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Das Sterbefest von Erich Lüttwitz kam heran, ohne daß ich ihn vorher noch einmal getroffen hätte. Wir wußten einander nichts mehr zu sagen und mochten über unsere jüngsten Wandlungen nicht erst in Streit geraten. Um jedoch allen Zweifel über das Formale unserer Beziehungen auszuschließen, erinnerte mich Erich nochmals schriftlich an meine Zusage und legte in diese Zeilen den Tonfall früherer Herzlichkeit.
Der Abend, an dem ich mich auf den Weg machte, war naßkalt und fast schon winterlich. Ein schneidender Nordwest trieb dichte Nebelmassen vor sich her. Die Straßen unseres Gewandhausviertels lagen noch verödeter als sonst in ihrer kahlen Regelmäßigkeit. Nur selten sah man eine verschwommene Gestalt am Rande des Trottoirs entlang tappen, wo sich um die Laternenpfähle matte Kreise schwefelgelben Lichtes bildeten.
Auch in dem Gartengrundstück, das hinter den letzten herbstlichen Blättern die Villa verbarg, war alles ausgestorben. Aber gedämpfte Klänge eines Orchesters zeigten mir an, daß die Feier im Gange. Wie gewöhnlich waren die Fenster mit Jalousien sorgsam 308 verschlossen, so daß aus den erleuchteten Zimmern kaum ein paar schimmernde Streifen auf den Kiesweg fielen.
Ich mußte den Knopf der Klingel drücken, ehe mir geöffnet wurde. Dann aber sah ich mich sofort in der blendenden Helle des Flurs, der durch kostbare Portieren vom Vestibül getrennt war. Ein Diener führte mich zur Garderobe, in der Paletots, Zylinder und Cachenez schon zahlreich übereinander hingen. Ich kam also offenbar als einer der letzten.
Nun war auch die Musik vom ersten Stockwerk her deutlich vernehmbar. Man spielte die Symphonie fantastique von Berlioz. Eben erklangen noch die Takte des letzten Satzes »Songe d'une nuit du sabbath«. Und die Musiker schienen ihrer Aufgabe völlig gewachsen. Mit einer hinreißenden Glut und Verve rasten die grellen Noten des Hexentanzes umeinander. Kaum war die Symphonie verklungen, begann in noch entfernteren Räumen eine andere Truppe – den Streichinstrumenten nach eine Zigeunerkapelle – ungarische Rhapsodien. Darein mischte sich, sobald ich das Vestibül betrat, Stimmengewirr und Gelächter der Gäste, die zumeist in den oberen Zimmern versammelt waren.
Auf dem Rundsofa hatten sich mehrere Herren gelagert, fremde Gestalten, alle im Smoking mit weißer Weste, sonst aber von sehr verschiedenem Typ. Von 309 Erich oder einem anderen bekannten Gesichte war nichts zu entdecken. So machte ich mich zunächst mit diesen Gentlemen bekannt und erregte, als sie erfuhren, daß ich ein Freund von Erich Lüttwitz sei, ihre lebhafte Neugier. Sie wollten wissen, was ich von der ganzen Sache hielte, ob Lüttwitz sein Vorhaben wohl ausführen werde oder ob sie es nicht als einen Ulk auffassen dürften. Ich wollte und konnte nur unzureichende Auskunft geben; doch genügte mein Lakonismus merkwürdigerweise, sie völlig zu beruhigen. Auf jeden Fall wollten sie sich bei der Gelegenheit gründlich amüsieren. Keiner von ihnen, ebenso die wenigsten der übrigen Gäste, waren mit Erich auch nur näher bekannt: eine zusammengescharrte Gesellschaft von Snobs der Literatur und Kunst, von verabschiedeten Leutnants, problematischen Junkern, von Ausländern und von auswärtigen Lebemännern, die eigens zu dem Feste herbeigereist waren.
Die ausbrechende Lustigkeit der Herren vom Rundsofa wurde mir lästig. Ich stieg die Wendeltreppe hinan, um des Hausherrn endlich habhaft zu werden.
