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(Petersburg–Moskau–Kiew–Wladiwostok: Mai 1917-1. April 1918)
Die ersten Meldungen über die russische Revolution waren unbestimmt und unglaubwürdig: ich hatte sie von allem Anfang an befürchtet, und als sie eintrafen, war ich doch, und zwar unangenehm, überrascht: – was werden die Folgen für die Alliierten und die Kriegführung sein? Nachdem ich mich aber informiert und halbwegs orientiert hatte, sandte ich am 18. März an Miljukov und Rodzianko ein Telegramm, worin ich meine Befriedigung über den Umsturz ausdrückte. Ich legte Nachdruck auf das slawische Programm; das war nach der Situation weder für Rußland noch für den Westen überflüssig. Es war mir nicht leicht gewesen, vom Plan der Alliierten, die kleinen Nationen zu befreien und die Demokratie zu stärken, zu sprechen, solange ich wußte, daß einer der Alliierten, das zarische Rußland, Demokratie und Freiheit nicht begehrte; darum konnte ich jetzt, nach der Revolution, ohne jeden Vorbehalt sagen, daß das freie Rußland das volle Recht habe, die Befreiung der Slawen zu verkünden. Ich formulierte das slawische Programm kurz in folgenden Worten: Vereinigung Polens im engeren Verband mit Rußland, Vereinigung der Serben, Kroaten und Slowenen und desgleichen Vereinigung und Befreiung von uns Tschechen und Slowaken. Dem fügte ich hinzu, daß es sich nicht allein um uns Slawen handle, sondern auch um die lateinischen Nationen, um Franzosen, Italiener und Rumänen, und ihre gerechten nationalen Ideale.
Wie man sieht, entsprach dieses Programm der jüngst an Wilson gerichteten Antwort der Alliierten und den Anschauungen der uns nahestehenden politischen alliierten Kreise; auch mußte ich auf die damalige russische Regierung und speziell auf Miljukov als Außenminister Rücksicht nehmen. Miljukov antwortete sofort freundschaftlich.
Die Nachricht von der Revolution und namentlich von ihrem raschen Verlauf beunruhigte mich, wie gesagt. Bei aller Kenntnis Rußlands kannte ich im gegebenen Augenblick nicht alle handelnden Personen und ihre Bedeutung. Man kann Befürchtungen hegen, eine Ahnung haben, kann sich ein Bild von der Gesamtlage machen und vermuten, wie sie sich wohl äußern werde, aber es ist etwas anderes, im gegebenen Moment die konkrete Kenntnis der Wirklichkeit, d.i. letzten Endes der wichtigsten handelnden Personen, ihrer Triebfedern und Pläne zu haben. Und diese Kenntnis fehlte mir. Von der Bourgeoisie und den Sozialisten (den Demokraten und den Revolutionären) hatte ich die Revolution nicht erwartet, ich wußte, daß sie nicht vorbereitet waren; ich hätte nach den Niederlagen einen demonstrativen Putsch erwartet (eine solche Demonstration war die Tagung der Duma, obgleich sie durch den Zaren aufgelöst worden war), aber daß die Armee und der ganze Staatsapparat mitsamt dem Zarismus so in der Tiefe aufgewühlt waren, wie sich zeigte, das war doch nur eine Überraschung, so sehr ich auch den Zarismus und seine Unfähigkeit längst durchschaut und verdammt hatte. Mein Verhältnis zum offiziellen Rußland war unliebsam. Ich befand mich längst auf dem Index; dagegen hatte ich Freunde in den fortschrittlichen Parteien. Schon die Übersetzung meines ersten Buches (über den Selbstmord) war vernichtet worden, doch hatte sie z. B. Tolstois Interesse erweckt. Meine »Kritik des Marxismus« war von der zarischen Zensur freigegeben worden, wurde in russischer Übersetzung viel gelesen und machte mich bekannt; sie schreckte selbst Marxisten nicht ab, obgleich sie mit ihr nicht übereinstimmten. Meine Studien über Rußland waren allerdings wieder verboten worden; trotzdem lenkten sie in der deutschen Ausgabe die Aufmerksamkeit auf sich; ablehnend schrieb z. B. Trockij vom einseitig marxistischen Standpunkt über »Rußland und Europa« (im Herbst 1914 in der Wiener sozialdemokratischen Zeitschrift »Der Kampf«).
Da ich die Abneigung der reaktionären Elemente gegen mich und gegen die Alliierten kannte, war ich während der zarischen Regierung nach Rußland nicht geeilt; ein Konflikt mit der russischen Regierung, der möglich war, hätte unsere Feinde gestärkt. Deshalb trachtete ich immer, auf das offizielle Rußland durch die russischen und alliierten Gesandten, durch Svatkovskij und auch durch Russen, die ziemlich häufig nach dem Westen kamen, einzuwirken; mit unseren Leuten war ich durch Briefe, besondere Boten und Mitglieder der Kolonie, die mich aufsuchten, in Verbindung. Als durch die Revolution meine persönlichen Bekannten und Freunde zur Macht gelangten und manche sogar in die Regierung, entschloß ich mich, nach Rußland zu reisen und die Schaffung einer Armee aus unseren Gefangenen durchzusetzen; ich zählte hauptsächlich auf Miljukov als den Außenminister. Wir kannten uns schon längst, waren während des Krieges in England zusammengekommen und hatten uns über die Hauptpunkte des Kriegs- und Friedensprogramms geeinigt.
Zur Reise nach Rußland bewog mich auch die ernste Lage, wie sie sich 1917 an der Hauptfront (im Westen) entwickelt hatte. Ich rechnete damit, in Rußland einige Wochen zu bleiben. Ich richtete alles Nötige in London ein und sprach u. a. noch mit Lord Milner, der gerade von seiner offiziellen Mission aus Rußland zurückgekehrt war, über die dortigen Verhältnisse und machte mich mit einem englischen Paß am 16. April (1917) auf die Reise. Die deutschen Unterseeboote hatten auch gegen die Überfahrt von England nach Rußland einen unerbittlichen Kampf eröffnet; ich sollte am 17. April von dem kleinen Hafen Amble abreisen, aber das Schiff traf nicht ein, weil es versenkt worden war. Ich wartete einen, zwei Tage, da erhielt ich plötzlich ein Telegramm aus London, daß Štefánik aus Rußland zurückgekehrt sei; zugleich kam ein Bote an, ich solle nach London zurückkehren. So hatte der Unglücksfall mit dem Schiff das Gute, daß mir Štefánik einen detaillierten Bericht über den Stand der Dinge in Rußland erstatten konnte. Er gab mir eine Darlegung über die bisherige Entwicklung der Legionen; über die russische Revolution teilte er die Meinung mit hervorragenden russischen Militärs, daß das Vorgehen der russischen Armee gegen die Deutschen nun lebhafter und wirksamer sein werde, denn die germanophilen Einflüsse in der Armee würden jetzt aufhören. Viele leitende Personen im Heere hatten den Umsturz begünstigt und hofften, seine Errungenschaften würden durch den militärischen Sieg gesichert werden.
Auch Beneš kam noch aus Paris, und wir konnten uns so nach Štefániks Nachrichten über die Aktion in Rußland und die weitere Arbeit in Europa noch einmal eingehend beraten.
Ich suchte mir ein zweites Schiff aus und fuhr am 5. Mai nach Aberdeen; das Schiff stach diesmal in See, begleitet von zwei Torpedobootzerstörern. Ich gelangte glücklich nach Bergen; in der Nacht wären wir beinahe auf eine feindliche Mine gestoßen, doch der Kapitän verhütete noch im letzten Augenblick durch eine rasche Drehung das Unglück. Das erfuhr ich erst am Morgen.
In Bergen hielt ich mich kurz auf. In der Stadt war überall Zu sehen und zu hören, daß Norwegen mit den Alliierten sympathisierte. Von Bergen fuhr ich über Oslo nach Stockholm und blieb dort einen Tag. Ich wollte nicht übernachten, um nicht durch die Paßformalitäten auf mich aufmerksam zu machen (obgleich ich einen Paß auf fremden Namen besaß); man hatte mir nämlich in London gesagt, die schwedischen Beamten könnten unter österreichischem Druck ihre Neutralität so verstehen, daß ich als erklärter Feind Österreichs interniert werden solle. Ein schweizerisches Präzedens empfahl Vorsicht.
In Stockholm erwartete mich Redakteur Pavlů; man bereitete hier die Versammlung der Internationale, namentlich der skandinavischen und holländischen Sozialisten, vor. In der Internationale gärte es; im April hatte sich die deutsche Sozialdemokratie in Gotha in zwei Lager gespalten und sich die Unabhängige Partei konstituiert. Überall spürte man schon den Einfluß der russischen Leninisten (Lenin war am 4. April in Rußland angekommen), der Pazifismus machte sich geltend und damit auch eine gewisse Germanophilie.
Über Haparanda erreichte ich am 16. Mai Petersburg; bei der Abfahrt vom Bahnhof bemerkte ich eine schwarze Wolke von Raben; in früheren Jahren war mir das offenbar nicht so aufgefallen wie diesmal ...
Sofort nach der Ankunft suchte ich Miljukov auf, aber er war gerade im Begriffe, von der Regierung zurückzutreten, – eine unliebsame Überraschung; doch knüpfte ich allmählich Beziehungen zu den übrigen Mitgliedern der Provisorischen Regierung an, zum Ministerpräsidenten Fürsten Lvov, zum neuen Außenminister Tereščenko u. a. Natürlich interessierten mich das Außen- und das Kriegsministerium am meisten. Ich fand, wie ich erwartet hatte, hier und da ein paar vernünftige Menschen, die Argumenten zugänglich waren und den Alliierten ihre Sympathien bewahrt hatten.
In Petersburg waren damals bei der offenkundigen Unfertigkeit und Schwäche der Regierung die Beziehungen zu den alliierten Repräsentanten nützlich. Das war vor allem die französische Militärmission in Petersburg, hauptsächlich General Niessei und Oberst Lavergne; im Hauptquartier Major Buchsenschutz und General Janin, der später unser Generallissimus wurde (er war in Rußland seit April 1916), in Kiew General Tabouis, in Jassy General Berthelot – lauter aufrichtige Freunde und hilfsbereit. Der französische Botschafter M. Paléologue hatte eben Petersburg verlassen (unsere Züge hatten sich anscheinend gekreuzt); dafür befand sich der uns freundschaftlich gesinnte Albert Thomas in Petersburg, während Paléologue ein Austrophile war. M. Thomas Sekretär war Redakteur P. Comert, ein guter Bekannter von Steeds hier.
Sehr bereitwillig erwies sich der englische Botschafter Sir George William Buchanan; er übte im damaligen Petersburg als loyaler Freund der Provisorischen Regierung und der liberalen Kreise überhaupt einen bedeutenden Einfluß aus. Dafür streuten die Konservativen und Reaktionäre handgreiflichen Klatsch über ihn aus, er habe die Revolution hervorgerufen usw.
Sehr regen Verkehr pflog ich mit dem italienischen Botschafter (Marchese Carlotti); er unterstützte mich bei seiner Regierung darin, daß aus den italienischen Gefangenen eine Legion gebildet werde. Lebhaft war schließlich mein Verkehr mit dem serbischen Gesandten Spalajković (bei uns aus dem Friedjung-Prozeß bekannt) und mit dem rumänischen Gesandten Diamandi.
Damals kam nach Petersburg eine amerikanische Mission unter Führung des Senators Root; bei ihr befanden sich auch mein alter Freund Mr. Charles Crane, Dr. John R. Mott u. a. Zugeteilt war ihr der Slawist Professor Harper, ein Sohn des ehemaligen Rektors der Chicagoer Universität zur Zeit, da ich dort Vorträge gehalten hatte. Aus Amerika traf auch Herr Voska ein, der abgesandt worden war, um für die amerikanische Regierung eine Berichterstattung zu organisieren (Slav Press Bureau); ihm standen Landsleute, die Herren Koukol, Redakteur Martinek und Švarc zur Seite. Auch Henderson, der Führer der englischen Arbeiter, kehrte in Petersburg ein; er war von der englischen Regierung entsandt, um sich über die Zustände in Rußland zu informieren. Auch Vandervelde; wir standen schon früher in literarischer Verbindung miteinander, persönlich waren wir uns auf der Überfahrt von Aberdeen begegnet.
Wie überall, begann ich auch in Petersburg meine Beziehungen zu den Repräsentanten der wichtigsten politischen Parteien und Richtungen anzuknüpfen. Miljukov habe ich bereits erwähnt; ich kam auch mit Struve und anderen Kadetten zusammen. Von den Sozialisten erneuerte ich den Verkehr mit Plechanov, den ich zuletzt in Genf gesehen hatte, und suchte auch Gorkij auf, der damals seine Tageszeitung herausgab. Ich lernte auch manche Sozialrevolutionäre kennen, die Redakteure ihrer Hauptblätter (Sorokin); Savinkov sah ich später in Moskau.
Ich beschränkte mich nicht nur auf politische Personen, sondern erneuerte den Verkehr mit den Universitäts- und akademischen Kreisen.
Als die Regierung Kerenskijs kam, mußte ich mit ihren Mitgliedern verhandeln. Kerenskij selbst begegnete ich nicht, weil er zu oft außerhalb Petersburgs, vor allem an der Front weilte; und ich reiste gleichfalls oft zwischen Petersburg, Moskau und Kiew hin und her; doch häufiger sah ich Professor Vasiljev, seinen Oheim, dem ich meine Botschaften und Gesuche zu übergeben pflegte.
Wie in London und in Paris, veranstaltete ich auch in Petersburg, Moskau und Kiew öffentliche Vorträge oder erweiterte Zusammenkünfte mit hervorragenden und einflußreichen Persönlichkeiten. Ich informierte die Redakteure und schrieb mehrere Artikel. Der kurze Sinn meiner Propaganda war allerdings – Österreich zu zerschlagen! In Rußland war diese Propaganda nicht weniger nötig als im Westen, da auch in Rußland die entscheidenden Kreise keinen bestimmten antiösterreichischen Plan hatten, sondern eher den Plan einer Verkleinerung Österreichs annahmen. Besonders erwähnen muß ich den Verkehr mit den (russischen) Polen; gleich nach meiner Ankunft war ich mit ihren führenden Männern bekannt geworden. Ich kam mit den Polen in allen Hauptstädten zusammen – ihr Zentrum befand sich in Moskau – und wir verständigten uns später über unser gemeinsames oder wenigstens paralleles Vorgehen in der Armeefrage. Die Polen formierten ihre künftige Armee aus ihren Soldaten und hatten selbstverständlich dabei alle und ähnliche Schwierigkeiten wie wir zu überwinden.
Bevor ich von London abgereist war, hatte ich mit meinen Freunden vereinbart, ihnen so bald wie möglich einen Bericht über den Zustand in Rußland zu schicken: es ging freilich darum, ob und in welchem Maße sich die Alliierten noch auf die Beteiligung Rußlands am Kriege verlassen können. Ich vermochte ziemlich bald herauszubringen, daß die Alliierten mit dem militärischen Rußland nicht mehr rechnen können und sollen. Diese Erkenntnis formulierte ich in einem Telegramm an die »Times« um den 25. Mai herum; da Telegramme der Zensur unterlagen, vermag ich nicht zu sagen, ob der abgedruckte Text mit meinem Entwurf und damit, was ich mit dem Petersburger Korrespondenten verabredet hatte, übereinstimmt. Ich konnte nicht anders, als ein- für allemal die Hoffnung auf Rußlands militärische Hilfe Zu verscheuchen, – in unser aller Interesse lag es, sich keinen Illusionen hinzugeben. In England und auch in anderen alliierten Ländern faßten viele die Revolution als einen Protest gegen die schwächliche Führung des Krieges auf; aber die vollständige Zerrüttung der Armee, der Soldaten und der Offiziere, war überall und in allem offenbar. Ich will nicht schildern, wie diese Zerrüttung von Tag zu Tag sich steigerte; ich erinnere mich unter anderem des peinlichen Eindrucks, den ich vom späteren Frauenbataillon gewann, – viele naive Europäer und Russen nahmen in seiner Formierung nicht ein Symptom und einen Teil der Zerrüttung des Heeres und der allgemeinen Demoralisation wahr.
Das offizielle Rußland und insbesondere der Zarenhof sind durch die Affäre Rasputin eindringlich charakterisiert. Ich erhielt schon in London Nachrichten darüber, in Petersburg lernte ich die ganze Geschichte im Einzelnen kennen. Stellen wir uns nur vor, daß der Zarenhof und mit ihm die Regierung Stürmer und Trepov unter dem Einfluß eines so groben und fast analphabetischen, wenn auch ziemlich klugen und begabten Menschen gestanden hatte, wie es Rasputin war. Dazu dauerte die Rasputinade am Zarenhof – sechs Jahre! Wenn zur Entschuldigung gesagt wird, es sei religiöse Schwärmerei gewesen, so muß man sagen, daß diese Religiosität grober Aberglaube und eine abscheuliche Schwärmerei gewesen ist. Und Rasputin war nicht der erste Abenteurer, der das Vertrauen des abergläubischen Zarenhofes gewonnen hat.
Doch es ist nicht richtig zu sagen, daß nur der Zarenhof dieser moralischen Pest unterlag; es ist Tatsache, daß die offizielle politische und kirchliche Gesellschaft sich nicht genug auflehnte und weder die Autorität noch die Fähigkeit hatte, den Zaren und Rußland vor dem Einfluß Rasputins zu bewahren. Stellen wir uns die sittlichen und rechtlichen Zustände vor, wenn man Rasputin nicht anders als durch Mord zu beseitigen vermochte, und wenn dieser Mord von einem Mitglied des Hochadels, einem konservativen Abgeordneten und einem Mitglied der Zarenfamilie (dieses wußte von dem Mord und war bei der Tat anwesend) verübt wurde. Und wenn ich die detaillierte Schilderung dieses Mordes (von Puriškevič selbst) lese, sehe ich, wie diese Menschen auch dabei unfähig, oberflächlich und infolge ihrer Oberflächlichkeit überflüssigerweise brutal waren; auch dieser Mord, die Art seiner Ausführung, verrät den Verfall und die Demoralisation des offiziellen Rußland, – es klingt zynisch, ist aber wahr, daß diese Menschen nicht einmal ordentliche Verbrecher sein konnten. Um so schlimmere Verbrecher!
Und wie sah diese Zarenfamilie, dieser Schwarm von Großfürsten aus, die die entscheidenden Stellen der Armee und der Zivilverwaltung beherrschten! Was in Rußland war, gab es auch, ich gestehe es, mutatis mutandis in Österreich und in geringerem Maße ebenfalls im preußischen Deutschland.
Dieser moralische und politische Sumpf bei Hofe riecht auch aus dem Adel. Dieser war gegen Rasputin keineswegs aus moralischen oder religiösen Gründen, sondern aus Motiven der Kaste. Und darum entstand in seiner Mitte der Plan, sich des Zaren zu entledigen, im schlimmsten Fall à la Paul. Solch ein äußerstes Mittel ist stets die Waffe von passiven Menschen, die dem Bösen nicht durch systematische Arbeit widerstehen. Ich erhielt über diesen Plan einer Palastrevolution von mehreren Seiten sichere Nachrichten, die übrigens schon hier und da in die Presse durchgesickert sind.
Was vom Adel gesagt wird, gilt auch von der Kirchenhierarchie.
Mir handelte es sich jetzt freilich in erster Reihe darum, die militärische und politische Lage zu erkennen, und es ist klar, daß ich zu keinem anderen Ergebnis gelangen konnte, als ich für das Londoner Blatt formuliert habe.
Von diesem Rußland konnten die Alliierten keine Hilfe erwarten, und von solch einem Rußland konnten auch wir keine politische Hilfe erwarten. Die Niederlage im Felde hatte ihren entscheidenden Grund in der moralischen Fäulnis der russischen höheren Gesellschaft und eines bedeutenden Teils des ganzen russischen Volkes. Die Affären Masojedov (auch er war in Fühlung mit Rasputin – er wurde im März 1915 gehängt) und Suchomlinov (im Mai 1916 verhaftet) hatten gezeigt, daß die Leitung der russischen Armee demoralisiert war. Auch wenn nicht Verrat für die Deutschen geübt wurde, obgleich man es allgemein behauptete, so genügt die Tatsache dieser Prozesse zur Verurteilung der Militärverwaltung. Ich lege kein Gewicht darauf, ob Protopopov auf seiner Reise mit den Dumaleuten, wie viele behaupteten, in der deutschen Gesandtschaft in Stockholm mit Wahrburg über einen Separatfrieden mit Deutschland verhandelt hat (es scheint, daß er dies nicht tat, doch machte er sich durch die überflüssige Unterredung einer politischen Taktlosigkeit schuldig) – ich erblicke die Verfehlung und Schuld des Zarentums darin, daß es unvorbereitet, unüberlegt, gegen sein eigenes Interesse gewissenlos in den Krieg gezogen ist. Dadurch wurde es sofort nach den ersten Niederlagen zu Deutschland hingetrieben; schon im März 1916 kamen Meldungen, Stinnes bemühe sich um eine Verständigung mit Rußland, und Stürmer wurde Minister mit Rücksicht auf Deutschland. Und ebenso sein Nachfolger Trepov. Es ist begreiflich, daß die Alliierten das Vertrauen zu Rußland verloren; eine Zeitlang fürchteten sie bereits, den Russen Waffen und Munition zu liefern, weil sie gegen sie selbst benützt werden könnten.
Es ist auch natürlich, daß der strategische Plan der Alliierten infolge der militärischen Unzulänglichkeit der Russen abgeändert werden mußte. In Frankreich mißtrauten viele den Russen auch darum, weil sie die Armee, die sie Frankreich versprochen, nicht geschickt hatten. Das russische Kriegskommando beschwichtigte nach seinen Niederlagen die Alliierten damit, daß es Millionen und Millionen Soldaten habe; und wirklich verlangte angeblich besonders General Alexějev die Millionenmusterungen, indem er vergaß, daß es nicht genug Waffen und Brot geben werde und daß die Menschenmasse sich nicht werde beherrschen lassen. Mir wurde übel, als russische Generäle nach Brusilovs Offensive damit prahlten, daß sie über 15 und mehr Millionen Mannschaften verfügen. Sie versprachen, nach Frankreich wenigstens eine halbe Million zu schicken, und es kamen (1916) nicht mehr als unbedeutende 16 000, und diese mußten interniert werden, weil sie schon disziplinlos waren. Wenn manche Russen bereits damals und bisher dem Westen vorwarfen, undankbar zu sein und für Rußland wenig getan zu haben, so ist das unberechtigt; die Alliierten könnten den Russen vorwerfen, ihre Versprechungen nicht gehalten zu haben. Gewiß ist, daß man im Westen vielfach die Russen gleich nach den Niederlagen 1914 so beurteilte; man erkannte, daß Rußland unvorbereitet, hasardmäßig in den Krieg gegangen sei. Nicht nur einmal habe ich in Paris, London und Washington solche Zweifel an Rußland gehört.
Trotzdem erkenne ich an, daß man Rußland den guten Willen nicht abstreiten kann. Rußland versprach gleich zu Beginn des Krieges den Serben aufrichtig Hilfe; die Russen unternahmen den Einfall in Ostpreußen, als Paris bedroht war; Brusilov begann seine Aktion, um Italien zu entlasten, und auch Kerenskij wollte helfen.
Von russischer Seite entschuldigt man sich häufig damit, daß sich nur die deutsche Hofclique unter Führung der Zarin des Verrats schuldig gemacht habe. Das ist nicht richtig. Die Zarin ließ sich keinen Verrat zuschulden kommen; ich habe nachgeprüft, was darüber auch in Dumakreisen herumerzählt wurde, und mich überzeugt, daß sie gegen Rußland nicht weniger loyal war als die Russen. Ich will nicht sagen, in der Umgebung der Zarin sei nicht dadurch Verrat geübt worden, daß sie zu Rasputin vertrauensselig war, und dieser befand sich in den Händen von Schlauköpfen, die sein Verhältnis zur Zarin ausnützen konnten. Ein verhängnisvoller Fehler. Das Vergehen der Zarin bestand in Unbildung, krankhaftem und grobem Aberglauben und politischer Unfähigkeit bei starker Herrschsucht; ihr größter Fehler war der Schwächling-Zar, – daß sie ihn nämlich vollständig beherrschte. Er glaubte an sie wie an einen wirklichen Propheten, und so wurde sie die größte politische Macht Rußlands! Die Zarin war eine geschworene Feindin des Konstitutionalismus und der Duma, und der Zar teilte diese Feindschaft: man stelle sich vor, daß er erst während des Krieges, im Februar 1916, zum erstenmal die Duma besucht hat! General Alexějev wollte die Zarin gefangen setzen, – aber dazu war es schon zu spät, und es hätte nicht mehr genützt.
