil ich ihn nicht so hoch einschätzte wie mein Freund. Ich hatte mehrere Bekannte und Freunde in der Armee, die aus der Wiener Militärschule hervorgegangen waren und mich über die ganze Zusammensetzung der österreichischen Armee gut zu belehren vermochten, namentlich über die höheren Kommandanten. Über die österreichischen Militärpläne war ich wohl informiert.

Wozu ich das alles getan habe? Denkende Menschen hätten das aus meinem beständigen Interesse für das Problem der Revolution herausfühlen können; daher auch meine Betrachtungen über das historische und das Naturrecht in Zusammenhang mit der Frage nach dem Wesen der wahren Demokratie. Ich kam deshalb mit der Regierungspartei in Meinungsverschiedenheiten wegen der Taktik; auch mit unseren Radikalen. Ich konnte ihnen freilich nicht mitteilen, warum mich die Frage der Revolution so sehr interessierte oder eigentlich beunruhigte; ich erwartete den Eintritt von Zuständen, wo ich das Problem werde praktisch lösen müssen, und bekenne, daß ich mir wünschte, dieser Kelch möge an mir vorübergehen. Vielleicht tat ich unseren Radikalen gelegentlich der Omladina-Bewegung Die »Omladina« (»Die Jugend«) war eine geheime Vereinigung junger Leute mit etwas unklar romantischen, revolutionären Zielen; im Jahre 1897 stand eine Anzahl von Omladina-Mitgliedern vor Gericht und wurde verurteilt. D. Übers. unrecht; das waren Anfänge, erste Versuche, die einen gewissen erzieherischen Einfluß ausübten. Ich war und bin noch immer grundsätzlich nicht mit dem Radikalismus einverstanden: aus der Beobachtung zeitgenössischer Geschichte und ihrem Studium leitet der erfahrenere, politisch und historisch denkende Mensch sein politisches Programm ab und führt es konsequent durch. Der Politiker, der Staatsmann geht, kurz gesagt, seinen Weg, verwirklicht seine Ideen, – die Radikalen sind oft ebenso blind wie die Reaktionäre; die einen wie die anderen tun nur das Gegenteil dessen, was der Gegner tut, sie zehren vom Gewissen des Gegners. Deshalb lehne ich auch den sogenannten goldenen Mittelweg, die gedankenlose Politik und Taktik von der Hand in den Mund, ab.

Weil ich das Slawentum, insbesondere die Südslawen und Rußland, kannte, geriet ich mit Ährenthal in Streit wegen der österreichischen Balkanpolitik. Unser landläufiges Slawentum war mir unsympathisch. Dieses slawische Geschwätz, wie Neruda es einmal gebrandmarkt hat, stieß mich ab, ich konnte die Patrioten und Slawen, die nicht einmal das russische Alphabet gelernt hatten und mit Russen und Ausländern überhaupt deutsch sprechen mußten, nicht ruhig ertragen.

Ich erinnere mich lebhaft, wie mir die nächsten Kollegen übelnahmen, daß ich die slawische Frage zur Erörterung brachte und in »Naše Doba« und im »Čas« ihr besondere Aufmerksamkeit widmete. Mir genügte nicht die abstrakte und eng politische Nationalität und Vaterlandsliebe, die Unkenntnis der wirklichen Nation und des Volkes in Böhmen, Mähren und der Slowakei, Seit meiner Kindheit empfand ich mein Tschechentum konkret im Verständnis für die Charaktere, Anschauungen und das Leben meiner Landsleute in der Slowakei und dann in Mähren und in Böhmen. Prag hat gewiß gleiche Berechtigung wie Čejkovice oder Bystřička; aber in Prag gibt es zu viele Leute, die nicht das Kleinseitner Leben Nerudas leben, sondern eine Kaffeehaus-Abstraktheit und Wirtshaus-Phantastik. Das gilt freilich von allen Städten und auch von anderen Nationen, ist aber darum nicht weniger abstoßend. Mein Tschechentum und mein Slawentum fühle ich, wie ich sagen möchte, ländlich, mundartlich; philosophisch fühle ich mit Hus, Chelčicky, Žižka usw. bis über Havlíček hinaus.

Daheim und in Wien drückte mich die Krähwinkelei, das Prager, aber ebenso das Wiener und das österreichische Krähwinkel überhaupt. Die Kleinheit beruht nicht in der Geographie, sondern in den Menschen, Charakteren, Sitten. Weltmensch wird man nicht nur durch das übliche Reisen, durch internationalen und zwischenstaatlichen offiziellen Verkehr, sondern durch die geistige Versenkung in das Leben der Menschen, der Nationen, der Menschheit.

Es ist wahr, ich hatte einen besonderen Vorteil und das Glück, daß meine Lebensbahn sich mit der Charlotte Garrigues gekreuzt hat; ohne sie wäre ich mir des Lebenssinnes und meiner politischen Aufgabe nicht klar geworden – so half mir außer Frankreich auch Amerika und durch mich der Nation zur segensreichsten Freiheit.

Ich deute nur an, wie ich durch mein Leben für die Aufgabe, die mir der Weltkrieg gestellt hat, vorbereitet war; ich deute nur an, wie ich die Teleologie im Leben des Einzelnen, der Nation und der Menschheit auffasse und das Einzelleben organisch mit dem Leben der Gesamtheit verbinde.

Bei aller politischen Energie darf ich mit gutem Gewissen sagen, daß ich niemals hervortrat, ohne gerufen zu werden, und daß ich mich niemals zur Schau gestellt habe. In den Streit um die Handschriften z. B. wurde ich gebeten und genötigt; zur Hilsneriade wurde ich direkt herausgefordert; in den Streit um den Agramer Prozeß mit Friedjung und Aehrenthal zogen mich meine kroatischen Schüler geradezu hinein usw. Auch meine literarischen Arbeiten sind zum großen Teil Antworten auf mir gestellte und aufgezwungene Probleme. Eine ungeheuere Wahrheit ist in dem Worte enthalten: bene vixit, qui bene latuit. Das gilt nicht bloß für Mönche, sondern gilt auch für Politiker. Si parva licet componere magnis: Gott lenkt das Weltall und niemand sieht ihn, niemals zeigt er sich und freut sich gewiß nicht an den Lobgesängen der unzähligen Priester.

Eine zweite Regel: nicht immer der erste sein wollen, es genügt, der zweite, der dritte zu sein! Auch das werden viele nicht verstehen. Ich bin ein sehr entschiedener Individualist, doch weiß ich, daß ich nicht allein da bin und nicht nur von mir lebe, sondern auch vom Leben und der Arbeit der Vorgänger und Zeitgenossen. Der beobachtende Praktiker und Politiker wird sich überzeugen, daß es auf der Welt wenig Neues gibt und daß er sehr wenig Neues dazu beiträgt; außerdem dürfen wir in der Politik nicht nur ans Organisieren, Führen und Schaffen denken, sondern auch an Einordnen, Zusammenwirken und Zucht. Jedermann will vielleicht ein kleiner Napoleon sein, aber der Normalmensch gehorcht ebenso und – gern.

Aller guten Dinge sind drei: im Leben ist Geduld nötig! Überall, in allem und besonders in der Politik. Ohne Geduld gibt es keine echte Demokratie, – der Demokrat wird unzufrieden sein, sich nicht leicht beruhigen, doch darf er nicht ungeduldig werden. Geduld ist eine Gewähr für Humanität.

84.

Auf dem Schiff erhielten wir drahtlose Nachrichten über die letzten Ereignisse auf den Kriegsschauplätzen und überhaupt aus Europa, – die Gedanken kehrten notwendigerweise immer wieder zum Kriege zurück. Ich erinnere mich der Veröffentlichung der Dokumente zur Schuldfrage durch die bayrische Regierung und die Erklärung des ehemaligen Kanzlers Bethmann Hollweg dazu; Foch zog in Straßburg ein (25. November), und schließlich verzichtete am 28. November Wilhelm feierlich auf Thron und Regierung in einer aus Holland datierten Proklamation. Es war nicht nur ein Verzicht, es war die Anerkennung der Revolution.

Die Deutschen hatten ihre letzte Offensive in der Überzeugung eröffnet, daß ihnen der Frieden von Brest-Litovsk den Sieg verbürge; ihre ganze Aufmerksamkeit konnte sich auf die verstärkte Front in Frankreich sammeln. Die Unmöglichkeit, trotz Zahlreichen örtlichen Erfolgen die Front zu durchbrechen und die Alliierten zu schlagen, vergrößert ihre schließliche Niederlage; die deutsche Theorie vom »Dolchstoß«, die den Sieg der Alliierten so darstellt, als sei er einzig infolge Demoralisierung der Armee, sozialistische Agitation und die Revolution im Innern errungen worden, hält nicht stand. Wäre sie richtig, so wäre sie ein neuer Beweis für die geringe Voraussicht der Deutschen und für die große Verkennung der eigenen Zustände. Soweit man speziell an den Einfluß der deutschen Sozialdemokratie denkt, so muß man ebenfalls an den der Sozialisten und Pazifisten in den alliierten Ländern hinweisen – die Franzosen haben auch eine Theorie vom Dolchstoß, der den Vormarsch Fochs über den Rhein verhindert haben soll. Im Ganzen wuchsen in allen kriegführenden Ländern gleichzeitig Kriegsmüdigkeit und Abneigung gegen den Krieg, und zwar aus den gleichen Ursachen und Gründen.

Seit allem Anfang verfolgte ich aufmerksam die Entwicklung der kämpfenden Armeen, ihre Strategie und Taktik, und gelangte zu dem Ergebnis, daß die Franzosen mit ihrer Strategie und Taktik den Deutschen überlegen seien. Anfangs hatte ich befürchtet, das Übergewicht werde auf Seiten Deutschlands sein; aber im Verlauf des Krieges wurde ich überzeugt, daß die Preußen gerade durch ihr Preußentum, d.i. ihre äußerliche Ordnung und ihren Mechanismus, militärisch schwächer seien als die Franzosen. Der preußische Absolutismus und in letzter Zeit der Einfluß des Kaisers schadeten auch der Armee; sie erstarrte und verließ sich bureaukratisch auf ihre Organisation, auf die zahlenmäßige Übermacht, auf einige Vorteile, wie z. B. die rasche Truppenbewegung auf den strategisch gut angelegten Bahnen und ähnliches. Dem französischen Heere hatte die Republikanisierung, die größere Freiheit, von der es durchdrungen war und mit der es kritisiert wurde, gut getan. Die deutsche Taktik, die auf phalanxmäßig geschlossene Reihen und die Umfassung des Feindes baute, bewährte sich nicht; die Franzosen operierten wirkungsvoller mit dem Aufmarsch kürzerer, hintereinander gestaffelter Reihen. Die Deutschen waren sogar militärisch Zentralisten und Absolutisten, die Franzosen Individualisten und Republikaner. Die Franzosen nannten ihre Taktik im Felde schon während des Krieges selbst »le système D«, von »se débrouiller«. Der französische Soldat verstand es, als Individualist und zugleich als Führer sich herauszuwinden.

Schlieffens strategischer Plan war, wie ich öfter auch von französischen und englischen Fachleuten gehört habe, gut, doch nicht dem Weltkrieg angepaßt; vielleicht darum, weil ihn Moltke in ungeeigneter Weise abgeändert hat (er dehnte die Westarmee bis zur Schweiz aus, bei Schlieffen reichte sie nur bis Straßburg), oder weil ein bureaukratisches Schema daraus geworden war; ich neige zur zweiten Annahme.

Ich trachtete mich bei militärischen Fachleuten über Schlieffen und den Zweifrontenplan schon deshalb zu orientieren, weil die geographische Lage und die Grenzen unseres künftigen Staates eine Analogie boten. Mich interessierten die Meinungsverschiedenheiten und das Schwanken innerhalb der deutschen Obersten Heeresleitung, und zwar schon in früherer Zeit. Es handelte sich darum, gegen welchen Feind im Zweifrontenkrieg die Hauptmacht des Heeres zu senden sei, ob gegen Frankreich oder gegen Rußland? Dabei waren die Deutschen von ihrem bedeutendsten militärischen Lehrmeister Clausewitz beraten, der sie gelehrt hat, zunächst das stärkste Objektiv anzugreifen. Wer war stärker, die Russen oder die Franzosen? Moltke der Ältere hatte sich in seinen späteren Jahren mit aller Macht zuerst auf Rußland werfen und im Westen in der Defensive bleiben wollen; das entsprach der politischen Situation – England war damals gegen Rußland (Moltkes Plan ist im Detail in den 80er Jahren konzipiert). Bismarck und Waldersee, der Generalstabschef nach Moltke, waren mit ihm gleichen Sinnes. Schlieffen (Waldersees Nachfolger seit 1891) hatte gegen Moltkes Autorität keinen leichten Stand, denn er neigte der Anschauung zu, der Hauptangriff sei gegen Frankreich zu richten, Österreich solle den Schlag gegen die Russen führen. Der Generalstab mit dem Kaiser entschloß sich für den Hauptangriff gegen Frankreich; nach manchen Berichten stammt Schlieffens Plan eigentlich von Kaiser Wilhelm.

Im Jahre 1914 war die politische Situation wesentlich verändert: England ging mit Rußland und Frankreich, und zu England gesellten sich Italien und Amerika. Die Kräfte und ihre Gliederung waren anders als zur Zeit Moltkes des Älteren. Auch die Einnahme Belgiens veranlaßte taktische Änderungen, mit denen Schlieffens Hauptpositionen nicht übereinstimmten. Moltke der Jüngere hatte für den Krieg 1914 den Plan Schlieffens zwar übernommen, widersetzte sich ihm aber nach der Schlacht an der Marne und kehrte zum Plane seines Oheims, Moltkes des Älteren, zurück. Dazu war es bereits zu spät, und es bezeugt nur, wie desorientiert die deutsche Heeresleitung war. In gewissem Maße folgte man insofern Moltke dem Älteren, als die Deutschen im Osten die Russen schlugen und den Bewegungskrieg führten, während sie in Frankreich zum Stellungskrieg, also eigentlich zur Defensive, gezwungen worden waren. Die Franzosen paßten ihre Taktik organisch der kleineren Zahl ihrer Truppen an, indes die Deutschen sich zu sehr auf ihre traditionelle, ziffernmäßige Übermacht verließen. Als sich ihnen außer den Franzosen die übrigen Alliierten entgegenstellten, verstanden sie es nicht beizeiten, Plan und Taktik zu ändern; bei Eröffnung der letzten Offensive 1918 hatten sie die ziffernmäßige Übermacht oder wenigstens die gleiche Macht. Den Deutschen fehlten Beweglichkeit und Erfindungsgabe im Felde, sie überraschten mit Einzelheiten, wie z. B. den weittragenden Geschützen – gute, gewissenhafte Generale, aber keine Heerführer; damit hängt die Unfähigkeit zur einheitlichen großen Aktion, die Selbsttäuschung mit kleinen, stückweise ausgeführten Aktiönchen und kleinen Erfolgen zusammen. Mir war es besonders ein Rätsel, warum die Deutschen so gewaltsam und eigensinnig Verdun belagerten – hätten sie im Jahre 1916 (während Stürmers Regierung!) einen größeren Teil des Heeres nach Rußland geworfen!

