Hugo Marti
Das Kirchlein zu den sieben Wundern
Hugo Marti

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83 Der fahrende Schüler

84 Nach langen Jahren der Wanderschaft kreuz und quer durch die wälschen Lande und weit den Rhein hinunter kehrte Basilius Rutenzwyg in seine Heimat zurück und ließ sich allda in seines Vaters Haus als Goldschmied nieder. Bei den berühmtesten Meistern seiner Kunst war er in die Lehre gegangen und hatte jedem seine besondere Fertigkeit abgelauert, also daß er sie bald übertraf an Geschick und seine zierlichen Werklein guten Absatz fanden bei denen, die sie bezahlen konnten.

Nachdem er sich ein Jahr lang in Basel umgesehen hatte, gedachte er, einen Hausstand zu gründen. Er bastelte während einigen Wochen an einem schmucken, schmalen Goldringlein und trug es eines Abends hinüber zu seinem Nachbar, dem Waffenschmied Peter Streckysen, wo er oft die Feierstunden zubrachte. Als des Waffenschmieds Tochter Margarete den beiden Männern einen Krug Wein auf den Tisch stellte, zog Basilius seinen Goldreif hervor, ließ ihn im Abendlichte funkeln, indem er ihn gegen das Fenster hielt, und fragte die Jungfrau, was sie meine und ob sie seine 85 Frau werden möchte. Sie sah ihn erstaunt an und sagte weder ja noch nein. Da begann der Goldschmied ausführlich zu erzählen, wie er wochenlang an dem Ringlein mit Hämmerchen und Feilchen und anderen zarten Werkzeugen gearbeitet und dabei immer an sie gedacht habe und wie sie gewiß beide – das Ringlein und die Jungfrau, ja übrigens die Jungfrau und er selber auch – recht gut zueinander passen würden.

Da stieg der Jungfrau aber das warme Blut bis in die Schläfen und unter die dunkeln Kraushaare und sie warf den Kopf noch ein wenig mehr in den steifen Nacken zurück, denn sie war sehr schön und stolz zugleich, und der Goldschmied hatte wohl kunstfertige Finger, aber eine verwachsene Gestalt und einen schiefen Mund unter der langen Nase.

Der arme Goldschmied las wenig Gutes aus ihren Blicken, die an seinem krummen Buckel auf und nieder glitten und ihm das Herz fast verbrannten mit ihrem höhnischen Feuer. Er schob das Ringlein in seine Tasche zurück und sagte, etwas zu laut, als daß es gleichgültig geklungen hätte: »Dann also 86 nicht. – Das Ringlein, glaubt mir, werde ich schon los. Das steck ich einmal an einen Finger, der sich vor dem Euren nicht zu schämen braucht und noch viel weißer und feiner ist.«

Die Jungfrau drehte ihm den Rücken zu und verließ das Zimmer, erstaunt darüber, wie sie ohne ein einziges Wort zu sprechen einen ehrbaren Freier abgewiesen und ein funkelndes Ringlein verscherzt hatte, der Vater Waffenschmied lachte aber kräftig hinter ihr her und tröstete Basilius: »Seht, lieber Nachbar, das ist nun so: wer immer starke Arme mit wuchtigen Eisenhämmern hiebfeste Zweihänder schmieden sah, der weiß Eure zierliche, zarte Kunst nicht zu würdigen. Meister Goldschmied und Meister Waffenschmied, – wohl, das geht an, aber Hellebarde und Silberkettlein, – Ihr und mein Kind, das gäbe einen kurzen und faulen Frieden vor einem langen und bösen Krieg.«

Basilius Rutenzwyg schluckte den süßen Wein und den Trostspruch des Waffenschmieds mit einem so trübseligen Gesicht hinunter, als tränke er sauren Essig, und das Ringlein in der Tasche lag wie ein Feldstein auf seinem Herzen und brannte ihn, als 87 hätte es seine Schmiedeglut nicht schon lange im Wasser ausgezischt.