Der Zar war gegen die Alliierten loyal; als Graf Eulenburg, der Berliner Hofmarschall, bereits im Dezember 1915 durch Vermittlung des Grafen Fredericks eine Friedensaktion einleitete, lehnte der Zar ab und ebenso, als es Ende März 1916 der hessische Großherzog (der Bruder der Zarin) versuchte. Nicht weniger war er gegen Wittes germanophile Agitation. Er war auch für eine energische Führung des Krieges,– – aber all das nur mit Worten; den Krieg energisch zu führen, verstand er nicht. Er war eben »eine hölzerne Seele«, wie man ihn in Petersburg charakterisiert hat. Selbst als er den unseligen Stand der Dinge erkannt hatte, unternahm er nichts. Ja, er benahm sich gleich unmännlich auch dann, als ein Teil der Hofclique den Plan aussann, die Deutschen bis Petersburg zu lassen, damit sie das Zarentum retten. Daß dieser Plan nicht vereinzelt bestand, kann ich mit der Nachricht darüber belegen, was ich bereits in London über Goremykin erfahren hatte. Schon damals schreckte dieser im Vergleich mit seinem Nachfolger verhältnismäßig bessere russische Minister vor der Niederlage und dem Vormarsch der Deutschen auf Petersburg nicht zurück: die Deutschen würden den Russen Ordnung machen.
Für die Schwäche und Unzuverlässigkeit des Zaren gibt es doch aus der Geschichte seiner Regierung mehr als einen Beweis; ich erwähne hier die Affäre in Bjorkö (1905); er gab den Einflüsterungen Wilhelms nach und sagte die Hilfe Rußlands in einem Bündnis mit Deutschland und Frankreich gegen England zu – der Außenminister Lamsdorff und Witte mußten die Ratifikation des Vertrages im letzten Augenblick verhindern. Allerdings muß konstatiert werden, daß auch Kaiser Wilhelm mit seinem Plan eine bedeutende politische Kurzsichtigkeit bewies. Während des Krieges ging der Zar ebenso unmöglich vor; nach dem Willen der Zarin übernahm er das Oberkommando und richtete damit nur Böses an, entließ bessere Menschen wie Sazonov und akzeptierte die Stürmer und andre Kreaturen. Was uns betrifft, brach er, wie wir hören werden, sein Versprechen ebenso, wie er das in Bjorkö eigenhändig unterschriebene Versprechen gebrochen hat.
Witte sagt in seinen Erinnerungen von Nikolaj, er sei ein sehr wohlerzogener Mensch gewesen, aber was seine Bildung anbelangt, habe er das Niveau eines Gardeobersten aus guter Familie gehabt – – die Proben seines intimen Tagebuches aus den Tagen der Revolution und der Abdankung, die schon veröffentlicht wurden, bestätigen Wittes Urteil geradezu furchtbar – ein reines Nichts! Ich sehe, daß ich dem Zaren nicht unrecht getan habe, als ich seiner ganzen Politik und seinem Charakter mißtraute.
Das zarische Sodom und Gomorrha mußte mit Feuer und Schwefel ausgerottet werden. Und das waren nicht nur der Hof und die Hofgesellschaft – die Demoralisation hatte sich sehr ausgebreitet und alle Kreise ergriffen, namentlich die sogenannte Intelligenz und auch den Mulik. Der Zarismus, das ganze politische und kirchliche System hatten Rußland demoralisiert.
Wenn ich so auf die moralische Seite des zarischen Regimes den Nachdruck lege, bin ich mir bewußt, daß die Moral und Unmoral der Gesellschaft sich natürlich in der ganzen staatlichen und militärischen Verwaltung äußern. Die ungenügende Versorgung der Armee und der Zivilbevölkerung war z. B. eine der Folgen dieses moralischen Zustandes, und sie rächte sich an der Regierung und am System; die Revolution in Petersburg wurde praktisch durch Hunger hervorgerufen, die ersten Regimenter, die in Aufruhr gerieten, waren Provianttruppen. Der Mangel an Waffen, die unsinnigen Massenmusterungen im Herbst 1916, die einen Abgang an Arbeitskräften auf den Feldern verursachten usw., all das waren Anzeichen und Folgen der zum Tode verurteilten Verwaltung.
Ich habe das Recht, das Rußland des Krieges darum so zu beurteilen, weil ich Rußland schon vor dem Kriege so beurteilt und verurteilt habe; mein Urteil gründe ich nicht nur auf die Mißerfolge des Krieges, denn diese sind das Ergebnis einer schweren sittlichen Krankheit des ganzen zarischen Regimes und damit auch des russischen Volkes. Darüber läßt das Studium des vorrevolutionären Rußland und namentlich seiner Literatur nicht im Zweifel. Die größten Schriftsteller zeigen uns die russische Seele ohnmächtig und krank, zeigen uns aber auch ihre elementare Sehnsucht nach der Wahrheit. Tolstoj hat nur reliefmäßig ausgedrückt, wonach alle sich sehnten, als er die Grundlage der Kunst in der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit erblickte. Der Zarismus war eben nicht die Wahrheit, und der Krieg entblößte die Unwahrheit nicht mehr und besser, als Puškin, Gogol, Lermontov, Gončarov, Turgeněv, Dostojevskij, Tolstoj, Gorkij! Die Russen heißen jetzt Dostojevskij den Propheten der Revolution – der Krieg und die Revolution sind die blutige Bestätigung der russischen Literatur ...
Rußland ist gefallen, es mußte durch seine innere Unwahrheit, wie Kirějevskij sagen würde, fallen. Der Krieg war nur eine große Gelegenheit, bei der die innere Unwahrheit in ganzer Nacktheit zutage trat, und der Zarismus brach in sich und durch sich selbst zusammen. Der Zarismus hatte verstanden, Rußland im groben zu zivilisieren, d. i. dem Adel, der Bureaukratie, den Offizieren die europäischen Errungenschaften zu leihen, aber der Mužik und der Mužik-Soldat – Rußland – lebten außerhalb dieser zarischen Zivilisation, und deshalb nahmen sie sie nicht in Schutz, als sie sich im Krieg infolge ihrer Unzulänglichkeit und inneren Armut nicht bewährte.
Eine große Schuld daran wird der russischen Kirche und ihrer Passivität zugeschrieben; sie ist schuld durch das, was sie nicht getan hat, d. i. daß sie sich um die moralische Erziehung des Volkes nicht genug gekümmert hat. Das, was die Slawjanophilen, namentlich Kirějevskij an der russischen Kirche loben, ist gerade ihre große Unzulänglichkeit. Čaadajev sah besser als die Slawjanophilen.
Zu dieser Überzeugung über die moralische Grundlage des Zarismus bin ich schon längst vor dem Kriege gelangt; in meinem Buche über Rußland, das gerade vor dem Krieg erschienen ist, habe ich den unseligen Zustand Rußlands beschrieben und analysiert. Selbstverständlich konnte ich mich nach Ausbruch des Krieges mit den unkritischen Russophilen daheim und in Rußland nicht einigen.
Die tschechische Kolonie in Rußland erwartete die Befreiung der Nation vom Zaren; das war nach der politischen Bildung unsrer Kolonie in Rußland um so begreiflicher, als der Zar sich persönlich zu den Unsrigen anständig verhielt. Gleich nach Kriegsbeginn, am 20. August, empfing er eine tschechische Deputation. Ich erwähnte schon die Hoffnungen, die durch diesen Empfang des Zaren auch bei uns zu Hause hervorgerufen wurden. Etwas später, am 27. September 1914, empfing der Zar wiederum eine tschechische Deputation und äußerte sein Interesse an der Slowakei, indem er um eine Denkschrift über sie ersuchte; 1915 sandte er Orden für unsere Legionäre in Frankreich, 1916 sprach er über die tschechische Frage mit Štefánik, den General Janin in den russischen Militärkreisen und bei Hofe sehr nachdrücklich unterstützt hatte; der Zar stimmte im Juni der Freilassung der slawischen Gefangenen zu und empfing im Dezember abermals eine tschechoslowakische Deputation.
Persönlich benahm sich also der Zar in der Sache anständig, aber um so mehr äußert sich der Unterschied zwischen dem Zaren und dem Zarismus auch in diesem Falle. Mag sein, die Äußerungen des Zaren zu den Unsrigen waren unverbindlich, aber unsere Landsleute in Rußland berauschten sich an jeder Kundgebung, in der von slawischen Brüdern gesprochen wurde; ich habe darüber meine Meinung gleich zu Anfang gesagt und darauf aufmerksam gemacht, daß das offizielle Rußland unter Slawen vor allem die Rechtgläubigen verstand.
Rußland und namentlich der Zar verpflichtete sich von allem Anfang an für Serbien, das ist wahr; aber für Serbien erklärten sich sofort auch die übrigen Mächte, niemand wollte zulassen, daß Wien die Unabhängigkeit Serbiens antaste. Mit einer »Strafexpedition« wäre auch Rußland einverstanden gewesen, so wie England.
Unsere russischen Landsleute wiesen besonders auf die Audienz vom 17. September 1914 hin; wer aber den Bericht über sie aufmerksamer durchliest, wird gerade von dieser Audienz enttäuscht sein. Politische Kinder lassen sich allerdings namentlich von einem politischen Kind, wie der Zar es war, mit Worten abspeisen; er äußerte sein Interesse, aber etwas Verbindliches versprach er nicht. Die Deputation zeigte ihm auf der Landkarte das Gebiet des künftigen Staates, das auch Wien und Oberösterreich umfassen sollte, der Zar sagte zu dieser Phantasie nichts und schloß: »Ich danke Ihnen, meine Herren, für Ihre Informationen. Ich hoffe, daß Gott uns helfen werde und daß Ihre Wünsche sich erfüllen werden.« Ich glaube auch an Gott, aber nicht an einen rasputinschen Gott, – es ist auch danach ausgefallen!
Der Zar hatte, wie bekannt ist, am Hofe seines Vaters allerlei über die Slawen gehört und soll sich insbesondere für die Wenden interessiert haben; er hatte aber keinen allslawischen Plan, und den hatten nicht einmal seine Minister. Sonst hätte er nicht einen Menschen wie Stürmer, von dem er wußte, daß er entschiedener Germanophile sei, als Außenminister eingesetzt. Der Zar stimmte im März 1916 auch mit Baron Rosen, der durch sein Antislawentum und sein germanophiles Programm bekannt war, darin überein, daß Rußland und die Alliierten so bald wie möglich Frieden erlangen müssen (tunlichst unter Führung der Vereinigten Staaten).
Ich habe bereits den Hauptinhalt der Rede Sazonovs in der Duma (8. August 1914) angeführt. Ich kannte die Vergangenheit und die Anschauungen Sazonovs, den der Zar entließ, weil er ihm als Liberaler geschildert worden war. Sicherlich war er mit der Rasputinade nicht einverstanden und war überhaupt ein anständiger Mensch, aber einen positiven slawischen und tschechischen Plan hatte auch er für den Krieg nicht. Sazonov war, das wußte man im Westen gut, gegen den Krieg gewesen und hatte sich insbesondere bemüht, dem Konflikt mit Deutschland auszuweichen, und schon deshalb hatte er keinen solchen slawischen Plan, wie unsere Leute ihm naiverweise zuschrieben. Sazonov dachte, wie andere hohe Würdenträger, wenn er von den Slawen sprach, vor allem an die Rechtgläubigen. Ich habe seine Äußerung in der Duma bei Kriegsbeginn angeführt. Auch aus der Unterredung mit der zweiten Deputation, die am 15. September empfangen wurde, geht es hervor; unsere Leute legten großes Gewicht auf sie. Sazonov fragte, wie die Tschechen sich das Verhältnis der rechtgläubigen Dynastie zu dem katholischen Volke vorstellen, und äußerte Zweifel; die Deputation berief sich auf unsere tschechische – Toleranz. Sazonov sprach sich, wie der Bericht lautet, sehr günstig über unser Volk aus und berief sich gleichfalls auf Gott – »wenn Gott den russischen Waffen einen entscheidenden Sieg senden werde, werde die Erneuerung des völlig selbständigen Königreiches mit den Absichten der russischen Regierung übereinstimmen; diese Frage sei schon vor Beginn des Krieges erwogen und grundsätzlich in einem für die Tschechen günstigen Sinne entschieden worden«. Ich gebe diesen Bericht nach Notizen der Deputation wieder; jedermann sieht, wie Sazonov vorsichtig und unverbindlich spricht. Ich werfe ihm dies nicht vor, als Russe und verantwortlicher Minister hat er dazu das Recht und geradezu die Pflicht; mir handelt es sich nur darum, daß wir die slawjanophilen und russophilen Illusionen loswerden. Das Interesse Sazonovs für die Rechtgläubigen deckt sich mit dem, was ich über Izvolskij gesagt habe. Paléologue erzählt in seinen Erinnerungen aus dem zarischen Rußland, er habe am 1. Januar 1915 Sazonov vorgeschlagen, die Entente solle Österreich-Ungarn gegen Deutschland gewinnen; Österreich würde vielleicht Galizien an Rußland abtreten, Bosnien-Herzegovina an Serbien, und damit wäre die Sache geregelt. Darauf fragte Sazonov den französischen Diplomaten, was mit Böhmen und Kroatien geschehen solle? Paléologue antwortete darauf, daß das tschechische und südslawische Problem für Frankreich untergeordnet sei, es genüge, wenn die Tschechen und Kroaten eine umfangreiche Autonomie erhalten. Auf Sazonov schien, wie Paléologue weiter darlegt, die Argumentation Eindruck zu machen und er gab zu, daß der Plan verdiene, überlegt zu werden. Wenn Paléologue die Szene richtig schildert, so muß ich daraus folgern, daß Sazonov in der ersten Zeit des Krieges einen slawischen Gesamtplan nicht hatte: wenn er ihn gehabt hätte, würde er nicht haben umhin können, den Argumenten des französischen Diplomaten seine eigenen entgegenzustellen. (Man bemerke, daß Sazonov nur von Böhmen und Kroatien spricht, keineswegs von den dazugehörigen Ländern.)
Soweit es sich um das slawische Programm des offiziellen Rußland handelt, kann man beobachten, daß Rußland mit dem Fortschreiten des Krieges – mit den Niederlagen – in seinen Erklärungen über die Slawen immer zurückhaltender wurde. Ich erwähnte schon verschiedene Proklamationen vom Beginn des Krieges. Sazonov gedachte noch am 29. Mai 1916 in der Duma der »slawischen Brüder«, sprach jedoch nur von ihrer »künftigen Organisation« und versprach den Polen die weiteste Autonomie. Aber Trepov spricht, als er etwas später (Dezember 1916) über die Kriegsziele redet, nicht mehr von den Slawen; und der Zar wiederholt in seinem Befehl an Heer und Flotte, die Ziele des Krieges seien Konstantinopel, das freie, allerdings mit Rußland unzertrennlich verbundene Polen, wie es Trepov und vor Trepov Stürmer gesagt hat.
Das wahre russische Kriegsprogramm sehen wir klar in den geheimen Abkommen, in denen Rußland seine eigentlichen Absichten enthüllt hat. Das wichtigste ist vor allem der Geheimvertrag mit Frankreich und England (Sommer 1915), dessen Hauptforderung die Eroberung Konstantinopels ist; ein gewiß sehr wichtiger Vertrag, insbesondere mit Rücksicht auf England. Der zweite (provisorische) Vertrag ist das Abkommen zwischen Doumergue und Pokrovskij vom 12. Februar 1917. Frankreich bedingt sich die Grenzregelung am Rhein aus, Rußland in seinem Westen. Nach der Situation und namentlich nach dem Geheimvertrag mit Rumänien (September 1916), dem die Bukowina (die ganze mitsamt den Ruthenen), Siebenbürgen und der Banat versprochen wurden, hätte Rußland in Übereinstimmung mit seinem polnischen Programm die Westgrenze durch Galizien, Posen und vielleicht einen Teil von Preußisch-Schlesien erweitert. Soweit ich erfahren konnte, waren die Einzelheiten dieser Regelung nicht genauer bestimmt.
In manchen nichtoffiziellen slawjanophilen russischen Zirkeln wurde schon früher in entsprechender Weise an die Eroberung der Slowakei, wenigstens der östlichen und mittleren, gedacht, ohne Rücksicht auf die böhmischen Länder; diese, namentlich Böhmen, wurden dem Westen überlassen (Mähren wurde von einigen dieser Slawjanophilen in Gnaden aufgenommen). Diesen Plan brachten auch manche unserer Leute (Slowaken) in Erinnerung, namentlich während des Vormarsches der Russen im Winter 1914 und dann während der Offensive Brusilovs im Sommer 1916.
Das zarische Rußland hatte, wie gesagt, kein durchdachtes tschechoslowakisches Programm; im Gegenteil, das offizielle Rußland war dadurch antislawisch, daß es ohne Rücksicht auf einzelne slawische Völker völlig nach seinen strategischen Absichten sein Großreich abrunden und vor allem nach Konstantinopel gelangen wollte. Daß es dabei bedeutende Teile slawischer Nationen geopfert hat, entspringt nicht bösem Willen, – es war mehr: Schwäche und Unfähigkeit.
Wie das offizielle Rußland die slawische Frage verstand, davon gibt auch General Alexějev eine Probe. Ich hatte mit ihm eine Unterredung (eigentlich eine Polemik) über die Weltlage und über Rußland. Ein vorsichtiger, kritischer Mensch von zwar konservativen und eng russischen Anschauungen, aber er hätte nicht gezögert, selbst den Zaren zu opfern, um Rußland zu erlösen. Er erkannte als einer der ersten, und zwar sehr frühzeitig (1915!), daß die russische Armee gegen die Deutschen nicht genüge, und deshalb konnte er in der Zeit, in der ich ihn kennen lernte, wirkliche slawische Pläne gar nicht haben. Auf unsere Landsleute in Rußland blickte er ziemlich kritisch, der Petersburger Wirrwarr gefiel ihm nicht. Über Europa und namentlich über uns und die österreichisch-ungarischen Völker hatte er unklare Ansichten. Er hatte sich zu Beginn des Krieges vorgestellt, Österreich-Ungarn lasse sich in Staaten gliedern, die Rußland dienstbar sein sollten; die Tschechen sollten sich bis zum Adriatischen Meer nach Triest und Fiume ausbreiten und so bedeutende Teile des deutschen Österreich (mit Wien!) einnehmen, aber von der Slowakei nur den Teil bis Košice und dafür viel Magyaren erhalten. Der tschechische Staat sollte also nach diesem russischen Plan eine nichttschechische Mehrheit haben! Serbien sollte sich bis Rußland ausbreiten, im Norden also bis Užhorod! Der Zar habe Serbien seine Hilfe versprochen, und darum sollte Serbien an Rußland grenzen – im Norden! Dabei rechnete man nicht mehr mit den Magyaren, obgleich bei Kriegsbeginn auch Alexějev sehr stark damit gerechnet hatte, daß die Magyaren sich von Österreich – losreißen; in diesem Falle hätte man ihnen die slawischen Brüder ohne Gnade geopfert. Die Russen hatten längst Gelegenheit und die Pflicht gehabt, gegen die Polen und Kleinrussen eine slawische Politik zu treiben; die Geschichte dieser Politik ist ein trauriges Kapitel der russischen Geschichte und zugleich ein Beweis dafür, wie unslawisch Rußland war.
Das zarische Rußland war nicht slawisch, sondern byzantinisch; es war durch das dekadente Byzanz verfälscht. Was speziell uns Tschechen betrifft, so fürchtete Petersburg unsern Liberalismus und Katholizismus. Ich erfuhr aus dem Ministerium des Äußern (dort waren manche anständige und ehrbare Männer), daß man über uns näher erst nachzudenken begonnen hat, als Paris und London anfingen, uns anzuerkennen. Ich habe darauf hingewiesen, daß mein Empfang durch Briand auf die russische Diplomatie Eindruck gemacht hat; so auch in Petersburg, wie mir mitgeteilt wurde. Meine Darlegungen gegen den deutschen Plan Berlin-Bagdad erweckten in Petersburg Aufmerksamkeit; aber es gefiel Petersburg nicht, daß ich in London Professor geworden war, man sah darin die Absicht Englands, sich unserer Freiheitsbewegung zu bemächtigen. Man hatte in Petersburg auch kolportiert, daß ich in London für einen englischen Prinzen als künftigen König arbeite. Auf diese Weise machten London und auch Paris das zarische Rußland auf unsre revolutionäre Bewegung und unsre Frage überhaupt aufmerksam und Böhmen wurde für Petersburg wichtig als Barriere gegen den deutschen Druck am Balkan und im Osten überhaupt; aus diesen Erwägungen entsprang im Herbst 1916 die Politik, die mit der Schaffung von Dürichs regierungsfreundlichem Nationalrat endete.
Ich habe mehrmals den Abgeordneten Supilo und seine Reise nach Rußland erwähnt; ich will die Sache eingehender nach einem Bericht von Supilo selbst hier schildern.
Supilo verließ London im Januar 1915 und fuhr über Rom nach Niš (dort befand sich die serbische Regierung), um sich mit Pašić zu beraten. Von Niš begab er sich über den russischen Süden nach Petersburg, um Sazonov und Rußland gegen die Pläne zu gewinnen, von denen man schon damals munkelte und die sich im Londoner Pakt mit Italien konkretisierten. Supilo weilte Ende März in Petersburg; in Genf erstattete er mir (Anfang Juni) ausführlichen Bericht über seinen Aufenthalt in Rußland.
Er hatte sich davon überzeugt, daß das offizielle Rußland die slawischen Angelegenheiten überhaupt nicht verstand und nur an die Serben als Rechtgläubige dachte. Sazonov bewies ihm z. B., daß Spalato eine gänzlich italienische Stadt sei; auch machte er einen Unterschied zwischen dem katholischen und dem rechtgläubigen Dalmatien und meinte, daß die Rechtgläubigen (die Serben) den Süden bewohnen; er sei sehr überrascht gewesen, als Supilo ihm gezeigt habe, sie lebten hauptsächlich in Mitteldalmatien, keineswegs im Süden, und diesen Teil trat Rußland an Italien ab. Dadurch verriet ihm Sazonov den Pakt mit Italien: Sazonov sagte ihm in diesem Zusammenhang, daß die Südslawen den vermeintlich rechtgläubigen Süden und Spalato erhalten werden; aus der Hervorhebung Spalatos erriet Supilo, daß Sazonov nicht mit dem Norden Dalmatiens für die Südslawen rechne, und stellte ihm direkt die Frage, was mit Sebenico geschehen werde? Daraus soll der russische Außenminister geschlossen haben, daß Supilo von den Alliierten-Plänen mit Italien wisse, und er teilte ihm darauf weitere Einzelheiten mit. So lernte Supilo den Londoner Pakt vor dem Londoner Pakt kennen; er telegraphierte an Pašić und Trumbić davon und schrieb nach Paris an Delcassé ein ausführlicheres Memorandum.
Supilo handelte es sich nicht nur um das Ausmaß der territorialen Konzessionen an Italien, sondern auch darum, ob die Südslawen vereinigt oder auch weiterhin in drei Teile geteilt bleiben werden (Serbien–Kroatien–Montenegro). Der Londoner Vertrag war, daran kann man nicht zweifeln, gegen die Vereinigung der südslawischen Länder und kam eher dem großserbischen Programm entgegen. Man sagte im Westen, Sazonov sei lange Zeit sehr entschieden gegen Italien gewesen; andere versicherten, er sei nur soweit dagegen gewesen, als er nicht wollte, daß Italien das südliche Dalmatien bekomme, das er irrtümlich für rechtgläubig hielt. Die Sachen sind noch nicht genug aufgeklärt.
Supilo war auch bei Nikolaj Nikolajević; sein Bericht über die lange Unterredung mit dem russischen Generalissimus und seiner Umgebung lieferte ein unheimliches Bild von der politischen Naivität der russischen Führer und ihrer Unkenntnis nicht nur in den slawischen Dingen.
Supilo hatte recht; aber ich stimmte nicht mit seiner aufgeregten Taktik überein, durch die er Petersburg nicht nur gegen sich aufhetzte, sondern ebenso auch gegen die Kroaten, und durch die er so den Gegensatz zwischen Kroaten und Serbien verschärfte. Supilo begriff nicht die schwierige Lage, in die Rußland durch seine Niederlagen geraten war, und daß es mit seinen Verbündeten das Abkommen mit Italien aus Not vereinbart hatte; auch mußte damit gerechnet werden, daß Serbiens Dynastie und auswärtige Politik konservativ und zarenfreundlich orientiert waren. Pašić wollte nach dem Abschluß des Londoner Paktes selbst nach Petersburg reisen, aber Sazonov hielt es nicht für angebracht und notwendig.