Oben drängte sich die Masse der Geladenen in fröhlichstem Gewühle um die Büfetts, um die Kamine und um die Kostbarkeiten, von denen diese Luxuswinkel heute in tageshellem Kerzenlicht erstrahlten. Es mochten gegen hundert Personen sein, darunter das weibliche Geschlecht nur spärlich, doch nicht reizlos vertreten. 310 Jedes Mädchen war in irgendein hübsches Phantasiekostüm gesteckt, und alle gehörten schon den höheren Wertklassen an. Unbefangen, dabei in Bescheidenheit, trugen sie zur Unterhaltung der galanten Herren bei. Unter ihnen fand ich auch Thusnelda, Elvira und Amaryllis vor. Amaryllis begrüßte mich aufs zärtlichste und verlangte mich zum Kavalier: von Erich brauche ich nichts zu fürchten; er habe sie alle an diesem Abend für vogelfrei erklärt. Ich versprach ihr, was sie wollte, wenn sie mir nur den Hausherrn zeigen könne. Sie wies mich darauf nach einer Gruppe jugendfrischer Schmetterlinge, von denen er sich mit Mühe losriß, um mich zu begrüßen.
Ich hatte mich auf einen beängstigenden Anblick gefaßt gemacht; und doch wurde ich von dem Ausdruck, mit dem diese einst so vornehmen Züge heute geschändet waren, durch und durch geschüttelt. Unter der fettigen Haut lagen ihm alle Muskeln schlaff und verquollen; die Augen verglast, weit aufgerissen, wie in fortwährender Erwartung eines Schlages; die Nasenflügel in konvulsivischem Beben, die spröden, blassen Lippen in erstarrtem Lächeln. Aus allem aber las ich, für mich überzeugend, den krampfhaft aufrecht erhaltenen wahnsinnigen Entschluß. Dabei kam der Armselige außerordentlich animiert und mit ausgelassenen Gebärden auf mich zu. Er wollte mich umarmen, besann sich aber 311 und schüttelte mir unter übermäßigem Lachen beide Hände.
»Wir sind Freunde, Just! Nicht wahr, das sind wir; das sind wir gewesen!«
Ich war nahe daran, die Haltung zu verlieren, laut aufzuweinen, loszuschlagen oder davonzustürzen. Mit halber Stimme stotterte ich irgend etwas von »Hoffnung auf schlechten Witz« . . . »nur tüchtig zechen . . .!« oder dergleichen. Aber er wollte gar nichts von mir hören, sondern fing an, in Reminiszenzen zu schwelgen:
»Weißt du noch, alter Junge, wie wir damals in Neapel miteinander am Ofen standen, und wie wir uns kennen lernten, weil wir miteinander froren? – Was? – Und unsere Reise dann! – Du, dir habe ich doch eigentlich riesig viel zu verdanken . . . so . . . mit dem Kunstgenuß . . . und mit dem ästhetischen Körper . . . und mit der Bildung und der Vielseitigkeit überhaupt . . . weißt du . . . riesig viel zu verdanken . . .!«
»Nein, nein, sage das nicht, Erich!« Ein Gefühl aufrichtiger, bitterer Reue wandelte mich an. »Sage das nicht! Im Gegenteil, wenn wir uns nie getroffen hätten, wärest du doch vielleicht der zufriedene Beamte geblieben, hättest deine Karriere gemacht, für die du erzogen warst und hättest niemals die gefährliche Lust auf ein Leben bekommen, dem du nicht gewachsen bist.«
312 Doch da bäumte sich noch einmal der Stolz seiner Rasse:
»Ich bin, wie ich hab' werden müssen!« rief er, indem er zornig den Boden stampfte. »Das heißt: verkracht bin ich! Aber tausendmal lieber will ich das Leben, sowie ich es jetzt verstehe, wenigstens probiert haben und es dann zerschmeißen, als wie der Ochse das Joch dahin schleppen, wohin sie einen treiben!«
Schon begann er bei den Umstehenden, die interessante Andeutungen witterten, Aufsehen zu erregen. Doch kamen in demselben Augenblicke auch die Schmetterlinge herbei und nahmen ihn in ihre Mitte.
Eine schmerzhafte Traurigkeit empfand ich, als ich mich nun vereinsamt, von nutzlosen Befürchtungen gepeinigt, unter der Menge sah, die sich den ungewöhnlichen Genüssen dieser Nacht gedankenlos hingab.
Das war für sie allerdings eine Sensation im großen Stil.
Alle Sinne wurden, nach dem Kumulationsprinzip von Huysmans' Herzog des Esseintes, gleichzeitig mit den auserlesensten Delikatessen gespeist. Während die beiden Kapellen abwechselnd Tänze, Ouvertüren und Potpourris spielten oder junge, geschickte Solisten vom Konservatorium kleine Gemeinden um sich versammelten, kosteten Liebhaber der bildenden Künste von den Gemälden, den Fayencen und Stickereien, die unter 313 elektrischen Bogenlampen in den Boudoirs intim doch wahllos durcheinander aufgestellt waren. Für dies letzte Mal war alles Minderwertige vermieden. Studien und Kollektivausstellungen nur der trefflichsten Künstler hatte sich Erich zu verschaffen gewußt: Skizzen in Öl von Liebermann und Exter konnte man da betrachten, Radierungen von Greiner und Ludwig von Hofmanns Pastelle, Gläser von Koepping und Decken von Obrist.