Noch zweimal versuchte später der Goldschmied, es an einen passenden Finger zu stecken, aber es gelang ihm nirgends. Als ein Jahr darauf des Waffenschmieds Tochter einem kräftigen Gesellen ihres Vaters angetraut wurde, ärgerte sich der Goldschmied jedesmal so sehr, wenn er das Ringlein irgendwo blitzen sah, daß er bei sich selber beschloß, es wegzuschaffen. Erst wollte er es in den Rhein werfen, da ihn dies aber doch gereut hätte, trug er es ins Kirchlein hinauf, wo die wundertätige Gottesmutter wohnte, und steckte es kurz entschlossen an ihren schlanken Finger. Er betete dabei um ein Wunder, das an ihm selber geschehen sollte, und wartete noch ein paar Jahre darauf; als aber weder sein Buckel verschwinden noch eine Jungfrau mit genug nachsichtiger Gegenliebe sich finden lassen wollte, zieh er im Geheimen die liebe Gottesmutter in den wilden Rosen des schnöden Undanks und vergrub sich in seiner Werkstatt, aus der gar kunstreiche und kostbare Schöpfungen hervorgingen, allerdings keine einzige mehr so zart 88 und so fein wie das verschmähte Ringlein, das alle Liebe aus dem armen Herzen des buckligen Goldschmieds fortgetragen und nur seine kalte, geldgierige Handwerkskunst zurückgelassen zu haben schien. Frau Margarete aber, des Waffenschmieds Tochter, ließ ihm durch ihren jungen Mann gelegentlich sagen, sie freue sich mit ihm darüber, daß sich seine Verheißung erfüllt habe: ein tausendmal zarterer Finger als der ihre trage jetzt das Ringlein und er, der Goldschmied, werde darüber wohl gar glücklich geworden sein und ihre harte und schaffige Hand schon lange vergessen haben.

Auf solche Weise war das Bildnis im Kirchlein zu diesem Schmuck gekommen. Die Augen der Gottesmutter lächelten zufrieden auf das Ringlein herunter und ihre Finger schienen es manchmal sinnend zu drehen, um die Sonnenstrahlen in den eingeritzten Zeichen und Zieraten spielen zu lassen, was dann wie ein springbrunnenstäubendes Feuerwerk durch das Kirchlein sprühte.

Da geschah es, als wieder eine heiße Sommermittagssonne in den Rosen glühte, daß ein fahrender Schüler langsam den Berg 89 herunterstieg, im Schatten des Waldes und nachher auf dem schmalen Pfad mitten durch die zitternden, duftenden Gräser und Kräuter. Er war auf dem Wege vom Wälschland her und gedachte, den Rhein hinunter zu wandern. Von der Höhe aus erblickte er den Fluß und die Dächer und Türme der Stadt, die er in der Abendkühle erst betreten wollte. Er spähte nach einem schattigen Flecklein aus und lauschte nach einem Brunnen, denn er war müde und matt. Er gewahrte die Sträucher und das Kirchlein und lenkte seine Schritte dahin. Vor der Türe, die offen stand, legte er sein Bündel nieder, in dem außer der nötigsten Habe noch eine braune Geige und ein Fidelbogen stak. Dann trat er auf die Schwelle und sah sich im Kirchlein um. Wie ein erfrischendes Bad umfloß die kühle Luft seine müden Glieder, und als er neben der Türe niederkniete, sank sein Körper während dem Beten langsam an die Mauer, vor seinen Augen verblaßte das Bildnis der Gottesmutter, und er schlief ein in der tiefen Stille des geweihten Ortes.

Durch seine Seele, die voll der Sommersonne und farbenreichen Bilder war, zog ein 90 Traum, so leicht wie ein Wölklein, das über fernen Bergen steht, und trug einen schimmernden Glanz in ihn, so daß er nach einer Weile ganz frisch und erquickt die Augen aufschlug und sich besinnen mußte, wo er eigentlich kniete. Er hatte aber im Traum eine goldene Tür erschaut, in zierlicher Schmiedearbeit verfertigt und von schwanken Zweigen überhangen; die beiden Flügel der Türe öffneten sich weit und heraus trat eine Jungfrau, die behende die Stufen heruntersprang, und ihm war, als hörte er das Knittern ihrer Gewänder und spürte das leise Streifen ihrer weißen Hand.

Indem der fahrende Schüler noch seinem Traum nachstaunte und deutlich im Geiste die schlenkernde Hand vor seinen Augen sah, fiel sein Blick auf ein schmales Goldringlein, das vor ihm auf der Holzdiele lag. Er bückte sich darnach, hob es auf und besah es. Und er erinnerte sich, daß er auch im Traum den Reif am Finger der Jungfrau gesehen und sein klirrendes Fallen gehört hatte.