Vom ganzen zarischen Slawentum wurde nichts verwirklicht, als daß aus Petersburg Petrograd wurde. Ich habe berichtet, daß ich dem offiziellen Petersburg frühzeitig unser nationales und slawisches Programm habe zukommen lassen; ich legte es öfter vor und auch die Londoner und Pariser Botschafter referierten, wie ich voraussetze, darüber. Doch die Botschafter in Paris, London und Rom hatten betreffs unser keine politischen Instruktionen; ich weiß nur von einigen geringeren und wenig bedeutenden Korrespondenzen zwischen Petersburg und den russischen Ämtern im Auslande. Es gibt keinen einzigen Akt der zarischen Regierung, der dem Eintreten Briands für uns oder gar der programmatischen Erklärung des Präsidenten Wilson gleichkäme. Diese erste programmatische Erklärung der Alliierten über unsere Befreiung war nicht – wie wir erwarten würden – auf russische Initiative oder Mitwirkung zurückzuführen, sondern auf das Verständnis und die Hilfe der westlichen Verbündeten, vor allem Frankreichs (Izvolskij unterschrieb nur die Erklärung). Übrigens ist die Geschichte unserer Armee die treffendste Illustrierung des zarischen Slawentums.
Wie alle unsere Kolonien hatte sich auch die russische sofort bei Kriegsbeginn für die Freiheit und Selbständigkeit der Nation erklärt und begonnen, sich um eine Armee aus russischen Tschechen und Slowaken zu bemühen. Diese Kundgebungen der tschechischen Kolonien geschahen überall spontan und waren die logische Folge unsres nationalen Programms. Nach der Pariser Kolonie, die als erste hervortrat, reichten die Moskauer Tschechen (am 4. August) der Regierung das Projekt einer tschechoslowakischen Legion ein; das war noch einen Tag vor der Kriegserklärung Österreichs an Rußland. Ende August begann die tschechoslowakische Legion, sich zu organisieren. Ende Oktober brach die Družina – dieser Name bürgerte sich für die russische Legion ein – zur Front auf.
Die Družina wurde von den Behörden den russischen Tschechen als russischen Staatsbürgern bewilligt und bildete einen Bestandteil der russischen Armee; als sich jedoch Gefangene zur Družina zu melden begannen, zeigte sich eine politische Ungleichheit zwischen den Družina-Angehörigen aus den russischen Staatsbürgern und aus unsern Staatsbürgern. Viele Offiziere waren gegen die nichtrussischen Staatsbürger; aber nach Überwindung der von den Behörden gemachten Schwierigkeiten wurde die Ausmusterung von »zuverlässigen« Gefangenen genehmigt, und sie bildeten bald die Mehrheit. Die »Neu-Družina« entstand Anfang 1915 bei Tarnopol durch Eintritt von Gefangenen, aber diese Bezeichnung wird für die später in die Družina Eingetretenen nicht benützt. Die Regierung verlangte, daß die Gefangenen um die russische Zugehörigkeit einreichen, das Offizierkorps mußte wenigstens zu einem Drittel aus Russen bestehen.
Die Regierung wollte aus unsern Leuten eine zuverlässig russische Armee haben; außerdem wiesen die Militärbehörden, namentlich auch der Generalstab, gleich anfangs der Družina eine nichtmilitärische, sondern politische Aufgabe zu: bei der Besetzung Österreichs sollte die Družina ein Korps von Propagatoren sein, die den Russen die Besetzung bei den Einwohnern erleichtern sollten. Der nichtmilitärische Charakter der Družina wurde offiziell auch dadurch besiegelt, daß man von ihr keine solche Disziplin forderte wie von der Armee; sie brauchte angeblich nur soviel Disziplin, um in Ordnung an den Ort ihrer Propaganda-Bestimmung gelangen zu können.
Die Entwicklung brachte es mit sich, daß die Družina zu Kundschafterzwecken benützt wurde; das bewirkten die Geschicklichkeit, Intelligenz und Sprachenkenntnis unserer Jungen. Die Družina-Angehörigen gewannen trotz dem Widerstand der Militärbehörden und vieler russischer Offiziere die Gunst Radko Dmitrijevs, Brusilovs und anderer Kommandanten und sicherten sich den Kundschafterdienst. Allerdings wurde die Družina dadurch auf die lange Front verstreut und konnte sich als Ganzes nicht geltend machen.
Ich will die Mühsal unserer ersten tschechischen Soldaten nicht schildern, nicht die Zurücksetzungen und Enttäuschungen, die sie von russischer und auch von tschechischer Seite erfuhren –, aber sie hielten aus und verloren nicht ihr slawisches Empfinden und ihre Sympathien für die Russen, allerdings vor allem für den russischen Mužik-Soldaten. Auf die russischen Offiziere blickten sie bald skeptisch.
Die russische Regierung und die Militärbehörden wünschten keine größere tschechoslowakische Armee; aus allem ging klar hervor, daß die Militärbehörden eine größere fremde Armeeeinheit nicht beisammen haben wollten. Trotzdem gelang es, im Januar 1916 aus der Družina ein tschechoslowakisches Schützenregiment zu bilden, und im Mai die Erlaubnis zur Aufstellung einer Brigade zu erhalten. Es ist wahr, daß dies mehr dem Namen nach geschah, denn die Zahl der Mannschaften war sehr gering; aber es war ein Anfang. In jener Zeit befand sich bereits Štefánik in Rußland und trug durch seinen Einfluß zu dieser vorläufig eher formalen Erweiterung der ursprünglichen Družina bei. Im Oktober wurde sogar die Formierung einer Division erlaubt, aber diese Erlaubnis bald wieder aufgehoben.
Unsere Kolonie, die frühzeitig zum »Bund« organisiert worden war (seit 11. März 1915), kümmerte sich mit Liebe und Begeisterung um das Entstehen der Družina; auf allen Seiten war große Opferbereitschaft; namentlich nach Zborov kümmerten sich die Kiewer auf alle mögliche Art um die Verwundeten und die Kranken. Ich gedenke gern der Familie Červený; unsere Soldaten hatten auch eine vorzügliche ärztliche Pflege – Dr. Girsa, Dr. Haerink u. a.
Persönlich verstand ich, von der Verschiedenheit der politischen Gesinnung zu abstrahieren, und verkehrte mit konservativen Landsleuten; ich konnte aber nicht übersehen, daß vielen die politische Übersicht fehlte und daß sie keinen militärischen Sinn aufbrachten. Der Bund war eine russische Vereinigung (von russischen Staatsbürgern) und regierungstreu, daher nahm er gleichfalls die offizielle Anschauung über die propagatorische Aufgabe der Družina an; die Führer des Bundes gaben sich mit einem kleinen Heer auch in der Befürchtung zufrieden, die Nation würde durch den Kampf seine künftigen Bürger verlieren. Viele begnügten sich mit militärischem Symbolismus (Fahnenweihen u. ä.), agitierten für den Übertritt unserer Leute zur Orthodoxie (auch die Gefangenen agitierten für die Orthodoxie, z. B. der feierliche Übertritt gefangener Offiziere in Murom) und benahmen sich überhaupt äußerst unmilitärisch. Manche ersannen geradezu ungeheuerliche Definitionen dessen, was und wie ein wahrer tschechischer Soldat zu sein habe, und ähnliche Spielereien.
Es entstanden Unstimmigkeiten zwischen Petersburg und Kiew, dann Unstimmigkeiten in Kiew selbst; hier wurde ein seltsamer »Tschechoslowakischer Verband« gebildet, und der griff den Bund an und denunzierte alle Welt, insbesondere auch mich und mein angebliches Westlertum. Diese Anklagen und Denunziationen, Unwahrheiten und Lügen wurden an die russischen Militärbehörden und Ministerien dirigiert; die anständigeren Soldaten (General Alexějev selbst) wurden dadurch angewidert, aber bei vielen, und auch im Ministerium des Äußern, fanden sie Gehör.
Ich will all die Unmöglichkeiten und Ungeheuerlichkeiten nicht beschreiben, wie sie mir in Rußland von den Behörden selbst geschildert wurden –, unter der Firma des Slawentums wurden wahre Orgien der Schwarzen-Hundert-Gesinnung und politischen Kurzsichtigkeit begangen. Aber die Tatsache, daß in unsrer Armee immer mehr unsre Gefangene entschieden, und schließlich die Revolution überwanden diese Früchte der russischen Erziehung. Der politische Analphabetismus des russischen Zarentums und seine Bestechlichkeit hatten nicht nur die russische Gesellschaft, sondern auch viele unsere Leute verdorben.
Als ich in Petersburg ankam, waren die Gegensätze zwischen (dem fortschrittlicheren) Petersburg und (dem im ganzen konservativen) Kiew, zwischen dem Bund und dem Verband usw. formal erledigt. Die Petersburger Opposition hatte sich stets zum Pariser Nationalrat gemeldet, ebenso die Mitarbeiter des Bundes und große Mehrheiten der Gefangenenlager. Wenigstens hatte, wie schon erwähnt, unsere Brigade den Pariser Nationalrat als leitende politische Autorität anerkannt und mich am 20. März 1917 als Diktator proklamiert. Darauf zeigte mir am 23. März auch der Bund an, daß er mich als einzigen Repräsentanten der tschechoslowakischen Nation anerkenne. Anfang Mai tagte endlich in Kiew der (III.) Kongreß des Bundes, der Štefániks Programm des Nationalrates mit großer Mehrheit annahm. Formale Bedeutung hat der sog. Kiewer Pakt, der von Štefánik, Dürich, Vertretern des Bundes und der amerikanischen Delegation unterzeichnet wurde. Dadurch wurden die geradezu seit Beginn des Krieges sich hinziehenden Streitigkeiten beseitigt, wenigstens nach außen; ich fand aber noch persönlicher Verbitterung und Verstimmung genug.
Ich will nicht ungerecht sein gegen unsere Politiker aus der tschechischen und slowakischen Kolonie in Rußland; in der ersten Zeit setzten unsere Gefangenen und unsere Leute aus Böhmen und der Slowakei, die, vom Kriege überrascht, in Rußland stecken geblieben waren, ihre Hoffnungen auf das offizielle Rußland. Erst als sie dieses kennengelernt hatten und dann schließlich durch die Revolution änderten sie ihre Meinungen. Um so größer ist das Verdienst der Petersburger Landsleute, die von Anbeginn und besonders während Stürmers Regierung einen kritischen Standpunkt einnahmen und an der Einheitlichkeit der Befreiungsaktion festhielten. Ich gedenke hier dreier Namen: Pavlů, Čermák, Klecanda. Zur Petersburger Richtung meldeten sich zur selben Zeit unsere Gefangenen: in den letzten Monaten 1916 und in den ersten Monaten 1917, noch vor der Revolution, ließen sich aus unseren Lagern Stimmen für die Einheitlichkeit der Aktion, für den Pariser Nationalrat vernehmen.
Es wird interessant sein, zu studieren, wie sich in den einzelnen Lagern die Gefangenen politisch organisierten und ihre Anschauungen in allerlei Denkschriften, die sie nicht nur an den Bund, sondern auch an die russische Regierung sandten, aussprachen. Die Lager waren abgeschnitten, die Mehrzahl ihrer Kundgebungen geschah, glaube ich, ohne Verständigung mit anderen Lagern.
Meine erste Sorge in Petersburg war, sich über die Lage zu orientieren und näher kennenzulernen, was sich seit 1914 in unserer Militärangelegenheit ereignet hatte. Ich war zwar von Zeit zu Zeit schriftlich unterrichtet worden, aus Rußland waren unsere Leute und auch Russen zu mir gekommen, ich hatte meine eigenen Boten nach Rußland gesandt und besaß schließlich Informationen von Štefánik, aber nun bot sich mir die Möglichkeit, die Geschichte unserer Aktion in Rußland bis ins Detail kennenzulernen. Nach meiner Kenntnis des offiziellen Rußland hatte ich von vornherein keine große Bereitwilligkeit zur Schaffung unserer Armee erwartet; die Niederlagen gleich 1914 und 1915 hatten natürlich die Stimmung und die Lust nicht gesteigert, sich um irgendein nichtrussisches Heer zu kümmern. Das Jahr 1916 brachte Brusilovs Offensive, die Hoffnungen stiegen, und dazu nahm sich unserer Aktion in Rußland Frankreich durch General Štefánik an, von dessen Plan, wie wir ihn in Paris verabredet hatten, ich berichtet habe. Doch auch Brusilovs Offensive scheiterte, wieder entstand eine pessimistische Stimmung, gleichgültig gegen irgendeine neue Aktion.
Die Unklarheit unserer Leute darüber, was sie eigentlich zu wollen haben, und die peinlichen Zwistigkeiten schreckten die Russen ab; oft habe ich mich, aufrichtig gesagt, gewundert, daß sie den Unsrigen so viel Geduld entgegenbrachten. Im Januar 1915 hatte Dr. Vondrák den Ministerien des Äußern und des Krieges namens der Kiewer das Projekt einer tschechischen Armee eingereicht. Darin wurde verlangt, daß der Bund von der russischen Regierung als Repräsentant der tschechischen Nation anerkannt werde; den Petenten fiel nicht ein, daß sie irgendeine Legitimation von der Nation haben müßten, wenn sie in Rußland Autorität genießen sollten, und daß die russische Regierung nicht bestimmen konnte, wer unsere Nation repräsentieren solle. Sie konnten als russischer Staatsbürger nur unsere Kolonisten, die selbst russische Staatsbürger waren, repräsentieren. Man wünschte keine große Armee, – höchstens etwa eine Division; aber diese Armee sollte erst bei der Besetzung der Slowakei, die einen Teil des künftigen tschechischen Staates bilden würde, in Aktion treten. Die Kiewer fürchteten, die Österreicher würden gefangene tschechische Soldaten mit dem Tode bestrafen; dem sollte durch die Besetzung der Slowakei, die Proklamierung der Unabhängigkeit des tschechischen Staates und die Absetzung der Habsburger Dynastie vorgebeugt werden, und außerdem sollte Rußland den Tschechen in irgendeiner Form die Zukunft verbürgen, etwa so wie den Polen, also durch ein Manifest des Oberkommandanten. Sollten die Österreicher dann trotzdem die tschechischen Gefangenen hinrichten, so sollte an ihnen in gleicher Weise Vergeltung geübt werden, – – diese politischen Naivitäten fanden natürlich weder bei den Militärs noch in den Ministerien Gehör, und darum entschied das Ministerium des Innern (Maklakov) im Mai durch eine kategorische Erklärung, daß dem Gesuch nicht stattgegeben werde.
Zur Charakteristik des Projektes sei noch angeführt, daß darin erklärt wird, Offiziere, mögen sie auch Tschechen sein, würden in die Armee nicht aufgenommen werden, – solche und ähnliche überflüssige Probleme wurden in der Kolonie sehr lebhaft erörtert; viele Offiziere, die sich in die Družina und dann in die Brigade meldeten, wurden von den zivilen Projektanten im wahren Sinne des Wortes moralisch mißhandelt. In dem Bestreben, eine geradezu ideal slawische, demokratische, brüderliche Armee zu haben, tauchten Pläne auf, die in fruchtloser Rabulistik über die Eigenschaften unseres wahren Soldaten endeten. Der Wahrheit gemäß muß zugegeben werden, daß derartige sehr gut gemeinte Einfälle auch in der Neu-Družina und unter den Soldaten-Gefangenen auftauchten.
Auf dem zweiten Kongreß der tschechoslowakischen Vereine in Kiew (25. April bis 1. Mai 1916) wurde beschlossen, aus der Brigade eine Armee zu formieren und sich um die Befreiung der Gefangenen zu bemühen. Dieser Beschluß entsprach dem Plan, den wir im Februar in Paris bis ins einzelne formuliert und über den wir einen ausführlichen Bericht nach Rußland erstattet hatten. Abgeordneter Dürich kam Ende Juni nach Rußland und verhandelte (wenigstens anfangs) im selben Sinne.
Der Bund (jetzt in Kiew) reichte im Juni (1916) dem Hauptquartier ein neues Projekt einer tschechischen Armee ein, und dieses wurde vom General Alexějev dem Generalstab zur Überarbeitung und Formulierung empfohlen. Der Generalstab tat dies, allerdings auf seine Art und Weise, – doch das Hauptquartier genehmigte nicht einmal diesen vom Generalstab formulierten Plan; das Ministerium des Äußern erhob Einwände; General Alexějev erfuhr durch General Červinka von allerhand Unordnung in der Armee und von Klagen des »Verbandes« usw. und wandte sich gleichfalls gegen das Projekt des Bundes. So wurde das Projekt Anfang August begraben.
Unsere Landsleute setzten große Hoffnungen darein, daß der Zar selbst die Befreiung der slawischen Gefangenen wünsche. Er stimmte der Befreiung grundsätzlich schon am 21. April 1916 zu und genehmigte am 10. Juli den Rapport des Generals Šuvajev, der für die Erleichterung der slawischen Gefangenen warm eintrat. Das war freilich nur die Bewilligung zur Befreiung der Gefangenen; davon bis zur Formierung einer Armee war noch weit. Übrigens wußten das die Kiewer, und darum verlangten sie gleich in ihrem ersten Entwurf, in dem sie sich auf die Worte des Zaren bei der Audienz beriefen, eine Kundgebung der verantwortlichen Regierung, – Rußland war, wenn auch unvollkommen, doch nur konstitutionell.
Zugunsten der Gefangenen äußerten sich selbst nach dem Mißerfolg im August manche einflußreiche Persönlichkeiten; unter ihnen General Brusilov, in einem dem General Alexějev am 6. Januar 1917 eingereichten ausführlichen Rapport. Aber nicht einmal Brusilov hatte Erfolg.
Aus Opposition gegen den Westen, aus Abneigung gegen die Gunst, die uns in England und Frankreich bewiesen wurde, widmete das Ministerium des Äußern, wie schon gesagt, im Herbst (1916), der tschechoslowakischen Freiheitsbewegung größere Aufmerksamkeit und entschloß sich, diese Bewegung zu kontrollieren und zu lenken. Anfang Dezember begannen die zivilen und militärischen Reaktionäre, ihren Plan durch Gründung eines besonderen Nationalrates für Rußland zu verwirklichen; am 17. Dezember wurde dem Kriegsministerium der Vorschlag eingereicht, den Abgeordneten Dürich an die Spitze des regierungstreuen Nationalrates zu stellen, der Ministerrat genehmigte ihn am 18. Januar 1917, der Kriegsminister Běljajev am 2. Februar.
Wenn das offizielle Petersburg den Abgeordneten Dürich auch unterstützte, so war es nicht ganz mit seiner russischen Politik einverstanden. Abgeordneter Dürich gab sich nämlich überall, auch in Rußland, als Anhänger der Politik des Dr. Kramář aus und verkündete den Anschluß unserer Länder an Rußland, ja er sprach sich für die Annahme der Orthodoxie aus. Aber im Ministerium des Äußern kannte man die Angst Englands und Frankreichs vor dem Panslawismus und dem Panrussismus und lehnte darum Dürichs Plan der Annexion mit irgendeiner Autonomie ab oder restringierte ihn wenigstens; auch gefielen, wie gesagt, unser Liberalismus und Katholizismus nicht. Deshalb nahm man mein Programm der vollständigen Selbständigkeit an, erstrebte aber die Kontrolle über uns.
Einzelheiten darüber, wie es von der grundsätzlichen Zustimmung des Zaren, die slawischen Gefangenen zu befreien, zu den uns feindlichen Akten des Ministers Stürmer und nach ihm Trepovs (der am 23. November 1916 Stürmer gefolgt war) kam, will ich nicht berichten; man gab mir verschiedene Auslegungen, und ich hatte, aufrichtig gesagt, weder Zeit noch Lust, mich mit der Sache lange zu befassen. Es ist natürlich, daß unsere Leute Stürmer germanophile Hinterhältigkeit zuschrieben; bis zu welchem Grade hier politische, germanophile Tendenzen mitsprachen, will ich nicht entscheiden; gewiß spielten sie irgendeine Rolle.
Ich will eine Erklärung geben, die mir am sachlichsten erschien. Stürmer war auf Wunsch kapitalistischer Kreise gegen die Befreiung der Gefangenen (der unseren und der slawischen überhaupt). Insbesondere die tschechischen Gefangenen waren gut qualifizierte Arbeiter in den Fabriken und eigneten sich auch für Kohlen- und andre Gruben. Das paßte auch manchen unsrer Fabrikanten in Kiew, und sie waren darum für eine kleine und nicht militärische Legion.
Diese Auslegung läßt sich durch die Tatsache stützen, daß später auch die Provisorische Regierung unsre Arbeiterspezialisten nicht vergaß und sie nicht zur Armee entlassen wollte.
Der Zar selbst unterlag dem Drucke Stürmers und gestattete, daß seine im Juni gegebene Zustimmung zur Befreiung der slawischen Gefangenen nicht ausgeführt wurde. So wurde mir die Sache von einem zuverlässigen Informator geschildert. Dafür spricht ein Brief der Zarin an den Zaren vom 17. August 1916, die im Namen Rasputins verlangt, die slawischen Gefangenen nicht zu befreien. (Die Briefe der Zarin sind im Druck erschienen.) Möglich, daß die Zustimmung des Zaren (so lautet wenigstens meine Information) durch die allmähliche Einberufung einer kleinen Anzahl von Gefangenen in die Armee Genüge getan werden sollte; dadurch wäre unsere Brigade unbedeutend gewachsen, eine Armee wäre aus ihr nicht entstanden. Ein zweiter Brief der Zarin an den Zaren darüber vom 27. August legt diese Erklärung nahe.
Štefánik und mit ihm die französische Mission drang (1916 bis 1917) in die militärischen und zivilen Behörden, unsere Armee formieren zu können. Der Generalstab (in Petersburg) setzte eine Kommission zur Ausarbeitung eines Reglements für die Formierung unsrer Armee ein. Wie so viele Kommissionen diente auch diese dazu, die Sache zu verschleppen; im Oktober war das Reglement dennoch fertig, aber sein Inhalt entsprach nicht unserm Plan. Eine etwas größere Družina sollte formiert werden; die Armee war nicht autonom, nicht unser, sondern völlig russisch, mit russischen höheren Offizieren, mit russischem Kommando usw. Dieses Reglement wurde durch General Červinka dem Hauptquartier übergeben. Der Bund schritt ein und verlangte mit Recht, daß unsere Armee wenigstens auch tschechisch, nicht nur russisch sei; das Hauptquartier übertrug dem Generalstab die Überarbeitung des Projekts. Die endgültige Redaktion zog sich bis Februar 1917 hin –, inzwischen brach die Revolution aus, und erst die neue Revolutionsregierung bestätigte sie.
Als die Revolution ausbrach, wandelten sich unsere Leute so wie die Russen. Der Bund reichte dem Vorsitzenden der Provisorischen Regierung (3. April) eine Erklärung gegen Dürichs Nationalrat ein, der Führer sei ich; in einer ausführlichen Eingabe an die Provisorische Regierung formuliert der Bund sein Gesuch so, daß der Repräsentant der tschechoslowakischen Nation in internationalen Angelegenheiten ich, in den Angelegenheiten der Tschechen und Slowaken in Rußland der Bund sei; der konstitutionelle Fehler, dessen sich die Kiewer gleich in ihrem ersten Projekt schuldig gemacht hatten, wiederholt sich. Aber nicht nur der Bund, sondern auch der Verband beeilte sich mit einem Memorandum an den Präsidenten der Duma, worin er Stürmer, Dürich usw. arg angriff. Ich wunderte mich nicht einmal über die Umkehr dieser unserer Leute: im Ministerium des Äußern hatte sich Herr Priklonskij vor einer Weile eifrig für den Abgeordneten Dürich eingesetzt – nach der Revolution drohte er ihm sofort, ihn einsperren zu lassen ...