Es ist möglich, daß sich die Heerführer in diesem Kriege – und nicht bloß bei den Deutschen – nicht durchsetzten und durchsetzen konnten. Der Krieg war zum erstenmal im wahren Sinne des Wortes ein Krieg der Massen, ganzer Nationen, ein demokratischer Krieg, wenn dieses Wort gebraucht werden darf. Der Kriegsdemokratismus äußert sich anscheinend darin, daß in der riesigen Armee nicht ein Heerführer entscheidet, sondern mehrere, daß der ganze Krieg und die einzelnen Schlachten durch entsprechende Gleichordnung einzelner selbständiger Armeen gewonnen werden. Schon Voltaire hat bemerkt, man könne mit den größten Armeen nichts Großes mehr beweisen; die militärischen Kräfte halten einander im Gleichgewicht und aus solch einem Krieg entspringe nur das Elend der Völker. Vom Weltkrieg gilt dies gewiß in hohem Grade.

Deutschlands Niederlage wurde jedoch nicht nur durch militärische Mängel verursacht: der Krieg ist, wie Clausewitz ganz richtig gesagt hat, Politik mit anderen Mitteln – die ganze deutsche Beurteilung der europäischen und der Weltlage und der eigenen Nation war irrig.

Der pangermanische Plan – das deutsche Heer, das Offizierskorps war pangermanisch orientiert – war gelehrt, aber zweifelhaft. Die Deutschen schätzten die politischen und Kriegskräfte, die militärischen und wirtschaftlichen Kräfte unrichtig ein; sie überschätzten sich selbst und ihre Verbündeten und unterschätzten die Feinde; bis zuletzt glaubten sie geradezu obstinat nicht an die militärische Mobilisierung Amerikas, wie sie gleich anfangs England unterschätzt hatten. Sie bewiesen durch Versuche, daß die Amerikaner nicht übers Meer gelangen werden; ganz unrichtig vergrößerten sie in ihrer Phantasie die Macht ihrer schon der Zahl nach ungenügenden Unterseeboote. Fast unbegreiflich täuschte Deutschland sich über Österreich, und tat's noch, obgleich es die Unfähigkeit der österreichischen Armeeführer in Galizien und Serbien sofort bei Kriegsbeginn hätte sehen müssen. Von der Unfähigkeit Österreichs und auch Deutschlands zeugt, glaube ich, gleichfalls der Vormarsch gegen Italien; ich vermute, daß ein besserer, energischerer Armeeführer der Österreicher und Deutschen Norditalien wirksam gegen Frankreich ausgenutzt hätte. Doch wozu diese militärischen Betrachtungen eines Laien – Deutschland und Österreich hatten 1918, als Rußland und Rumänien vom Schauplatz abgetreten waren, zahlenmäßig nicht viel weniger Truppen als die Alliierten; an der französischen Front kamen die beiden Parteien einander gleich – und doch wurden Deutschland und Österreich geschlagen. Notabene, die Engländer und die Amerikaner hatten ihre Armeen improvisiert, nur die Franzosen und teilweise die Italiener besaßen ältere Armeen und militärische Traditionen: ein schlagender Beweis dafür, daß der preußische Militarismus sich nicht bewährt hat. Der absolutistische Monarchismus wurde auch militärisch von der Demokratie geschlagen.

Die Deutschen rechneten auch mit der industriellen Übermacht der Alliierten nicht genug. Die Engländer konnten frühzeitig die Unterseeboote bekämpfen, ebenso die Amerikaner; die Amerikaner erfanden z. B. wirksamere Gase als die Deutschen, wendeten sie aber aus Humanität noch nicht an; Edison machte sich durch mehrere erfolgreiche Erfindungen um die Armee verdient; allerdings hatte man Wunder von ihm erwartet, und er vollbrachte mehr – er erhöhte durch kleine Erfindungen die Kampffähigkeit seiner Landsleute.

Schließlich verstanden es die Deutschen nicht, mit den sittlichen Kräften zu rechnen, da sie zu sehr an den Mechanismus der Organisation und der materiellen Kräfte glaubten, – sie glaubten an die Degeneration Frankreichs, sahen jedoch nicht die Degeneration Österreich-Ungarns und begriffen nicht die sittliche Kraft Englands und Amerikas, Italiens und Serbiens – die Deutschen wurden im Felde durch den preußischen Militarismus, ihre Wissenschaft, ihre Geschichte, ihre Philosophie, ihre Politik geschlagen.

Zum Endsieg trugen außer den Franzosen auch die anderen alliierten Armeen bei. Die Engländer hielten die Freiheit der Meere für sich und die Alliierten aufrecht und ermöglichten so die Zufuhr von Lebensmitteln, Kriegsmaterial und Rohstoffen nicht nur ins eigene Land, sondern auch nach Frankreich; ich habe schon auf den langen und zähen Kampf Englands gegen die deutschen Unterseeboote hingewiesen, der mit der Niederlage Deutschlands endete; die Engländer und die Amerikaner wußten die versenkten Schiffe durch neue zu ersetzen. Neben dem Unterseebootkampf spielte die Flotte keine große Rolle, sie mußte sich mehr dem Schutz der Transportschiffe widmen. Als Soldaten zeichneten die Engländer sich durch Widerstandskraft und geradezu vorbildliche Zähigkeit aus. Wenn ein englischer Heerführer – Haig – den schließlichen Sieg der Alliierten einem Wunder zuschreibt, so erkennt er damit die Gewalt und Energie des deutschen Druckes an und kritisiert zugleich die Zustände auf alliierter Seite; denn auch hier war nicht alles in Ordnung, vor allem fehlte die Einheitlichkeit der Führung; die war zwar beim Feinde ebenfalls nicht vorhanden, aber die Deutschen vermochten es doch, die Wiener Politiker und Strategen im Zaume zu halten. Gewiß bewiesen die Deutschen während des ganzen Krieges eine bewunderungswerte Ausdauer, Tüchtigkeit und Geschicklichkeit in Einzelheiten; sie boten der großen Mehrheit von Nationen aus aller Welt beharrlichen Widerstand. Allen Respekt!

Das Verdienst der Amerikaner um den Sieg ist allgemein anerkannt; es besteht nicht nur darin, daß sie in kritischer Zeit durch frische und tapfere Mannschaft zum Siege beitrugen, sondern darin, daß sie sich den Alliierten überhaupt angeschlossen hatten. Amerika hatte ihnen vor Eintritt in den Krieg durch Versorgung mit Lebensmitteln und Kriegsmaterial geholfen; es half ihnen durch Wilson und die Autorität, die er während des Krieges in der ganzen Welt erworben hatte. Durch ihr Verhalten gegen Amerika in Amerika selbst und das Nichtverstehen der Situation, als es den Krieg erklärt hatte, bewiesen die Deutschen vielleicht am schlagendsten ihre politische Kurzsichtigkeit.

Aber wir dürfen auch die anderen Alliierten nicht vergessen. Vor allem das unglückliche Rußland nicht! Der russische Anteil, zwar nicht direkt am Siege der Alliierten – denn Rußland war am Ende selbst besiegt und verließ die Verbündeten –, aber an der erfolgreichen Verteidigung zu Beginn des Krieges verdient hervorgehoben zu werden: auf Rußland lastete damals ebenso wie auf Frankreich das Hauptgewicht des Krieges, solange England nicht große Armeen ausgebaut, Italien sich noch nicht den Alliierten angeschlossen und Amerika sich für die aktive Beteiligung am Kriege nicht entschieden hatte. Die russische Kraft war – wenn auch äußerlich und quantitativ, nicht innerlich und qualitativ – gewiß eine Hoffnung in schweren Stunden im Westen, in gleicher Weise für die österreichischen Slawen wie für Serbien, Rumänien u. a., und trug zur sittlichen Rüstung, zum weiteren Widerstand und Ausharren im Kampfe bei. Die Anfangserfolge gegen Österreich hatten nicht nur ihre militärische, sondern auch ihre politische, psychologisch-politische Bedeutung, die sich besonders in den ersten Stadien unserer Revolution äußerte. Die Freude an diesem russischen Anteil und an den russischen Verdiensten im Kriege wird uns heute nicht nur durch das Wissen um die späteren Mißerfolge und Katastrophen getrübt, die hauptsächlich durch die innere Fäulnis verschuldet wurden, sondern auch durch die kritische Erkenntnis dieser Kriegsverdienste und Opfer in sittlicher Beziehung. Die russischen Opfer sind nicht in solchem Maße Opfer für bewußte, ideale Ziele wie bei den anderen Alliierten. Die Mehrzahl der russischen Gefallenen starb nicht im Dienste der Idee, der Nation, des Staates, sondern als passives Opfer von Bestrebungen, die sie nicht kannte und nicht verstand. Der größte russische Krieg wurde vom alten Zarismus geführt, dessen Sünden und Verbrechen mit Hekatomben von Menschenopfern bezahlt wurden; und Ursachen und Ziele dieses Krieges wurden aus der unseligen, unrussischen Politik des alten Rußland geboren. Das entwertet in unseren Augen in hohem Maße all die gewiß ungewöhnlichen Mühen und Opfer Rußlands, in denen so viel traurige Tragik liegt und die vielleicht nur dadurch aufgewogen werden, daß ohne die Leiden und Erschütterungen die Befreiung Rußlands vom alten Regime nicht so bald und so vollständig gekommen wäre. Aber auch die Befreiung wurde durch Hekatomben von Menschenopfern erkauft ...

Zum schließlichen Siege trug gleichfalls Italien zu Beginn und am Ende des Krieges sehr bei. Und was soll man von Serbien sagen, das trotz Mißerfolgen gegen die Übermacht bis ans Ende durchhielt, alle Greuel der österreichisch-magyarischen Soldateska über sich ergehen ließ, entschlossen sich durch Albanien zurückzog und loyal sich den Alliierten am Balkan anschloß, bis es doch nur endlich die Früchte seines Heroismus erntete. Und auch Rumänien und Griechenland waren den Großmächten willkommene Verstärkung.

85.

Was ist also der Sinn des Weltkrieges? Was bedeutet dieser ungeheuere Massenvorgang in der Geschichte Europas und der Menschheit? Die marxistische Erklärung des Krieges genügt nicht. Der Materialismus ist überhaupt wissenschaftlich unmöglich und der historische (ökonomische) Materialismus einseitig. Nicht, daß die Auslegung speziell durch den Kapitalismus ganz unrichtig wäre, aber sie ist einseitig, unvollständig und unbestimmt. Der Begriff des Kapitalismus ist selbst unbestimmt; sicherlich gab es Kriege längst vor dem Kapitalismus – niemand hat gezeigt, in welchem Maße dieser für das Entstehen und Werden des Krieges verantwortlich ist. Versteht man unter Kapitalismus das gesamte wirtschaftliche System oder im Besondern das Finanzwesen, in concreto die Finanziers, die Bankleute? Oder die Schwerindustrie? Und in welchen Ländern? Der Kapitalismus besteht ja in allen Ländern, und so kämpfte Kapitalismus gegen Kapitalismus – welcher ist also entscheidend? Wir kommen wieder zur Hauptfrage, welche der kämpfenden Parteien den offensiven Krieg geführt habe, welche den defensiven, denn dieser Unterschied ist für den Charakter des Krieges sehr wichtig.

Daß wirtschaftliche Interessen, genauer die auri sacra fames immer ein starker Grund zum Kriegführen war, daran zweifelt niemand; aber daneben entscheiden andere Motive mit. Die Historiker (und auch die marxistischen Historiker!) lehren uns doch immer, die Staaten und ihre Herrscher und leitenden Staatsmänner hätten in neuer Zeit Kriege geführt, um ihre Macht, Autorität, ihr Prestige zu stärken, um ihr Territorium durch Stücke von Nachbarländern zu erweitern und deren Einwohner sich zu unterwerfen, um Kolonien zu erobern; man spricht vom Imperialismus namentlich der großen Staaten. So werden verschiedentliche Motive der Kriegsoffensive angegeben: Herrschsucht, Ehrgeiz, Geiz, Rassen- und Nationalhaß usw.

Die Erklärung des Weltkrieges durch Nationalismus ist ebenfalls einseitig und ungenau. Auch Nationalismus gibt es in allen Ländern, und so fragt man abermals, welcher, was für ein Nationalismus den Krieg verursacht habe? Was ist sein Inhalt? Wer hat offensiv angefangen, wer sich nur gewehrt? Gewiß waren nationale Gegensätze und Kämpfe eine der Ursachen des Krieges. Aber man kann den Krieg nicht als ausschließlich nationalen Krieg betrachten; auch wirtschaftliche und andere Ursachen und Motive haben mitgewirkt. Die Völker waren noch keine Rechtssubjekte, im Kampfe befanden sich die Staaten, die Völker nur indirekt, soweit sie durch ihre Staaten organisiert und soweit sie vertreten waren. Und die Staaten verfolgten augenscheinlich nicht eine nur nationale Politik; das, was man überhaupt Politik nennt (in der Regel die Politik der Staaten), ist eine komplizierte Sache: da sind verschiedene Dynastien, Regierungen, einflußreiche Staatsmänner und Politiker, Journalisten, Parlamente, Parteien, verschiedene geistige Richtungen usw. Wissenschaftlich genau festzustellen, wer eigentlich die Politik eines Staates geleitet und bestimmt, wer im gegebenen Falle die Entscheidung gefällt hat, aus welchen Gründen und Ursachen, wer mehr und wer weniger entschieden hat usw., das ist eben die Aufgabe, die von der Geschichte und Geschichtsphilosophie, die richtiger als die pangermanische und nationalistische Philosophie zu sein hat, gelöst werden soll.

Ich habe zur Genüge dargelegt, daß die nationale Idee und das nationale Empfinden in neuer Zeit Politik und Krieg in bedeutendem Maße bestimmt haben; aber man kann nicht sagen, daß die Kriege, und insbesondere der Weltkrieg, national, d. h. nur national gewesen seien. England und Amerika beteiligten sich entschieden nicht aus Nationalismus am Kriege, obgleich sie das Nationalitätsprinzip, vor allem das Recht der kleinen Nationen in Europa auf Selbständigkeit und Freiheit, anerkannten.

Deshalb kann man nicht sagen, der Krieg sei ein Kampf zwischen Germanen und Slawen oder Germanen und Romanen gewesen – er war ein Weltkrieg. Ursprung und Entwicklung zeigen deutlich, daß die Nationalität, in manchen Fällen der nationale Chauvinismus, nur ein Faktor neben anderen war.

Selten wird der Krieg als ein Kampf der Kirchen und Religionen ausgelegt; die Rechtgläubigkeit der Russen und Serben, der Katholizismus Österreichs, der Protestantismus der Deutschen, der Katholizismus der Franzosen usw. waren auch ein Faktor, aber auch wieder nur einer neben anderen.

Die Historiker unterscheiden und qualifizieren die Kriege durch bereits stereotype Bezeichnungen: dynastische Kriege, Prestige-, Religions-, Befreiungs-, Rassen-, Expansions-, Raub-, Kolonial-, politische Kriege usw.; vom letzten Krieg wird allgemein gesagt, er sei ein Weltkrieg gewesen. Das ist zwar eine quantitative Qualifikation, aber in der Bezeichnung äußern sich doch Charakter und besondere Bedeutung.

86.

Der Charakter des Weltkrieges läßt sich in hohem Maße beim Vergleich der Kriegsziele der beiden Parteien und an ihren Programmen erkennen; ich werde deshalb versuchen, die Programme der beiden Parteien im Weltkriege zusammenfassend zu formulieren, das des Westens, der die riesige Mehrheit der Menschheit, und das Deutschlands, das die Minderheit der Zentralmächte anführte. Diese Teilung der Nationen in zwei Lager hatte nicht allein vorübergehende militärische Bedeutung, sondern ergab sich auch aus der kulturellen Gesamtsituation. Gegeneinander standen Ideen, Weltanschauungen und Lebensführungen.

Ich bin mir bewußt, daß die kurze Formulierung ganzer nationaler und kultureller Programme kühn ist; doch die Analyse des Krieges und seine historische Beleuchtung, wie sie hier und im »Neuen Europa« gegeben sind, gestatten sie.