Ganz verwirrt stand er auf und steckte das Ringlein an seinen eigenen kleinen Finger, wo es wie angeschmiedet festsaß, und trat 91 unter die Türe. Die Nachmittagssonne blendete ihn und eine Weile lang vermochte er nichts zu erkennen. Als er aber nach seinem Bündel greifen wollte, sah er erst, daß davor ein braunhaariges Mägdlein kniete und mit beiden schmalen Händen neugierig in seinen Habseligkeiten kramte. Eben hatten die fürwitzigen Finger die Geige hervorgezogen und zupften sachte und behutsam an klingenden Saiten, aus den Augen aber flogen wie zwei zutrauliche Vögel die Blicke zu dem Besitzer des Bündeleins, der starr und steif auf der Schwelle stand und offenen Mundes dem Gebaren zusah.

Als sich das Mägdlein erhob, staunte der fahrende Schüler noch mehr, denn es wuchs gar schlank und herzerfreuend vor seinen Augen empor, und die Art, wie es nun so dastand, gemahnte ihn eher denn an ein neugieriges Kind an die junge Königin von Frankreich, die er einmal durch alles Volk nach der Kirche hatte schreiten sehen.

Die Jungfrau aber sprach nun zu ihm, indem sie die Geige ein wenig emporhob: »Verzeiht, fremder Herr, wenn ich Euer Bündel erlese, aber als ich Euch in das 92 Kirchlein treten sah, dachte ich, Ihr seied sicher ein Musikante, und wollte gern wissen, ob ich recht geraten hätte. Und seht, da finde ich ein Saitenspiel. Erlaubet, daß ichs betrachte, denn mich freut derlei Gerät über alles und ich bin gerne dabei, wo Saiten tönen.«

Während der Rede der Jungfrau wuchs dem fahrenden Schüler der alte kecke Mut wieder, und er sprach lachend: »Wer mein Saitenspiel zu schätzen weiß, dem bin ich gut Freund, und überdies: ich trag ein Pfand von Euch, das mir für meine Fiedel bürgen mag.« Und er wies seine braune Hand vor, an deren kleinem Finger der goldene Reif funkelte.

Die Jungfrau erschrak ein wenig und sah erstaunt auf ihre eigenen, kleinen, weißen Hände, dann sprach sie lächelnd: »Der glitt mir wohl vom Finger, als ich an Euch vorbeihuschte. Denn als Ihr über die Schwelle tratet, kniete ich vor dem Bilde der Gottesmutter, – Ihr wißt doch, daß man von Wundern berichtet, die sie getan haben soll?«

Da der fahrende Schüler bekannte, daß er nie davon gehört habe, lachte sie ihn aus und schlug ihm vor: »Ich will Euch wohl 93 erzählen, was ich von den Wundern weiß, wenn Ihr mir später, in der Abendkühle, eine Weise aufspielen wollt.« Der Handel gefiel dem Musikanten, dem plötzlich alle Müdigkeit aus den Gliedern gefahren und nur die duftende Glut des Sommerwandertags wohlig im Blut geblieben war. Er schritt mit der Jungfrau ins Kirchlein zurück und sie setzte sich in einen kühlen Stuhl, wo es schattigdunkel war, er zu ihren Füßen auf einen Schemel, wobei er sagte: »Da ziehe ich seit langen Jahren in der Welt umher und sitze, so wie jetzt vor Euch, vor weisen Männern, aber wahrlich, noch nie bekam ich also liebliche Lehre aus schönem Munde zu hören. Was sind die hohen Schulen alle zusammen, verglichen mit diesem schattigen Kirchlein inmitten der blühenden, wilden Rosen? Doch fanget an, hochedler Lehrmeister! Euer Schüler dürstet nach Euren Worten nicht minder als sein trockener Gaumen nach einem Becher Wein lechzt.«

Da erhob sich die Jungfrau rasch und sagte: »Ich muß Euch wohl erst zu trinken schaffen, wenn ich Euch nachher aufmerksam bei meinen Wundern haben will.« Sie schritt 94 leicht und leise durch das Kirchlein und hantierte in einer Ecke herum, aber der Schüler vermochte nicht zu erkennen, was sie suchte. Nach einer kurzen Weile kehrte sie heiteren Angesichtes zurück und trug zwischen beiden Händen die kleine, silbergehämmerte Schale, in welcher das geweihte Wasser funkelte und einen zitternden Schein auf ihre weiße Stirne warf.