Kriegsminister in der Provisorischen Regierung war Gučkov. Er hielt sich an die alten Entscheidungen gegen uns und lehnte dem Bund die Bildung einer Armee ab; dagegen ordnete er an, daß unsere qualifizierten Arbeiter in die für die Verteidigung Rußlands arbeitenden Unternehmungen gesendet werden. Doch Miljukov, der Außenminister, nahm sich unserer Sache an; er ersucht Gučkov (20. März), gemäß dem Gesuch des Bundes die Armee zu bewilligen; was die gewünschte einheitliche Führung der ganzen Aktion betreffe, solle gewartet werden, bis ich nach Rußland komme. Miljukov verlangt auch (22. März), daß Dürichs Nationalrat aufgelöst werde; Gučkov stimmt zu (26. März). Schließlich bestätigte am 24. April der Militärrat der Provisorischen Regierung das »Reglement über die Organisation der tschechoslowakischen Armee«. Die Formierung der Armee nach dem neuen Statut begann im Mai, General Červinka als Vorsitzender der Formationskommission leitete sie; am 22. April gab der Generalstab den militärischen Departements den Befehl, die Musterung unserer Gefangenen zuzulassen. Im Mai traf ich dann gerade zur rechten Zeit in Petersburg ein.
Im Westen waren wir schon längst anerkannt, die Entente hatte unsere Befreiung als eine der Hauptbedingungen des Friedens erklärt, und mit der Entente war der diplomatische Vertreter Rußlands in Paris einig, aber in Rußland selbst wurden wir dank der Revolution in zwölfter Stunde schließlich auch anerkannt, wenigstens indirekt.
Bringen wir uns die Gründe dieses schreienden Unterschiedes zu Bewußtsein.
Schon aus der gegebenen pragmatischen Schilderung – ich habe nur ein Gesamtbild gegeben und Einzelheiten fortgelassen – ist ersichtlich, daß die russischen Zivil- und Militärbehörden, beginnend beim Zaren, die Formierung unsrer Armee versprochen, aber wirklich nicht ausgeführt hatten. Wir besaßen ein bestätigtes Projekt, doch seine Durchführung stieß überall und namentlich im Hauptquartier selbst auf Widerstand. Man verzögerte die Durchführung und bereitete immer neue Schwierigkeiten.
Dieser Stand der Sache ist eine Folge des eigentlichen Wesens des offiziellen Rußland und seiner Grundlagen: Absolutismus – Orthodoxie – (offizielle, russische) Nationalität. Wir waren dem Zarischen Rußland Brüder und Slawen zweiten Ranges.
Die Last dieses zarischen Absolutismus erfuhr ich von Tag zu Tag bei meinen geradezu unzählbaren Interventionen bei allen möglichen und unmöglichen Militär- und Zivilbehörden. Ich besaß das bestätigte Statut zur Formation unserer Armee, man machte mir Versprechungen, man erteilte Befehle usw. – aber die Durchführung blieb stecken und stieß ganz offenkundig auf Widerstand im Hauptquartier selbst. Die einzelnen Menschen machten immer Zusagen, hielten sie aber nicht. Ich verhandelte mit den höchsten und einflußreichsten Persönlichkeiten, mit Kornilov, nach ihm mit Brusilov usw., sie machten alle Versprechungen, aber Monat um Monat wurde die Verwirklichung der Armee hinausgezogen.
Ich nahm Mißtrauen und Unverständnis auf allen Seiten wahr. Die Militärbehörden hatten allerdings zu jener Zeit Sorgen genug mit der eigenen Armee; sie hatten Überfluß an Mannschaften und legten darum auf ein tschechisches Heer keinen Wert. Und die russischen Beamten waren ganz offenkundig bereits müde. Rußland war im Begriff, zu verlieren, die Armee zerfiel – wozu da die tschechische Armee, wozu solch eine Anstrengung? Das war wenigstens ein Argument, ein sachliches Argument. Aber viele fürchteten ganz offenkundig unseren Liberalismus und Katholizismus, diese Begriffe verschwammen ineinander. Zugleich wurden völlig gemäß der russischen absolutistischen Dreiheit Befürchtungen ausgesprochen, man müßte nationale Armeen auch den Polen und den anderen Nationen in Rußland bewilligen, wenn eine tschechische nationale Armee errichtet würde. Deshalb wurde die schwache Brigade als ein Teil der richtigen Armee erhalten und unsere Soldaten mußten Rußland die Treue schwören, obgleich manche Generale begriffen, daß sie aus rein militärischen Gründen vor allem der eigenen Nation schwören sollten.
Sehr häufig hörte ich über den Undank der Bulgaren klagen – gewiß würden die Tschechen sich in gleicher Weise gegen Rußland undankbar erweisen!
Ein großer Teil des russischen Militärs in den Ämtern betrachtete unsre Gefangenen immer noch als Österreicher; sie konnten nicht begreifen, daß sie Tschechen und Slowaken sein sollen, der Legitimismus wurde auch für Österreich anerkannt. Wie sie die russische Revolution haßten, so ließen sie die tschechische Revolution nicht gelten. Immer wieder mußten unsere Jungen in den Gefangenenlagern darüber hinweg hören, daß sie Franz Joseph die Treue geschworen, und daß sie, wenn sie ihn verraten, auch den Zaren verraten werden. Zur Entschuldigung dieser Russen sei daran erinnert, daß auch in Italien, England, Amerika und mitunter selbst in Frankreich, allerdings nur zu Beginn, dieses Argument gegen uns vorgebracht wurde. Erst durch die Darlegung und häufige Wiederholung unserer Argumente wurden wir entösterreichert. Bei vielen russischen Generälen und Beamten war der Legitimismus so festgesetzt, daß sie mit unserer Revolution gar nicht sympathisieren konnten. Das gilt in gewissem Maße auch von Alexějev, den die Unsrigen als unseren besten Freund ansahen; das war er, vermochte aber seine altrussischen Anschauungen nicht loszuwerden.
Praktisch wurde das legitimistische Argument auch in dem Sinne vorgebracht, daß ebenso die Österreicher und die Deutschen ihre russischen Gefangenen gegen Rußland benützen könnten; dieses Argument wurde namentlich auch in Italien (Sonnino) verwendet. Was Rußland betrifft, war das Argument nicht ganz richtig, denn die Deutschen trieben tatsächlich und systematisch schon Propaganda für Deutschland unter den russischen Gefangenen.
Ein starkes Argument gegen die große Armee hatten jene Reaktionäre, die in ihrem Innern gegen den Westen und die Entente eingenommen waren; sie wünschten nicht, daß unsre Armee nach Frankreich gehe. Dabei konnten sie sich auf unsre Landsleute berufen; auch General Červinka war nicht für die Entsendung der Armee nach Frankreich. Ich führe als Beispiel an, wie mir ein sehr einflußreicher Reaktionär seine Abneigung gegen den Westen begründete: Brusilovs Aktion im Vorjahre – so argumentierte er – habe Rußland keinen Vorteil eingetragen, trotzdem eine halbe Million Feinde und geradezu eine Million Geschütze weggeführt wurden (in Wirklichkeit etwa 250 000 Gefangene – die Anzahl der Geschütze ist allerdings noch mehr herabzusetzen). Brusilov habe auf Drängen des Zaren seine Aktion beschleunigen müssen, obgleich er mit der Vorbereitung noch nicht fertig gewesen sei; aber den Zaren habe dazu der italienische König bewogen, – hier haben sie den Beweis, daß Rußland nicht für den König von Preußen, aber für die Könige und Präsidenten im Westen arbeitet!
Ich habe schon gesagt, daß die Streitigkeiten unserer Landsleute, die gegenseitigen Denunziationen und viele Klagen die russischen Militärs verstimmten; und es gab viele Militärs, denen die militärischen Spielereien mißfielen. Aber hauptsächlich wirkte auf die russischen Militär- und Zivilbehörden die Abneigung unsrer eigenen Leute gegen eine große Armee. Davon sprachen Alexějev u. a. immer zu mir. Ich hatte von Mitgliedern der »Zweigstelle« die Nachricht, der Vorsitzende des Bundes habe noch im Herbst 1916, als er also über die Armee verhandelte, ausdrücklich nur eine kleine Armee gewünscht. Er hatte Furcht vor Verlusten an Menschenleben.
Die Revolution brachte schließlich die Besserung; Miljukov hatte ich schon in England für unsern Plan gewonnen, und durch eine glückliche Fügung des Schicksals war er Außenminister geworden. Der neuen Richtung nachgebend, befahl General Duchonin (damals Hauptquartiermeister) am 13. Juni 1917, die Brigade auf vier Regimenter zu erweitern und auch das Reservebataillon für die erwartete fernere Vermehrung der Armee zu erweitern. Schließlich besserte sich nach Zborov, wo unsere Brigade nicht nur ihre Tapferkeit, sondern auch ihre strategische Geschicklichkeit bewies, die Situation auch militärisch. Unsere Jungen wurden offiziell belobt, der Name der tschechischen Brigade drang in breitere russische Kreise. Zur Belohnung befahl das Oberkommando die Formation einer zweiten Division.
Trotzdem zog sich diese Formation immer mehr hinaus. Man muß sich nämlich bewußt werden, daß die Petersburger Revolutionsregierung sich von der Armee und ihrer Leitung grundlegend unterschied. In der Regierung saßen Liberale und Sozialisten, aber die höheren Militärbehörden legten entweder eine monarchische oder wenigstens rein militärische Gesinnung an den Tag, der ganze Militärapparat war der alte geblieben. Miljukov und die Liberalen erkannten mich, den Pariser Nationalrat und unser Programm an, aber die Militärs gingen nach ihrer Gewohnheit vor.
Doch auch Sozialisten und Liberale aller Richtungen waren gegen uns; wir seien Chauvinisten. Die freisinnigen und fortschrittlichen Russen befanden sich immer seit jeher in Opposition gegen die Regierung und ihren offiziellen Nationalismus, und darum waren sie gegen unsere Bestrebungen, namentlich als sie durch den Gegensatz und Streit unserer beiden Flügel, des rechten und des linken, erkannten, daß viele unserer Leute grundsätzlich oder wenigstens aus opportunistischer Taktik reaktionär waren. Aus diesem Grunde gab Kerenskij als Kriegsminister direkt den Befehl, unsere Brigade aufzulösen, und dasselbe befahl der neue Kommandant des Kiewer Kreises Oberucěv, ein Sozialrevolutionär. Dem Minister Kerenskij setzte ich die Sache im Memorandum vom 22. Mai auseinander; auch Oberst Oberučev mäßigte sich auf mein Einschreiten. Zborov brachte darin die Wendung.
Nach der Revolution waren der neuen Regierung die Registraturen aller Ämter in die Hände gefallen, und man hatte verschiedene offizielle und nichtoffizielle Berichte gefunden, durch die manche unsrer Leute kompromittiert wurden; auch wurden die liberalen Beamten redseliger und teilten mir mit, was während der zarischen Regierung im Ministerium des Äußern und anderswo vor sich gegangen war. Man versicherte mir, ein einflußreiches Mitglied des Bundes sei direkt mit der Ochrana und Protopopov in Verbindung gestanden, und daher sei die Abneigung gegen unsre Armee nicht nur in Regierungs-, sondern auch in Militärkreisen gekommen; denn gegen die Ochrana und Protopopov waren auch die anständigen konservativen Russen.
Unsere Situation tritt sehr anschaulich hervor, wenn wir die Schicksale unserer Brigade mit der serbischen Legion vergleichen. Den Serben hatte der serbische Gesandte Spalajković leicht die Bewilligung erwirkt, aus den österreichischen Gefangenen eine serbische Legion zu bilden. Die Serben hatten einen selbständigen Staat, die Serben waren Verbündete, waren in Petersburg offiziell vertreten, waren rechtgläubig, und darum bewilligten die russischen Behörden trotz den legitimistischen Einwänden, die sie gegen uns vorbrachten, den Serben ohne weiteres die Sammlung »österreichischer« Gefangener. Gleich im Jahre 1915 wurden mehrere Transporte nach Serbien geschickt. In Odessa befand sich der serbische General Živković, dem die serbischen Offiziere und Unteroffiziere gesendet wurden, und so wurde im Jahre 1916 die erste serbische Division gebildet. Zu dieser Division traten viele unserer Offiziere und Soldaten über, da sie die tschechische Armee nicht erwarten konnten. Die Serben hatten den Unsrigen versprochen, eine selbständige tschechische Abteilung zu schaffen, doch kam es dazu nicht; von Kiew aus wurde dagegen agitiert; darauf verließ eine bedeutende Anzahl der Unsrigen die serbische Division.
Das Schicksal dieser serbischen Division und unserer Jungen darin war traurig. Gegen den deutschen Vormarsch Mackensens blieben die tapferen Kämpfe in der Dobrudscha strategisch unfruchtbar; aber sie näherten uns den Serben an und stärkten die intime Zusammenarbeit. Hier ist nicht der Ort, darzulegen, wie mit der Formierung einer zweiten serbischen Division begonnen wurde und wie sie infolge inneren Zwistes und Kampfes aufgelöst werden mußte. Ich führe aus der Geschichte der serbischen Legion nur soviel an, als den Unterschied zwischen der Haltung des offiziellen Rußlands gegen uns und gegen die Serben veranschaulicht. Doch zugleich benütze ich diese Gelegenheit, um dankbar jener unserer Offiziere und Soldaten zu gedenken, die auf den Ebenen der Dobrudscha für die gemeinsame Freiheit und für Serbien ihr Leben ließen. Zu Beginn des Jahres 1917 (im April) wurden die Unsrigen vom serbischen Kommando aus der Legion entlassen und kehrten nach Kiew zurück, um in unsere Armee eintreten zu können.
Es gibt eine Anekdote über Kaiser Joseph, wie der Kommandant einer Festung ihm hundert Gründe vorgab, warum er seine Ankunft nicht durch Salut gefeiert habe; der letzte war, daß kein Pulver dagewesen sei. In ähnlicher Lage befanden sich die russischen Militärbeamten mir gegenüber. Sie hatten alle möglichen Erklärungen, Gründe und Ausflüchte, wie ich sie nach ihren Reden formuliert habe, sagten mir aber nicht, was ich erst nach der bolschewikischen Revolution erfuhr: daß die leitenden Militär- und Regierungsbehörden schon 1915 formell beschlossen hatten, die tschechische Armee nicht aufzustellen. Wie gesagt, erfuhr ich dies erst nach dem bolschewikischen Umsturz; der serbische Militärattache Lontkević Leider ist er gestorben; er versprach in Kiew, mir durch die Gesandtschaft eine Abschrift der Protokolle jener Beschlüsse nach Paris oder Amerika zu senden; ich habe sie, wenn er sie gesendet hat, nicht erhalten. brachte mir eine Nachricht darüber.
Ich verstand, daß die an Gehorsam gewöhnten Militärs sich durch diese Entscheidung und das Amtsgeheimnis gebunden fühlten; aber es verdroß mich doch, daß weder Kornilov noch Brusilov es bei aller Bewunderung für unsere Jungen wagten, einen Beschluß zu ändern, der unter ganz anderen Verhältnissen gefaßt worden war. Es wurde mir klar, warum die Versprechungen des Zaren nicht erfüllt worden waren und warum das schließlich anerkannte Formationsreglement unserem Programm nicht entsprochen hatte. Ich erhielt aus Wien sichere Nachrichten, daß man dort von der Verschleppung und dem Widerstand der russischen Behörden wußte und daß man sich darüber sehr freute. Unsere Jungen erblickten in der systematischen Verschleppung durch die russischen Militär- und Zivilbehörden eine Bestechung seitens Österreich, und der Gedanke, daß es sich um österreichischen Einfluß handle, wurde in der »Zweigstelle« öfter erörtert. Auch in den Streitigkeiten unsrer Parteien und in der Bildung des Nationalrates Dürichs erblickten viele die Wiener Finger (ohne Wissen des Abgeordneten Dürich); von Priklonsky, dem Organisator des regierungstreuen Nationalrates, behauptete man öffentlich (auch Russen beschuldigten ihn), daß er bezahlter Magyarophile sei (er war vor dem Kriege Konsul in Budapest gewesen, nach der Revolution wurde er dort wieder gesehen). General Štefánik äußerte zu mir den angeblich begründeten Verdacht auch gegen eine der Kiewer Persönlichkeiten, – es war der vereinzelte und einzige Fall von Verrat. Ich drückte gegenüber Štefánik Zweifel an der Sache aus; er versprach mir detaillierte schriftliche Beweise; sie dürften beim Absturz seines Flugzeuges verbrannt sein. Ich bezweifle auch heute, daß sie beweiskräftig genug waren.
Nachdem ich die Situation und die Hauptpersonen kennengelernt hatte, richtete ich mir meinen Plan ein.
Unsre militärische Aktion war sehr erschwert durch die Verschiedenheit und die große Anzahl der Instanzen. In Petersburg das Kriegsministerium, der Generalstab, dazu das Ministerium des Äußern, und der Ministerrat, in Mogilev das Hauptquartier, in Kiew die Behörden des militärischen (Kiewer) Kreises, und schließlich hatten auch der Generalissimus und der Kommandant und der Stab des Armeekorps dreinzureden, dem unsre Abteilungen zugeteilt waren. Es war ein fortwährendes Pilgern von Pontius zu Pilatus; und die langen Fahrten von Ort zu Ort! Überall und von jedermann mußten wir irgendeine »Bumaga« erhalten, und die wurde nicht schnell geschrieben –, in Rußland ist auch das Militär, wie alles, bureaukratisiert.
Eine ausgiebige Hilfe boten mir die Gesandten der alliierten Mächte; alle halfen sie und unterstützten uns bei den russischen Behörden, wenn wir verschiedene kleinere Sachen zu erwirken hatten; ebenso gingen uns die Militärattachés an die Hand, die gewöhnlich im Hauptquartier in Mogilev weilten.
Durch die Gründung und Einrichtung der »Zweigstelle« des Pariser Nationalrates war die Arbeit vereinfacht; es fielen nämlich verschiedene landsmännische Instanzen weg. Vorher gab es den Bund und den Verband, und beide Organisationen hatten in die militärische Aktion eingegriffen; neben dem Bund war dann der regierungsfreundliche Nationalrat (Dürichs) entstanden. Der Bund war ein mehr konsularisches Organ geworden. Der Družina wurden politische (propagatorische) Helfer zugeteilt; das entsprach dem ursprünglichen Plan einer propagandistischen Družina; sie waren das Verbindungsglied zwischen den militärischen Kommandanten der Družina und den Freiwilligen zwischen dem Kommando der Družina und anderen höheren Kommandanten und der Verwaltung des Bundes (und auch zwischen unseren Soldaten und unseren Organisationen im Hinterland). Anfangs gab es nur einen solchen Helfer (Herrn Tuček), der vom Generalstab eingesetzt war, später wurden noch zwei hinzugenommen (die Herren Reimann und für die Slowaken J. Orszak), die vom Kommandanten der Družina ernannt wurden.
Durch die Einrichtung der Zweigstelle des zentralen Pariser Nationalrates trat eine Vereinfachung ein. Mit meiner Ankunft in Rußland wurde ich nach der Organisationsordnung das Haupt der Zweigstelle. Größere Ordnung kam herein, man arbeitete einheitlicher, und wir gewannen dadurch das Vertrauen der Russen und der Ententevertreter.
Wir erweiterten die Zweigstelle des Nationalrates und teilten uns in die Arbeit; unsre Hauptbeschäftigung galt allerdings der Armee und ihrer Vermehrung. Die Korrespondenz mit den Gefangenen – mit einzelnen und mit ganzen Lagern – war riesig. Mitglieder der Zweigstelle und viele Offiziere und Soldaten mußten die Lager besuchen und die Musterungen leiten. Bald erwuchsen uns finanzielle Sorgen; ein schon älterer Plan wurde zurecht gemacht und eine nationale Anleihe ausgeschrieben. Die Vereinfachung führte ich nach Möglichkeit auch in den russischen Einrichtungen durch. In Kiew gab es z. B. eine Militärkommission, die die Formation der Armee leitete; die Kommission war russisch, an Stelle der mehrgliederigen Kommission setzte ich einen Inspektor durch, allerdings auch darum, weil die Mitglieder der Kommission uns feindlich waren.
Eine große Hilfe war mir der leider so früh gestorbene Jiři Klecanda, ein lieber, der Sache ergebener Mensch und unermüdlicher Arbeiter.
Klecanda war Sekretär der Zweigstelle; mein Privatsekretär war der junge Historiker Papoušek.
Für die technische Formierung unsrer Armee wurde von der Regierung General Červinka als geborener Tscheche bestimmt. Er war ein geeigneter Vermittler zwischen der russischen Regierung und dem Bund, später dem regierungstreuen Nationalrat; bald nach Ausbruch des Krieges war er dem Kiewer Militärkreis zugeteilt worden und erhielt dort die Leitung der tschechischen Militärangelegenheiten; später, als im Herbst 1916 der Generalstab die Formationsordnung herausgab, wurde er mit der Formation unsrer Armee betraut. Er war russischer Militär, und schon dadurch hatte er Streitigkeiten mit dem Bund und dem Verband, aber für die tschechische Sache arbeitete er ergeben; er war konservativ und stimmte nicht in allem mit mir überein, aber das schadete uns nicht in der Zusammenarbeit.
Die Aufgabe bestand darin, die Armee aufzubauen oder, wie wir in Rußland sagten, den »Korpus« aus der ursprünglichen Družina, die in eine Brigade, dann in eine Division mit dem Kern der zweiten Division umgewandelt worden war. Der Plan sah vor, zunächst einen Korpus zu schaffen und den zweiten vorzubereiten, denn Gefangene, die sich freiwillig zur Armee meldeten, gab es genug. Ich setzte dort fort, wo Štefánik aufgehört hatte. Dieser hatte gegen den russischen Plan, eine Propagandaarmee und eine politische Armee aufzustellen, unsere Anschauung vertreten, daß ein wirkliches und möglichst großes Heer nötig sei und daß es nach Frankreich gesandt werden soll. Das hatten wir sofort nach Briands Anerkennung unsres antiösterreichischen Programms vereinbart.
Um ganz klarzumachen, wodurch mein Plan sich vom russischen und vom Plan des Bundes unterschied: mir ging es darum, in Rußland unsre selbständige Armee zu haben, mit der wir disponieren konnten. Es genügte nicht, daß sie ein Bestandteil der russischen Armee sei; in diesem Falle hätte man sie stückweise über die ungeheuer lange Front zerstreuen können, und die Armee wäre als Ganzes nicht zur Geltung gelangt. Ferner handelte es sich darum, eine möglichst große Armee zu haben, eine wirklich militärische, keinesfalls politische Armee. Es handelte sich um den Geist unsrer Armee –, sie sollte unser sein, nicht russisch, wenn auch russophil, mir war es z. B. nebensächlich, ob das Kommando russisch oder tschechisch sei. Hauptsache war, wie die Kommandanten waren, wie der Geist der Armee beschaffen war, wofür und wie sie diente. Die tschechische Armee mußte klar wissen, warum sie kämpfte und welche politischen Ziele sie erreichen sollte; sie mußte unsrer Nation schwören – kurzum, sie mußte unsre Armee sein.
Und zweitens: die Armee sollte nach Frankreich überführt werden. Das war im Vorjahre in Paris vereinbart worden, und Štefánik hatte dafür seit jener Zeit in Rußland bis zu meiner Ankunft gearbeitet.
Die Gegner Frankreichs und überhaupt des Westens waren dagegen und gegen den Abtransport unserer Gefangenen nach Frankreich; während des zarischen Regimes wurde in einzelnen Ministerien und im Ministerrat darüber verhandelt. Als M. Albert Thomas nach Petersburg kam, erneuerte er namens der französischen Regierung das Ersuchen, unsre Armee nach Frankreich zu überführen; der Generalstab genehmigte damals (durch Entscheidung vom 14. Mai 1917) und begründete sehr hübsch den Plan – es war eben schon nach der Revolution, und das Eis gebrochen. Ich kam mit der französischen Militärmission überein, vorläufig 30 000 Gefangene nach Frankreich zu schicken, darunter einige Tausend Südslawen; M. Thomas stimmte zu und half auf alle mögliche Weise, die Aktion zu beschleunigen; die Vereinbarung mit M. Thomas ist der erste unterschriebene Vertrag des Nationalrates mit einem Staat, und wiederum ist es Frankreich, das so als Erstes unsern Nationalrat als Kompaziszenten anerkannte. Ein Teil der Gefangenen sollte in Frankreich in den Fabriken arbeiten. Man versprach uns (vom Ministerium des Äußern und dem Generalstab) die Transporte, möglichst bald über Archangelsk zu leiten. Trotzdem verzögerte sich die Sache – der erste Transport geschah de facto erst im November. Und die Zahl war viel kleiner, als wir gewünscht hatten. Doch hofften wir, bald über Sibirien nach Frankreich zu gelangen.