Die mittelalterliche Welttheokratie, die unter der geistigen Führung des Papsttums zentralisiert war, wurde in neuer Zeit als internationale Autorität durch die größere Selbständigkeit der einzelnen Staaten und Nationen ersetzt. Die Reformation, der klassische Humanismus, Wissenschaft, Kunst und Philosophie, die ein neues Verstehen und Erkennen der Natur, des Menschen, der Geschichte und der Gesellschaft anstrebten, richteten neue geistige und sittliche Ideale und Grundlagen für die Organisation einer neuen Gesellschaft auf. Durch die Reformation, den Humanismus, die Wissenschaft, Kunst und Philosophie wurde die große Revolution in England, Frankreich und in Amerika vorbereitet (d.i. in Wirklichkeit wieder in England); der große Ertrag dieser Revolution war, daß Staat und Kirche – eigentlich schon die Kirchen – voneinander unabhängig wurden. Im Westen, in Europa und Amerika, trennten sich Staat und Kirche nach und nach bis auf unsere Tage überall; die Religion büßte dadurch nichts ein, im Gegenteil, sie gewann dadurch ebenso, wie auch die Politik gewann. Und nicht nur der Staat, sondern alle Institutionen und gesellschaftlichen Bestandteile wurden mit ihm allmählich nichtkirchlich: Wissenschaft und Philosophie, Schule und Erziehung, Moral und am Ende auch die Religion.

Soweit es sich um den Staat handelt, der nach der Reformation die Führung der Gesellschaft übernommen hatte und, dem Beispiel der Kirche folgend, absolutistisch geworden war, verkündete die französische Revolution die große Losung: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«; die Menschen- und Bürgerrechte wurden proklamiert und kodifiziert, Frankreich und Amerika wurden Republiken, England und vorübergehend auch Frankreich konstitutionelle Monarchien. Gegen den alten Aristokratismus – der Monarchismus ist nur eine Form des Aristokratismus – entwickelt sich die Demokratie in verschiedenen Formen, Graden und Qualitäten.

Der Revolutionsprozeß erschöpfte sich nicht in der großen französischen Revolution: es folgte eine Reihe von Revolutionen, und wir stehen immer noch inmitten dieser merkwürdigen Entwicklung, denn im Weltkrieg und aus dem Weltkrieg entstanden gleichfalls Revolutionen. Das haben die Hüter des alten Regimes eben nicht erwartet. Der Revolutionismus wurde zur dauernden Erscheinung auf allen Gebieten, nicht nur in der Politik. Möglich, daß wir im Weltkrieg nicht nur das alte Regime überwunden haben, sondern auch den revolutionären Übergangszustand.

Das Ideal der großen Revolution war die Humanität; das bedeutete sittlich: Sympathie und Respekt eines jeden Menschen vor dem andern Menschen, Anerkennung der menschlichen Individualität; der Mensch darf vom Menschen nicht als Mittel benutzt werden. Politisch und sozial bedeutete dies die Gleichheit aller Bürger im Staate und die Annäherung und Vereinigung der Nationen und Staaten und dadurch der großen Menschheit.

Rechtlich glaubte man an die Existenz des gleichen Naturrechtes auf Freiheit und Gleichheit, das jedem Einzelmenschen und allen kollektiven Gesamtheiten, namentlich den Nationen, zuerkannt wurde. Diese Idee des Naturrechtes ist alt, wir erbten sie von den Griechen und Römern, sie wurde durch die Kirche und die Kirchen geheiligt. Der Inhalt des Naturrechtes wurde nach und nach politisch und sozial formuliert.

Mit dem Humanitätsideal eng verbunden war die Aufklärung, die lebendige Sehnsucht nach Erkenntnis und Bildung; daher stammen im letzten Jahrhundert die allgemeine Anerkennung der Wissenschaft und die Versuche um eine neue, auf den Wissenschaften gegründete Philosophie, daher das fortgesetzte Streben nach Organisierung des Schulwesens, nach allgemeiner Bildung, nach obligatorischer Schulbildung, nach der sogenannten Popularisierung der Wissenschaft, das Aufblühen der Journalistik, der Publizistik, der Presse überhaupt.

Die Revolution und die großen Wandlungen in Denken und Leben ließen die Idee und das Ideal des Fortschrittes auf allen Gebieten des menschlichen Strebens und Handelns sich einbürgern, den Glauben, daß die Nationen und die ganze Menschheit aus eigener Kraft allmählich eine höhere und die höchste Stufe der Vollkommenheit und Zufriedenheit erreichen.

Das sind, wie mir scheint, die leitenden Ideen des europäischen Westens. Ich sage des Westens, obgleich ich vielleicht vor allem an Frankreich denke, denn der Westen – Frankreich und die benachbarten Nationen, England und Amerika, Italien und die anderen romanischen Nationen – bildet ein Kulturganzes, wie die Geschichte der gegenseitigen Einflüsse der westlichen Nationen und ihre politische Entwicklung klar zeigen.

Wenn ich dies mit wenigen Worten charakterisieren sollte, würde ich sagen: Im Mittelalter war die Menschheit (ich weiß, daß mit der Menschheit das Europa des ehemaligen römischen Imperiums gemeint ist) von der katholischen Theokratie extensiv organisiert; durch die Reformation und die Revolution entsteht die Demokratie, ein intensiver Versuch einer Organisation dieser Menschheit. Ich stelle die Demokratie gegen die Theokratie. Wir befinden uns in einer Übergangszeit – im Übergange von der Theokratie zur Demokratie auf humanitärer Grundlage.

87.

Zum europäischen Kulturganzen gehörte im Mittelalter auch Deutschland. Aber in neuer Zeit unterschied und isolierte es sich kulturell immer mehr und mehr. Der durch die Reformation gestärkte preußische Staat war seit Beginn expansiv und beherrschte Deutschland. Auch im Westen herrschte in hohem Grade der sogenannte Etatismus, aber dort wurde der Staat ein Organ des Parlaments und der öffentlichen Meinung. In Deutschland erlebte der monarchische Staat geradezu Vergötterung und sein Absolutismus allgemeine Anerkennung – erst am Ende des Weltkrieges entschied sich der König von Preußen als Deutscher Kaiser für die Parlamentarisierung Deutschlands. Preußen und Deutschland waren eigentlich der organisierte Cäsarismus; gewiß waren Friedrich der Große, Bismarck und die beiden Wilhelm, allerdings zum Unterschied von Napoleon, sonderbare, zaristische Cäsaren. Das Wort Zar entstand zwar aus Cäsar, aber welch ein Unterschied in Wort und Begriff! Der Soldat, der preußische Offizier wird für die Deutschen zum Maßstab der gesellschaftlichen Organisation, ja, der Welt. Der Soldat und der Krieg werden zur regelrechten Institution. Die Reformation, der klassische Humanismus, Wissenschaft, Kunst und Philosophie haben hier die Theokratie nicht so gründlich beseitigt wie im Westen; das deutsche Volk übernahm die Reformation nur zur Hälfte, die deutsche Reformation (das Luthertum) paßte sich dem Katholizismus an – es entstand eine Art von Cäsaropapismus, wenn auch unterschieden vom russischen Cäsaropapismus.

Die Humanitätsideale Lessings, Herders, Goethes, Kants, Schillers, die aus der westlichen und weltlichen Entwicklung und der Zusammenarbeit mit ihr geschöpft sind, wurden durch pangermanischen Imperialismus ersetzt. Berlin–Bagdad bedeutet das Streben, die Herrschaft über Europa und dadurch über Asien und Afrika zu erringen. Schon darin ist ein Ideal der alten Welt zu erblicken: Deutschland setzt das Ideal des römischen Imperiums auch geographisch fort und hegt es. Demgegenüber ist das westliche Ideal auf die Organisierung der ganzen Menschheit gerichtet, vor allem auf die Verbindung Europas und Amerikas und damit der übrigen Weltteile, der ganzen Menschheit: extensive und intensive Humanität. Im Weltkrieg wurde diese Vereinigung erzielt.

Der Pangermanismus erkannte die Rechte der Nationen auf Selbständigkeit nicht an, er wollte der erste und einzige Führer und Herr aller sein. In seiner Expansität verkündete er, ideal sei der vielnationale Staat. – Österreich-Ungarn wurde dann neben Deutschland der lebendige Beweis eines solchen Staates; allerdings will ich keineswegs den russischen Staat vergessen, der in so hohem Maße nach dem preußischen Vorbild geformt war. Die Alliierten proklamierten das Recht auf Selbständigkeit für alle Staaten, nicht bloß die großen, sondern auch die kleinen; die Folge dieses Programms ist der Völkerbund, in dem die demokratischen Ideale gipfeln, wie sie in Amerika formuliert und teilweise schon verwirklicht wurden.

Die Deutschen lehnten das Naturrecht ab und ersetzten es durch das historische Recht. Zwar wurde Kant als führender Philosoph anerkannt, seine Neigung zum Naturrecht und zu Rousseau aber als Humanitätsideal zurückgewiesen. Der Darwinismus kam dem historischen Recht für die Theorie der mechanischen Evolution zu Hilfe, die dem Stärksten den Erfolg verbürgt: Krieg und Kriegführung werden eine göttliche Einrichtung. Der preußische Militarismus benutzte die Theorie des englischen Naturforschers zur Stärkung seines militärischen Aristokratismus, der als Hauptdogma der sogenannten »Realpolitik« verkündete, daß jegliches Recht aus Macht und Kraft geboren werde, und Macht und Kraft wurden in der Regel mit Gewalt identifiziert Einen Beweis für die pangermanische Identifizierung von Macht und Gewalt gibt Prof. Schäfer in »Staat und Gesellschaft« 1922 (also noch nach dem Kriege); er führt aus, das Recht sei bloß Ausdruck der Machtverhältnisse, besonders das öffentliche Recht (Seite 264); aber unter der Hand wird die Macht ihm zur Gewalt: »Die Sache ist nicht anders, Gewalt und Macht können Recht schaffen« (Seite 264).. Das deutsche Volk wurde zum Herrenvolk erklärt.

88.

Die Deutschen haben mitunter selbst den Unterschied zwischen dem neuen und dem alten Deutschland in den Schlagworten formuliert: Weimar–Potsdams? Goethe–Bismarck? Kant–Krupp?

Die Verpreußung ganz Deutschlands geschah in erster Linie politisch; die preußische Theokratie nützte den Verfall des deutschen Kaisertums, dieses Überrestes der katholischen Theokratie, aus und beherrschte Deutschland und Österreich durch ihre feste und einheitliche militärische und administrative Organisation. Allmählich kontrollierte das Preußentum alle Kulturbestrebungen und machte aus Deutschland ein Reich der äußeren Ordnung, wie ich es im »Neuen Europa« gekennzeichnet habe.

Die Folgen der Verpreußung äußern sich nicht nur in der Politik, sondern auch in der deutschen Philosophie, Wissenschaft, Kunst und allerdings auch in der Theologie. Sobald die in der Nation führenden Männer und Stände anfangen, auf Macht und Gewalt zu bauen, verkümmert die Sympathie, die Menschen verlieren das Interesse, die Gefühle und Gedanken ihrer Nächsten oder gar fremder Menschen kennenzulernen, denn für all ihren Verkehr mit ihnen genügt der staatliche Mechanismus, das Kommando, die Faust; man hört auf, frei zu denken, die Gelehrsamkeit ohne lebendige Ideen kommt auf.

Das erklärt die großen Irrtümer und Fehler der deutschen Geschichte und des deutschen Denkens vor dem Kriege und während des Krieges; Bismarck und sein gewalthaberischer Umgang mit den ihm nahestehenden Menschen ist der Typus des herrschsüchtigen Preußen. Schematisch möchte ich (nach den vorangegangenen Darlegungen sei es mir gestattet) die Entwicklung folgendermaßen veranschaulichen:

Goethe–Kant–Friedrich der Große
__________________________
Hegel
___________________________________________________________________
Moltke-Bismarck–(Wilhelm II.)–Lagarde–Marx–Nietzsche

In Hegel erblicke ich die Synthese von Goethe und Kant und die Vorwegnahme Bismarcks; er übernahm die preußische Staatsidee als Hauptausdruck der Nationalität und Führerin der ganzen Gesellschaft; mit seinem Pantheismus und seiner Phantastik bildet er den Übergang von Goethe und Kant und ihrer Weltidee zum Preußentum, zu seinem Mechanismus, Materialismus und seiner Gewaltsamkeit. Hegel war nicht umsonst ursprünglich Theolog, – er formulierte auch in dieser Hinsicht die Grundsätze der preußischen Theokratie; Bismarck und Wilhelm priesen stets Gott, allerdings den preußischen Gott. Hegel diente mit seinem »absoluten Idealismus« dem Autoritarismus des preußischen Staates, verließ die Humanität und Welteinstellung Goethes und Kants und schuf die Grundlage für die theoretische und praktische Gewaltpolitik. Bismarck und der Bismarckismus absorbierten Goethe, – der preußische Staat wurde zum unfehlbaren Lenker der Nation und ihres geistigen und kulturellen Strebens.

Marx wendete, nachdem er die Philosophie Feuerbachs durchlaufen hatte (»Der Mensch ist, was er ißt«), Hegels Pantheismus und absoluten Idealismus in Materialismus und übernahm den Mechanismus der preußischen Organisation und Staatlichkeit (die allmächtige Zentralisation), wenn er auch die wirtschaftlichen Verhältnisse dem Staate überordnet. Daß im Weltkrieg die deutschen Marxisten trotz ihrem Sozialismus und ihrem Revolutionismus kritiklos die preußische Politik mitmachten und so lange sich mit den Pangermanen verbanden, ergab sich aus dieser methodischen und taktischen Verwandtschaft. Die undemokratische Anschauung von der Notwendigkeit großer wirtschaftlicher Komplexe entspricht dem preußischen Übermenschentum. Marx selbst urteilte über die slawischen Völker nicht anders als Treitschke oder Lagarde.

Nietzsche flüchtete sich aus der Vereinsamung des Solipsismus zum darwinistischen Recht des Stärkeren – die »blonde Bestie« soll die Herrschaft und zugleich Kirche einer neuen Aristokratie gründen, die christliche Theokratie durch die Theokratie des Übermenschen ersetzt werden. Den Gegensatz Goethe–Bismarck, Kant–Krupp verstehe ich nicht im Sinne des parsistischen Dualismus, – auch bei Goethe und Kant fände ein Psycholog einige Charakterelemente preußischer Realpolitik.

Der richtige deutsche Gegensatz wäre Beethoven–Bismarck! In Beethoven erblicke ich den gar nicht verpreußten Genius: sein künstlerisches Werk hat seinen Ursprung in reiner, echter Begeisterung, es geht vom Herzen zum Herzen, wie Beethoven selbst gelegentlich gemeint hat. Die Neunte Symphonie ist ein Hymnus der Menschlichkeit und der Demokratie – erinnern wir uns, wie Beethoven den Olympier von Weimar geradezu angeschnauzt hat, weil dieser vor den Mächtigen dieser Welt sich verbeugte. Und der einzige »Fidelio«! Nur bei Shakespeare finden wir eine ähnliche starke Liebe von Mann und Frau; in der ganzen Weltliteratur gibt es kein Beispiel so starker und reiner Gattenliebe, – bisher behandeln selbst die besten Dichter den romantischen Zustand der vorehelichen Liebe. Und in der »Missa Solemnis« gab Beethoven sein inbrünstiges religiöses Credo, den Glauben des modernen Menschen, der sich aus den ererbten Kirchenformen in Höhen erhebt, wie sie nur die reifsten Geister unserer Zeit ahnen, – obgleich ihm Haydn, allerdings freundschaftlich, vorgeworfen hatte, nicht an Gott zu glauben ...