Als der fahrende Schüler den seltsamen Kelch sah, der ihm von also lieblichen Händen geboten wurde, erschrak er und zauderte, ihn zu ergreifen. Die Jungfrau aber sagte mit leisem Lachen: »Die gute Gottesmutter, die schon so manches Wunder getan, wird uns nicht zürnen, glaubt es mir. Seht, ich sündige mit Euch und will die Strafe mit Euch tragen!« Nach diesen Worten hob sie die Schale mit beiden Händen, senkte ihre Lippen bis an den geschweiften Rand und trank ein Schlücklein oder zwei von dem geweihten Wasser. Der fahrende Schüler sah mit Entzücken ihren schlanken Hals unter der schimmernden Schale und vermeinte durch die zarte Haut zu erblicken, wie die Tropfen einzeln gleich einer Perlenkette die Kehle 95 hinunterrollten. Er bekam große Lust, auch aus der Schale zu trinken, merkte sich genau die Stelle, an der ihre feuchten Lippen gelegen hatten, und griff mit beiden Händen zu, als sie ihm das Gefäß hinbot. In seinem heißen Durst schmeckte er erst nach einem langen Zuge, daß er süßen Wein trank, setzte die Schale von den Lippen ab und starrte erstaunt hinein. Hellgolden glänzte es aus dem Silbergefäß und wie aus einer Bergwiese, deren Blumen einen himmelklaren Sommertag lang Sonnenglut in sich hineingetrunken haben, stieg ein Duft empor. Da führte er die Schale nochmals zum Munde und trank sie in langen, durstigen Zügen leer. Als er sie nachher der Jungfrau wieder in die Hände legte, hatte der süße Wein seine Gedanken schon so kunstgerecht zu einem bunten Teppich verwoben und verknüpft, daß er vergaß, nach dem Fäßlein zu fragen, aus dem sie den seltenen Tropfen habe rinnen lassen.

Er legte vielmehr seine Stirne leise und wie ein Kind am Abend, wenn es den Geschichten der Mutter lauscht, auf die Kniee der Jungfrau, die mit singender Stimme von den Wundern zu erzählen begann. Sie redete 96 und sprach von allem, was die Leute über die liebe Gottesmutter in den Rosen wußten, und er hörte mit andächtigem Staunen von der großen und seltsamen Liebe, die sich hier an Menschen offenbart und die er selber in seiner unsteten Wanderlust nie anders als zu den Tälern mit ihren weißen Straßen und zu den blauen Bergen mit ihren tiefen Wäldern und zu der Ferne und zum Meer empfunden hatte. Er gedachte aller Mädchen, an denen er auf seinen weiten Fahrten vorübergezogen war und die ihm, wie er mit seiner Geige und seinem Bündel so leicht dahinschritt, lange nachgeschaut hatten. Und es tönte in sein Gemüt wie eine ferne, ferne Glocke und eine Weile war ihm wie einem Menschen, der plötzlich auf der Straße stehenbleibt und sich umsieht, weil er meint, er habe den schöneren Weg verfehlt und komme nun später ins Städtlein und nach Hause. Aber bald entschlug er sich solcher Gedanken, und als die Jungfrau endlich schwieg, hob er lachend den Kopf von ihren Knieen und fragte sie: »Glaubt Ihr, daß auch an mir ein solches Wunder geschehen könnte? Mein ganzes Sehnen stand bisher nach dem Wandern und 97 der weiten Welt und meiner Geige, und davon kann ich wohl niemals lassen.«

Die Jungfrau erwiderte ihm: »Mir scheint diese Liebe nicht geringer zu sein als jene andere zwischen Menschen, und ein Wunder kann deshalb gar wohl auch an Euch geschehen, noch ehe ein neuer Tag gekommen und wieder gegangen ist.«

Unter den Erzählungen der Jungfrau war der Abend hereingebrochen und die Sonne nach den Hügeln hinabgesunken. Der fahrende Schüler blickte das Tälchen hinunter und packte dann sein Bündel, das der Jungfrau Hände zerwühlt hatten, wieder zusammen. Dann versuchte er, das Ringlein von seinem kleinen Finger herunterzustreifen, und sagte dabei: »Euer Pfand muß ich wohl zurückerstatten, wenn ich mein Saitenspiel nicht aufgeben will.« Er mühte sich sehr an seinem Finger, der schon ganz rot wurde, aber der Goldreif saß fest und wich nicht von der Stelle.