Rücksichten auf den künftigen Aufenthalt der Armee in Frankreich hatten selbstverständlich einen gewissen Einfluß auf ihre Organisation; wir führten französische Disziplin ein, damit nach der Überfahrt in Frankreich nicht Schwierigkeiten entstehen, und französische Verbindungsoffiziere wurden in die Armee aufgenommen.
All meine Sorge war darauf gerichtet, nicht in das russische militärische Chaos hineingezogen zu werden und die Armee beisammenzuhalten; bis zu einem gewissen Maße ist dies gerade infolge des Verfalls der russischen Armee und des ganzen Zerfalls Rußlands gelungen. Unsere Jungen sahen den Zerfall, und das wirkte abschreckend; administrativ half uns der Zerfall insofern, als wir uns oft brevi manu aus den russischen Magazinen mit Material versorgten, das übrigens ohne uns zerstohlen worden wäre. Wir folgten darin in bedeutendem Maße der Taktik des fait accompli; Verhandlungen mit den Behörden waren geradezu unmöglich, so groß war überall die Unsicherheit, und die entscheidenden Persönlichkeiten wechselten von Tag zu Tag. Ich vereinbarte etwas mit Kornilov, aber am Tage darauf war schon Brusilov da, usw. – der Zerfall, die Unsicherheit war vollständig.
Die Bewilligung der Formation durch die Regierung stellt nur eine Rahmenverordnung dar; bei der Durchführung ging es um Einzelheiten, hauptsächlich um die endgültige Bestimmung der Größe unsrer Armee. Allerdings forderte ich zuerst einen Korpus, dann je nach den Umständen einen zweiten. Und diese wichtige Entscheidung erreichte ich schließlich am 9. Oktober vom General Duchonin, dem neu eingesetzten Chef des Generalstabes im Hauptquartier; er kannte und schätzte unsre Jungen, ihre Kundschaftertätigkeit und die Aktion bei Zborov und hatte die Entschlossenheit, den veralteten Beschluß der russischen Regierung nicht zu beachten. Duchonin erweiterte, wie schon gesagt, im Juni die Brigade; er unterschied sich von Brusilov, Kornilov, Alesceo u. a., die uns ebenso anerkannt und geschätzt, aber das alte Regierungsverbot aufzuheben sich nicht getraut hatten. Wir besaßen also einen Korpus, und zwar einen nach der Vereinbarung unabhängigen; ferner war mit Duchonin ausdrücklich abgemacht worden, daß unsre Armee nur gegen den äußern Feind bestimmt sei. Dadurch wurde mein Hauptprinzip der Nichteinmischung von den Russen selbst angenommen und bestätigt. Wir erreichten dadurch die Gewähr, in den russischen Parteistreitigkeiten und Kämpfen nicht herangezogen zu werden, heute von diesem, morgen von jenem. Mit dieser Formel befriedigte ich auch die konservativen und reaktionären Elemente in der russischen Armee, die sich bis zum letzten Augenblick gegen eine selbständige Armee auflehnten und sich vor ihr ängstigten.
Bald nach Duchonins Entscheidung wählte ich von den russischen Generalen zum Befehlshaber des Korpus den General Sokorov. An die Spitze des Generalstabes stellte ich den früheren General Dieterichs; ich hatte erfahren, daß er sich in Kiew aufhalte und im Bahnhof als einfacher Tagelöhner arbeite (ich wußte schon im Hauptquartier von ihm); um so eher wählte ich ihn für unseren Generalstab. Praktisch wurde erst durch die Einsetzung der beiden leitenden Befehlshaber die Formation des Korpus gesichert.
Hier muß ich noch ein Wort über General Duchonin sagen. Er war ein junger, energischer und fähiger Offizier und ein sehr ehrenwerter Mann; er wehrte sich gegen die Befehle Lenins, mit den Zentralmächten einen Waffenstillstand zu schließen. Er begriff unsre Situation und half uns. Unglücklicherweise wurde er von den Bolschewiken getötet (2. Dezember), als er unter Krylenko sich des Hauptquartiers bemächtigte. Der Leichnam des Ermordeten wurde mehrere Tage auf dem Bahnhof von Mogilev auf barbarische Weise geschändet; endlich konnte er doch nach Kiew zur Bestattung überführt werden. Wir versammelten uns zum Begräbnis, aber es wurde nicht erlaubt; erst auf weitere Bitten und Drängen aller Beteiligten durfte der Leichnam in der Nacht begraben werden.
Einige Tage nach dem Begräbnis besuchte ich die Witwe, und erfuhr da zu meinem Entsetzen, daß der Verstorbene bereitwillig die Stellung des Hauptkommandanten unsres Korpus angenommen hätte; und Frau Duchoninova deutete an, daß er dieses Angebot erwartet hatte. Ich aber hatte, als ich einen Kommandanten einsetzte und mich mit Duchonin beriet, an ihn nicht gedacht, da ich vermutete, er würde das Kommando eines Korpus als Herabsetzung seines hohen Ranges ansehen, und deshalb hatte ich ihm den Posten nicht angeboten. Gewiß wäre er als unser Kommandant, der den Posten in Mogilev verlassen hätte, am Leben geblieben sein ... Wir werden ihm ein treues Andenken bewahren – er verwandelte Wort und Papier in einen Körper, er machte aus der günstigen Entscheidung der Provisorischen Regierung Wirklichkeit.
Nur mit einem Wort sei hier auf die russischen Offiziere in unsrer Armee hingewiesen. Unter den Gefangenen hatten wir nur niedrigere Offiziere. Generäle und Chefs der einzelnen militärischen Abteilungen und Behörden hatten wir nicht, und deshalb nahmen wir als Hauptkommandanten russische Offiziere. Wir konnten nicht unsre unvorbereiteten und unerprobten, in der Mehrzahl jungen Offiziere einsetzen. Das ergab sich überall aus der Situation: in Rußland hatten wir russische höhere Offiziere, in Frankreich französische, in Italien italienische. In Rußland wurde seit Beginn auf die russische Leitung unsrer Armee um so mehr hingearbeitet, als die Armee russisch und nicht tschechisch sein sollte. Es versteht sich von selbst, daß dadurch überall Schwierigkeiten entstanden. Hauptsächlich dadurch daß unter den russischen Offizieren ein größerer Teil seine Mission nicht begriff. Viele zeigten außerdem eine sichtbare Wirkung der allgemeinen Demoralisation des zarischen Regimes in der Administration und im Militärdienst. Mir wurden damit viele Schwierigkeiten bereitet. Auch ein Teil unserer Offiziere und Soldaten verstand z. B. nicht sofort, warum ich bald nach meiner Ankunft den Kommandanten der Brigade Mamontov abberief, der in der Armee Beliebtheit und Vertrauen genoß; er war gewiß ein geschickter Mensch, aber mehr Journalist und Tribun, als Soldat.
In der Družina war das Kommando russisch; schon in der zweiten Division war das Kommando tschechisch, im Korpus wurde es tschechisch eingeführt; in vieler Hinsicht allerdings nur dem Namen nach, denn es gab nicht Zeit noch Fähigkeit genug, das russische Kommando nicht nur schnell zu übersetzen, sondern auch nach unsern Bedürfnissen auszugestalten. Das hing mit der ganzen militärischen Einrichtung zusammen.
Man muß sich überhaupt die Schwierigkeiten vorstellen, die wir mit der Organisierung der Armee hatten. Es gab nicht bloß die Frage des Kommandos und der militärischen Signale, sondern es handelte sich auch um die ganze militärische Administration,
Die Soldaten waren ferner Freiwillige; sie meldeten sich freiwillig, und schon das gab ihnen eine gewisse Freiheit. Uns schwebte das Ideal einer demokratischen Armee vor; es ist begreiflich, daß in dem russischen Chaos das Ideal der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht selten etwas anarchisch aufgefaßt wurde. Und als schließlich nach dem bolschewikischen Umsturz der Bolschewismus auch in unsern Reihen Fuß zu fassen begann, war es eine schwere Aufgabe, rasch ein demokratisches System der Disziplin und des Gehorsams, das einem Heer im Felde unerläßlich ist, auszuarbeiten. Wir nahmen, wie gesagt, die französische Disziplinarordnung mit den nötigen provisorischen Änderungen an.
Unter den Freiwilligen gab es natürlich Anhänger aller unsrer Parteien und Richtungen, und auch das verursachte gewisse Beschwerden. Die Soldaten, und insbesondere die Offiziere, wußten nicht immer zwischen Politik und Strategie zu unterscheiden. Aber die Gegensätze waren nicht so scharf wie daheim, weil wir in der Fremde waren, ohne das heimische Milieu.
Es war keine leichte Aufgabe, unter solchen Umständen die Armee rein militärisch zu organisieren und ihre militärische Tüchtigkeit zu erzielen. Es ging, ich wiederhole es, nicht nur darum, ob das Kommando russisch oder tschechisch sein solle, und darüber wurde sehr lange verhandelt, sondern auch um den Sinn dieses Kommandos, um weitreichende Probleme, darum, welche Strategie und Taktik dem Geiste unserer Nation entsprechen. Jedenfalls ging es darum, die freiwillige Armee militärisch tüchtig zu machen. Ich konnte mir nicht verbergen, daß bei der Organisierung der Armee und ihrer Leitung, des Ganzen und der einzelnen Abteilungen und Fächer, trotz aller Vorsicht eine gewisse Portion von Dilettantismus mit unterlief. Ich selbst, der Nichtmilitär, mußte viel nachdenken, um einzelnen Aufgaben zu genügen. Es handelte sich nicht bloß um die Zusammensetzung des Heeres, sondern um ein Heer, das seinen Aufgaben gewachsen sein sollte, sobald wir mit dem militärisch hervorragenden Feind zusammenstoßen mußten. Es war natürlich, daß die Unsrigen sich mit ihrer russischen Umgebung verglichen; aber wir mußten an die Deutschen und Preußen denken, mit denen wir kämpfen wollten. Die militärische Fachkenntnis und Disziplin verbürgen im Kampfe geringere Verluste; auch die Menschlichkeit, nicht nur der Militarismus, verlangt eine gute Bewaffnung und gute militärische Schulen.
Die Verhältnisse forderten von den einzelnen Selbständigkeit des Urteils und der Aktion; im Ganzen bewährte sich die Legion gerade darin gut. Im kleinen wie im großen zeigte sich Talent und improvisatorische Begabung.
Die bolschewikischen Vorbilder ließen sich nicht einfach verbieten. Deshalb beschränkten wir z. B. die Betriebsausschüsse schon unter Kerenskij auf wirtschaftliche, Bildungs- und ähnliche Aufgaben. Die demokratische Verwaltung des – nota bene freiwilligen – Heeres erforderte eine gewisse Mitentscheidung der Soldaten selbst.
In einer demokratischen Armee ist natürlich das Offiziersproblem schwierig. Welche Vorrechte und Freiheiten kann und darf der Offizier noch genießen? Z. B. entstand sofort die Frage, ob die Offiziere sich besonders verköstigen sollen, und ähnliche größere und kleinere Probleme. Es war nicht möglich, sie rasch, ohne Erfahrung im Pauschal und endgültig zu lösen; bei den gegebenen Umständen war eine straffe Uniformierung gar nicht möglich, und darum ging man in den einzelnen Abteilungen mehr oder minder selbständig vor.
Der Sokol, seine Grundsätze und Ideale waren uns Vorbild und Schule. Allerdings war ich mir des Unterschieds zwischen Soldat und Sokol wohl bewußt, doch die Sokolidee hatte einen bedeutenden und guten Einfluß. Wir machten Fehler, aber im ganzen ist der Versuch doch nur gelungen.
Sehr schwer war die Aufgabe der Verpflegung; wir hatten bald mehr als 40 000 Soldaten und mußten für sie Waffen, Monturen und Schuhe, Brot und Fleisch verschaffen. Bis zu einem gewissen Grade half uns, wie schon gesagt, der Zerfall der russischen Armee dabei. Es war nicht leicht, von dem ukrainischen Mulik Getreide und Mehl zu erhalten, weil er für Geld nicht verkaufen wollte – er verlangte Werkzeug, Nägel u. ä.; und schließlich hinderte uns die stets sich wandelnde politische Lage.
Ursprünglich und zunächst waren wir von den russischen Militärbehörden abhängig gewesen. Als wir uns jedoch in der Ukraina sammelten, machten die russischen Behörden allmählich den ukrainischen so weit Platz, als die Ukraina sich eben selbständig machte. Zugleich konnten wir es nicht vermeiden, mit der neu entstehenden bolschewikischen Obrigkeit, die zur Herrschaft gelangte, zu verhandeln.
Es entstand die schwere Aufgabe des Transports; wie sollte nämlich unser Heer nach dem Osten geschafft werden, denn wir hielten daran fest, über Sibirien und über das Meer nach Frankreich zu kommen. Die russischen Eisenbahnen wurden, was Verwaltung und Material betrifft, von Tag zu Tag schlechter. Deshalb war die Transportfrage so schwierig.
Es ist natürlich, daß unter der großen Anzahl von Freiwilligen nicht alle von gleicher Qualität und Wert waren. Und ebenso versteht sich von selbst, daß nicht alle sich nur aus idealer patriotischer Begeisterung gemeldet hatten. Die Mehrzahl der russischen Gefangenenlager waren für unsere Leute sehr schlimm; übel wirkten vor allem die Unfreiheit und der bureaukratische Druck der ungebildeten Lagerkommandanten, – und deshalb bedeuteten die Legionen die Befreiung für sie. Das gilt allerdings für die spätere, die Zeit nach der Revolution, für 1917 und besonders für 1918. Die Legionen gewährten ihnen eine größere persönliche Sicherheit und bessere Versorgung, zumal in Krankheitsfällen; der Eintritt in die Legionen schützte sie auch vor Österreich – wenn sie nach Hause zurückgekehrt wären, wären sie in die österreichische Armee gekommen und in dieser schlechter drangewesen, und es hätte mehr Menschenleben gekostet. Gerade darin war unsere Armee eine Rettung.
Die Jungen gaben selbst gut Obacht auf die verschiedenen Formen von Drückebergerei; vor der Schlacht bei Zborov hatten sich etwa hundert Mann der Alt-Druzina entfernt – das waren in Rußland geborene und erzogene Leute. Doch die große Mehrzahl unsrer Soldaten waren gute und zuverlässige Menschen und erfüllten ihre schwere Aufgabe erfolgreich und ehrenvoll. Ich habe viele Erfahrungen gemacht und viel Gelegenheit gehabt, unsern Soldaten und damit den tschechischen Menschen zu beobachten.
Ich kenne nicht die Anzahl der tschechischen und slowakischen Gefangenen in Rußland und vermag deswegen nicht, das genaue Verhältnis der Legionäre zu den Gefangenen zu bestimmen; mir schien, daß die Anzahl derer, die sich zu uns nicht gemeldet hatten, ziemlich groß war. Die genaue Konstatierung wäre ein guter Maßstab der allgemeinen Bewußtheit und politischen Entschlossenheit.
Mein Verhältnis zu den Soldaten war gut, freundschaftlich, kameradschaftlich, obgleich meine Urteile streng und nach Bedarf auch sehr streng waren. Die Aufrichtigkeit scheint mir die beste Eigenschaft für ein gutes Verhältnis jedes höheren oder niedrigeren Kommandanten zu den Soldaten zu sein; außer Aufrichtigkeit ist Konsequenz und vor allem Gerechtigkeit notwendig. Die Armee beruht unbedingt auf Autorität, und namentlich im Kriege sind Offiziere und Kommandanten das, was im politischen Leben Führer sind. Aber der militärische Führer darf nicht Demagoge sein, das rächt sich bald, auch an ihm selbst, denn in der Gefahr des Krieges geht es um das Leben, und in der Gefahr werden die Menschen Realisten und beurteilen ihre Vorgesetzten unerbittlich. Unrichtig verstandener Demokratismus verleitet die Offiziere zu demagogischer Unaufrichtigkeit und Falschheit.
Der Soldat ist aufrichtiger als der Zivilist; er kennt in seinem gegenseitigen Verhältnis des einen zum andern, des niedrigeren zum höheren und umgekehrt nicht die Formalitäten, die wir im bürgerlichen Leben finden. Es entsteht eine Art von Lakonismus, der durch die Genauigkeit, Bestimmtheit und Praktizität des ganzen militärischen Mechanismus gegeben ist; die verhältnismäßig große Gleichheit, der Umstand, daß der Soldat um Brot, Kleidung und Wohnung nicht zu sorgen braucht, daß es für ihn keine wirtschaftliche Konkurrenz und keinen Kampf um die Existenz gibt, bewirkt eine gewisse Aufrichtigkeit und Offenheit. Der Soldat lebt stets in Gesellschaft seiner Kameraden, in der Öffentlichkeit, und wird dadurch und den ganzen Beruf objektivistischer, weniger subjektivistisch. Sein Beruf ist im Wesen nicht skeptisch. Der Soldat ist naiver, ist ein Kind und hat auch kindliche Schwächen; es gibt viele Eifersüchteleien, die ihren Ursprung darin haben, daß die Armee eine Stufenleiter von Würden und Pflichten darstellt; ein Held vor dem Feind kann in der Rotte kindlich und kleinlich sein. In unsern Legionen ist fast jeder einzelne durch das Feuer der Kritik und Eifersucht gegangen. Es bestand eine bald größere, bald kleinere Spannung und Reibung zwischen den Mitgliedern der Alt-Družina und den späteren Legionären, man kritisierte scharf die Ankömmlinge aus der serbischen Legion, man gedachte der großen und der kleinen Sünden, die sich insbesondere die Offiziere in der österreichischen Armee hatten zuschulden kommen lassen, die Angehörigen der verschiedenen Lager in Rußland waren aufeinander eifersüchtig usw.
Allerdings müssen wir bei alldem die ganz abnormalen russischen Zustände bedenken, unter denen die Armee formiert wurde.
Aus dem Verkehr mit den Soldaten überzeugte ich mich, daß sie Vertrauen zu mir haben. Sie wußten, daß ich daheim die Notwendigkeit einer kritischen und nüchternen Politik verfochten hatte; sie erwarteten deshalb, daß ich in Rußland nicht anders verfahren werde und daß ich mir wohl überlegt habe, was ich unternehme und von ihnen fordere. Ich bot ihnen ein begründetes Programm, und das wurde angenommen; unsere Soldaten waren gebildet genug, um die historischen und politischen Schlüsse beurteilen, verstehen und akzeptieren zu können. Ich appellierte an die Vernunft, ich arbeitete auf die Überzeugung und die Opfermütigkeit aus Überzeugung hin. Ich sprach mit ihnen über unsre Hauptschwierigkeiten ganz unverhüllt. Sie sahen auf eigene Augen und überzeugten sich durch tägliche Erfahrung, daß ich mich um die Verpflegung und den ganzen Zustand der Armee kümmerte; und schließlich wirkte, glaube ich, mein einfaches Leben und daß ich selbst keine Furcht hatte oder, besser gesagt, keine Furcht verriet, günstig auf sie. Ich gab ihnen während der bolschewikischen Revolution in Petersburg, Moskau, Kiew Beweise, daß ich bei der Erfüllung meiner Pflicht der Lebensgefahr nicht aus dem Wege ging. Dadurch empfing ich das Recht, von ihnen Opfer zu verlangen, auch das höchste Opfer des Lebens.
Unser Soldat ist ein guter Kämpfer, tapfer bis zum kühnsten Heldentum; er muß aber wissen, wofür er kämpft; Opfermütigkeit aus blindem Gehorsam, wie sie in der österreichischen Armee gefordert und gepflegt wurde, war bald überwunden. Die Wiederbelebung des hussitischen Geistes war kein bloßes Schlagwort, sondern ein reales Gefühl und ein Entschluß; deshalb war auch die Benennung unsrer Regimenter nach Hus, Zizka usw., die nach der Schlacht bei Zborov vorgenommen wurde, kein bloßer historischer Zierat. Daß die hussitische Idee nicht im ganzen Gebiet des Kriegswesens und der Militärverwaltung konsequent durchgeführt wurde, ist aus der Unmöglichkeit zu erklären, in der Eile die gegebenen militärischen Zustände (die österreichische und die russische Tradition) zu überwinden und die eigene Idee mit der nötigen Rücksicht auf die Forderungen der Zeit zu verwirklichen.
Eine anekdotische, aber charakteristische Kleinigkeit: unsre Jungen hatten Kelche und Löwen in ihren Wappen; die russischen Bauern erblickten darin »rjumocky« und »sobacky« (Gläschen und Hündchen), und ich glaube, es hat dazu beigetragen, daß diese Wappen nicht allgemein benutzt wurden.
Mein erstes Hervortreten gegen Österreich in der Schweiz am Hustage war eine organische Folge unsrer Geschichte – organisch und zugleich national im besten Sinne des Wortes war die Wiederbelebung der hussitischen und taboritischen Soldatentradition.
Unser Soldat ist im Handeln rasch; er beobachtet rasch, rasch orientiert er sich; aber den Mißerfolg erträgt er schlecht. Doch aus einer gefährlichen Situation versteht er sich herauszuhauen. Ich habe schon erwähnt, wie unsere Soldaten in der Schlacht bei Zborov nicht nur persönliche Tapferkeit, sondern auch ein bedeutendes taktisches Talent bewiesen.
Der Slowak ist gleichfalls ein guter Soldat; er ist noch gewöhnt, mehr zu gehorchen als zu befehlen und zu leiten.
Ich weiß wohl, daß eine gute Armee nicht nur durch die persönliche Tapferkeit und Tüchtigkeit einzelner gesichert ist; die Tüchtigkeit muß durch allgemeine Disziplin erhalten werden; es handelt sich nicht nur um Furchtlosigkeit im Feuer, sondern auch um Ausdauer im ermüdenden und entkräftenden Felddienst. Und der Soldat lebt nicht allein von Disziplin, sondern auch vom Brot – eine gute Versorgung ist in unsrer Zeit eine Grundbedingung des Erfolges. Derselbe Soldat, dasselbe Regiment und die ganze Armee kann heute tapfer sein, morgen unterliegt sie der Panik. Ein Heer erfordert die richtige Organisation, Administration und braucht eine beständige Führung, der Mut der einzelnen ist nur ein Faktor, der den Sieg verbürgt. Darum ist gerade in einem demokratischen Heere die Offiziers- und Unteroffiziersfrage so wichtig.
Neue Schwierigkeiten bereitete uns der bolschewikische Umsturz vom 7. November 1917.
Ich beobachtete die bolschewikische Bewegung in Petersburg und war Zeuge davon, wie sie nach Moskau und Kiew überging. Es war wirklich ein sonderbarer Zufall, daß ich jedesmal in den Mittelpunkt der bolschewikischen Kämpfe geriet. In Petersburg wohnte ich in der Morska, in der Nähe der Dvorka, und mir gegenüber befanden sich Telegraphen- und Telephonamt; um alle diese Objekte wurde auf der Straße, in der ich wohnte, gekämpft. Die Zweigstelle hatte anfangs ihre Räumlichkeiten in Basejna, dann in der Znamenska; zu den täglichen Beratungen ging ich von der Morska in die Znamenska und mußte da auch über den Litejni-Prospekt kommen, wo sich damals oft die Straßenkämpfe abspielten. Ich ging zu den Beratungen regelmäßig und täglich; oft kam ich durch Gassen, wenn geschossen wurde. Die Kollegen in der Zweigstelle sahen das nicht gern; ich glaube, es war der jetzige Gesandte Šeba, der mir einen physiologischen Mangel an Sinn für Gefahr vorwarf. Es wurde abgemacht, mir einen Wächter an die Hand zu geben; so erhielt ich den Gefangenen Hůza. Und auf Drängen der Zweigstelle sollte ich, damit mir nichts passiere, nach Moskau übersiedeln. Die Zweigstelle sollte mir bald nachfolgen. Ich begab mich also nach Moskau, aber an dem Morgen, an dem ich eintraf, begann der Kampf zwischen den Bolschewiken und den Truppen Kerenskijs, und ich sah mich plötzlich in dem bekannten Hotel Metropol, das Kerenskijs Junker rasch zu einer Festung verwandelten; ich erlebte darin sechs heiße Tage der Belagerung durch die Bolschewiken. Als die Junker schließlich bei Nacht unbemerkt abzogen und die Bolschewiken am nächsten Morgen die Hotelfestung eroberten (das Hotel war wirklich sehr solid, die Mauern massiv), wurde ich zum Sprecher der Ausländer gewählt, für die Russen ein Pole, denn die Russen fürchteten, die Funktion zu übernehmen. Als ich darauf von Moskau nach Kiew abreiste, geriet ich während der Belagerung Kiews durch die Bolschewiken in das französische Hotel auf dem Krescatik, also an einen schon durch seine Lage gefährlichen Ort (auch in das Hotel flog während einer Beratung im Nebenzimmer eine riesige Granate, die aber zufällig nicht explodierte); auf Drängen der Freunde übersiedelte ich in ein Sanatorium, doch die Gefahr wurde dadurch nicht geringer, weil ich regelmäßig zur Beratung in die Zweigstelle ging und Schüsse selbst in das Sanatorium und in mein Zimmer einschlugen. Eines Nachmittags schritten und liefen wir mit Hůza durch ein wahres Hagelwetter von bolschewikischen Geschossen ... Noch jetzt, wenn ich nach Jahren mich der verschiedenen Erlebnisse bei der bolschewikischen Besetzung der Hauptstädte Rußlands erinnere, kommt mir alles wie ein Alpdrucktraum vor.