Neben Beethoven möchte ich seinen großen Lehrmeister Bach und dessen religiöse Musik stellen, in der Philosophie aber Leibniz anführen. Das Bestreben Leibniz', die Kirchen zu verschmelzen, ergibt sich natürlich aus seinem monadologischen System, aus seinem Grundbegriff der All-Harmonie; die pangermanischen Chauvinisten sehen in diesem humanitären Bestreben die Wirkung des in Leibniz fließenden slawischen Blutes. Ich sehe in Leibniz die Fortsetzung des Platonismus, wenn sie auch schon starke Keime des Subjektivismus enthält, der durch Kant und seine Nachfolger eine Übertreibung erfuhr.

Ich bedauere, musikalisch nicht genug gebildet zu sein, um den deutschen Geist in der glänzenden Reihe großer Musiker – Bach, Händel, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann – aufspüren zu können. Allerdings erhielt das Preußentum auch musikalischen Ausdruck – Richard Wagner ist eine geniale Synthese von Dekadenz und Preußentum.

Die großartige, schöne und edle deutsche Musik errang nicht fest genug die Herzen der Völker – die Verpreußung wirkte mächtiger.

89.

Das deutsche Denken nach Kant geriet, übrigens in bedeutendem Maße schon durch Kant, auf Abwege. Kant bekämpfte die Einseitigkeiten des englischen Empirismus, vor allem Humes Skepsis durch den einseitigen Intellektualismus einer angeblich reinen schöpferischen Vernunft; er konstruierte ein ganzes System apriorischer ewiger Wahrheiten und eröffnete damit all die Phantastik des deutschen Subjektivismus (Idealismus), der notwendig zur solipsistischen Vereinsamung und zum Egoismus, zum aristokratischen Individualismus und gewaltsamen Übermenschentum führt; vor der Skepsis, die aus seiner Abneigung gegen Theologie und Metaphysik entstanden war, kehrte Kant – auch darin nach Humes Beispiel – schließlich zur Ethik zurück und baute eine im ganzen Wesen sittliche Weltanschauung aus, aber seine Nachfolger hielten sich an seinen Subjektivismus und ergaben sich unter dem Namen verschiedener Idealismen der willkürlichen Konstruktion der ganzen Welt.

Dieser metaphysische Titanismus führte die deutschen Subjektivisten notwendig zu sittlicher Vereinsamung; die Phantastik Fichtes, Schellings gebar den Nihilismus und Pessimismus Schopenhauers: die Titanen ärgern sich, ironisieren – Ärger mit Ironie und Titanentum sind eine contradictio in adjecto – und verzweifeln schließlich. Hegel und Feuerbach suchen Zuflucht bei der Staatspolizei und im Materialismus, durch den sie der metaphysischen Phantastik entgehen; sie ordnen sich dem preußischen Feldwebeltum unter, dem schon Kant durch seinen kategorischen Imperativ einen starken Ausdruck gegeben hat. Die deutschen Universitäten werden geistige Kasernen dieses philosophischen Absolutismus, der in der Idee des von Hegel vergötterten preußischen Staates und Königtums gipfelt; Hegel baut dem Staatsabsolutismus unter dem Titel von Dialektik und Evolution einen Macchiavellismus aus, der auf die Nichtanerkennung des Prinzips der contradictio gegründet ist. Das Recht wird von Macht und Gewalt abgeleitet. Nietzsche und auch Schopenhauer verwerfen diese Entwicklung, doch nur in Worten, in Wirklichkeit wird gerade Nietzsche zum philosophischen Propheten der Hohenzollernschen Parvenüs und des pangermanischen Absolutismus.

Hegel proklamiert nicht nur die Unfehlbarkeit des Staates, sondern auch das Allheil des Krieges und des Militarismus; Lagarde und seine Anhänger konzipieren dann die Philosophie und Politik des Pangermanismus – und sie war es, die in Frankreich geschlagen wurde. Mit den preußischen Regimentern fiel auch die Philosophie, die verkündet hatte: Rottet aus die Polen (v. Hartmann), zertrümmert die harten Schädel der Tschechen (Mommsen), unterdrücket die dekadenten Franzosen und die hochmütigen Engländer, – der preußische Pangermanismus wurde durch den Krieg widerlegt. Auf die Frage: Goethe oder Bismarck, Weimar oder Potsdam gab der Krieg die Antwort.

Indem ich die Einseitigkeit des deutschen Denkens, wie es mit Kant begann, ablehne, sage ich nicht, die deutsche Philosophie, alles deutsche Denken sei zweifelhaft, ich sage nicht, es sei schwach, oberflächlich, uninteressant; nein, es ist eine interessante und tiefe Philosophie, aber darum tief, weil sie nicht frei sein konnte und es nicht war. Es ist eine Scholastik wie die mittelalterliche, bedingt durch das fertige, von vornherein festgesetzte Credo. So wie der preußische Staat und überhaupt das Preußentum ist die deutsche Philosophie, der deutsche Idealismus absolutistisch, gewaltsam, unwahr und verwechselt die Größe der frei verbindenden Menschlichkeit mit dem kolossalen und in seiner Art grandiosen Bau eines babylonischen Turmes.

90.

Den Gegensatz Goethe–Bismarck empfand ich in meiner eigenen Entwicklung sehr stark. Seit dem Gymnasium besuchte ich deutsche Schulen, schrieb und veröffentlichte eine Reihe meiner Arbeiten in deutscher Sprache und kannte gut die deutsche Literatur; sie war mir zugänglicher als die anderen Literaturen, und Goethe wurde einer meiner ersten und wichtigsten literarischen Lehrmeister; neben Goethe kultivierte ich Lessing, Herder und etwas Immermann. Schiller liebte ich mehr als Menschen und Charakter, liebte ihn in dieser Beziehung tiefer als Goethe, aber als Dichter, Künstler und Denker war mir Goethe lieber. Dessen maßloser Egoismus ist eine goldene Brücke zum preußischen Pangermanismus. Schon aus diesen Namen ersieht man, daß ich die deutsche Romantik, der ich allerdings nicht ausweichen konnte, nicht annahm wie die französische, und warum sie mir nicht ein grundlegendes Kulturelement, sondern eher ein Übergangselement war. Mich stieß auch ihr Restaurations-, ja reaktionäres Streben ab.

Die neue Literatur verfolgte ich, las ziemlich viel und studierte namentlich im Theater die Entwicklung des Dramas, aber die neuere englische und französische Literatur war mir lebensnotwendiger. Sie enthalten mehr für den modernen Menschen.

Von Goethe empfing ich für alle Literaturen – auch für die unsere – den Maßstab, den er durch die Forderung und das Programm einer Weltliteratur festgesetzt hat; und sein Hauptwerk, der »Faust«, stellt durch seine wahre Analyse des modernen Menschen und speziell des deutschen Menschen seinen Nachfolgern in Deutschland und überall die wichtige und führende Aufgabe: den Faustismus zu überwinden. Künstlerisch zu überwinden, was Kant philosophisch gewollt hat; die Skepsis, den Subjektivismus, den Pessimismus und die Ironie zu überwinden; das gewaltsame Übermenschentum zu überwinden. (Das Wort »Übermensch« ist wohl von Goethe oder durch ihn eingebürgert.)

Die deutschen Literarkritiker datieren die moderne Literatur seit Hebbel, und dies mit Recht. Hebbel analysiert die nachrevolutionären Zustände, wächst in der Zeit der Reaktion auf und durchschaut sie; er unterliegt ihr insofern, als er allzu hegelisch den Staat überschätzt, dem sich das Individuum – überflüssig – opfert; er faßt den Staat eben hegelisch auf und sympathisiert darum auch nicht mit der Revolution (1848), obgleich er selbst gegen die damalige Gesellschaft stark revoltiert, – allerdings fühlt man in seiner Revolte eine gewisse Unentschiedenheit. Er beobachtet gut die sozialen Probleme der Zeit und des moralischen Umbruchs, der sich in der Aristokratie und der bürgerlichen Gesellschaft vollzieht; viel denkt er über den Selbstmord nach; das Problem des Weibes und seiner Beziehung zum Manne, das Problem der Liebe, führt er in mannigfachen Formen vor. Aber gerade hier zeigt sich die seltsame Unentschiedenheit: er lehnt die alten Anschauungen vom Weibe ab, fürchtet jedoch gleichzeitig, in das Extrem der Emanzipationsbewegung zu fallen.

Diese Unentschiedenheit ist allerdings das Los der Übergangszeit und kommt bei Hebbel nicht bloß in seinen Ansichten, sondern auch in seiner Kunst zum Vorschein. Er ist ein entschlossener Dramatiker, ein dramatischer Realist, trägt aber noch ein bedeutendes Element von Romantik in sich, er gefällt sich geradezu in allem Ungewohnten, Problematischen. Charakteristisch ist für ihn, wie er historischen Gestalten (Judith!) neuen Sinn und neue Auslegung verleiht. Die künstlerische Unentschiedenheit kann man in seiner Lyrik beobachten: er gibt Verse, doch enthalten sie keine rechte lyrische Poesie, sondern zu viel Reflexion. Man kann ihn darin nicht mit Goethe vergleichen. Überhaupt interessierte mich das Verhältnis Hebbels zu Goethe; vor allem, wie er den Titanismus im Holofernes, Herodes usw. sozusagen verstaatlicht hat. Eine enge, grobe, ich möchte sagen preußische Anschauung. Was die Form betrifft, so scheint er Goethe nachgeahmt zu haben. Wenigstens näherte er sich in seinen späteren Dramen künstlerisch der »Iphigenie«, dem Klassizismus.

Mit Hebbel habe ich mich auch ziemlich viel befaßt, weil er in Wien gelebt hat, wo ich noch frische Erinnerungen an sein Wirken vorfand. Mir schien es, als könnte man gerade an diesem Norddeutschen den unheilvollen Einfluß Österreich-Wiens wahrnehmen. In Wien wurde ich durch das Theater auf die österreichischen Dichter gebracht, besonders auf Grillparzer: an ihm läßt sich das Metternichsche Österreich und sein verhängnisvoller Einfluß auf große Menschen studieren. Die Autobiographie Grillparzers stellt eine dokumentarische Bestätigung dar. Übrigens gilt das auch für unseren deutschen Landsmann Stifter. Dieses Österreich sah ich in Raimund, Bauernfeld und Anzengruber – das Wienertum in Nestroy –: alle schrieben sie mit den österreichischen Fesseln an den Händen. Grillparzer empfand Wien als Capua der Geister, für Anzengruber war Österreich der Mörder dieser Geister.

Von österreichischen Dichtern fesselte mich Lenau sehr, besonders seine Gestaltung des Faust. Mich interessierte an den österreichischen Dichtern, wie sie sich von den tschechischen dramatischen Themen anziehen ließen (bei uns wurde gegen Grillparzer und Hebbel polemisiert). Hamerlings dekadenten Epen widmete ich Aufmerksamkeit.

Es versteht sich von selbst, daß ich Gutzkows, Spielhagens und andere damals verbreiteten Romane gelesen habe; eine gewisse Vorliebe hatte ich für A. Stern und seine späteren Romane, in denen er das verpreußte neue Deutschland nach 1870 und seine Ideallosigkeit treffend kritisiert. Ich hatte die sogenannten Realisten Otto Ludwig, Hermann Kurz gern; Gustav Freytag gefiel mir nicht.

Heine interessierte mich sehr, aber eher politisch. Ich möchte hier auch Börne und die jungdeutschen Radikalen hinzufügen.

Ich gebe nicht eine Übersicht der neueren deutschen Literatur, sondern charakterisiere nur im Groben mein Verhältnis zu ihr. Unter dem preußischen und habsburgischen Absolutismus, namentlich unter Metternichs Regime nach der Revolution, entfaltete sich keine freie, befreiende Literatur; die stärksten Talente unterlagen der Reaktion (Hebbel) oder wurden durch sie gebrochen (Grillparzer); den kleineren Malkontenten genügten zu oft die scholastischen Proteste und Revolutionen à la Stirner und Nietzsche; Heine flüchtete sich nach Frankreich, Richard Wagner versöhnte sich mit dem Imperialismus und seinem äußeren Glanz. Schließlich übernahm dann die spätere Literatur zu leicht den neuen und neuesten Kurs oder duckte sich in apolitischer Zurückgezogenheit; der preußische Sieg blendete alles.

Die Übertreibungen und Geschmacklosigkeiten des deutschen Naturalismus, dann des Dekadentismus, der Moderne, des Symbolismus und wie diese literarischen Kategorien genannt werden mögen, die Zusammenhanglosigkeiten des Impressionismus und gar der schwächliche Größenwahn des sogenannten Expressionismus entsprechen der sittlichen Krise und dem Verfall der neuen Gesellschaft nach 1870. Die neue deutsche Literatur verfolgte ich schon in Prag; der beständige Vergleich mit unserem tschechischen Schaffen und mit den Literaturen der Franzosen, Engländer, Amerikaner, Skandinavier und Russen überzeugten mich von der wirklichen Krise der deutschen Kultur, von ihrem Bruch, ihren Unzulänglichkeiten, ihren Schwächen. Daher die auffallenden Einflüsse der Skandinavier, Russen und Franzosen; dazu die fortwährenden Versuche einer Rückkehr zu den Älteren, namentlich zu Goethe. Gerhart Hauptmann repräsentiert mir dies schwächlich-starke Streben. Eine gute Analyse dieser deutschen Kinder ihrer deutschen Väter bietet Jakob Wassermann in seinem Vorkriegsroman »Die Masken Erwin Reiners« oder nun einer der Expressionistenführer, Kasimir Edschmid.

Der Expressionismus ist eben vorwiegend deutsch; das ist der deutsche Subjektivismus und daher von vornherein verurteilt. Die Expressionisten sind nichts anderes als Interpreten des Kantismus, resp. des Neukantismus und des Subjektivismus à la Nietzsche. Der Expressionismus, wie ihn Hermann Bahr schildert, erschafft die Welt; der expressionistische Dichter und Kritiker Paulsen (es ist kaum ein Zufall, daß er ein Sohn des Kantianers Paulsen ist) legt uns dar, der Dichter trage in sich die fertigen Formen (Kants Ausdrucksweise!), die Welt gebe ihm nur das Korn, aus dem in der Seele die Bäume und die ganze Welt emporwachsen. Also ein Subjektivismus mit all seiner absurden Gewaltsamkeit. Paulsen sagt mit Recht, daß der Expressionismus im Wesen deutsch sei.

Und ich füge den Deutschen kein Unrecht zu, wenn ich sage, daß ihre Literatur während des Krieges die chauvinistischste war, quantitativ und qualitativ, ganz wie die deutsche Publizistik und Journalistik zum Kriege treibend – in Berlin nicht anders als in Wien und Budapest. Stilgebauer (ich las ihn in englischer Übersetzung), ferner Unruh und wenige andere bildeten eine Ausnahme, die auch von Förster, Schücking, Nippold, Grelling repräsentiert wurde.

Als Einzelheit will ich anführen, daß ich absichtlich die elsaß-lothringische Schule verfolgt und mich interessiert habe, wie sich an ihr (z. B. bei Flake) der Einfluß der französischen Nachbarn äußert. Sie gibt eine sonderbare Kombination von Pariser Dekadenz und Gelehrtheit eines »Privatdozenten«.

91.