Die Jungfrau sah ihm eine Weile zu, dann sagte sie lächelnd: »Nehmt ihn mit Euch und tragt ihn als Angedenken an diese stillen Stunden und an mich. Und wenn Ihr einst 98 ein Ringlein braucht, – denn auch an Euch kann das Wunder geschehen! –, so müßt Ihr keines schmieden lassen, sondern streift dieses ab und steckt es Eurer Liebsten an den Finger.«

Da nahm er mit vielem Dank von ihr Abschied, und während er durch die blühenden Rosen in die Wiesen hinaus und das stille Tälchen hinunter schritt, hob er die Geige unters Kinn und strich mit dem Bogen über die Saiten, wie er es der Jungfrau versprochen hatte. Sie aber stand hoch und lauschend auf der Schwelle unter der Türe und wandte sich dann langsam ins dunkle Kirchlein zurück. Als er sich nach ihr umsah, war sie verschwunden. Da schritt er tüchtig aus und stieg nach der abendlichen Stadt hinunter, über deren Dächergewirr rötlichglühend die beiden schlanken Münstertürme im späten Sonnenschein standen.

Nachdem er durch die Gassen gegangen war und sich die Häuser angesehen hatte, legte er sein Bündel in einer Herberge nieder und begab sich in eine Schenke. Er setzte sich neben einige Männer, die dort zechten und den fremdländischen Gast neugierig 99 betrachteten. Als er von seinen Wanderungen zu erzählen begann, rückten noch andere herbei und lauschten seinen Worten, und mancher, der auch einmal eine Reise unternommen und das und jenes gesehen hatte, fragte ihn aus, ob dort der schiefe Turm noch stehe und dort das große Münster jetzt zu Ende gebaut sei und dort noch immer so saurer Wein verzapft werde wie vor zwanzig Jahren. Auf alle Fragen gab er Antwort, so gut er's wußte und schwatzte den Bürgern noch mancherlei vor, was sie wohl gerne hören mochten, indem er ihre Stadt in allen Tonarten lobte und vor andern pries, denn er hoffte auf diese Art zu einer wohlfeilen Zeche zu kommen.

Nun traf es sich aber, daß an jenem Abend Basilius Rutenzwyg, der bucklige Goldschmied, diese Schenke aufgesucht und sich zum fahrenden Schüler gesetzt hatte, weil er ja selber auch weit in der Welt herumgereist war und gerne von fremden Städten, die er kannte, erzählen hörte. Er hatte aber mit seinen scharfen Goldschmiedsäuglein gar bald den schmalen Ring an des Schülers kleinem Finger bemerkt, wenn dieser mit seinen 100 Händen herumfuchtelte, und auch erkannt, daß es der Reif sein müsse, den er selber einmal dem wundertätigen Bildnis angesteckt hatte, weil kein anderer Finger ihn tragen mochte. Das kam ihm seltsam vor, und er beschloß bei sich, den fahrenden Schüler zu prüfen, woher er den Ring besitze, denn er hatte gleich den Verdacht gefaßt, jener sei ein Dieb und habe das Kleinod gestohlen.

Darum fragte er ihn so nebenhin, ob er denn auch die Sehenswürdigkeiten hier schon besucht habe, nicht daß er später nach Mainz oder Köln komme und dann nichts vom Spalentor oder von dem Wunderbild in den wilden Rosen zu berichten wisse. Der fahrende Schüler erinnerte sich bei diesen Worten alles dessen, was ihm am Nachmittag begegnet war, und er senkte ein wenig den Kopf und drehte langsam den goldenen Ring. Das entging den lauernden Blicken des buckligen Goldschmieds nicht, um aber seiner Sache noch sicherer zu sein, fragte er ihn ohne Umschweife nach der Herkunft des schmucken und seltsamen Rings, desgleichen er noch nie gesehen zu haben vorgab, obgleich er Goldschmied sei und gewiß manches schon erblickt habe.

101 Der fahrende Schüler, der nicht gewohnt war, von solchen Dingen zu reden, und sich des Ringleins fast ein wenig schämte, wurde rot bis unter die Haare und sagte verwirrt: »Den Ring hat mir ein Mägdlein gegeben, warum, das weiß ich selber nicht!« Alle Männer am Tisch, die ihm zugehört hatten, brachen in ein schallendes Gelächter aus und sahen sich den Ring näher an, aber der Goldschmied winkte einen nach dem andern zur Seite und teilte ihnen seinen Verdacht mit und schlug ihnen vor, wie er den Schelm zu fassen gedenke. Sie nickten ernst, zogen ihre Becher von dem des fahrenden Schülers zurück und redeten nicht mehr mit ihm. Er aber wußte nicht, was sie dazu bewogen hatte, und fragte sich, ob es wohl hier nicht Sitte sei, daß die Mägdlein fahrenden Schülern Goldreifen schenkten zum Angedenken. Er saß still hinter seiner Kanne und trank den Wein, der ihm gar nicht mehr recht schmeckte; als aber der Wirt zu ihm trat und ihn barsch zum Zahlen aufforderte, fuhr er zusammen, denn die Zeche war hoch angelaufen und überstieg die paar Batzen, die er bei sich trug. Von den Männern aber dachte 102 nun keiner daran, für ihn zu bezahlen, sondern mit kalten Augen sahen sie alle von ihren Bänken herüber und flüsterten einander zu, was der Schelm wohl anfangen möge.