Mich interessierte der Umsturz hauptsächlich in Hinblick auf unser Heer und die militärischen Pläne. Bald war es klar, daß die Bolschewiken, wollend oder nicht, mit den Deutschen Frieden schließen werden. Auch darin folgten sie dem Beispiel des Zaren und ihrer Vorgänger. Merkwürdige Spiele des Schicksals: Miljukov trat aus der Provisorischen Regierung vor Kerenskij zurück, weil dieser die Revision des Programms in pazifistischem Sinne wünschte; später machte Kerenskij den Versuch zu kämpfen, Miljukov war bereit, mit den Deutschen Friedensverhandlungen zu führen.
Ich wurde fest in meiner Überzeugung: mich nicht einzumischen in die russischen innern Geschehnisse, die durch die Revolution verursacht wurden, und aus Rußland nach Frankreich zu gelangen, wie ich es dort vereinbart hatte.
Als die Bolschewiken daher unter Muravjev gegen den bürgerlichen Nationalrat in die Ukraina gezogen kamen und Kiew eroberten, schlossen wir mit ihnen einen Vertrag: sie verbürgten uns die bewaffnete Neutralität und den freien Abzug von Rußland nach Frankreich. Durch das Zugeständnis der bewaffneten Neutralität wurden wir als regelrechte und selbständige Armee und Regierung anerkannt.
Kiew wurde am 8. Februar von den Bolschewiken eingenommen: am Tage vorher erklärte ich nach Vereinbarung mit der französischen Militärmission unsre Armee zum Bestandteil der französischen Armee, um so unsre Position zu stärken.
Muravjev selbst trachtete, seine Verbindlichkeiten zu erfüllen; der Kiewer bolschewistische Sowjet schickte aber, angeblich ohne Wissen Muravjevs, tschechische Agitatoren zu unseren Truppen, damit diese in die Rote Armee eintreten. Das war damals einer der kritischen Augenblicke, wie wir sie häufig erlebten. Nach reiflicher Erwägung entschied ich, die bolschewikischen Agitatoren von unseren Jungen anhören zu lassen. Das geschah, und die Folge war, daß von unserm ganzen Heer sich im ganzen, ich glaube, 218 Mann in die Rote Armee meldeten; und von ihnen kehrten einige schon am nächsten Tag zu uns zurück, – selbstverständlich, denn sie erkannten bald die Mängel der bolschewikischen Armee. Als Beispiel erwähne ich, daß einer von unsern Roten gleich am andern Tag mit einer Tasche voll Uhren prahlte. Solch ein Argument öffnete besseren Menschen die Augen gründlicher, als es mein Verbot getan hätte, die Gründe der Bolschewiken anzuhören. Es ist wahr, daß manche russischen und französischen Offiziere meine Entscheidung sehr skeptisch aufgenommen hatten, aber das Ergebnis fiel für mich aus und gegen den militärischen Bureaukratismus.
Ich bestreite nicht, daß sich unter denen, die zu den Bolschewiken übergingen, auch anständigere und anständige Menschen befanden. Einige erwiesen uns dann in ihrer Stellung in der bolschewikischen Armee gute Dienste.
Das Wüten der Bolschewiken in Kiew und Umgebung legte uns eine schwere Geduldprobe auf; insbesondere wurden wir durch die Meldung beunruhigt, daß man entgegen der Vereinbarung unsere Soldaten, die unweit von Kiew die Militärvorräte bewachten, erschlagen habe. Und in ihrer Brutalität hatte sich die bolschewikische Übermacht nicht mit dem Totschlagen unserer Wachen begnügt, sondern die der Kleidung und Schuhe beraubten Leichen verunreinigt und besudelt. Damals war es nicht leicht, der natürlichen Regung, sie zu bestrafen, zu widerstehen; aber nach Erwägung aller Umstände begnügte ich mich mit einem entschiedenen Protest und dem erhaltenen Versprechen, daß die Täter bestraft und die Abmachungen loyal eingehalten werden.
Ich sah viel Schreckliches und Unmenschliches während der bolschewikischen Revolution; aber infolge einer seltsamen Assoziation erinnere ich mich beim Worte Bolschewismus eines Bildes. Einige Zeit nach den Straßenkämpfen in Petersburg und anderswo wurden die Leichen der gefallenen Opfer den Familien zugeführt, gewöhnlich auf dem bekannten russischen Izvosčik. Der erstarrte Körper lag wie ein Balken in dem Wägelchen; auf einer Seite ragten die Füße hervor, auf der andern der Kopf, manchmal eine Hand. Häufig war die Leiche im Wagen aufgestellt und mit einem Fetzen oder einem Bindfaden befestigt. Ich sah sogar, wie eine mit dem Kopf nach unten aufgestellt war, die Beine ragten in die Höhe. Das überflüssige, vernunftlose, barbarische Umbringen von Menschenleben wird stets in meiner Erinnerung heraufbeschworen, so oft ich an diese unheimlichen Anblicke denke.
Den Vertrag mit Muravjev unterschrieben unsere Jungen vor der Einnahme von Kiev; mit Muravjev verhandelte ich am 10. Februar 1918 in seinem Salonwagen in Gegenwart der Ententevertreter, die mich zum Unterhändler gewählt hatten (sie konnten selbst nicht russisch). Am 16. Februar empfing ich von Muravjev eine Zuschrift, die unsern bewaffneten Soldaten den freien und ungestörten Abmarsch nach Frankreich verbürgte.
Über Muravjevs Beziehung zu mir wurde in Kiew von manchen Reaktionären viel Klatsch verbreitet; der bolschewikische Generalissimus soll mich »auffallend« umworben haben u. ä. Mir selbst sagte er gelegentlich, daß er mich längst aus Berichten und Büchern kenne, und darum komme er mir entgegen. Er war, wie ich hörte, Polizeioffizier gewesen und wurde Bolschewik durch Zwang; später wurde er auf Befehl aus Moskau erschossen. (Wie erzählt wurde, wegen finanzieller und anderer Veruntreuungen.)
Mir war der Bolschewismus zu jener Zeit, wie gesagt, vor allem ein militärisches Problem. Wie wird sein Verhältnis zu unsrer Armee werden? Aber es ist selbstverständlich, daß ich die bolschewikische Bewegung mit soziologischem Interesse verfolgte. Ich hatte die Arbeiter- und sozialistische Bewegung längst in ganz Europa und bei uns daheim beobachtet, und so war meine »Kritik des Marxismus« entstanden. Als ich mich mit dem Studium Rußlands befaßt hatte, folgte ich der Richtung Lenins von ihrem Anfang an; bei der Ankunft in Petersburg während des Krieges hatte ich dann den Beginn seiner revolutionären Propaganda beobachtet. Fast ein halbes Jahr hatte ich dann unter bolschewikischem Regime gelebt, hatte es aufkeimen gesehen und folgte seiner Entwicklung.
Hier ist nicht der Raum, den Bolschewismus zu erörtern; ich will über ihn nur so viel sagen, als zu meiner weiteren Darstellung nötig ist; mein Standpunkt zu den Bolschewiken bereitete genug Leuten Kopfzerbrechen, und so will ich meinen Standpunkt auch aus diesem Grunde erklären.
Was das Prinzip betrifft, so betrachte ich den Kommunismus nicht als soziales und sozialistisches Ideal, wenn unter Kommunismus die absolute wirtschaftliche und soziale Gleichheit verstanden wird. Der politische und soziale Normalzustand der Gesellschaft läßt sich ohne starken Individualismus nicht verwirklichen, d. h. ohne freie Initiative des einzelnen. Das bedeutet praktisch ein Regime, daß die Entfaltung mannigfacher physisch und geistig von der Natur ungleich begabter Individualitäten ermöglicht. Ungleich ist die Lage eines jeden Individuums in der Gesellschaft, ungleich seine gesellschaftliche Umgebung, der einzelne vermag seine eigenen Kräfte und seine Umgebung am besten nach eigener Erkenntnis zu benützen; entscheidet über den Menschen ein andrer und führt ihn, so besteht die Gefahr, daß nicht alle Kräfte des Geführten voll und gründlich ausgenutzt werden. Das ist überall zu sehen, auch politisch in allen Regierungsformen, die einen stärkeren Zentralismus hervorbringen, und der Kommunismus ist eben zentralistisch. Gerade der bolschewistische Zentralismus ist sehr starr, ist ein abstraktes, aus der These abgeleitetes und gewaltsam durchgeführtes Regime; der Bolschewismus ist die absolutistische Diktatur eines Menschen und seiner Gehilfen; der Bolschewismus ist unfehlbar und inquisitorisch und hat eben darum mit der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Philosophie nichts gemein; die Wissenschaft ist ebenso wie die Demokratie ohne Freiheit unmöglich.
Ich halte die konsequent und richtig angewandte Demokratie, die nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche und soziale Demokratie für den unsrer Zeit und einer ziemlich langen Zukunft angemessenen und wünschenswerten Gesellschaftszustand. Das kapitalistische Regime ist unvollkommen durch seine Einseitigkeit; der Kapitalismus ermöglicht zwar vielen – nicht allen! – die individuelle Initiative, Unternehmungslust und Produktivität, aber die Verteilung der geschaffenen Werte, ihre Aneignung richtet sich nicht nach der produktiven Tüchtigkeit, sondern nach den Regeln für die Anneigung fremder Arbeit und ihres Ertrages. Praktisch bedeutet die Demokratie eine erträgliche Ungleichheit, die geringste und stets geringer werdende Ungleichheit. Allerdings – das ist leicht gesagt; aber die Durchführung kann mannigfach sein. Deshalb gibt es auch und kann es sehr viele Systeme von Kommunismus geben.
Über all dies belehrt uns auch das russische Experiment, seine rasche Entwicklung und seine großen Wandlungen.
Im Jahre 1917 handelte es sich Lenin eigentlich nicht um die Verwirklichung der Grundsätze und Ideale des Kommunismus in Rußland, sondern darum, Rußland dazu zu benutzen, diese Ideale in Europa zu verwirklichen oder wenigstens zu beschleunigen.
Darüber äußerte Lenin öfter seine Meinung; er irrte jedoch, und zwar weil seine Ansicht über den Zustand Europas sowie den Zustand Rußlands unrichtig war. Seine Geschichtsphilosophie war zweifelhaft. Schon Marx und Engels irrten in ihrer Erwartung und Prophezeiung der endgültigen Revolution; Lenin und seine Anhänger ließen sich dadurch nicht zurückschrecken und erwarteten aufs neue die soziale Revolution. Wann? Wo?
Was Marx nach Feuerbach über den religiösen Anthropomorphismus sagt, gilt auch auf sozialem und politischem Gebiet: der Mensch schafft sich nicht nur nach sich selbst den überirdischen Himmel, sondern auch die irdische Zukunft. Die Russen sind unfähig, den marxistischen Kommunismus durchzuführen; sie sind als Ganzes noch zu unkultiviert und durch den Zarismus verdorben, als daß sie die Ansichten von Marx über den Kommunismus als endgültiges Stadium eines langen historischen Prozesses verstehen und durchführen würden. Das, was Lenin und seine Leute durchführten, konnte gar nicht der Kommunismus, konnten höchstens kommunistische Kleinigkeiten sein: als System war es primitiver (agrarischer) Kapitalismus und primitiver Sozialismus unter Aufsicht eines primitiven Staates, der aus anarchistischen, aus dem zaristischen, gleichfalls primitiven Zentralismus sich ergebenden Einheiten entstand. Überhaupt der russische Primitivismus: – die Masse der analphabetischen, in ihren Dörfern isolierten Bauern, der Mangel an Kommunikation, der Verfall von Armee und Bureaukratie infolge des verlorenen Krieges, der Zusammenbruch des Zarismus und Zäsaropapismus, die Ratlosigkeit der politischen Parteien und Stände ermöglichten dem energischen Usurpator in den Hauptstädten den bolschewikischen Umsturz und die Regierung einer unbedeutenden, aber organisierten Minderheit.
Die Mängel und Unzulänglichkeiten des sozialen und politischen Anthropomorphismus waren überall zu sehen; die verantwortlichen administrativen und militärischen Posten wurden zumeist durch junge unerfahrene und fachlich ungebildete Menschen eingenommen. Die Besseren von ihnen trachteten so gut wie möglich ihre Aufgabe zu erfüllen, suchten und erfanden, was längst bekannt war und schon existierte; viele mißbrauchten jedoch nur ihre Stellung und nützten sie für ihre persönlichen Zwecke aus. Wer erst die Kenntnis der Ziffern und das Zählen lernen muß, kann nicht Integralrechnungen gebrauchen. Wenn Lenin selbst so oft zugibt, daß Fehler begangen werden, und daß man lernen müsse, so ist etwas von russischer Ehrlichkeit dabei, aber zugleich eine Anklage: heute braucht auf keinem Gebiet, weder in der Verwaltung noch in der Politik, das Alphabet neu und selbständig erfunden zu werden. Unzählige Improvisationen ergaben durch ihre Systemlosigkeit das bolschewikische System. Die bolschewikische Halbbildung ist schlimmer als Unbildung. Die bolschewikische Diktatur entspringt unkritischer, völlig unwissenschaftlicher Fehlbarkeit; ein Regime, das die Kritik und Anerkennung denkender Menschen fürchtet, ist eo ipso unmöglich.
Die Unzulänglichkeit der Kultur, dieser seltsame Primitivismus ist auch in der offiziellen Übernahme aller Ungeheuerlichkeiten der sogenannten modernen Kunst zu sehen.
In der Administration rächte sich auch die unrichtige marxistische Anschauung von der Ideologie des Staates, auf dessen Organisation und Administration die Marxisten niemals Aufmerksamkeit und Studium genug gewendet haben, da sie es beim Anarchismus (Astatismus) bewenden ließen und den absoluten Vorrang der wirtschaftlichen Verhältnisse betonten (ökonomischer oder historischer Materialismus). Dieser marxistische Materialismus paßte der russischen Passivität, – man mußte sich ex thesi um nichts anderes kümmern, als um Brot! Aber der Staat, die Literatur, die Wissenschaft, die Philosophie, die Schule und Erziehung, die Gesundheit und Sittlichkeit der Nation, kurzum die ganze Geisteskultur ist nicht durch die wirtschaftlichen Verhältnisse gegeben, sondern muß neben ihnen erarbeitet werden, und die Kultur sichert und ermöglicht auch die wirtschaftliche Entwicklung und – das Brot.
Die Russen, und auch die Bolschewiken, sind Kinder ihres Zarismus; er hat sie jahrhundertelang erzogen und geformt. Sie verstanden, den Zaren zu beseitigen, beseitigten aber nicht den Zarismus. Sie tragen die zarische Uniform, wenn auch gewendet; der Russe kann bekanntlich auch die Stiefel gewendet tragen.
Die Bolschewiken gebrauchten ihre langjährige, wie sie sie nannten, unterirdische Taktik; sie waren auf eine positive administrative Revolution nicht vorbereitet, sondern waren nur einer negativen Revolution gewachsen. Negativ in dem Sinne, daß sie in ihrer Einseitigkeit, Engbrüstigkeit und Kulturlosigkeit vieles ganz überflüssigerweise zerstörten. Insbesondere werfe ich ihnen vor, auf völlig zarische Weise in der Vernichtung von Menschenleben zu schwelgen. Der Grad der Barbarei äußert sich überall darin, in welchem Maße die Menschen mit ihrem und ihrer Nächsten Leben zu wirtschaften verstehen. Die bolschewikische Hinmordung der Intelligenz hat ihr warnendes Vorbild im römischen Severus und der Tötung alter römischer, zumeist Senatorenfamilien; Severus erzielte damit die Barbarisierung des Staates und der Verwaltung, zugleich beschleunigte er aber den Verfall des Reiches. Übrigens findet der Historiker nähere Vorbilder in – Rußland, in Ivan dem Schrecklichen oder noch besser in Stenkov Razinov ...
Der Bolschewismus entspricht viel mehr Bakunin, als Marx; und er folgt Marx eher in seiner ersten Revolutionszeit – 1848 –, wo sein Sozialismus noch unausgearbeitet war.
Auf Bakunin könnten die Bolschewiken sich wegen ihres erklärten Jesuitismus und Macchiavellismus berufen. Zu ihm wurden sie durch die Verschwörerheimlichkeit geleitet, an die sie sich gewöhnt haben, und durch das Streben nach der Macht, nach Diktatur; die Macht zu erobern und sie festzuhalten, wurde ihr erstes Ziel; wer glaubt, den höchsten endgültigen Grad der Entwicklung erreicht, die unfehlbare Kenntnis der ganzen gesellschaftlichen Einrichtung gewonnen zu haben, gibt die Mühe um den Fortschritt und die Vervollkommnung auf und wird die Haupt- und einzige Sorge haben, seine Position und Macht zu erhalten. So war es während der Reformation des Katholizismus, und es entstand die Inquisition und die Gegenreformation; so ist es in Rußland.
Die Bolschewiken kennen wenig – ihr Rußland. Der Zarismus zwang sie, im Ausland zu leben, und sie sind darum Rußland entwöhnt; ich sage nicht, daß sie den Westen besser kennen gelernt haben; sie kannten auch den nicht, da sie in ihren Zirkeln lebten. Sie lernten ihn so weit kennen, daß sie sich für ihn interessierten und ihn zum Maßstab Rußlands machten. Da sie glaubten, die soziale Revolution werde auch im Westen kommen, und zwar früher als in Rußland, widmeten sie sich der Propaganda im Westen derart, daß ihre Aufmerksamkeit für die russischen Verhältnisse zersplittert wurde. Dazu gaben sie für diese Propaganda noch verhältnismäßig große Geldsummen aus. Die bolschewikische Politik ist mit einem Wort extensiv, nicht intensiv; extensiv innen und nach außen. Alles in allem primitiv, sage ich.
Der russische Bolschewismus ist keinesfalls identisch mit Kommunismus; er ist im besten Falle ein Staatssozialismus und -kapitalismus. Ein wahrer, dauerhafterer Kommunismus ist nach den bisherigen Erfahrungen nur auf sittlicher und religiöser Grundlage, ist nur unter Freunden möglich; doch bis zur freundschaftlich – auf der Grundlage der Sympathie – organisierten Gesellschaft haben wir alle noch weit. Kommunistische Versuche gelingen zu Beginn einer Revolution, in augenblicklicher Begeisterung, aber später, wenn sich die Begeisterung im alltäglichen Leben bewähren soll, verfallen sie und entarten.
Das Regime Lenins war durch Kerenskij und schon durch die Provisorische Regierung vorbereitet; sowohl die Provisorische Regierung als auch Kerenskij zeigten administrative Unfähigkeit und gewährten unfähigen und schlechten Leuten ein bedeutendes Wirkungsfeld. Lenin setzte das fort. Ihm war die Bahn durch das anarchische Vorgehen der Intelligenz seit 1906 geebnet; damals begriffen nicht einmal die nichtsozialistischen Parteien, daß nach der Revolution und Erlangung der, wenn auch unvollkommenen, Konstitution das politische Vorgehen positiver werden müsse. Lenin war die logische Folge der russischen Unlogik. Die plombierten Waggons Deutschlands spielten dabei eine sehr untergeordnete Rolle. Lenin bemächtigte sich Rußlands, wie sich vor ihm andere Usurpatoren seiner bemächtigt haben – die Usurpation ist ja ein langes Kapitel der russischen Geschichte. Lenin benutzte agitatorisch die Kriegsmüdigkeit, den Zerfall der Armee und die Sehnsucht nach dem Boden, die von allen sozialistischen und liberalen Richtungen seit der Bauernbefreiung 1862 genährt worden waren. Die Bauern nahmen den Boden, von Kommunismus war bei ihnen keine Spur, und die Bauern – das ist Rußland. Unrichtig ist der Vorwurf, Lenin und sein Versuch sei nicht russisch; doch, er ist ganz russisch; auch das Sowjetsystem ist eine Erweiterung des primitiven russischen Mir und Artel.
Wenn Lenins Regime nicht den Kommunismus heraufgebracht und wenn er große Mängel und Sünden aufzuweisen hatte und hat, so ist damit nicht gesagt, daß mit dem Übel dem russischen Reich und besonders der Masse der Mužiks nicht auch etwas Gutes geschehen ist. Der Bolschewismus hat ihren Freiheitssinn geweckt, insbesondere erwuchs in den Bauern das Bewußtsein der eigenen Macht, alle empfingen die Lehre von der Macht der Organisation; die Überzeugung von der Notwendigkeit der Arbeit und des Fleißes bürgerte sich ein (Lenin selbst und viele Führer geben darin ein gutes Beispiel); in den Städten und in der Intelligenz kam eine gewisse (Rousseauische) Einfachheit zur Herrschaft. Diese und andre relativ gute Eigenschaften des Bolschewismus darf und muß der gerechte und sachliche Beobachter der russischen Entwicklung konstatieren. Demgegenüber ist der moralische Verfall, der Rückgang des Schulwesens und der Erziehung, die sittliche und kulturelle Anarchie ein großes und nach meiner Meinung das größte Minus. Allerdings, warum tat Rußland ein so gewaltsames Erwachen aus dem zaristischen Schlummer not? Darüber wird jeder, der Rußland liebt, nachdenken; in erster Linie sollten das die Anhänger des Zarismus und der Kirche tun.
Ich füge hinzu, daß das, was ich hier sage, vor allem für die erste Zeit des Bolschewismus gilt; in der folgenden Zeit und bis heute entwickelt sich in Rußland der Kommunismus, man versucht ihn zu verwirklichen. Allerdings auf Kosten des Wohlstandes. Was die Interventions- und überhaupt die Politik gegen Rußland betrifft, stehe ich weiter auf dem Standpunkt der Nichtintervention: der Bolschewismus bedeutet eine innere Krise Rußlands – die läßt sich nicht durch Eingriffe von außen heilen. Freilich, die Bolschewiken unterstützen die Interventionsbestrebungen, indem sie so sehnsüchtig auf die Anerkennung de jure durch die – Bourgeois drängen!
Für unsere Truppen hatte der Bolschewismus dadurch Bedeutung, daß sich, ein Teil von ihnen, wenn auch geringer, mehr oder minder konsequent zu ihm meldete. Dieser tschechische Bolschewismus in Rußland ist mit dem Namen Muna verknüpft. Ich habe selbst mit Muna verhandelt, als die erste Nummer seiner Kiewer »Svoboda« (1. November) erschienen war.
In Kiew befanden sich ziemlich viele Arbeiter-Gefangene, die in den dortigen tschechischen und russischen Fabriken einen sehr anständigen Lohn bezogen; manche von ihnen weigerten sich, in die Armee einzutreten, und wollten keine Beiträge für sie zahlen: sie deckten sich mit dem bequemen Schlagwort, daß wir Bourgeois seien und unsere Legion dem Bourgeoiskapitalismus dienen solle. Selbst dienten sie ihm, Muna trieb ein Doppelspiel, nach beiden und allen Seiten hin.
Wie unsachlich der Grund war, ist daraus zu ersehen, daß von drei oder vier Genossen Munas, die mit ihm zu mir gekommen waren, um für die »Svoboda« zu verhandeln, gleich zwei auf der Stelle sich zu unsrer Armee meldeten, als ich die geschmacklosen Reden Munas widerlegte. Muna selbst verteidigte sich mit der Spitzfindigkeit, er müsse den Kiewer Arbeitern zuliebe die Legion angreifen, er tue das aber nur zum Schein, und mit der Zeit werde er die Kiewer »Drückeberger« unserem Lager zuführen. Die »Svoboda« bekämpfte anfangs die Bolschewiken und warf ihnen scharf allerhand Fehler vor; nach dem Umsturz wandelte sie sich, Muna und sein Blatt wurden bolschewikisch.