Mit hervorragendem Verständnis waren die Büfetts ausgestattet worden. Man speiste zu beliebiger Zeit, in beliebiger Gesellschaft an dreieckigen Tischchen, die unter den Düften exotischer Blumen, hinter Palmen und Gobelins standen, sehr ungeniert und verführerisch. Ich muß gestehen, daß meine Stimmung sich verbesserte, als ich mit unverdorbenem Appetit mir dort eine Schale Pommery einschenkte und einen Fasanen dazu wählte, der mit Wachtelfülle in Burgunder schwamm. Auch jene gerösteten Schnitte wollte ich mir nicht versagen, die in drei Formationen übereinander mit Trüffelpüree, Lerchenpastete und hellem Kaviar bestrichen waren.
Jetzt erst bemerkte ich, als ich mir Platz suchte, mit lebhafter Freude Dimitri Teniawsky, der sich, gleichfalls mit soupieren beschäftigt, dazu von einem italienischen Komponisten Variationen über Orlando di 314 Lasso vorspielen ließ. Der Künstler, ein niedliches Gigerl, kaum zwanzig Jahre alt, erhob sich vom Klavier und stellte sich vor. Dann setzten wir gemeinsam die Mahlzeit fort. Auch die Kapellen pausierten. Mir war es wirkliche Erquickung, von dem ohrenbetäubenden, nervenzerreißenden Wohlwollen der Instrumente mich einmal ausruhen zu dürfen.
Naturgemäß geriet unsere Unterhaltung auch hier bald auf die Endabsicht des Gastgebers, die der Italiener als leere Marotte bezeichnete, Dimitri jedoch ernster nahm, als ich vermutet hätte:
»Mag die Sache ausgehen, wie sie will,« sagte er, »auf alle Fälle werden wir ihn als verloren betrauern müssen. Es ist schade um den tüchtigen Kerl. Fünf Jahre früher, und wir hätten ihn vielleicht noch für uns gewinnen können.«
»Man sollte ihn,« rief leichtfertig der Italiener, »unter Kuratel stellen und in eine Kaltwasser-Heilanstalt bringen.«
»Dazu hat zum Glück niemand mehr das Recht,« erwiderte ich. »So kuriert man auch keine verpfuschte Erziehung.«
»Na, dann mag er doch in Gottes Namen mal in der Bohême untertauchen. Er scheint ja das Zeug zum Künstler in sich zu haben.«
Dimitri nickte mir trübe zu:
315 »Gerade weil alles aus ihm hätte werden können, ist er nichts geworden.«
»Und doch nur weil er meinte, daß es in allen Dingen schon zu spät für ihn sei.«
»Nun, dieser Irrtum gehörte notwendig mit zu seinem Schicksal. Selbst wenn er jetzt noch an die Arbeit gehen wollte, er bliebe doch immer im kläglichsten Mittelmaß stecken.« –
Gegen elf Uhr riefen uns Fanfaren hinunter nach dem Vestibül, wo vor einem Vorhang amphitheatralische Reihen von Fauteuils für uns standen. Hinter dem Vorhang waren die Zimmer durch Niederlegung der Wände zu einem breiten Bühnenraume umgeschaffen worden.
Mit allen Mitteln einer prächtigen Aufführung ging »Das Liebeskonzil« von Oskar Panizza in Szene. Dieses Stück war vor einigen Monaten vom Staatsanwalt konfisziert, der Dichter selbst wegen Gotteslästerung in neunundneunzig Fällen zu Gefängnis verurteilt worden. Als ein Schauspieler mit einem Prolog von gepfefferten Versen die Aufführung ankündigte, brachen die Zuhörer in lauten, demonstrativen Jubel aus.
Kein geneigteres Publikum hätte der Dichter finden können als diese trunkenen, von Schlemmerei und Geilheit überhitzten Drohnen, die den Extrakt seltsamer 316 Vergnügungen bis auf den letzten beizenden Tropfen schlürfen wollten.