In seiner Verlassenheit gedachte der fahrende Schüler wiederum des Ringleins, das ihm so lustig zufunkelte, und rasch entschlossen streckte er die Hand nach dem buckligen Goldschmied hinüber und fragte ihn: »Was wollt Ihr mir für den Goldreif bezahlen? Er ist mir feil und Ihr könnt ihn vielleicht gebrauchen, da er Euch so seltsam schien.«

Der Goldschmied sprang von der Bank empor und rief laut: »Jawohl, der Reif ist Euch sicherlich feil, je eher desto lieber, und mir kommt er gar seltsam bekannt vor mit seinen eingeritzten Herzen und Blumen, – sah ich ihn nicht schon am Bildnis der heiligen Gottesmutter und habt Ihr ihn etwa nicht gestohlen?«

Bei diesen Worten waren auch die andern Männer aufgesprungen, hart an den fahrenden Schüler herangetreten und faßten ihn nun an den Armen mit groben Griffen. Sie übergaben ihn der Nachtwache, die eben nach den Mauern zog, und diese warf ihn in den 103 Turm, ohne daß er ein Wort zu seiner Rechtfertigung hätte suchen und sagen können. Als er nun auf seinem feuchten Holzklotz saß und eine rasselnde Kette an den Knöcheln spürte und langsam begriff, was ihm geschehen war, sagte er sich ganz verzweifelt, daß nun alles verloren sei, denn kein Mensch würde ja seinen Worten von dem Mägdlein glauben; und ihm selber kam sein ganzes Erlebnis in den wilden Rosen immer sonderbarer und unverständlicher vor. Er legte den Kopf in die Hände und spürte den kalten Ring an seinen heißen, pochenden Schläfen, und als er der weiten Wege gedachte, die er am folgenden Tag und sein ganzes Leben lang noch hatte durchwandern wollen, begann er bitter zu weinen, denn er war noch sehr jung an Jahren und wußte, daß ihn die gestrengen Bürger der Stadt ob des vermeintlichen Frevels und Raubes sicher zum Tode verurteilen würden. In all seiner Trauer vermochte er aber dennoch nicht der Jungfrau zu fluchen, die ihm mit ihrer Gabe sein Schönstes, das Leben mit seiner Wanderlust und seinem Geigenspiel, genommen hatte.

104 Langsam zerrann die Nacht, beim Morgengrauen wurden die Flügel des Stadttors knarrend aufgetan und Schritte klapperten auf dem Pflaster. Ein paar schwirrende Sonnenstrahlen schossen durch das Gitterfensterlein in die dunkle Kammer und huschten frierend an den feuchten Steinmauern auf und nieder. Der fahrende Schüler sah ihrem Spiel zu und dachte an die weißen Straßen, die im Morgenlichte wie Bänder zwischen den Wiesen und Wäldern schimmerten. Dann aber wandten sich seine Sinne zum Tode hin, und er betete zur lieben Gottesmutter und erwartete sein Geschick.

An diesem Morgen sandte der Rat einen Reitersmann hinaus zu den Mönchen, in deren Obhut das Kirchlein stand. Er traf sie in großer Aufregung, weil sie auch schon bemerkt hatten, daß der goldene Ring der heiligen Gottesmutter geraubt worden war, und er sprach ihnen Ruhe zu und versicherte, der Schelm sitze schon im Turm und warte auf sein Gericht. Da man am Nachmittag gerade einen Roßdieb zu hängen gedenke, werde man wohl mit dem Ringschelm nicht lange zögern, ihm sei auch schon der Strick 105 gedreht. Des freuten sich die Mönche und bewirteten den Reitersmann so reichlich, daß er erst gegen Mittag wieder in die Stadt trabte, während die Richter und Bürger und der bucklige Goldschmied, der seine Werkstatt geschlossen hatte, ungeduldig auf ihn warteten.