Daß die Bolschewiken in der Armee nicht viele Mann gewannen, habe ich schon gesagt.
Als Muravjev sich mit seiner Armee näherte, kamen die Mitglieder des Nationalrates in Kiew überein, in meine Hand den feierlichen Schwur der Treue zu meiner Person und zu den Grundsätzen der Revolution zu legen (30. Januar). Das sollte zugleich ein Vorbild für die ganze Armee und alle unsre Leute in Rußland sein.
Selbstverständlich fanden sich allerlei Schwächlinge und Schlauköpfe, die sich von der schwärzesten Schwarze-Hundert-Gesinnung bis in das roteste Rot hinüberschwangen. Manche spielten nach beiden Seiten (z. B. Šnepp). Und es gab auch tschechische Unternehmer, die in ihrer kurzsichtigen Habgier den Kampf gegen die Armee nicht bloß duldeten, sondern direkt unterstützten. Auch das soll bedacht werden, wenn die Bemühungen um eine »politische« Armee beurteilt werden.
Kurz nach der Reise von Kiew bildete sich nach russischem Muster ein tschechoslowakischer Arbeiter- und Soldatenrat. Unter dem Einfluß des Bolschewismus bereitete sich heimlich ein Umsturz im Nationalrat vor; ich erhielt rechtzeitig Nachrichten darüber, wartete aber ruhig ab. Ich mußte nach Moskau reisen, um dort praktisch zu erreichen, daß wir ein Bestandteil der französischen Armee werden; es ging darum, unsre Armee finanziell zu sichern. Während dieser meiner Abwesenheit von Kiew konstituierte sich irgendein neuer Nationalrat, der aber zum revolutionären Führer doch wieder – mich wählte. Mich verdroß, daß dieses Stücklein von sozialistischen Mitgliedern des Nationalrates ausgeführt wurde, die mir gegenüber die Umtriebe unsrer tschechischen Bolschewiken verurteilt hatten. Diese neue Zweigstelle des Nationalrates wurde am 24. Februar errichtet, doch die ganze Aktion hatte keine praktische Bedeutung. Allerdings vermag auch der dümmste Mensch zu schaden und hinderlich zu sein, und auch die Muna-Anhänger schadeten uns mit ihren parteilichen Interventionen bei den (russischen) Bolschewiken.
Damals wurden in Kiew schon die deutschen und österreichischen Truppen erwartet, und als der Feind sich schließlich wirklich näherte, retteten sich die Kiewer Oppositionellen mit einemmal durch den Eintritt in die »bourgoise« Armee. Am 20. Februar begann der Abmarsch unserer Truppenteile aus der Ukraina, und bereits am 2. März kam es zum Kampf mit den Deutschen auf der Kiewer Brücke, bald darauf bei Bachmač.
Seit der Zeit, da die Bolschewiken sich in Friedensverhandlungen eingelassen hatten – das geschah formell am 3. Dezember 1917 mit dem Ersuchen um Waffenstillstand –, mußte uns klar sein, daß unsere Armee in Rußland nichts mehr zu tun habe, und eben darum brachen wir so früh wie möglich zum Marsch aus der Ukraina nach Rußland auf, indem wir die Richtung nach Wladiwostok und nach Frankreich einschlugen.
Am 3. März wurde in Brest-Litowsk der Frieden unterzeichnet.
Zugleich mit den Schwierigkeiten mit den Bolschewiken häuften sich Schwierigkeiten mit den Ukrainern. Unser Korpus lag rings um Kiew auf ukrainischem Gebiet. So lange Rußland dort herrschte, war unser Verhältnis zu Rußland einfach; Rußland gewährte uns die Möglichkeit, den Korpus zu organisieren, zu bewaffnen und mit den nötigen Vorräten zu erhalten. Dafür überwachten wir auf dem von uns besetzten Gebiet, vor allem in Kiew, das militärische Eigentum aller Art und sorgten für die Ordnung.
Doch bald nach dem bolschewikischen Umsturz begann die Ukraina selbständig zu werden. Am 20. November 1917 wurde der III. Universal ausgerufen, wonach die Ukraina Republik und autonomer Bestandteil der russischen Föderation wurde. Dadurch entstand die Notwendigkeit, mit der ukrainischen Regierung zu verhandeln; wir verständigten uns unter den gleichen Bedingungen, wie wir sie mit Rußland vereinbart hatten (15. Januar 1918). Allerdings war besonders in der ersten Zeit der ukrainischen Selbständigkeit das Verhältnis zwischen der Ukraina und Rußland und vor allem zwischen dem ukrainischen und dem russischen Heere nicht klar; dadurch wurde auch unser Verhältnis zur Ukraina unklarer. Aber im ganzen hatten wir keine unliebsamen Zwischenfälle; manche Beschwerden entstanden durch die Unausgeglichenheit der inneren ukrainischen Zustände und insbesondere durch Parteistreit.
Schon im Januar bereitete sich die Losreißung der Ukraina von Rußland vor; am 12. Januar wurde die Ukraina von den Zentralmächten anerkannt. Ich wurde über die Geschehnisse gut unterrichtet und stellte mich danach ein. Ich hielt es für unmöglich, in der von Rußland völlig abgetrennten Ukraina zu bleiben; nicht nur wegen der älteren Verpflichtungen und Versprechungen an Rußland, sondern mit Rücksicht auf unsere Landsleute im bolschewikischen Rußland und vor allem auf unsere Gefangenen (damit diese nicht verfolgt würden); und ohne Rußland konnten wir nicht nach Sibirien gelangen, um nach Frankreich zu gehen. Darum teilte ich, als am 25. Januar der IV. Universal verkündet wurde, wonach die Ukraina als Staat die volle Selbständigkeit erreichte, am 26. Januar dem Außenminister A. J. Sulgin mit (dem ukrainischen Sulgin zum Unterschied zum russischen V. V. Sulgin in Kiew), daß durch den IV. Universal unser Vertrag nichtig geworden sei und wir deshalb unsere Truppen so bald wie möglich aus der Ukraina hinausführen werden: die Armee sei in Übereinstimmung mit Rußland formiert worden, unsere Soldaten hätten Rußland die Treue geschworen, Rußland seien wir ergeben – wir könnten nicht einfach umsatteln, obgleich wir gegen die Ukraina und ihre Politik in keiner Weise auftreten wollten; die ukrainische Frage werde gleichfalls von Rußland gelöst werden, wir mischen uns in seine inneren Angelegenheiten grundsätzlich nicht ein. Ich sagte zu Minister Sulgin, daß ich in der gegebenen Lage die Losreißung von Rußland für einen Fehler halte, vor allem weil die aufgewühlte und administrativ unfertige Ukraina unter den übermäßig starken österreichischen und deutschen Einfluß gerate. Ich hatte für diese Anschauung ziemlich ernste Beweise. Ein formaler Grund war schließlich, daß wir nicht auf dem Gebiete eines Staates bleiben konnten, der mit den Deutschen und Österreichern Frieden geschlossen hatte. Was ebenso für unser Verhältnis zu den Bolschewiken galt. Die Ukraina hatte mit den Deutschen und Österreichern am 9. Februar (in Brest-Litowsk) Frieden geschlossen, am Tage nach der Einnahme Kiews durch die Bolschewiken. Es ist nicht uninteressant, daran zu erinnern, daß diese Nichtanerkennung des IV. Universals uns sehr bald die Verhandlungen mit Muravjev erleichterte.
Nur kurz sei vermerkt, daß unsere Propagandaarbeit in Kiew nicht aufgehört hatte, und daß wir jede Gelegenheit benutzten, unser Programm der russischen und dann auch der ukrainischen Öffentlichkeit darzulegen. Ich hielt Vorträge auch in Kiew; wir veranstalteten dort eine große Versammlung der unterdrückten Nationen (12. Dezember), vorher, am 29. August, hatten wir Dr. Girsa zum Moskauer Kongreß entsendet usw.
Der Weg von Kiew nach Frankreich durch Sibirien – ein phantastischer Plan, wie ich mir selbst manchmal sagte; aber so oft ich alle Umstände erwog, war es der praktischste Plan, wenn er auch einen so langen Weg erforderte. Man schmiedete freilich allerhand Pläne; so schlugen Leute von uns und den Verbündeten vor, wir sollen nach dem Kaukasus zu den Kosaken gehen oder über den Kaukasus nach Asien zu der englischen Armee ... Frankreich war uns die Direktive wie dem Schiffer auf der See die Magnetnadel.
Eine Möglichkeit hatte bestanden – die, gegen die Österreicher und Deutschen an der Seite der Rumänen und Russen auf rumänischem Boden zu kämpfen. Das hatten wir ziemlich eingehend in Petersburg mit der französischen Militärmission und dem rumänischen Gesandten Diamandi erwogen, als der Korpus noch nicht formiert war. Mit den Rumänen waren wir beständig in freundschaftlicher Fühlung; unsere Jungen halfen in den Lagern der Rumänen bei der Werbung von Freiwilligen für die rumänische Armee. Auch in Paris wünschte man, daß wir unsere Armee an die rumänische Front führen. Ich verhandelte deswegen mit General Berthelot, der an der Spitze der französischen Militärmission in Rumänien stand; die russischen Truppenteile kommandierte dort General Ščerbačev. Ich hatte Nachrichten über die Zustände in Rumänien und kannte vor allem das Schicksal der Gefangenen durch Štefániks im Vorjahre dort erhaltene Informationen; danach mußte ich schließen, daß Rumänien schon 1916 Schwierigkeiten mit der Versorgung hatte. Bevor ich mich entschied, wollte ich die Zustände in Rumänien und an der rumänischen Front selbst sehen, und darum begab ich mich Ende Oktober nach Jassy; dieser Teil Rumäniens war vom Feinde nicht eingenommen.
In Jassy sah ich nicht nur die französische Mission und den russischen Kommandanten, sondern auch die rumänischen politischen und militärischen Führer; ich hatte eine Unterredung über die Situation mit dem König und dem Minister Bratianu. Take Jonescu war mir gut bekannt und von englischen Freunden empfohlen, neu waren mir die Minister Duca und Marcescu. Von Offizieren sah ich die Generale Averescu, Grigorescu u. a.; ich fuhr nämlich an die Front, um den Zustand des Heeres und vor allem auch die Verpflegung zu beobachten. Bei einem nicht langen Artilleriegefecht konnte ich die Soldaten in Tätigkeit sehen; ich hatte einen guten Eindruck, insbesondere bemerkte ich, wie der Sieg bei Marazesti die Geister ermuntert und ihnen den Mut zu weiterem Vorgehen und Ausharren eingeflößt hatte.
Die fremden Gesandten besuchte ich alle, namentlich erinnere ich mich des Verkehrs mit dem serbischen Gesandten Marinković und dem Militärattaché Hadžić; wichtig waren die Besprechungen mit dem italienischen Gesandten Fasciotti, mit dem ich einen eingehenderen Plan über die Organisation unserer Legionen in Italien vereinbarte und so die Verhandlungen fortsetzte, die ich in der Sache mit dem italienischen Botschafter in Petersburg geführt hatte. Ich erwähne noch den amerikanischen Botschafter, unseren Landsmann Vopička.
Danach, was ich kennenlernte und was ich hörte, gelangte ich zu der Anschauung, daß unsere Armee an die rumänische Front nicht gehen könne. Es kam mir vor, daß die Verpflegung schon sehr schwierig sei, und ich zweifelte daran, daß Rumänien den Zuwachs von 50 000 Mann leicht ertragen würde; vor allem aber hatte ich den Eindruck, daß Rumänien sich in seinem Widerstande gegen den Feind nicht halten werde. Die rumänischen Truppen und die Offiziere machten einen sehr anständigen Eindruck; die Stimmung war, wie gesagt, gut; die französischen Offiziere erfüllten in der rumänischen Armee ihre Aufgabe sehr ehrenvoll, aber die Gesamtlage schien mir dem Frieden zuzusteuern, und die russischen Truppen in Rumänien schienen mir nicht mehr zuverlässig zu sein. Das bolschewikische Rußland wird, das war nur eine Frage von kurzer Zeit, mit Deutschland Frieden schließen – wird Rumänien den Kampf gegen Deutschland aushalten? Was sollten wir nach Abschluß des Friedens auf rumänischem Gebiet tun? Die Erfahrung bestätigte bald meine Entscheidung. Mit den Friedensverhandlungen der Russen stellten sich auch Verhandlungen der Rumänen ein. Am 9. Dezember 1917 wurden die Waffenstillstandsverhandlungen eröffnet, am 5. März 1918 wurde der provisorische Frieden vereinbart, am 7. Mai der endgültige. Es ist interessant, Rumänien mit der Ukraina und Rußland zu vergleichen – die rumänischen Verhandlungen zogen sich ein halbes Jahr hin, mit der Ukraina und Rußland ging die Sache schneller.
In Paris vermochte man damals die Verhältnisse aus der Entfernung nicht richtig genug zu beurteilen, und man war mit meiner Entscheidung unzufrieden. Bald jedoch erkannte man ihre Richtigkeit an.
Der politische Aufenthalt in Jassy trug gute Früchte; die persönliche Bekanntschaft und unser Zusammenwirken mit den Rumänen in Rußland waren der Keim des Dreiverbandes. Als Rumänien sich für den Krieg entschieden hatte, sandten wir (mit Beneš und Štefánik) an Bratianu ein Telegramm, Rumänien kämpfe zugleich für die Befreiung unseres Volkes; das gemeinsame Interesse führte uns auch nach dem Kriege zusammen. Und ebenso die Südslawen; es ist wahr, daß zwischen Serben und Rumänen damals über die Abgrenzung des Banats nicht Klarheit genug herrschte; ich hatte Gelegenheit, mit beiden Parteien darüber zu sprechen und zu friedlicher Verständigung zu raten.
In Jassy erhielten wir Nachrichten über Caporetto – meine Einschätzung der rumänischen Politik wurde dadurch nur gestützt.
Die Regel, der wir in Rußland (auch in der Ukraina und überhaupt gegen alle neuen politischen Formationen in Rußland) folgten, war, uns nicht in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen, jeglichem Eingriff in die Streitigkeiten und Kämpfe der Parteien auszuweichen. Da wir die bewaffnete Neutralität uns ausbedungen hatten, besaßen wir im Bedarfsfalle Waffen zur Selbstverteidigung; als Bestandteil der französischen Armee hätten wir die Waffen natürlich zur Verteidigung der französischen und aller übrigen Verbündeten gebraucht, wenn wir angegriffen worden wären.
Von allem Anfang an hatten wir erklärt, unsere Feinde seien Österreich und Deutschland; gegen sie wollten wir auch in Rußland kämpfen. Wir beteiligten uns an diesem Kampfe, und zwar sehr ehrenvoll, bei Zborov. Als aber Rußland nicht länger kämpfen konnte, als das bolschewikische Rußland und auch die Ukraina mit den Österreichern und Deutschen Friedensverhandlungen begannen und wir sahen, daß der Frieden geschlossen wurde, konnten wir mit unseren Feinden nicht mehr in Rußland kämpfen; und daher war all unser Bemühen darauf gerichtet, nach Frankreich zu gelangen, – dort konnte unsere Armee zur Geltung kommen. Anfang November brachten wir die ersten Truppenteile nach Frankreich (unter Führung Husáks). Im Februar 1918 reisten Mitglieder der Zweigstelle, Šeba und Chalupa, nach Italien ab, um dort nach russischem Muster Legionen zu organisieren.
Bei dem Bemühen, nach Frankreich zu gelangen, wurde ich durch eine nebensächliche, keineswegs aber unwichtige Rücksicht geleitet. Rußland hatte mit dem Westen keine Verbindung; aus Rußland kamen die Nachrichten schwer und unvollständig nach dem Westen, außerdem war diese Verbindung von den Deutschen und Österreichern kontrolliert. Und die verschwiegen oder entstellten alles, was wir taten. In Frankreich würden Freunde und Feinde unsere Armee besser sehen.
Gegen unseren Abzug waren die Politiker und Heerführer des zarischen und vorbolschewikischen Rußland. Die Generale Kornilov und Alexějev, ebenso Miljukov u. a., drangen in mich, gemeinsam mit ihnen gegen die Bolschewiken zu kämpfen. Und auch die Bolschewiken und die Ukrainer waren insofern gegen unseren Abzug, als beide trachteten, unsere Armee für sich zu gewinnen. Namentlich Muravjev verhielt sich zu mir liebenswürdig und gewinnend, wie ich schon gesagt habe.
Alle diese Pläne lehnte ich ab. Insbesondere war ich überzeugt, daß die russischen Kommandanten und Politiker die Gesamtlage Rußlands unrichtig beurteilen, und hatte kein Vertrauen zu ihrer Führung und Organisationsfähigkeit. Die Augenblicksunternehmungen Kornilovs, Alexějevs u. a. bestärkten mich darin. Die Herren vergaßen auch, daß wir mit ihnen, resp. mit ihrem Nachfolger, dem General Duchonin, einen Vertrag abgeschlossen hatten, wonach unsere Armee nur gegen den äußeren Feind kämpfen würde, und dieser Vertrag war bereits während der Herrschaft der Bolschewiken abgeschlossen worden.
Ein weiterer Grund war die Unfertigkeit unseres Korpus und der Mangel an Waffen und Munition; namentlich besaßen wir keine schwere Artillerie, ohne die ein weiterer regelmäßiger Kampf undenkbar war. Wir hatten keine Aeroplane, und überhaupt war unsere Ausrüstung unzulänglich. Das fällt deswegen ins Gewicht, weil wir einen Kampf mit den Deutschen und Österreichern hätten erwarten müssen, die gegen uns vorgestoßen wären. Wir konnten Muravjev und seine gegen Kiew angesetzte Armee zerschlagen, hätten aber einem Kampf gegen die Bolschewiken in Moskau und Petersburg nicht genügt: und da sollten wir riskieren, daß die Bolschewiken von den Deutschen und Österreichern gegen uns verteidigt worden wären? Von der Unmöglichkeit eines regelrechten Transportes auf den verdorbenen und vom Feinde belagerten Bahnen will ich gar nicht reden.
Der Mißerfolg der polnischen Legionen sofort im Jahre 1917 und ihre spätere Entwaffnung (durch Pilsudski, Musnicki, Haller) waren ein abschreckendes Beispiel für den Kampf mit den Deutschen und Österreichern; übrigens hatten wir uns auch in unseren Kämpfen bei Kiew und Bachmač überzeugt, daß wir gegen die Deutschen schwach waren.
Uns hätte – und das fiel sehr ins Gewicht – die russische Bevölkerung nicht verstanden, die durchwegs gegen den Krieg war, sie hätte uns als fremde Eindringlinge betrachtet und uns die Verpflegung unmöglich gemacht. Die Schwarzen-Hundert hätte sich an uns gehängt, und auch darum hätte ein großer Teil der Bevölkerung Grund gehabt, gegen uns zu sein; schließlich hatte das russische Volk damals neben der Losung: Frieden ein einziges Ziel und Programm: Boden, und den hätten wir ihm nicht geben können.
Die Zustände in Rußland diktierten kategorisch die Regel, sich nicht einzumischen. Diese revolutionären Zustände wurden dadurch komplizierter, daß nicht nur einzelne Nationalitäten, sondern auch Kreise, einzelne Städte sich in gewissem Maße selbständig machten. Wir hatten nicht mehr nur mit dem zentralen Rußland und seiner Regierung zu verhandeln, sondern auch mit der Ukraina und weiteren autonomen Schöpfungen, mit denen wir in Berührung kamen (z. B. mit den Kosaken).
Mit 50 000 Mann kann man nicht das ungeheuere Gebiet des europäischen Rußland besetzen und halten; wir hätten nicht nur Kiew, sondern auch eine ganze Reihe von Städten und Ortschaften gegen Moskau okkupieren, überall Besatzungen zurücklassen müssen – dazu reichten wir mit unserer Stärke absolut nicht aus. In Rußland – noch nicht in Sibirien – begannen die Bolschewiken schon eine Armee zu organisieren; weiter gegen Osten und in Sibirien gab es nicht so viele Soldaten, und eben deshalb konnten wir auf diesem Wege am sichersten nach Frankreich gelangen.
Was die Alliierten betrifft, muß leider festgestellt werden, daß sie keinen bestimmten Plan betreffs Rußlands hatten und daß sie nicht einheitlich gegen die Bolschewiken vorgingen. In der ersten Zeit nach dem Umsturz waren die Alliierten nicht dagegen, die Bolschewiken anzuerkennen, wenigstens mit ihnen zu verhandeln. Ich wußte, daß der französische Botschafter Noulens mit Trockij (im Dezember 1917) verhandelt hat; der amerikanische Botschafter versprach kurz darauf (Anfang Januar 1918) den Bolschewiken Hilfe und formale Anerkennung, wenn sie sich gegen Deutschland wendeten. General Tabouis in Kiew schloß sich meinen Verhandlungen mit den Bolschewiken an. Bald waren die Alliierten jedoch gegen die Bolschewiken; daß sie den Aufstand gegen die Bolschewiken unterstützten, hielt ich für verfehlt, namentlich wenn die Unterstützung auch ausgemachten Abenteurern wie Semjonov u. a. zugute kam. Für einen wirklichen Kampf mit den Bolschewiken besaßen die Alliierten nicht Kräfte genug, örtliche Kämpfe waren ohne Bedeutung. Erst 1918 wurde im Herbst daran gedacht, von der Armee in Saloniki sechs Divisionen gegen die Bolschewiken zu senden; aber weder Clémenceau noch Lloyd George gingen auf den Plan ein, aus Furcht, die Soldaten würden nicht mehr gehorchen und nicht marschieren.
Unsere Stellung zu den Alliierten war schwer. Wir waren eine autonome Armee, waren aber doch ein Bestandteil der französischen Armee; wir waren von Frankreich und der Entente finanziell abhängig. Zwar war vereinbart worden, daß wir nur eine Anleihe erhalten, die unser Staat zurückzahlen werde, doch praktisch waren wir im Augenblick abhängig. Trotz alledem setzte ich aber meinen Willen durch, wir brachen zum Marsch nach Frankreich auf.
Eine eingehendere Schilderung unseres Verhältnisses zu den Alliierten in Rußland überlasse ich der künftigen Darlegung des Dr. Beneš; die Tatsache, daß wir eine Armee hatten und daß wir in Rußland die einzige größere militärische und politische Organisation waren, verlieh uns Gewicht; die Rücksicht auf unsere Armee spielte in den Verhandlungen über unsere Anerkennung eine bedeutende Rolle.
Die Alliierten waren nicht eines Sinnes darin, was unsere Armee tun solle; Paris war für die Überführung nach Frankreich, London hätte uns lieber in Rußland oder eigentlich in Sibirien gesehen. Möglich, daß dabei schon die bolschewikischen Agitationsversuche in Indien mit entschieden.
Dieses Kapitel könnte viel länger sein; doch will ich nur noch ein paar Worte sagen. Spricht man von Nichtintervention und Intervention in Rußland (ich benutze selbst diesen Ausdruck), so muß man zwischen der Nichteinmischung in die russischen Verhältnisse während der bolschewikischen Regierung und dem Krieg mit den Bolschewiken unterscheiden. Daß sich die Alliierten in die inneren Verhältnisse Rußlands nicht einmischen sollten, versteht sich nach den internationalen Gepflogenheiten von selbst; allerdings sollten sich ihrerseits die Bolschewiken nicht in die Verhältnisse der alliierten Staaten einmischen. Die bolschewikische Lehre über die proletarische Internationale und ihre Aufgaben bildeten da freilich ein ernstes Hindernis. In jedem Falle war der Kampf gegen die Bolschewiken schon damals ein Kampf gegen das offizielle Rußland: wenn der Krieg gegen Rußland – das bolschewikische Rußland, denn ein anderes gab es nicht – notwendig war, so mußte er formell erklärt und die Gründe angegeben werden. Das ist nicht geschehen. Ich gestehe ohne Umschweife, daß ich den Mangel an politischer Formalität im Vorgehen gegen die Bolschewiken nicht gebilligt habe; und dies um so weniger, als ich, was die Grundsätze betrifft, ein viel radikalerer Gegner des Bolschewismus bin, als viele Herren in Paris und London. Ich hatte über den Krieg gegen die Bolschewiken und Rußland nachgedacht; ich hätte mich mit unserem Korpus einer Armee angeschlossen, die für einen Krieg gegen die Bolschewiken und die Deutschen stark genug gewesen wäre und die die Demokratie verteidigt hätte. Für den Kampf gegen die Bolschewiken bestand eine einzige Möglichkeit: die Mobilisation der Japaner. Aber dazu war weder Amerika noch auch Paris und London gewillt. Das sah man, als im Sommer 1918 unsere Legionen in Kämpfe mit den Bolschewiken gerieten, wie ich berichten werde.