In meiner ersten Arbeit »Der Selbstmord als gesellschaftliche Massenerscheinung der modernen Zivilisation« (1881) habe ich eine Erklärung der überraschenden und furchtbaren Tatsache versucht, daß in neuer Zeit, seit Ende des XVIII. Jahrhunderts, überall in Europa und Amerika, und gerade bei den gebildeteren und gebildetsten Nationen, die Zahl der Selbstmorde zunimmt; und das bereits in solchem Maße, daß von Selbstmord als einem pathologischen Zustand der modernen Gesellschaft gesprochen werden muß. Diese Selbstmordneigung des modernen Menschen hängt mit der zunehmenden Psychose zusammen.

Durch eingehende Analyse der Ursachen und Motive der einzelnen Selbstmorde wurde ich zur Erkenntnis gebracht, daß die Hauptursache, die zum Selbstmorde disponiert macht und oft den Selbstmordentschluß herbeiführt, in der Schwächung des Charakters infolge Verlustes der Religiosität liegt. In historischer Perspektive äußert sich der moderne Selbstmord und die Psychose als Ergebnis des Übergangscharakters, der Unfertigkeit der neuen Weltanschauung und der auf ihr beruhenden unzulänglichen Organisation der Gesellschaft.

Die mittelalterliche katholische Theokratie hatte in der ganzen christlichen Welt eine einheitliche Weltanschauung und das ihr entsprechende staatliche und politische Regime befestigt; aber die katholische Theokratie ist in neuer Zeit – und dadurch ist sie neu! – in Verfall geraten und verfällt noch: die wissenschaftliche, philosophische und künstlerische Revolution, die religiöse Revolution, die politische und die soziale Revolution charakterisieren den Übergang vom Mittelalter. Hume und Kant, die Skepsis und der Versuch, sie zu überwinden, sind beide Interpreten der neuen Zeit. Und die Zeit ist offenkundig eine Übergangszeit, ein Stadium geistiger und sittlicher Anarchie: die dauerhafte, allgemein anerkannte kirchliche Autorität ist gesunken und mußte infolge ihres Absolutismus, ihrer verfrühten, künstlichen und gewaltsamen Aufrichtung der allgemeinen Weltanschauung und des politischen Regimes sinken. Gegen diesen geistigen Absolutismus erhob sich auf der ganzen Linie die Revolution in der Kirche selbst und außerhalb der Kirchen. Der allgemeine consensus, die Katholizität, die dauernde Katholizität können nicht diktiert, nicht erzwungen werden, sie müssen in freier Verständigung auf Grund von Erfahrung und Vernunft herbeigeführt werden. Der Unfehlbarkeit, dem Absolutismus und dem Inquisitentum widersetzte sich der Mensch und revoltierte; der revolutionäre, übertriebene Individualismus und Subjektivismus entwickelte sich, der zum Solipsismus und Egozentrismus führt, d.i. zur geistigen und sittlichen Vereinsamung, zur allgemeinen Anarchie an Stelle der früheren Katholizität: Skepsis, Kritik, Ironie, Negation und Unglauben verdrängten Glauben und Gläubigkeit. Der Mensch wurde friedlos, unruhig, unbeständig, nervös; bei hoher, oft künstlich gesteigerter Energie verfiel er in Utopismus, beim beständigen Suchen und Handeln erlitt er Enttäuschung über Enttäuschung; der Idealist stürzte sich in Genußsucht, fand aber keine Beruhigung; nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch verbreitete sich der Pessimismus – Freudlosigkeit und Unzufriedenheit, Ärger und Verzweiflung, und daher stammen die Müdigkeit, die Nervosität, die Psychose und die Selbstmordlust.

Die moderne Gesellschaft ist, psychologisch beurteilt, pathologisch gereizt, zerrissen, zerspalten – gerade in ihrem Übergang und in der Umbildung; in der Zahl der Selbstmorde finde ich geradezu den arithmetischen Maßstab dieser seelischen und zugleich sittlichen und physiologischen Krankhaftigkeit. Die Selbstmordzahl erreicht jetzt in Europa und in Amerika jährlich rund 100 000. Charakteristisch ist die zunehmende Zahl der Kinderselbstmorde. Rechnen wir die Opfer der Selbstmordlust für diejenigen zusammen, auf die nur hohe Ziffern wirken, so ergeben sich in 10 Jahren eine Million, in 50 – fünf Millionen! Und da sind wir von der Statistik der Kriege und selbst des Weltkrieges entsetzt? Ist die Verzweiflung über sich und das Leben, ja der Selbstmord auch nur eines einzigen Kindes weniger tragisch und für das Leben des Menschen und der Kulturnationen weniger bedeutungsvoll, als die Opfer des Krieges? Was ist das für eine Gesellschaft, wie ist ihre Organisation beschaffen, wie ihr menschlicher Zustand, wenn sie dies ruhig und gleichgültig erträgt?

Eine vollständigere Analyse des Selbstmordproblems enthält mein Buch.

Psychisch ist der Mord und die Mordlust der Gegensatz von Selbstmord und Selbstmordlust; der Selbstmord ist Gewalt der in sich gekehrten und egozentrisch sich subjektivierenden Seele, der Mord Gewalt der Seele aus sich hinaus, abnormale Objektivierung. Der subjektivistische Individualismus, der sich zum Solipsismus und zu titanischer Gottähnlichkeit steigert, ist dem Menschen unerträglich. Am Ende vergewaltigt er entweder sich selbst oder den Nächsten: Selbstmord und Mord sind eine Steigerung dieser Gewaltsamkeit.

Der neuzeitliche Militarismus, besonders der preußische, ist ein wissenschaftliches und philosophisches System der Objektivierung, eine gewaltsame Flucht krankhafter Subjektivität und Selbstmordlust. Ich sage, der moderne Militarismus; denn die Kampflust des Wilden, des Barbaren und noch des mittelalterlichen Ritters und Söldners ist psychologisch und sittlich ganz etwas anderes, als das wissenschaftlich durchdachte militaristische System des modernen absolutistischen Staates: der Wilde und Barbar kämpft aus ursprünglicher Wildheit, Herrschsucht, Not, Hunger, – im Weltkrieg lagen Schüler Rousseaus und Kants, Goethes und Herders, Byrons und Mussets im Schützengraben! Wenn Sombart den deutschen Militarismus im Geiste Hegels lobpreist und sich mit den in den Gräben kämpfenden Fausts und Zarathustras brüstet, so begreift er nicht, wie blutig er die deutsche und europäische Zivilisation verurteilt! Das Kriegführen dieser modernen zivilisierten Menschen ist eben die gewaltsame Flucht vor den Ängsten, die im übermenschlichen »Ich« erstehen; deshalb stand gerade die Intelligenz, was Kampflust betrifft, den Landleuten und Arbeitern nicht nach, im Gegenteil, die Intelligenz ging im Kriege voran. (Dessen wurde ich mir zum erstenmal bewußt, als ich die serbische Intelligenz in den Balkankriegen gesehen habe; in der serbischen Armee ragt der Intelligent, der Offizier, auffallender hervor, ähnlich in der russischen.) Im modernen Kriege stehen die Gegner sich nicht Auge in Auge gegenüber, der Kampf ist nicht mehr wie ehemals, man vernichtet sich auf Entfernung, abstrakt, ohne daß ein Gegner den anderen sieht, man tötet sich aus einer Idee heraus und in der Idee – der deutsche Idealismus, übertragen in die Kruppsprache! Deshalb wird auch der Verteidigungskrieg, der moralisch allein zulässig ist, unsympathisch, und die Erziehung des demokratischen Soldaten und Heeres ist eine so schwere Aufgabe der Demokratie: der Soldat sei bewußt nur der Verteidigung ergeben, nicht der gewaltsamen Eroberung und Unterwerfung, und dennoch tapfer und entschlossen, sein Leben zu opfern. Der Militarismus und der moderne Krieg sind der von Rousseau geforderte Naturzustand, Comtes Rückkehr vom Positivismus zum Fetischismus, die Sehnsucht der Romantiker nach dem vernunftlosen, animalischen, vegetativen Leben ... Weder der große Theoretiker der modernen Demokratie, der Begründer des Positivismus, noch die Romantiker bemerkten, daß der Naturzustand, der Fetischismus und die Animalität die barbarische Mordlust und bellum omnium contra omnes bedeutet. Der Naturmensch kennt nicht den Selbstmord aus moderner Müdigkeit, Nervosität und taedia vitae, er bringt sich höchstens in einzelnen Fällen aus Zorn über ihm angetane Kränkung oder einen Fehlschlag seiner Energie um; der moderne Mensch leidet an krankhafter Selbstmordlust aus Energielosigkeit, aus Ermüdung, aus Angst, die der geistigen und moralischen Vereinsamung entspringt, aus unfruchtbarem Größenwahn, aus Übermenschentum. Der Militarismus ist ein Versuch des Übermenschen, dieser seiner Krankhaftigkeit zu entkommen, ist aber nur ihre Steigerung. Das Volk der Denker und Philosophen weist die größte Anzahl von Selbstmorden auf, es hat den vollkommensten Militarismus und verursachte den Weltkrieg.

Aus dem psychologischen Gegensatz von Selbstmord und Mord wird begreiflich, daß während des Krieges die Anzahl der Selbstmorde überall sinkt, namentlich in den siegreichen Ländern; die Aufmerksamkeit sammelt sich auf den Kampf, die Menschen objektivieren sich dadurch.

Ich vermute, daß die Verknüpfung der modernen Selbstmordlust mit dem preußischen Militarismus seine Richtigkeit hat und die Psychologie des modernen Menschen richtig kennzeichnet. Bedenken wir die Sache noch einmal.

Der Weltkrieg war ein Völkerkrieg. Nicht die alten ständigen Armeen, sondern neue Armeen, die aus der allgemeinen Wehrpflicht hervorgegangen waren, vor allem Reservearmeen, die Völker selbst standen einander gegenüber. Soldaten aus Beruf gab es wenige; gewiß waren die Kaiser und die Heerführer noch, wie man zu sagen pflegt, Soldaten von altem Schrot und Korn und ebenso ein Teil der Mannschaft. Aber dadurch, daß der Weltkrieg von den Massen geführt wurde, hatte der Krieg seine besondere Eigenart, kamen die Eigenschaften der kriegführenden Nationen zur Geltung. Der Charakter des Krieges hängt vom Charakter des Soldaten ab. Wenn der Krieg, wie die Pazifisten uns sagen, alle bösen Triebe freimacht, Zorn, Haß und Mordlust, so entstanden diese Eigenschaften gewiß nicht erst im Kriege, sondern charakterisierten die Nationen schon vor dem Kriege; die Teufel vom Jahre 1914 waren im Jahre 1913 keine Engel. Der Weltkrieg hatte, wie gesagt, einen abstrakten, wissenschaftlichen Zug, die Gegner standen sich nicht Auge in Auge gegenüber, es gab keinen Bewegungs-, sondern einen Stellungskrieg, die Menschen erschlugen einander, ohne einander zu sehen. Das Übergewicht der wissenschaftlichen Kriegsindustrie und die mathematische Verwendung großer Massen brachte am Ende den Sieg. In den Schützengräben lagen, wie wir von dem deutschen Professor gehört haben, Fausts und Zarathustras; das waren sie, und neben ihnen waren auch Rollas und Octaves, Manfreds, Iwans und Lewins. Doch auch Aljoschas. Wenn wir Zeit hätten, würde eine vergleichende Studie der im Kriege gefallenen Schriftsteller diese Erkenntnis bestätigen; anfangend mit Péguy, könnte man Dutzende und Dutzende von französischen, deutschen, englischen und anderen Schriftstellern aufzählen. Eine Analyse der Literatur aus der Kriegszeit würde dasselbe bezeugen.

Die Nachkriegsliteratur der Militärschriftsteller, die den Krieg und seine philosophische Bedeutung betrachten, zeigt in überzeugender Weise, daß im Kriege schon infolge seiner langen Dauer der sittliche Gesamtzustand entschied und keineswegs die militärische Ausbildung und die Geschicklichkeit der Heerführer; es kämpften moderne Menschen – die Fausts und ihre zahlreichen Nachfahren.

Ich glaube, daß diese sittliche Bedeutung des Weltkrieges als Streben nach Objektivierung aus übertriebenem Subjektivismus hinaus ziemlich hervorsticht; der Krieg und die Art, wie er geführt wurde, erwuchsen aus diesem sittlichen und geistigen Zustand des modernen Menschen und seiner ganzen Kultur, wie ich sie kurz charakterisiert habe. Der neuzeitliche Gegensatz zwischen Objektivierung und Subjektivierung, der in Literatur und Philosophie zum Vorschein kommt, weil ihn das Leben enthält, ist ein sich schleppender historischer Prozeß und äußert sich eben auch im Kriege, speziell in seiner langen Dauer. Dadurch, daß der Weltkrieg sich hinzog und allgemein war, hat er seine besondere und charakteristische Eigenart.

Im Kapitel über die Schweiz habe ich die dunklen Seiten des Krieges angedeutet und meine Meinung über die Schuld am Kriege geäußert. Hier ist es nötig, die guten Eigenschaften der Kämpfenden anzuerkennen; gerade infolge der langen Dauer des Krieges kamen auf beiden Seiten die große sittliche Kraft, der Heldengeist, die Ausdauer und der Opfermut zutage. Der Krieg zeigt, was der moderne Mensch vermag und was er vermögen würde, wenn er sich von der Herrschsucht befreite und in sich nicht die jedem Menschen angeborene Sympathie für den Nächsten unterdrückte. Er müßte allerdings all den modernen Titanismus und Egoismus des krankhaften Subjektivismus und Individualismus überwinden. – Eben das Übermenschentum endet in Selbstmord und Krieg.

Der deutsche Historiker Lamprecht, der die Deutschen im Kriege so begeistert und energisch rechtfertigt, bestätigt unwillkürlich meine Analyse. In seiner Geschichte des neuesten Deutschland, geschrieben vor dem Kriege (»Zur jüngsten deutschen Vergangenheit«, 1904) charakterisiert er die Zeit richtig als Epoche der »Reizsamkeit« und führt nicht nur Wilhelm, sondern auch Bismarck als ihre Typen an. De facto ist der deutsche Übermensch, der Titan, nervös und sucht entweder den Tod oder den Krieg als akute Erregung gegen die chronische.

Das bezieht sich auf alle Nationen, aber in erster Linie auf die deutsche; ihre Philosophen und Künstler, ihre geistigen Arbeiter überhaupt haben den Subjektivismus und Individualismus bis zum absurden Solipsismus mit seinen sittlichen Folgen herausgebildet: Nietzsches Übermensch, die darwinistisch konstruierte Bestie, soll ein Heilmittel gegen die Absurdität und Unmenschlichkeit des Solipsismus sein. In ihrer geistigen Isolation gaben die deutschen Philosophen und Gelehrten, die Historiker und Politiker die deutsche Zivilisation und Kultur als den Gipfel der menschlichen Entwicklung aus, und im Namen dieser anmaßenden Superiorität verkündete der preußische Pangermanismus das Recht der Expansion und überhaupt das Recht auf Unterwerfung durch Macht und Gewalt. Der preußische Staat, seine Armee und seine Kampflust wurde zum Gegengift des krankhaften Subjektivismus; der preußische Pangermanismus verschuldete den Weltkrieg, er ist für ihn moralisch verantwortlich, wenn das österreichisch-ungarische Regime auch mitschuldig und in gewissem Sinne noch schuldiger ist. Das Volk der Philosophen und Denker, das Volk Kants und Goethes, das für sich die Aufgabe in Anspruch nahm, der Lichtbringer zu sein, hat nicht ohne Falsch die unehrliche und kurzsichtige Politik der degenerierten Habsburger annehmen und nicht den Ausgang aus der Sackgasse seiner einseitig hochkultivierten Bildung im Kriege suchen dürfen. Corruptio optimi pessima.