Als nun der Reiter die Aufregung der Mönche geschildert hatte, schoben sie das Geschäft nicht mehr länger auf, sondern schickten den beiden Schelmen einen Pfaffen zum letzten Gebet und wandelten langsam und bedächtig, wie es ihrer Würde geziemte, zur Richtstatt hinaus, wo der Galgen lustig seinen Arm nach dem Schwarzwald hinüberreckte, und viel Volk, alte und junge Müßiggänger, folgte ihnen nach und scharte sich um den Hügel.

Es war am Nachmittag und die Sonne stach heiß hernieder, als die beiden Schelme aus dem Tor geführt wurden, von einem Trüpplein Bewaffneter begleitet. Der Henker schritt hinter ihnen her und besah sich ihre Nacken mit kundigen Blicken, den breiten des Pferdediebs, auf dem rotstruppige Haarsträhnen wucherten, und den schmalen des 106 Ringschelms, über den braune, wirre Locken fielen.

Auf der Landstraße, als sie die schattige Stadt und das finstere Tor durchschritten hatten, schnupperte der Roßdieb wie ein Tier in der Luft herum und sagte zu seinem Begleiter: »Jetzt möchte ich wohl dahinreiten; ei, wie sollten mir die Hufe klappern, bis ich den Stadtbann hinter mir hätte!« Da ward dem fahrenden Schüler schwer ums Herz und er sagte: »Und wie wollte ich in den Abend hinauswandern, dort den Rhein entlang! Die Nacht wird lau, und man kann draußen im Grase schlafen.« Der Roßdieb lachte und sprach: »Sie haben uns eine fürnehmere Herberge zurechtgemacht.« Und er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und sagte: »Wie die Sonne mich blendet!«

Unterdessen waren sie auf dem Hügel angelangt und standen mitten im Ring des Volkes, unter dem Galgen, in dessen Stamm der Henker neben eine lange Reihe von Kerben zwei neue schnitt. Sein Bube zog ein Leiterlein heran und legte zwei frischgedrehte, flachsgelbe Stricke über die Sprossen.

107 Der fahrende Schüler sah weit über die Leute hinaus ins Land. Auf der Straße eilten noch ein paar verspätete Zuschauer herbei. Der Roßdieb aber reckte sich empor und spitzte die Ohren, denn er hörte in der Ferne Hufgetrappel.

Einer der Richter hob ein Pergament vor die Nase und begann daraus vorzulesen. Die beiden Schelme hörten kaum auf seine Worte, denn jeder hatte seine Gedanken anderswo, der eine auf der Straße den Rhein hinunter, der andere bei dem herantrappelnden Roß. Der Richter aber las ihnen vor, daß nun der eine wie der andere zur Sühne seiner Missetat am Galgen aufgeknüpft werde, wenn nicht ein ehrbares Mädchen vortrete und ihn zum Ehegatten verlange. Nach diesen Worten machte er eine lange Pause und blickte mit ernster Miene im Kreise herum, aber die alten Jungfern, die gekommen waren, das Schauspiel aus Neugier zu schauen, drehten sich voller Abscheu und Widerwillen um und prusteten, als wollten sie damit sagen, sie hätten bessere Auswahl; die halbwüchsigen Mädchen aber, die mitgelaufen waren, sahen aus dunkeln Augen auf den fahrenden 108 Schüler und manchem klopfte das Herz gegen sein enges Miederlein, aber sie waren noch zu jung zur Freite.

So wollte der Richter, der das Pergament wieder vor die Nase emporgehoben hatte und die Stelle suchte, wo er stecken geblieben war, schon weiter lesen und die Schelme in des Henkers Hände überliefern, als der Pferdedieb seinen Galgenbruder derb in die Rippen stieß und ganz laut sagte: »Sieh dir das schöne Roß an, das da mitten in die Leute hereingeritten wird!« Der fahrende Schüler, der eine Weile schon an seinem Ringlein gedreht und gefühlt hatte, daß es nur noch ganz lose saß, fuhr auf und sah nach dem Rößlein hinüber.