Doch auch mit Rücksicht auf die parteilichen Zustände in der Armee empfahl sich in unserer Isoliertheit die Neutralität. Besonders ein Mißerfolg und Niederlagen hätten die Einheitlichkeit der Armee zertrümmert, und wir hätten überhaupt für ein zu negatives Programm zu kämpfen gehabt. Der Kampf mit den Bolschewiken war mir auch darum negativ, weil ihre russischen Gegner selbst untereinander uneinheitlich und unklar über die Schicksale Rußlands und unfähig einer Organisation waren.
Und schließlich waren die Bolschewiken auch Russen. Lenin war für mich nicht weniger Russe als Nikolaj; trotz seiner mongolischen Abstammung hatte er mehr russisches Blut in sich als der Zar.
Hier will ich für alle Fälle einen Kiewer Zwischenfall erwähnen. In den Kämpfen mit den Ortsbolschewiken führte während meiner Abwesenheit (am 29. Oktober) der russische Kommandant einen Teil unseres 2. Regiments nach Kiew gegen die Bolschewiken; das geschah in betrügerischer Weise mit Hilfe des Obersten Mamontov, der sich den Soldaten gegenüber auf einen angeblichen Befehl von mir berief. Maxa liquidierte den unbesonnenen Zwischenfall sofort. Auch Abgeordneter Dürich erschien bei dieser Gelegenheit mit einigen Unzurechnungsfähigen auf der Szene. Ich erwähne dieses Faktum deshalb, weil man es von unseren und den russischen Bolschewiken oft gegen mich ausgespielt hat.
Im Interesse der historischen Wahrheit muß ich feststellen, daß die Bolschewiken noch nach Schließung des Waffenstillstandes (6. und 15. Dezember 1917) und während der Verhandlungen in Brest-Litowsk an die Reorganisation der russischen Armee für den Kampf gegen die Deutschen dachten. Trockij hatte zu Beginn des Krieges eine scharfe kleine Broschüre gegen die Deutschen und Österreicher verfaßt; im Februar 1918 machte er im Zentralausschuß in Petersburg den Vorschlag, Frankreichs und Englands Hilfe für die Reorganisation der Armee zu gewinnen. Lenin billigte diesen Plan. Soviel habe ich an Ort und Stelle von glaubwürdigen Zeugen erfahren; ich könnte nicht Einzelheiten angeben. Es ist bekannt, daß auch Sadoul im Januar und Februar 1918 über den Wunsch der Bolschewiken, von der Entente Hilfe für die Reorganisation des Heeres zu erhalten, nach Paris Nachricht gab. Und es ist bekannt, daß die Abmachungen in Brest-Litowsk von den Bolschewiken nur unter dem starken Druck Lenins angenommen wurden; Trockij war bei der Abstimmung nicht anwesend.
Und ferner kann ich die Tatsache anführen, daß Trockij noch im März nach Friedensschluß mit einigen Vertretern der Ententestaaten verhandelte, um den mit seiner Militärmission aus Rußland zurückkehrenden General Berthelot zu gewinnen. Botschafter Noulens, damals in Wologda, setzte sich dem Plan entgegen.
(Dieses Faktum stellte ich bereits nach meinem Fortgehen aus Rußland fest; ich kann nicht sagen, wie sich damals Lenin verhielt.)
Über die Verhandlungen Trockijs mit Noulens und das Versprechen des amerikanischen Botschafters habe ich schon berichtet.
In diesem Zusammenhang kann auch daran erinnert werden, daß bei Bachmač die Bolschewiken mit den Unsrigen gegen die Deutschen gekämpft hatten; das waren allerdings ukrainische Bolschewiken, und ihre nicht ausgiebige Teilnahme am Kampfe entsprang nicht einer überlegten antideutschen Aktion, sondern einer zufälligen Konstellation.
Ich kannte die Stimmung der Sowjets gegen die Deutschen gut und beobachtete sie beständig; ich hatte darüber zuverlässige Nachrichten. Selbstverständlich rechnete ich mit dieser Stimmung der Bolschewiken und trieb sie auch aus diesem Grunde nicht durch unseren Angriff den Deutschen in die Arme. Und noch das eine: aus dieser Stimmung der Bolschewiken schöpfte ich die Hoffnung, daß sie unseren Jungen keine Schwierigkeiten auf dem Wege durch Rußland und Sibirien machen werden.
Ich weiß, daß man den Bolschewiken einseitige Germanophilie vorwirft, weil sie mit den Deutschen Frieden geschlossen haben. Ich stimme mit dieser Anschauung nicht überein. Für die Bolschewiken gab es keinen Ausweg. Was sollten sie machen und was nicht? Die ganzen Verhandlungen in Brest-Litowsk, die Art und Weise, wie die Deutschen den Frieden – namentlich den sogenannten Ergänzungsvertrag – erzwangen, beweist, daß die Bolschewiken ungern Frieden schlossen. Sie folgten darin ihren Vorgängern während des zarischen Regimes, aber auch des nachzarischen. Miljukov war, wie ich schon erwähnt habe, ebenfalls zum Friedensschluß mit den Deutschen bereit gewesen, und Tereščenko verhandelte mit Österreich über den Frieden, obgleich er grundsätzlich für die Fortsetzung des Krieges war. Darüber will ich später sprechen. Die Bolschewiken beschleunigten, das kann ihnen mit Recht vorgeworfen werden, ganz unvernünftig die Zersetzung der Armee (auch das begann während des Zarenregimes, bewußt während der Provisorischen Regierung und unter Kerenskij) und mißbrauchten den Pazifismus agitatorisch, obwohl sie sehr bald selbst die Armee reorganisieren mußten; man kann zugeben, daß sich unter ihnen einseitige Germanophile befanden. Aber die Hauptfehler des Bolschewismus liegen nicht in ihrer äußeren, sondern in ihrer inneren Politik. Und soweit sie germanophil waren – auch darin waren sie Söhne des Zarismus.
Die Unkenntnis Rußlands und damit auch der Bolschewiken seitens der Ententeländer verschuldete in hohem Grad das unrichtige Verhältnis zu Rußland, erst dem zarischen und dann dem revolutionären. Wie unkritisch und wie kenntnislos man über die Bolschewiken urteilte, beweist die Veröffentlichung der antibolschewikischen Dokumente. Ich weiß nicht, was die Amerikaner, Engländer und Franzosen für sie bezahlt haben – der Inhalt verriet dem Kenner deutlich, daß unsere Freunde Fälschungen erworben haben. (Das wurde sehr anschaulich nachgewiesen; die angeblich aus verschiedenen Ländern stammenden Dokumente waren auf derselben Maschine geschrieben). Es ist wahr, daß die Bolschewiken in diesen Dingen nicht besser waren. Gleich nach dem Umsturz begannen sie das Geheimarchiv des Ministeriums des Äußern zu veröffentlichen; sie verkündeten das als großes Ereignis – de facto kam nichts ans Tageslicht, was man nicht gewußt hat. Trockijs Kampf gegen die geheime zarische Diplomatie war auch ziemlich naiv.
Ich handelte gegen Rußland in allen Phasen seiner Entwicklung nach meiner Kenntnis der Verhältnisse und nach unserem nationalen Programm; es war mir nicht lieb, in der Entente vielfach nicht sofort verstanden zu werden. Das Gesamtergebnis und der Erfolg gaben mir recht. Und was den Bolschewismus betrifft, so kannte man in Paris und London nicht die russische Lage und wie der Bolschewismus sich notwendig aus ihr entwickelte; doch viele Franzosen und Engländer, die in Rußland waren und den Stand der Dinge beobachteten, eigneten sich richtigere Anschauungen an.
Was schließlich das Verhältnis der Deutschen zu den Bolschewiken anbelangt, ist es unrichtig zu sagen, daß die Deutschen seit Beginn und unter allen Umständen die Bolschewiken unterstützt haben. Daß sie den bolschewikischen Umsturz und bereits die Agitation und den Kampf gegen die zarische und die Provisorische Regierung ausnützten, ist wahr, und es war eine kurzsichtige Taktik. Aber nicht alle deutschen Staatsmänner und entscheidenden Stellen in der Armee stimmten in ihrer Meinung über die Bolschewiken überein; die bürgerlichen Parteien, die Monarchisten und auch die Sozialdemokratische Partei waren nicht für die Bolschewiken. Andererseits konnten die Bolschewiken zu Beginn ihres Regimes nicht mit den monarchistischen Deutschen gehen und gingen weder politisch noch militärisch mit ihnen. Die Deutschen mißtrauten den Bolschewiken und fürchteten sie in gewissem Maße; das ersieht man aus den Verhandlungen in Brest-Litowsk und läßt sich aus der Tatsache schließen, daß die Deutschen im Frühjahr 1918 in Rußland bedeutende Truppenteile hielten, die sie besser in Frankreich hätten verwenden können. Um das wirkliche Verhältnis der Deutschen zu den Bolschewiken festzustellen, trachtete ich auf alle mögliche Weise, die Stärke des deutschen und österreichischen Heeres in Rußland festzustellen; im Hauptquartier schätzten manche russischen Offiziere die Stärke auf eine Million; nach meiner Schätzung betrug sie etwa eine halbe Million, sicherlich genug, um darüber nachzudenken, warum die Deutschen eine so starke Front aufrechterhielten. Diese Armee war nicht allein gegen die Bolschewiken gerichtet; die Deutschen rechneten damals noch mit der Möglichkeit, daß die Bolschewiken sich nicht halten und daß also der neue Herrscher Rußlands, insbesondere ein Monarch, die russische Armee gewiß wieder ins Leben zurückrufen würde. Das schloß ich auch daraus, daß General Hoffmann den Bolschewiken mit dem Marsch auf Petersburg und der Ausrufung der Monarchie drohte. Ad vocem Petersburg: es war zu erwarten, daß die Deutschen auf Petersburg marschieren; daß es nicht geschah, ist ein Beweis, daß sie nicht sicher waren und ihr Verhältnis zu einem neuen Rußland nicht verderben wollten.
Eine detailliertere Untersuchung des Verhältnisses der Bolschewiken zu den Deutschen würde eine sorgfältigere Analyse erfordern, als sie hier nötig ist. Die bolschewikischen Theoretiker – das möchte ich noch erwähnen – haben ihre Bildung zumeist in Deutschland und Österreich empfangen und waren dadurch in gewissem Maße deutsch orientiert; aber andererseits hatten sie politisch gerade in den Deutschen und auch in den deutschen Marxisten ihre härtesten Gegner. Die Nähe der Unabhängigen (und Liebknechtianer) entschied nicht in entgegengesetzter Richtung, eher umgekehrt. Den deutschen Vormarsch nach Finnland und nach der Ukraine und die Berliner Politik gegenüber den Randstaaten konnten die Bolschewiken überhaupt nicht verstehen.
Betrachte ich die Gesamtentwicklung der Dinge nach der Niederlage der zarischen Armee, so scheint mir, daß die russische Revolution 1917 für uns und unsere Befreiung eher ein Plus als ein Minus war. Dabei ziehe ich nicht nur unsere Legionen in Rußland in Betracht, sondern auch den Einfluß, den die russische Revolution auf uns daheim, auf Österreich und auf Europa überhaupt ausgeübt hat. Nicht einmal die bolschewikische Revolution hat uns geschadet.
Ich war nach Rußland in der Hoffnung gekommen, nach einigen Wochen wieder nach dem Westen zurückkehren zu können; allein die Verhältnisse in Rußland hielten mich nicht viel weniger als ein ganzes Jahr zurück. In Rußland mußten wir die größten Schwierigkeiten überwinden, Schwierigkeiten mit dem zarischen und dem nachzarischen Regime. Aber die Hauptforderung unseres auswärtigen Programms, an der ich seit allem Anfang unserer Aktion festhielt und die ich betonte, wurde erreicht: wir hatten eine Armee, und eine selbständige Armee. Ich sage selbständige, weil es gerade darauf ankam, und darum hatte ich mit dem offiziellen zarischen Rußland eine Meinungsverschiedenheit. Mir handelte es sich nicht nur darum, eine Armee zu haben, sondern darum, mit der Armee selbst zu disponieren und den Nationalrat politisch und militärisch über sie entscheiden zu lassen.
Dann handelte es sich darum, die Armee aus Rußland nach Frankreich zu bekommen. Nach der Gesamtlage war der Weg durch Sibirien am sichersten; in Archangelsk fror das Meer im Winter zu und der Murmanische Meerbusen und die Eisenbahn dahin waren unsicher; Transporte aus beiden Häfen, namentlich regelmäßige und längerdauernde Transporte, wären von deutschen Unterseebooten bedroht worden; den Weg über das Festland konnten wir nicht nehmen, daran hinderten uns die Österreicher und Deutschen, die den Westrand Rußlands besetzt hielten. Es blieb auch deshalb nur Sibirien übrig, weil die Bahnen dort, Meldungen zufolge, noch besser funktionierten als in Rußland; manche der wilden Pläne (Kaukasus, Asien) konnten überhaupt nicht ernst genommen werden.
Die Verhandlungen in Brest-Litowsk und die ganze Lage auf den Kriegsschauplätzen im Jahre 1918 kündigten das Ende des Krieges und den Frieden an. Um daher die Armee nach Frankreich zu bekommen, mußte ich, wie ich den Jungen als ihr Quartiermeister sagte, unerläßlich nach Europa reisen. Am 22. Februar fuhr ich von Kiew nach Moskau, um dort die letzten Vorbereitungen zu besorgen. Ich erfuhr, daß auch die französische und die englische Mission abreisen, und entschloß mich, diese Gelegenheit mit zu benutzen; das englische Rote Kreuz, das nach Wladiwostok fuhr (Lady Paget und Konsul Bagge), überließ mir bereitwillig einen Platz in einem seiner Wagen.
In Moskau verhandelten wir mit den Bolschewiken, um ihnen unsere Lage und den Sinn unserer Vereinbarung nachdrücklich darzulegen; es bestanden Befürchtungen, daß Mißverständnisse aus der Unkenntnis der Sache entstehen könnten. Klecanda verhandelte vielemals mit Frič, dem bolschewikischen Kommissar in Moskau (einem Literarhistoriker).
Die Nichteinmischung bedeutete nicht, daß unsere Armee sich nicht wehren sollte, wenn sie angegriffen werden würde. Darüber herrschte in der Zweigstelle des Nationalrates keinerlei Zweifel. Die Selbstverteidigung und die Verteidigung angegriffener Verbündeter war die natürliche Forderung einer selbständigen Armee.
In diesem Sinne wurde mit den Bolschewiken verhandelt. Die bewaffnete Neutralität war uns zugesichert. Dem stand nicht entgegen, daß wir den Bolschewiken einen Teil der Waffen, die sie als russisches Eigentum beanspruchten, herausgaben. Wir hatten vereinbart, daß unsere Armee ohne Hindernis nach Frankreich gebracht werde, und es verstand sich demnach von selbst, daß sie in Frankreich und in der französischen Armee französisch ausgerüstet werden müsse. Die Forderung, einen Teil der Waffen abzuliefern, kennzeichnete auch die militärische Lage der Bolschewiken.
In Moskau mußte ich mit den Franzosen die Finanzfrage abmachen: wie wir Geld erhalten werden. Es handelte sich darum, für die Armee, und zwar rechtzeitig, genügend Geld zu haben, denn wir mußten alles, was wir brauchten, bezahlen. Darauf wurde sehr streng gesehen. Das erste Geld hatte ich noch in Kiew von den Engländern verschafft, weil die französische Mission auf die Auszahlung noch nicht vorbereitet war; ich hatte 80 000 Pfund erhalten, hörte aber dann, daß mit dem Wechseln große Schwierigkeiten bestanden. In Moskau wurden mit der französischen Mission, der General Rampont angehörte, alle Finanz- und Verpflegungsfragen sehr bald und befriedigend erledigt. Für die Armee leitete die Finanzaktion der Legionär Šíp.
Am 6. März nahm ich in einer besonderen Proklamation Abschied von den tschechischen Landsleuten, am 7. März von der Armee. Es war mir nicht leicht, die Armee und die Zweigstelle allein in Rußland zurückzulassen, aber ich wußte, daß ich nach dem Westen reisen müsse. Im russischen tschechischen Lager war die Eintracht hergestellt. Die Armee war einträchtig und ihr Geist gut. Ich erwartete zwar noch verschiedene, noch viele Schwierigkeiten auf ihrer langen Fahrt, war jedoch überzeugt, daß die Armee bei Nichteinmischung in die russischen Verhältnisse ohne Schaden und noch rechtzeitig aufs Schiff gelangen werde. Einer der Hauptgründe, warum ich nach dem Westen eilte, war auch der, daß ich Schiffe für unsere Soldaten zur Fahrt nach Frankreich vorbereiten wollte.
Vor der Abreise aus Moskau gab ich, schon im Zug, dem Sekretär Klecanda die Vollmacht zu politischen Verhandlungen. Mit Klecanda hatte ich ziemlich lange Zeit gearbeitet und er war so in alle Probleme unserer ausländischen Aktion eingeweiht. Wir hatten alle Möglichkeiten besprochen, die ich erwartete. Die Bahnen waren schon in einem schlimmen Zustand; daraus konnten Verpflegungs- und Unterkunftsschwierigkeiten entstehen. Ich erwartete auch Schwierigkeiten mit den örtlichen Sowjets; ich hatte am Beispiel Moskau gesehen, wie das bolschewikische Regime noch nicht zentralisiert war und wie Rußland von Tag zu Tag in mehr oder minder autonome Teile zerfiel. Davon drohten uns Mißverständnisse. Ferner konnten für uns Schwierigkeiten aus dem Streit der russischen Parteien untereinander entstehen. Gerade bevor ich abreiste, wurde, wenn nicht ein Aufstand, so doch ein scharfes Eingreifen der Sozialrevolutionären Partei in die Moskauer bolschewikische Verwaltung erwartet. Ich versprach mir davon keinen Erfolg; Klecanda war darauf vorbereitet, im Falle dieser antibolschewikischen Aktion in Moskau streng an der Direktive festzuhalten: sich nicht in die russischen Angelegenheiten einzumischen.
Ich habe die Sozialrevolutionäre erwähnt. In Moskau weilte damals Savinkov; das wurde mir von einem Bekannten gemeldet. Ob ich mit Savinkov nicht sprechen wolle? Ich habe in meinem Buche über Rußland den philosophischen Romanen Savinkovs einen besonderen Abschnitt gewidmet, und es interessierte mich daher, mit dem Autor des »Fahlen Pferdes« zu sprechen. Ich wurde enttäuscht: politisch – er beurteilte Rußlands Lage nicht richtig und unterschätzte die Kraft des Bolschewismus; philosophisch und moralisch – er drang nicht bis zum Verständnis des großen Unterschiedes zwischen Revolution und persönlichem terroristischen Akt vor. Er begriff nicht den Unterschied zwischen Krieg und Revolution in Abwehr und im Angriff, er ragte moralisch nicht über den Primitivismus der elementaren Blutrache hervor. Die spätere Entwicklung Savinkovs – er diente sogar Kolčak – erwies seine Schwäche, – die Schwäche eines terroristischen Titans, der zum Hamlet geworden war.
Die Bolschewiken hatten Frieden mit den Deutschen und Österreichern, und darin war ausbedungen, daß sie gegen die deutsche Regierung, den Staat und die Armee keine Agitation in Rußland erlauben. Daraus konnten die Deutschen von den Bolschewiken viele unangenehme Maßnahmen gegen uns erzwingen. Und schließlich konnten wir Schwierigkeiten für die Armee davon erwarten, daß die Alliierten über Rußland und gegenüber Rußland keinen einheitlichen Plan, ja, überhaupt keinen Plan hatten.
Über alle diese und andere Möglichkeiten hatten wir uns mit Klecanda in Moskau bis ins Detail verständigt; für den Fall, daß wir in Rußland oder in Sibirien von irgendeiner russischen Partei (den Bolschewiken) angegriffen werden sollten, lautete meine schriftliche Instruktion: energische Abwehr! Wir hatten uns mit Klecanda auch über verschiedene unsere Leute verständigt, wie und wer in der Armee und in der Zweigstelle zu verwenden sei. Leider haben wir Klecanda so unerwartet verloren: er starb in Omsk am 28. April.
Um acht Uhr abends, am 7. März, fuhr ich von Moskau ab. Über Saratov, Samara traf ich mit der Sibirischen Eisenbahn am 1. April in Wladiwostok ein. Ich fuhr in einem Sanitätswagen III. Klasse; in Moskau hatte ich mir eine Art Matratze gekauft, auf der ich nachts auf der Bank schlief. Der Wagen war mit Engländern voll besetzt, die nach Europa reisten. Die Reise verging mit der Beobachtung Sibiriens, mit Lektüre, mit der Vollendung meines kleinen Buches »Das Neue Europa« und in hohem Maße mit der Sorge um das tägliche Brot; man mußte sich während der ganzen langen Zeit selbst verpflegen, in den Orten, wo wir hielten, Einkäufe machen. Doch reiste man durch Sibirien besser, als im europäischen Rußland. Man mußte oft in den Stationen und außerhalb der Stationen lange warten, die Wagen, die Lokomotiven und die Strecke waren nicht in Ordnung. So hielten wir z. B. lange in der Station Amazar; wir wurden rechtzeitig verständigt, daß vor uns ein Zugszusammenstoß erfolgt und die Strecke beschädigt worden war. In Irkutsk hielten wir einen ganzen Tag, konnten die Stadt besichtigen und die Einkäufe erledigen. Ich sammelte überall die verschiedene Zeitliteratur und -publizistik, auch ältere Publikationen, soweit man sie noch bekam. Selbstverständlich kauften wir überall die Lokalblätter und Flugblätter ein. Außerdem erhielt ich von Klecanda gemäß unserer Verabredung in manchen Stationen chiffrierte und gewöhnliche Depeschen.
Die englische Mission wurde seit Kiew von einer bolschewikischen Wache, die aus vier Soldaten bestand, begleitet. Mit ihrem Vorgesetzten hatte ich in täglichen Unterredungen und Diskussionen Gelegenheit, die ganze soziale Frage und den Sozialismus durchzunehmen – es waren sonderbare Sozialisten und noch sonderbarere Kommunisten!
In Wladiwostok blieb ich einen ganzen Tag; ich besuchte den tschechischen Verein »Palacky« und verweilte unter den Landsleuten. Vor allem benutzte ich Post und Telegraphen. Verschiedene Briefe nach Europa sandte ich durch Mitreisende, die Telegramme gingen vor allem nach Paris, London und nach Amerika. In Wladiwostok verschaffte ich mir von den Alliierten manche Nachricht, die mir ergänzte, was ich in den sibirischen Blättern gelesen und was ich telegraphisch erfahren hatte.
Für unsere Armee war mir am wichtigsten, daß die Kämpfe mit den Deutschen bei Bachmač liquidiert waren, und daß nach dem Übergang unserer Truppenteile aus der Ukraina nach Rußland im Kurland (am 16. März) zum erstenmal ein Teil unserer Waffen freiwillig abgeliefert worden war. Am 26. März wurde mit den Bolschewiken der Vertrag über die ungestörte Fahrt nach Sibirien und Wladiwostok geschlossen. Zwar war das schon gleich nach der Ankunft der bolschewikischen Truppen in der Ukraina mit Muravjev vereinbart worden, doch verhandelten wir aus Vorsicht noch in Moskau mit dem dortigen Sowjet, damit der Vertrag eingehalten und quasi ratifiziert werde. Kommissar Stalin telegraphierte am 26. März aus Moskau den Lokalsowjets, daß die Tschechoslowaken nicht als Kampfeinheiten, sondern als freie Bürger reisen und daß sie eine bestimmte Anzahl von Waffen zur Verteidigung gegen Kontrarevolutionäre mit sich führen: »der Sowjet der Volkskommissare wolle ihnen auf russischem Boden alle Hilfe angedeihen lassen«.
Auf der Reise las ich die Nachrichten über den Krieg im Westen. Ich las über die neue deutsche Offensive, und es versteht sich, daß der französische Mißerfolg und namentlich der des englischen Heeres damals in den bolschewikischen Blättern ausgiebig ausgebeutet und vergrößert wurde. Ich hätte viele interessante Einzelheiten und Beobachtungen von der sibirischen Reise zu berichten, Beobachtungen nicht nur Rußlands, sondern auch meiner englischen Mitreisenden, aber ich schreibe nicht eine Reiseschilderung, sondern einen politischen Bericht.