92.

Mit dem Problem des Selbstmordes und Mordes befassen sich die Dichter-Denker schon lange und intensiv, von Rousseau und Goethe bis auf unsere Tage; die modernen Statistiker, Soziologen und Psychiater widmeten sich diesen Problemen der sogenannten Moralstatistik ziemlich eifrig, aber die europäische Gesellschaft wird sich der Schwere der Probleme immer noch nicht bewußt. Das ersieht man daraus, daß die Literarkritiker den Hauptinhalt der großen Denker nicht zu erfassen vermochten. Schon Rousseaus Saint-Preux ist der erste erkennbare Typus des Übermenschen, und Rousseau zeigt uns seine moralische Krankheit, die ihn zum Selbstmord treibt; aber Rousseau spielt nur erst mit dieser letzten Zuflucht aus philosophischer Zerrissenheit, Goethes vollblütiger Übermensch (Goethe gesteht, selbst in die gleiche Stimmung geraten zu sein) ist bis zur Giftphiole gekommen, nur der glückliche Zufall der Osterglocken rettet den allwissenden Unzufriedenen. Werther wurde nicht gerettet und beendete seine romantische Krankhaftigkeit durch Tod. Den nachrevolutionären Franzosen analysiert Musset die Krankheit des Jahrhunderts und sein Held, der Gottesmörder Rolla, wird ebenfalls zum Selbstmord getrieben. Den Engländern analysiert Byron die moderne Krankheit (Manfred); von den Russen besitzen wir, beginnend bei Puschkins Oněgin bis auf Tolstojs Lewin, eine fast grausame Analyse der intellektuellen Zerrissenheit; Dostojevskij steigert diese Analyse durch realistische Unerbittlichkeit und stellt seine Diagnose in Typen von drastischer Brutalität. In der kurzen Skizze »Verurteilt« versucht er den Syllogismus der selbstmörderischen modernen Logik darzustellen. Bei den Skandinaviern haben wir Jacobsen, Garborg und eigentlich all die anderen Autoren nach Strindberg; alle analysieren sie die modernen »müden Seelen« und tun es freilich an sich selbst. Und die Jüngsten und Modernsten? Der schon erwähnte Wassermann zeigt der jungen Generation, wie pietätlos sie ist, wie sie Freiheit mit Vermessenheit, Gottlosigkeit mit Furchtlosigkeit, Genußsucht mit Kraft identifiziert, – diese Gegner bourgeoiser Beschränktheit fürchten nichts so wie die Bazillen, sie sind lieblos, ohne Vorurteile, aber auch ohne Herz. Wassermanns Held endet selbstverständlich durch Selbstmord. Natürlich kennt Wassermann seinen Dostojevskij, wie auch Edschmid ihn kennt, wenn er den Expressionismus und den modernen Geist als einen Kampf der Zwerge gegen Gott charakterisiert, der notwendigerweise zu Umkehr und Regeneration führt unter den Schlagworten: Liebe, Gott, Gerechtigkeit ...

Das Problem des Mordes finden wir schon bei Goethe; Gretchens Bruder fällt durch den Degen Fausts; und was bedeutet noch im zweiten Teile des »Faust« die gewaltsame Beseitigung des greisen Pärchens Philemon und Baucis?! In der neueren deutschen Literatur wird das Problem von Mord und Selbstmord bei Hebbel und vielen anderen behandelt.

In Frankreich analysiert Musset in seinem Octave ein weiteres Stadium der Krankheit – nur das Kreuzchen auf der Brust seiner Geliebten bewahrt den Gottesmörder vor dem Morde, wie Faust durch die Osterglocken vor dem Selbstmord bewahrt wird. Byron analysiert den Brudermörder Kain, Dostojevskij den Vatermörder.

Das Problem des Mordes, des philosophischen Mordes, wurde in charakteristischer Weise vor allem in der russischen Literatur dargestellt; in Umrissen habe ich darauf schon im bisherigen Teil meines Werkes über Rußland hingewiesen. Dostojevskij analysiert die Seele eines jungen Studenten (Raskolnikov), die von der europäischen, hauptsächlich deutschen Philosophie des Übermenschentums zerfressen ist; der russische Napoleon endet mit dem Morde an einer unscheinbaren Alten, eine Prostituierte »für alle« leitet ihn zum Evangelium. Und der übermenschliche Großphilosoph Ivan Karamasov endet dadurch, daß er dem Bruder Smerdjakov den Vatermord suggeriert –, grausamer und, wie ich schon gesagt habe, brutaler kann der moderne Intelligent-Philosoph nicht gegeißelt werden. Bourgets »Schüler« ist daneben ein Salonmörder.

Mir selbst wurde das Problem von Mord und Selbstmord bei der Analyse der modernen Revolution und des gerade russischen terroristischen Anarchismus aufgedrängt.

93.

Eine Bestätigung dieser Analyse des Weltkrieges erblicke ich im erhöhten Erwachen zur Religiosität während des Krieges und nach dem Kriege; die moderne Selbstmordneigung ist schließlich und endlich durch das Sinken der Religiosität, der geistigen und sittlichen Autorität verursacht. Wenn nun von so vielen und ernsten Seiten nach einer religiösen Wiedergeburt gerufen wird, kann man voraussetzen, daß die Menschen – wenigstens ein bemerkenswerter Teil – sich des eigentümlichen sittlichen Zustandes der europäischen Gesellschaft bewußt werden, aus dem der Weltkrieg sich entwickelt hat. So haben wir überall und alle mit dem Fortschritt, mit der Überwindung des Mittelalters usw. geprahlt – und nun solch ein Fiasko des Fortschritts, solch ein Zurücksinken der gebildeten Nationen in Rousseaus Naturzustand –! Freilich hatte man Rousseau mit offenen Armen empfangen, er ist ja der Vater, gewiß der erste Interpret des modernen Menschen ...

Während des Krieges beobachtete ich in allen Ländern, in denen ich mich aufhielt, die durch den Krieg hervorgerufene religiöse Bewegung und verfolgte ihre praktischen und literarischen Kundgebungen; ich beobachtete überall die Soldaten, sah zeitweise auch die Verwundeten, unterrichtete mich über den Einfluß der Militärgeistlichen und verglich ihn mit dem Einfluß der Ärzte, der Krankenschwestern und der nichtgeistlichen Personen auf die Soldaten, Verwundeten und Sterbenden. Ich verfolge nach dem Kriege die religiöse Entwicklung: alles ruft in mir den Eindruck hervor, daß man Sehnsucht nach Religiosität empfindet, daß aber der Kirchenglaube einen geringeren Einfluß ausgeübt hat und ausübt, als behauptet wird. Ich beobachtete unsere Legionäre in Rußland näher: dort zeigte sich eine gewisse Bewegung des Übertritts zur Rechtgläubigkeit, ging aber bald vorüber, denn sie war mehr politisch als religiös; doch begegnete ich vielen Soldaten, die durch ihr Schicksal und die Kriegsgeschehnisse zu religiösem Nachdenken und Fühlen gebracht wurden; nur eine geringe Minderheit davon begnügte sich mit dem Kirchenglauben.

Spricht man von Religiosität, so muß genauer gesagt werden, ob man den positiven, offiziellen, kirchlichen Glauben meint oder den außerkirchlichen und welchen; das Problem ist zu kompliziert, als daß es mit einem Schlagwort ernsthaft bezeichnet und charakterisiert werden könnte.

Auch nach dem Kriege und jederzeit müssen wir uns die Frage stellen: genügt die Kirchenreligion und in welchem Maße? Warum sind überhaupt die Kirchen und ihre Religionen zurückgegangen, warum wenden sich die Menschen – in erster Reihe die Intelligenz, doch auch schon die Massen – von den Kirchen ab, warum genügen sie ihnen nicht? Warum sinkt der mittelalterliche Theokratismus und seine Gesellschaftsorganisation? Denn gerade durch den Weltkrieg sind die drei ältesten Theokratien – Österreich, Rußland, Preußen – gefallen! Der Katholizismus war kein Heil für Österreich-Ungarn, die Rechtgläubigkeit kein Heil für Rußland, das Luthertum kein Heil für Preußen. Der Katholizismus, die Rechtgläubigkeit, das Luthertum verhinderten nicht den Krieg, wie sie das Werden und die Entwicklung des gesamten moralischen Zustandes, aus dem der Krieg entsprang, nicht verhindert hatten; und trotzdem waren die mittelalterliche Kirche und dann auch die neuen Kirchen eine absolute, geistige und in Verbindung mit dem Staat auch weltliche Autorität für die ganze Gesellschaft: wie kam es, daß die Kirchen ihren Einfluß verloren haben?

Es handelt sich um den großen Gegensatz zwischen den Kirchen und dem modernen Denken, Fühlen und Streben (in der Philosophie, der Wissenschaft, den sittlichen und politischen Idealen, der Kunst – kurz, in der ganzen modernen Kultur) und um die Frage, wie er zu beseitigen sei. Zu sagen, daß der moderne Mensch durch seinen Hochmut usw. verirrt sei und darum als Büßer umkehren müsse – dieses Rezept orthodoxer Theologen empfiehlt sich schon deshalb nicht, weil es seit Jahrhunderten ohne Ergebnis verschrieben wird. Nach der großen Revolution und den Napoleonischen Kriegen kam die Restauration des alten Regimes und auch der Kirchenreligion, brachte aber keine wirkliche Besserung, es entstanden neue und immer neue ideelle und politische Revolutionen, es kam die Revolution aus dem Weltkrieg; mag die Restauration nach der Weltrevolution und dem Weltkrieg wie immer ausfallen, sie wird ebenfalls keine Besserung bringen.

Denken wir an die verschiedenen Elemente und Bestandteile die Religiosität: die Anschauungen über das Transzendente, vor allem das Problem Gottes und der Unsterblichkeit und überhaupt die Lehren der Theologie, etwa auch der Metaphysik – den Kultus, insbesondere das durchfühlte Verhältnis des Menschen zu Gott und Welt: die kirchliche Organisation und Autorität (die Geistlichkeit, die Hierokratie=Theokratie) – die Sittlichkeit als Verhältnis des Menschen zum Menschen neben dem Verhältnis zu Gott und Welt. Der Begriff der Religiosität wird mit dem des Glaubens identifiziert, des Kinderglaubens, wie man sagt, und dieser Glaube wird gegen die verstandesmäßige, kritische, wissenschaftliche Erkenntnis, die Theologie gegen die Philosophie (Metaphysik) aufgestellt; die Religiosität verbürgt dem Gläubigen gegen die deterministische Wissenschaft und wissenschaftliche Philosophie den undeterministischen Wunderglauben; die Religiosität wird überhaupt mit Mystik identifiziert, man glaubt an die Möglichkeit einer direkten Verbindung des Gläubigen mit Gott und der transzendenten Welt, und diese mystische Verbindung wird über die Sittlichkeit gestellt. Was wollen wir also, wenn wir davon sprechen, daß wir Religiosität bedürfen, und wenn wir unsere Hoffnungen auf sie bauen? Wollen wir zurückkehren zum Glauben und zur Lehre der Kirche? Welcher Kirche? Die völlige Rückkehr – ein philosophisches Canossas? Hat mit der Revolution und dem Kriege sich die Religiosität vermehrt: ist die Sittlichkeit, die persönliche und gesellschaftliche Sittlichkeit gestiegen? Ziemlich allgemein und in allen Ländern wird doch über die durch den Krieg verursachte Demoralisierung geklagt; und man weist nicht allein auf die verschiedenen Reichgewordenen hin, sondern auf die sehr verbreitete Verkommenheit, Trägheit, Unredlichkeit, weist auf den Niedergang der Moral bei der Jugend hin – wenn die Moral ein wichtiger Bestandteil der Religiosität ist (und das ist sie gewiß), so kann man nicht so einfach behaupten, daß durch den Krieg die Religiosität gestiegen sei. Ich habe beobachtet und beobachte, daß viele Menschen, auch wissenschaftlich gebildete, den verschiedensten Formen des Mystizismus, Spiritismus und Okkultismus verfallen, aber ist solch eine Zunahme der Religiosität wünschenswert? Ich will nur sagen, daß wir in der religiösen Frage nach dem Kriege dort stehen, wo wir vor dem Kriege gestanden sind.

Die Krise des modernen Menschen ist allgemein, es ist die Krise des ganzen Menschen, des ganzen geistigen Lebens: das ganze moderne Leben, alle Institutionen, die Welt- und Lebensanschauung erfordern eine Revision: die innere Uneinheitlichkeit, die Vielspältigkeit des modernen Menschen und seines Lebens, die Vielspältigkeit, Uneinheitlichkeit der Gesellschaft und die allgemeine geistige Anarchie, der Kampf zwischen Gegenwart und Vergangenheit, der Kinder und der Väter, der Streit der Kirchen mit der Wissenschaft, Philosophie, Kunst und dem Staat durchdringen die ganze moderne Kultur. Suchen wir jeder den Frieden seiner Seele – wie und wo finden wir ihn? Im Streben nach geistiger Freiheit verfielen viele in übertriebenen Individualismus und Subjektivismus, und daher kommt die geistige und sittliche Vereinsamung; viele ergaben sich dem Materialismus und Mechanismus; vielleicht pflegten wir alle einseitig den Intellektualismus und vergaßen die harmonische Pflege aller seelischen und körperlichen Kräfte und Eigenschaften; gegen die Kirchen und die Religion begnügten sich sehr viele mit Skepsis und Negation und hielten sich an den revolutionären Politizismus; obgleich sie davon überzeugt waren, daß eine dauerhafte Organisation der Gesellschaft nicht möglich sei ohne Übereinstimmung wenigstens in den wichtigsten Lebens- und Weltanschauungen, revoltierten die Menschen gegen die Kirchenzucht, wurden aber Sklaven der Parteien, Parteichen und Fraktionen; von Sittlichkeit und sittlicher Zucht zu reden und sie gar zu fordern, wurde als altertümliches Moralisieren erklärt, dagegen Gläubigkeit und religiöses Leben als Aberglaube verurteilt. Ruhelosigkeit, Unzufriedenheit, Skepsis, Müdigkeit aus Zerrissenheit, Pessimismus, Ärger, Verzweiflung, die in Selbstmordlust, Militarismus, Krieg endeten, – das sind die Schatten des modernen Lebens, des modernen Menschen – des Übermenschen.

Die Situation nach dem Kriege brachte viele zur Überzeugung, daß Europa, die zivilisierten Nationen in Niedergang, in endgültigen Niedergang verfallen seien. Vor dem Kriege verkündeten die Pangermanen oft den Niedergang der romanischen Völker, insbesondere der Franzosen, jetzt geben deutsche Geschichtsphilosophen (Spengler) auch den Niedergang der Deutschen und des ganzen Abendlandes zu. Manche erwarten dann das Heil vom russischen oder noch ferneren Osten, obgleich Rußland selbst im Kriege ebenso wie Deutschland und Österreich einen Niedergang erlitten hat; gewiß ist es für die deutsche Literatur charakteristisch, wie der russische Einfluß auf sie zugenommen hat. Dieser Einfluß ist jetzt auch in Frankreich, England, Amerika zu beobachten.

Ich glaube nicht an die allgemeine und endgültige Degeneration und Dekadenz: durch den Krieg erleben wir mitten in der chronischen Krise eine akute Krise. An dieser Krise sind wir nicht nur selbst schuld, sondern auch unsere Vorfahren. Wir konnten das, was sie uns hinterlassen haben, nicht unverändert lassen. Aber während wir unser Erbe änderten, fehlten wir und fehlten immer wieder. Doch die ehrliche Erkenntnis des Fehlers ist der Anfang der Besserung.