Auch die Leute hatten es bemerkt und wichen nun gar ehrerbietig zur Seite, als eine Frau aus dem Sattel sprang und mitten durch die Gasse auf die Richtstatt schritt. Sie sah den fahrenden Schüler neben dem struppigen Roßdieb stehen und lächelte ihm zu, er aber erkannte sie erst, als sie mit lauter, klingender Stimme zu den Richtern und allem Volk sprach: »Ich begehre diesen Gesellen dort zu meinem Ehegemahl, wenn 109 er mich haben will. Schon trägt er ja ein Ringlein von mir.« Und sie nahm ihn an der Hand und ließ den Goldreif in der Sonne funkeln. Der bucklige Goldschmied, der hinter den Richtern stand, fuchtelte mit beiden Armen in der Luft herum und schrie: »Laßt euch nicht beschwindeln, hängt ihn auf!« Aber alles Volk strömte zusammen, riß die Richter und die Stadtknechte mit sich und jubelte, denn unter den vielen Schelmen, die jahrein jahraus zum Galgen geführt wurden, war noch selten einer wider alle Vermutung vom Leiterchen weggefreit worden.

Der fahrende Schüler wußte lange nicht, was mit ihm geschehen war, und eine Weile meinte er in seiner Verwirrung, er sei eben schon gehängt worden und wandle nun im Himmel einher, von einem Engel oder gar von der süßen Gottesmutter selber an der Hand geführt, dann aber sah er wieder den Galgen neben sich und das jubelnde Volk und die Richter, die sich vor der Jungfrau an seiner Seite verneigten, während die Leute auf ihren Namen rieten. Als der Schüler sich aber nach seinem Gefährten, dem Roßdieb, umsah, erblickte er ihn nirgends; 110 erschrocken hob er das Gesicht empor und schaute, ob er wohl schon oder noch am Galgen hange, – da begannen die Leute zu schreien und reckten die Arme und lachten laut, denn er hatte sich unbemerkt auf das ledige Roß geschwungen und jagte klappernd die Straße hinab und winkte grüßend mit der einen Hand zurück.

Also verlief dieses denkwürdige Hochgericht, und das Volk kehrte in Scharen, laut schwatzend und sehr zufrieden, nach der Stadt zurück. Der bucklige Goldschmied jedoch war spornstreichs in die wilden Rosen gelaufen, aus Wut und Neugier zugleich, denn er wollte mit seinen eigenen schiefen Augen sehen, ob der Ring nicht dennoch gestohlen und das Volk beschwindelt worden sei. Im Herzen aber dachte er, daß die Gottesmutter, wenn sie seinen Eifer sähe, vielleicht doch noch ein Wunder an ihm geschehen ließe.

Der fahrende Schüler und die Jungfrau gingen langsam nebeneinander dahin, und sie sah oftmals auf sein Gesicht und suchte seine Augen, die in die Ferne schweiften. Endlich fragte sie: »Ist jetzt nicht früher, als du dachtest, das Wunder geschehen, und 111 liebst du mich?« Er erwiderte: »Ein Wunder ist wohl geschehen, daß ich noch lebe und wieder wandern darf, und Euch muß ich sicherlich auch lieben, denn Ihr seid besser als alle Welt zu mir gewesen, aber wo werde ich nun stille sitzen müssen und ein ehrbares Gewerbe betreiben wie alle jene, die mich hängen wollten?«

Die Jungfrau lachte, denn er hatte wie ein Kind geredet, das zu weinen beginnt, und mit schalkhafter Stimme sagte sie: »Reich mir deine Hand.« Er tat, wie sie ihn hieß. Da streifte sie ohne Mühe das goldene Ringlein von seinem kleinen Finger und steckte es an ihren eigenen, nahm seinen Kopf zwischen beide Hände, küßte ihn auf den Mund und enteilte.

Er stand und starrte ihr nach, bis er ihre Schritte nicht mehr hörte und ihre schlanke Gestalt sich in der Abenddämmerung verlor. Dann wandte auch er sich um und wanderte davon, auf der staubigen Straße, die noch weithin zwischen den nebligen Wiesen und den dunkeln Sträuchern schimmerte.

Der bucklige Goldschmied aber kehrte am Abend verstört in die Stadt zurück und 112 erzählte in wirren Worten, das Kirchlein stehe leer und der Erzschelm habe sogar das wundertätige Gottesmutterbild daraus gestohlen; weil er aber die Leute ausschalt und sie ein beschwindeltes Pack nannte, glaubten sie ihm ungern und liefen alle am folgenden Tage selber nach dem Kirchlein hinaus. Und siehe: da stand das Bildnis wie früher und lächelte auf sie herab, und am Finger der lieben Frau und Gottesmutter glänzte das Goldringlein in der Sonne und funkelte herrlicher als je zuvor.


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