Der Krieg und seine Greuel haben uns alle aufgeregt. Wir stehen machtlos vor dem riesigen historischen Rätsel eines Geschehnisses, wie es in der Menschengeschichte noch nicht da war. Aber Aufregung ist kein Programm. Wir brauchen eine ruhige und aufrichtige Analyse und Kritik unserer Kultur und aller ihrer Elemente und müssen uns zu einer konzentrischen Besserung auf allen Gebieten des Denkens und Handelns entschließen. In allen gebildeten Nationen gibt es bereits denkende Menschen genug, um diese Reform mit vereinten Kräften in Angriff zu nehmen.

94.

Versuchen wir die Krise des modernen Menschen, der europäischen Zivilisation und Kultur, die ich psychologisch und soziologisch zu fassen versucht habe, innerhalb der historischen Entwicklung politisch zu überfliegen.

Der Kampf der Zentralmächte mit den Alliierten war ein Kampf der Theokratie mit der Demokratie, der allerdings geschwächten und sterbenden Theokratie. An der Spitze der Zentralmächte stand Preußen, in neuer Zeit mit dem Programm Bismarcks, des geschicktesten und konsequentesten Hüters des alten, mittelalterlichen politischen und kirchlichen Regimes. Die politische Idee des von Preußen angeführten und verpreußten Deutschland gipfelt im Programm des vom Volke unabhängigen preußischen Königtums, das von Bismarck dem modernen Parlamentarismus und der Demokratie entgegengestellt wurde; Kaiser Wilhelm erklärt sich geradezu für ein Werkzeug Gottes, der offizielle Titel »von Gottes Gnaden« erhält antidemokratischen Sinn und Geltung. Gegen das demokratische »Aus dem Volke, durch das Volk, für das Volk« steht der König von Gottes Gnaden.

Dieser Absolutismus ist eine Fortsetzung des mittelalterlichen Imperialismus. Dieses der deutschen Nation von Rom anvertraute Imperium wurde von den gläubigen Habsburgern verwaltet, die in dem religiösen und politischen Aufruhr der Reformation eine gewaltsame Gegenreformation durchgeführt haben. Preußen wurde protestantisch und konkurrierte mit Österreich um das Primat in Deutschland, bis es Österreich schließlich aus Deutschland hinausgedrängt hatte, doch nahm es sich trotzdem selbst des römischen Imperiums, des Kaisertums an. Es ist eine der vielen Verdrehtheiten der Geschichte (aber die Geschichte, das sind eben die Menschen), daß der katholische, übernationale, eben katholische Imperialismus sich in einem protestantischen und nationalen Staat fortsetzte und daß der katholische Staat, der an der Spitze des katholischen Imperiums stand, auf dieses Kaisertum verzichtete, sich zum weltlichen Kaisertum, proklamierte und die untergeordnete Rolle einer deutschen Avantgarde im Osten akzeptierte. Daher all die unsinnige Politik in der neuen Zeit, sowohl in Österreich wie in Preußen.

Das preußische Deutschland verkehrte die katholische Idee des katholisch-römischen Imperiums in eine heidnisch-römische und nationale Idee. Seinen gewaltsamen Drang nach Osten erweiterte es durch die pangermanische Philosophie zu einem allgemeinen Programm, nämlich zur Beherrschung der alten Welt Europas, Asiens, Afrikas (die Kolonialpolitik – das Bündnis mit der niedergehenden Türkei).

Unter dem wirtschaftlichen und politischen Druck des starken Preußen wurde, nach Versuchen um ein Dreikaiserbündnis, der Dreibund gegründet. Darin hatte Italien keine organische Stellung, der Dreibund bedeutete die Beherrschung Österreich-Ungarns durch Deutschland. Es ist charakteristisch, daß die Anfänge des Dreibundes auf Bismarcks Verhandlungen mit den Magyaren, mit Andrássy zurückgehen (ich habe an diese Tatsache erinnert, als ich über die magyarische Propaganda in Amerika gesprochen habe); der magyarische Staat befand sich, wie österreichische, besonders die katholischen Politiker darauf hinwiesen, in den Händen von Calvinisten (Tisza!) und Freimaurern, und deshalb widerspricht eine Angliederung Ungarns an Preußen nicht den falschen Grundlagen des Pangermanismus. Auch ist von Bedeutung, daß die Magyaren seit 1849 gegen Rußland waren und vielleicht als asiatische Nation bereit, die Expansion nach Osten zu akzeptieren; deshalb wurde auch die Türkei von Berlin leicht gewonnen. Ich weiß nicht, ob sich ebenfalls in den Bulgaren die nichtslawische Rassenbeimischung gemeldet hat, als sie sich im Weltkriege an der Seite der Türkei an Deutschland schlossen; ihre Dynastie war katholisch, politisch genommen österreichisch, also auch deutsch; die Bulgaren unterlagen so, wie die übrigen Verbündeten und Freunde Preußens, dem Einfluß der deutschen Bildung.

Die alten Beziehungen zu Österreich und Rücksicht auf die große katholische Mehrheit in Deutschland schrieben auch dem Vatikan anfangs eine unsichere, schwankende Haltung im Kampfe Deutschlands mit den Alliierten vor.

Der Dreibund repräsentierte sachlich und historisch das Mittelalter und das monarchistische, absolutistische Regime, wie es sich nach der Schwächung des kirchlichen Absolutismus in neuer Zeit entwickelt hat. Der Pangermanismus wurde zum chauvinistischen Programm des preußischen Imperialismus.

Gegen den pangermanischen Imperialismus stellten sich Frankreich, Rußland, England, Italien, die Vereinigten Staaten und die übrigen Alliierten, also mit Ausnahme Rußlands die demokratischen, konstitutionellen und republikanischen Staaten. Die moderne Demokratie stand gegen die Theokratie.

Die Alliierten nahmen zum Unterschied von Deutschland-Österreich das moderne Nationalitätenprinzip für alle Nationen an und verfochten vor allem die kleinen Staaten und Nationen; ich habe dargelegt, welche Bedeutung der Zone der kleinen Nationen zwischen den Deutschen und den Russen zukommt. Nach dem demokratischen Prinzip sind die kleinen Staaten und Nationen gleichberechtigt mit den großen Nationen und Staaten, so wie innerhalb des Staates der sogenannte kleine Mann gleichberechtigt ist mit dem reicheren und mächtigeren. In der auswärtigen Politik entwickelt sich allerdings erst die konsequente Haltung der Demokratie; selbst im Innern befindet sich ja die Demokratie erst in den Anfängen.

Indem sie das Nationalitätsprinzip anerkannten, bewahrten sich die Alliierten vor dem Chauvinismus. Auch Deutschland war national, aber es gab seine Nationalität für höher aus als die anderen. Die Alliierten erkannten zugleich mit dem Nationalitätsprinzip das katholische (im Sinne des »allgemeinen«) Humanitätsprinzip an; dazu führte schon die Vereinigung der riesigen Mehrheit von verschiedenen nationalen Staaten der ganzen Welt; gegen den national-chauvinistischen, ideell, ethnographisch und geographisch beschränkten Pangermanismus standen alle fünf Weltteile, und ihre Nationen waren ipso facto durch die katholische Humanitätsidee vereinigt, die die Organisation der ganzen Menschheit in eine freundschaftliche Gesamtheit forderte. Wilsons Liga der Nationen, als organischer Bestandteil der Friedensverträge gedacht, ist der erste große praktische Versuch einer Weltorganisation, die durch Umfang und Idee das pangermanische Programm einer Unterwerfung der alten Welt überragt und widerlegt. Gegen diese alte Welt stand im Weltkrieg die neue und die ganze Welt.

Die Demokratie, die sich in der inneren Politik geltend macht, macht sich auch in der auswärtigen Politik geltend; der Weltkrieg begrub den dreifachen theokratischen Absolutismus, den russischen, preußischen und österreichischen, neue Republiken und Demokratien sind entstanden und entstehen und mit ihnen die Grundsätze einer neuen internationalen Politik; die Liga der Nationen gewinnt an politischer Macht und wurde zum Programm aller modernen, wahrhaft demokratischen Politiker und Staatsmänner. Die Vereinigten Staaten Europas hören auf, eine Utopie zu sein. Die Herrschaft einer Großmacht über den Kontinent und das Bündnis mehrerer Staaten und Nationen gegen die übrigen Nationen und Staaten schwinden vor der friedlichen Gesellschaft aller Nationen und Staaten.

Der Weltkrieg und der Sieg der Alliierten veränderten das Antlitz Europas und der Welt. Das Zarentum der drei größten Staaten, der zwei größten Nationen Europas ist gefallen. Befreit sind zahlreiche kleinere Nationen – die Tschechoslowaken, Polen, Südslawen, Rumänen (Ukrainer), Finnländer, Rumänen, Letten, Littauer u. a. – Die Liga der Nationen ist gegründet, die nationalen Minderheiten sind gesichert. Es entstanden Republiken, und das demokratische Regime ist gefestigt. Wir dürfen hoffen, daß diese politischen Veränderungen das Streben nach einer sittlichen und kulturellen Renaissance und Regeneration stärken.

Diese Hoffnung wird vermehrt, wenn man die Veränderungen erkennt, die während des Krieges und der Revolution im Innern geschehen sind, in der Bevölkerung der kämpfenden Länder: die Blüte der Nationen stand im Felde, lebte in den Schützengräben und konnte und mußte über den Krieg und seine Bedeutung nachdenken; die Greuel des Krieges wurden nicht nur von den kämpfenden Männern erlitten, sondern auch von ihren Frauen und Kindern, Müttern und Vätern. Ist es möglich, daß sich nach diesen Erfahrungen nicht wenigstens eine bedeutende Minderheit der Teilnehmer, der ehrlich denkenden Menschen, für das neue Regime, das Regime der Demokratie und der Menschlichkeit, entschieden hat und nicht nach Regeneration strebt?

Die Entwicklung geht auf der ganzen Linie gegen das alte Regime – das ist der Sinn des Krieges und unserer Nachkriegszeit; der Krieg hat auch Deutschland vom alten Regime befreit, und das befreite Deutschland wird seiner geistigen Isolierung entgehen, den Bismarckismus sittlich überwinden und zu den Ideen und Idealen seines Goethe, Kant und vor allem seines Herder und Beethoven zurückkehren.

Diese Philosophie des Krieges konzipierte ich seit Beginn des Weltkrieges; sie bildet eine Synthese meiner Beiträge zur Geschichtsphilosophie aus der Vorkriegszeit, und deshalb gebe ich sie in der Gedrängtheit wieder, wie ich sie mir endgiltig auf dem Atlantischen Ozean vor meiner Ankunft in der Heimat in einer Skizze formuliert habe. Später arbeitete ich zu Hause diese Skizze ausführlicher aus, besonders durch eingehendere Analysen der repräsentativen Persönlichkeiten der neuen Zeit wie Rousseau, Goethe u. a. und durch genauere Formulierung der verschiedenen geistigen Richtungen. Vielleicht gebe ich die Arbeit selbständig heraus, hier genüge diese Skizze, damit die gewisse Harmonie dieses Buches nicht durch ein unverhältnismäßig breites Kapitel gestört werde.

95.

Mit solchen und ähnlichen Gedanken näherten wir uns am 29. November dem englischen Ufer; im Hafen wurde ich durch militärische und diplomatische Ehrungen wieder daran erinnert, daß ich Souverän sei, ebenso auf dem Londoner Bahnhof. Gleich am Abend hatte ich eine Zusammenkunft mit meinen lieben Freunden und Helfern Steed und Seton-Watson.

Was für ein Unterschied zwischen der politischen Situation im Dezember 1918 und der im Mai 1917, als ich London verlassen und mich auf die Reise um die Erde begeben hatte! Der Sorgen waren allerdings nicht weniger geworden, die alten etwas geschwunden, doch neue hinzugekommen ...

Ich hielt mich in London eine Woche auf (bis 6. Dezember) und benutzte die Zeit zu Besuchen bei vielen Bekannten (Mr. Burows, Lord Bryce, Hyndman, Mr. Young, Lady Paget u. a.), besonders auch bei Publizisten, mit denen ich in Fühlung gewesen war.

Bei einem von Balfour veranstalteten Lunch kam ich mit einer gewählten Gesellschaft von politischen Persönlichkeiten zusammen: mit Lord Milner, Churchill u. a., auch dem Sekretär des Königs, der von London abwesend war. Man sprach natürlich von der politischen Situation, der Beendigung des Krieges und den Aufgaben der bevorstehenden Friedenskonferenz. Gerade an jenem Tage (29. November) hatten die Deutschen den Alliierten einen Vorschlag auf Errichtung einer Kommission zur Untersuchung der Kriegsschuld vorgelegt. Groß war das Interesse für Rußland und unsere Legionen in Rußland und Sibirien; das interessierte namentlich Lord Churchill. Ihm gefiel, wie ich in Kiew ohne Gewalt die bolschewikische Agitation gebrochen hatte. Unwillkürlich verglich ich während unserer Diskussion die Staatsmänner wie Balfour, Gladstone u. a. mit den deutschen. Was für ein Unterschied in der ganzen Welt- und Gesellschaftsanschauung, was für ein Unterschied zwischen dem wahren Konstitutionalismus und Parlamentarismus und dem Gott sei Dank untergehenden russisch-preußisch-österreichischen Zarismus! Mit Minister Balfour sprachen wir mehr über Religionsphilosophie.

In Erwartung der Friedenskonferenzen besuchte ich einige Politiker und Beamte, namentlich des Auswärtigen Amtes, die wahrscheinlich an den Friedensverhandlungen teilnehmen würden: die Herren Tyrell, Crowe, Harding u. a. Ich sah auch alte, schon bekannte: Sir George Clerk u. a. Und ich vergaß nicht die einzelnen Gesandten.

Auch erlebte ich die erste charakteristische diplomatische Verwicklung: Der Sturz der Mariensäule in Prag gab dem Vatikan Grund, in London auf das Ereignis aufmerksam zu machen. Ich weiß nicht, in welcher Form dies geschah, denn es wurde mir nicht offiziell notifiziert. Ich kannte nicht die Einzelheiten, war aber sicher, daß die Tat vor allem aus politischer Erregung, keineswegs aus religiöser geschehen war, und so erklärte ich die Sache. Ich wußte doch, wie die Beseitigung dieser Säule oft gefordert worden war, weil sie für ein Denkmal unserer Niederlage auf dem Weißen Berge gehalten wurde.

Die politischen Ereignisse auf dem Festlande entwickelten sich infolge der Niederlage der Zentralmächte weiter. Ich erinnere mich, welchen Eindruck die Überschreitung der deutschen Grenze durch das englische Heer hervorrief (1. Dezember). Am selben Tage verzichtete der deutsche Kronprinz auf alle Rechte der preußischen und der Kaiserkrone. In Serbien übernahm Prinz Alexander die Regentschaft, und der serbisch-kroatisch-slowenische Staat wurde Wirklichkeit.

In London empfing ich nähere Nachrichten über die letzten Tage Österreichs; insbesondere bekam ich Informationen durch einen Sonderboten darüber, wie die Österreicher die Anwesenheit unserer Delegierten in Genf ausgenützt hatten. Einige ihrer Agenten und austrophile Diplomaten hatten versucht, mit den Delegierten zu sprechen und ihre politische Gesinnung zu erkunden. Es scheint, daß manche Mitglieder unserer Delegation die Falle nicht bemerkten und vor den österreichischen Agenten das Bild der Situation daheim retuschierten; vor allem wurde über den Gegensatz zwischen meinen Anschauungen und denen Dr. Kramářs und seiner Anhänger gesprochen, und nach Wien gingen dann Nachrichten über die Unentschiedenheit einiger Delegierter gegen Österreich. Aber Dr. Beneš brachte aus Paris Klarheit und Bestimmtheit; das wurde von den Gegnern ebenfalls sehr gut bemerkt. Es versteht sich, daß ich die Nachrichten cum grano salis nahm. Die Nachrichten brachten mir jedoch meine Stellung in unserer politischen Welt vor dem Kriege in Erinnerung und daß ich damit rechnen müsse, daß die Menschen sich selten von Grund aus ändern: »Präsident – gut, aber ohne Partei«, »ein Idealist«, »mehr Philosoph als Politiker« usw.; werden alle Menschen, alle Parteien die verschiedenen Konflikte und Kämpfe vergessen, werden die alten Gehässigkeiten nicht aufleben? Ich wog alles pro und contra sehr nüchtern ab und überprüfte die Regeln meines Vorgehens; ich sah mehr als einmal den ganzen Kataster von Persönlichkeiten durch, mit denen ich Zu verhandeln und zusammenzuarbeiten haben werde, ich kannte jedermann ziemlich gut – es wäre ein recht dickes Buch, wollte ich all meine Erwägungen niederschreiben, ja es wäre auch interessant und ich behaupte sogar lehrreich. Ich hegte keine Zweifel darüber, welche Politik unser erneuter Staat brauche, und war gewiß, daß ich in den grundsätzlichen und wichtigsten Dingen niemandem nachgeben werde und dürfe; doch über alle rein persönlichen Abneigungen machte ich ein dickes Kreuz. In Paris ergänzte ich mir die Nachrichten einigermaßen, vor allem auch durch unsere Blätter, die über den Umsturz berichteten.

96.

In Paris (ich kam dort am 7. Dezember an) stattete ich meinen ersten offiziellen Besuch dem Präsidenten der Französischen Republik ab, Poincaré, um ihm mündlich für alle seine und die Hilfe Frankreichs zu danken; ich sah ihn dann noch einmal bei einem offiziellen Diner.

Nach dem Besuche beim Präsidenten begab ich mich zu unseren Truppen nach Darney; ich inspizierte sie und hielt mich ein paar Stunden in ihrer Mitte auf. Auf der Rückfahrt nach Paris skizzierte ich mir meine erste Botschaft. Ich besuchte auch die Verwundeten im Hospital.

Wie in London, machte ich und empfing in Paris vom Morgen bis zum Abend Besuche. Sehr herzlich war mein Besuch beim Minister Pichon und bei einer langen Reihe von Politikern und politisch hervorragenden Persönlichkeiten, wie beim Präsidenten der Kammer, Deschanel, Clémenceau u. a.

Clémenceau hatte ich persönlich noch nicht gekannt, doch hatte er mich schon viele Jahre interessiert, und ich verfolgte während des Krieges seine Tätigkeit für die Armee. Ich lernte mehrere seiner Bekannten kennen, und sie sagten mir, er habe anfangs einigermaßen pessimistisch über den Ausgang des Weltkrieges und über Frankreich gedacht. Um so mehr interessierte mich rein psychologisch die Tatsache, wie er bei dieser seiner Skepsis die Energie zur Arbeit aufzubringen vermochte, nicht bloß um seiner selbst willen, um Pessimismus und Skepsis durch die Arbeit zu überwinden, sondern gewiß auch aus Hingabe an Frankreich. Allerdings gibt es solche und solche Skepsis! Clémenceau hatte mich bereits in früherer Zeit durch seine Reden und parlamentarischen Aktionen, doch auch durch seine literarische Tätigkeit, seinen Roman (»Les Plus Forts«) und seine Geschichtsphilosophie (»Le Grand Pan«) interessiert, in denen sich seine angebliche Skepsis so reliefmäßig ausdrückt. Anfangs war er uns nicht besonders zugetan; die österreichische und magyarische Propaganda hatte ausgestreut, er sei austrophil. Als bekannt wurde, daß er die Regierung übernehmen werde (er trat sie am 16. November 1917 an), brachten mehrere französische Blätter die aus magyarischen Zeitungen übernommene Meldung, der neue Ministerpräsident werde magyarophil sein, weil angeblich seine Tochter an einen Magyaren verheiratet sei und sein Bruder eine Wienerin zur Frau habe. Sein sachliches und energisches Auftreten in der Affäre Sixtus gab den Magyaren nicht recht. – Einige Zeit stimmte er mit meiner Politik in Rußland nicht überein, weil ich mit der Armee nicht nach Rumänien gezogen war; um so mehr freute mich, daß er jetzt zugab, die Entwicklung der Dinge habe mir recht gegeben. Übrigens war es eben Clémenceau, der gleich im Dezember 1917 und im Januar 1918 mit Dr. Beneš die Vereinbarung über die Legionen getroffen hatte.

Nach den erwähnten Nachrichten über österreichische und austrophile Aktionen in der Schweiz während der Genfer Konferenz und noch nachher mußte ich vermuten, daß die Austrophilen Zutritt bis zu Clémenceau hatten; mit ihm selbst wollte ich darüber nicht sprechen und trachtete daher die Situation auf anderen zugänglichen Wegen richtig und genau kennenzulernen. Ich werde zu der Sache noch zurückkehren.

Eine interessante Persönlichkeit war schon in der damaligen Politik M. Berthelot; nicht nur als politischer Faktor – er wurde die rechte Hand Clémenceaus –, sondern auch als politischer Beobachter der Weltentwicklung. Wir besprachen alle wichtigen Fragen, die die Nachkriegsordnung Europas und vor allem auch die des nahen Ostens betrafen. Von Bedeutung war, daß er konsequent für die Ausschaltung der Türkei aus Europa war, in Übereinstimmung mit dem ursprünglichen Plan der Alliierten.

Ich erneuerte auch die Beziehungen zu den Journalisten und Publizisten (Gauvain u. a.), selbstverständlich auch zu den akademischen Kreisen, besonders freilich zu Professor Denis.

In Paris weilte auch Oberst House, mit dem ich unsere Gespräche über den Krieg und den kommenden Frieden fortsetzen konnte. Er kannte bereits Dr. Beneš, der zur Waffenstillstandskonferenz eingeladen worden war, in der House die Anschauung Wilsons von der Überflüssigkeit, den Krieg fortzusetzen, verfocht. Ich gedenke auch des verstorbenen amerikanischen Botschafters Mr. W. G. Sharp.

In der englischen Botschaft traf ich englische Bekannte und Freunde; Lord Derby lernte ich jetzt erst kennen. Auch die Freunde Steed und Seton-Watson trafen in Paris ein.

Wie immer verständigte ich mich sehr gut mit dem Gesandten Vesnić; mit Dr. Trunbić besprachen wir ausführlich die künftige Mitarbeit mit den Südslawen.

In Paris wurden damals die schärferen Umrisse der Kleinen Entente verabredet; zunächst verhandelte ich mit Takejonescu, und dieser brachte darauf Venizelos zu mir. Nach der damaligen Situation stellten wir uns ein intimeres Übereinkommen mit den Südslawen und den Polen, mit den Rumänen und auch mit den Griechen vor, die seit dem Balkankrieg einen Freundschaftsvertrag mit den Serben geschlossen hatten. Wir wurden uns allerdings der Schwierigkeiten klar, die unser warteten, und insbesondere mancher territorialen Fragen, hauptsächlich zwischen Südslawen und Rumänen. Wir vereinbarten, uns schon auf den Friedenskonferenzen den Weg für das weitere gemeinsame Vorgehen ebnen zu wollen. Die Idee der Kleinen Entente lag freilich sozusagen in der Luft. Die gemeinsame Arbeit mit den Rumänen und den Polen in Rußland, die intimen Beziehungen zu den Südslawen in allen Ländern während des Krieges und gemeinsame Aktionen wie der römische Kongreß der unterdrückten Völker und die Organisation der Mitteleuropäischen demokratischen Union in Amerika waren vorangegangene Versuche der gemeinsamen Arbeit. Ich habe auch schon gesagt, wie Herr Roman Dmowski über eine tschechisch-polnische Föderation dachte. Nach diesen Erfahrungen formulierte ich in meinem »Neuen Europa« die Forderung, neben der großen Entente könnten kleinere Ententen und vor allem Ententen der kleineren Staaten in Mitteleuropa organisiert werden.

Wenn ich hier an letzter Stelle meiner Besuche bei Mme. Jouvenel gedenke, so will ich damit nicht sagen, daß der Salon dieser unserer Freundin unpolitisch war; im Gegenteil, hier hatte ich, durch Štefánik eingeführt, viele hervorragende und einflußreiche politische, diplomatische und militärische Persönlichkeiten kennengelernt. Auch diesmal konnte ich dort Herrn Briand herzlich danken, der als erster der Ententestaatsmänner unser politisches Programm angenommen hatte.

Und abermals schickte Frankreich als erster Staat seinen Gesandten zu uns; M. Clément-Simon, am 12. Dezember 1918 für Prag ernannt, reiste (14. Dezember) mit mir nach Prag ab. Mit uns fuhr auch der englische Militärattaché Sir Thomas Cunningham, der für uns und Österreich ernannt worden war.

97.

Von Paris reiste ich weiter über Italien. Am 15. Dezember kamen wir in Modane an; dort erwartete mich ein General, der vom italienischen König mit der Einladung gesandt worden war, sein Gast zu sein; der König selbst erwartete mich in Padua am Bahnhof, und ich war nach Inspektion einer Truppenabteilung bis zum nächsten Tage sein Gast. Zum drittenmal in meinem Leben sprach ich mit einem Monarchen; zum erstenmal war es Franz Joseph gewesen, der Wert darauf legte, der erhabenste Aristokrat von Europa zu sein und dementsprechend immer und in allem den Monarchen posierte, während der italienische König jederzeit streng konstitutionell und in seinem ganzen Auftreten ohne Pose war. Man sprach z. B. davon, ob beim Diner Trinksprüche gehalten werden sollen; sowohl dem König als auch mir schien das überflüssig zu sein, aber der König hätte den Inhalt des Trinkspruches der Regierung vorgelegt. Die erste Lektion im Konstitutionalismus! Der zweite Monarch, den ich kennengelernt hatte, war König Ferdinand von Rumänien. Eigentlich hatte ich mit vier Monarchen zu tun gehabt – in London hatte ich den nachmaligen König Alexander gesehen.

Ich besuchte unsere Armee, die unweit Padua gelegen war, inspizierte einen Tag die Infanterie, am nächsten Tage auch die Kavallerie. In Padua lernte ich auch die Familie der Marquise Benzoni kennen, zu der Štefánik in intime Familienbeziehungen hätte treten sollen.

In Italien hatte mein freiwilliges Exil begonnen; in Italien war meine letzte ausländische Station. Am 17. Dezember reiste ich um 3 Uhr nachmittags, begleitet von einer Abteilung italienischer Legionäre ab; mit ihr reiste General Piccione.

Die letzten politischen Nachrichten, die ich empfing, betrafen hauptsächlich die Zustände in Deutschland, vor allem den Spartakistenaufruhr; Präsident Wilson kam am 13. Dezember nach Paris, die Vorbereitungen zur Friedenskonferenz machten Fortschritte.

Den Friedensschöpfern ließ ich für alle Fälle durch Dr. Beneš das Friedensprogramm des »Neuen Europa« überreichen; die Schrift wurde für sie (französisch und englisch) privat gedruckt. Öffentlich vertrat unser Programm wieder Mr. Steed in der »Times«, der sich mit Seton-Watson und anderen uns nahestehenden Politikern verständigte.

98.

Auf der Reise von Padua nach Hause trugen meine Gedanken mich fort zu den kommenden Aufgaben. Die Fahrt und der Aufenthalt auf österreichischem Boden zwangen mich zum abschließenden Nachdenken über das untergehende Reich der Habsburger. Wir fuhren (am 18. Dezember) durch Brixen, und damit wurden alle meine Gedanken über Havlíček und zugleich unsere Politik aufgestöbert. Von Havlíček hatte ich viel gelernt – auf dem ganzen Wege von Brixen dröhnte mir in den Ohren sein: Eine vernünftige und ehrliche Politik! ...

Am 20. Dezember – es war ein Freitag – hielten wir an der Grenze von Böhmen – mehr als eine Träne entfiel denen, die nach Jahren in die Heimat zurückkehrten, und unsere böhmische Erde empfing auch Küsse ...

Die erste Meldung des tschechischen Bezirkshauptmannes (seiner Aussprache nach eines geborenen Deutschen) und dann der Händedruck für die Mitglieder der Familie und der politischen Delegation.

Um in Prag nicht abends anzukommen, übernachteten wir vom Freitag auf den Samstag in Budějovice (Budweis). Der Freitag ist mir besonderer Schicksalstag; ich weiß nicht, ob andere Menschen solche Tage haben, aber für mich spielten sich sehr oft die wichtigsten und glücklichsten Ereignisse am Freitag ab: an einem Freitag im Dezember 1914 verließ ich Österreich, an einem Freitag erschien Wilsons Antwort an Österreich und unsere Unabhängigkeitserklärung und an einem Freitag stand ich also nach vierjähriger Arbeit im Auslande auf tschechischer Erde ...

99.

Samstag, den 21. Dezember, früh reisten wir nach Prag weiter. Aufenthalte in Veselý, Tábor (»Tabor ist unser Programm«), Benešov – und schließlich Prag.

Bei der Fahrt durch das mich begrüßende Prag benützte ich ein demokratisches Automobil, denn ich wollte nicht in einem alten vergoldeten Wagen fahren, der die vergangene Zeit kennzeichnete.

Was ich bei der großartigen Begrüßung durch Prag empfand und dachte – war ich froh, war ich beglückt? Während ich auf all die Herrlichkeit, all den Reichtum von Farben, Trachten, Fahnen und Dekorationen, Rosen und Blüten blickte, auf all die lieben Ansprachen antwortete, hatte ich fortwährend die bevorstehende schwere Aufgabe, unseren erneuten Staat anständig auszubauen, im Sinn; die Kette dieser Gedanken hörte nicht auf, als ich nachmittags im Parlament durch feierliches Versprechen mich verpflichtete, »auf Ehre und Gewissen zum Segen der Republik und des Volkes beizutragen und die Gesetze zu achten«.

Nachdem ich meine Frau im Sanatorium besucht hatte, schlief ich zum erstenmal in der Prager Burg, d. h. ich schlief nicht.

Am nächsten Tag, Sonntag, den 22. Dezember, trug ich in der Burg meine erste Botschaft vor, die einen ganz kurzen Überblick der Auslandsaktion gab; der Ministerrat, dem ich die Rede vorgelegt, hatte eine sachliche Korrektur vorgenommen.

Für die Verlesung der Botschaft war die Burg, nicht das Parlament gewählt worden; daraus entsprang die formale Schwierigkeit, ob die Versammlung in der Burg die Nationalversammlung gewesen sei; schließlich wurde die Botschaft in den Bericht des Sonderausschusses für Beantwortung der Botschaft aufgenommen, und dieser Ausschuß schlug vor, sie auch in das stenographische Protokoll der Nationalversammlung aufzunehmen. Das ist geschehen.

Hier denke ich schon daran, was ich daheim getan habe, doch liegt der Bericht darüber nicht im Plan dieses Werkes; ich will aus meinen ausländischen Erfahrungen die politische Hauptlehre ziehen: Wie unsere Republik entstanden ist, wie wir die eroberte Selbständigkeit ausbauen und wie wir sie erhalten wollen.


 << zurück weiter >>