Sobald der Vorhang auseinandergezogen war und die zierlichen Engelskinder sich in ihrer Blasphemie und Lüsternheit ergingen, kreischten wüste Lachsalven und Beifallsstürme durch die Halle. Das Auftreten der göttlichen Personen wurde mit einem Bravogeschrei begrüßt, das bei den Karikaturen der ewigen Rätsel bis zum frenetischen Geheul anschwoll. Der zweite Akt, der unter den Klängen der missa solemnis eine Orgie im päpstlichen Palast darstellt, mit Pulcinellospiel und Tanz von nackten Kurtisanen, entfachte die Leidenschaften der Zuhörer zur hellen Raserei. Johlend ahmten sie die Künste der Schauspieler nach. Von flüchtenden Damen wurden die Fauteuils umgestürzt. Andächtigere Elemente wieder zeterten, daß man sie störte und befürchteten Abbruch der Vorstellung. Doch die Farce nahm ihren Fortgang. Die zügellose Lust blieb auf der Spitze. Erst gegen Ende, beim Auftritt der greulich geschminkten Seuche, bei dem Auftrage des Teufels, der ihrer Fürsorge das Menschenpack empfiehlt, zog etwas wie ein Hauch von ahnungsvollem Grauen durch die erlesene Versammlung.
Nachdem sich der Vorhang über der Himmelstragödie geschlossen, entfesselte sich oben wieder, unter Teilnahme der Schauspieler, das wildeste Bacchanal.
317 Dimitri, hörte ich, sei plötzlich abgerufen worden. Ich selber wäre am liebsten davongelaufen, wenn der Gedanke an Erichs Ausgang mich nicht zurückgehalten hätte. Zum Glück fand ich unter der ausgestellten Kleinkunst eine Sammlung kostbar gebundener Bücher und Gedichte von Swinburne, Mallarmé und Hugo von Hofmannsthal. Der letztere war, wie ich hier las, Dichter jener Verse, die Erich damals vor mir und Amaryllis gepriesen hatte.
In allen Räumen herrschte jetzt ein infernalisches Getöse. Nach dem Lärm der Instrumente, die ohne Unterlaß zum Tanz aufspielten, wurde gebrüllt und Cancan gesprungen.
Wo Erich Lüttwitz sich aufhielt, wußte niemand zu sagen. Einige wollten ihn noch während der Vorstellung gesehen haben; andere meinten, er läge sinnlos betrunken vor dem Gemälde einer Venus. Man begann, in allen Winkeln und unter den Tischen nach ihm zu suchen, erst scherzhaft, dann mit aufsteigenden Schauern.
Allmählich ward es stiller im Hause. Man befahl den Musikern, zu schweigen. Gruppen bildeten sich, die beratschlagten und flüsterten. Nur wenige machten ein Hehl aus dem unbändigen Nervenkitzel, den sie bei dem Gedanken an eine bevorstehende grausige Überraschung empfanden, nicht anders als der altrömische Pöbel vor dem letzten Kampfe eines Gladiatoren.
318 Da kursierte das Gerücht – niemand wußte, woher es stammte – punkt zwei Uhr habe sich Erich Lüttwitz mit zwei Terzerolen vor seinem Spiegel niederschießen wollen.
»Wo?« fragte man ängstlich. »Wo?«
»Vermutlich im Schlafzimmer – oder im Ankleideraum.«
»Also oben, im zweiten Stock! Irgend jemand müßte nachsehen.«
Jetzt wurden sie alle vollkommen nüchtern und kleinlaut. Ein paar der Mädchen fingen an zu weinen und verlangten nach Haus. Schwankende Gestalten drückten sich verstohlen nach der Tür.
Ich selbst saß, meiner Glieder nicht mächtig und in Schweiß gebadet, hinter der erregten Szene; teilnahmlos, in dem erkältenden Bewußtsein, daß das Drama vorüber und an der unbekannten Katastrophe nichts mehr zu ändern sei. Was sich im einzelnen zugetragen, mochte ich am liebsten gar nicht erfahren.
Abgesandte, Diener und Gäste kehrten aus den Zimmern des zweiten Stockwerks zurück. Nichts Auffälliges war entdeckt worden. Wohl noch eine Stunde lang dauerte die peinliche Durchforschung des ganzen Hauses. Erich Lüttwitz blieb verschwunden.
Ganz leer und still und dunkel wurde es. Ohne Abschied gingen die Gäste auseinander. Als einer der letzten trat ich in den Nebel der Straße.
* * *
319 Wenige Tage danach benachrichtigte mich Tönnies mit ein paar Zeilen vom Tode Gottfried Bernheims. Selbstverständlich würden alle bürgerlichen Formalitäten unterbleiben. Auch bat er mich, vorläufig nicht hinauszukommen, da Esther im Begriffe sei, in seiner Begleitung den Leichnam nach Gotha zu überführen und im dortigen Krematorium bestatten zu lassen. – –
Gleichzeitig fast mit diesem Schreiben kam die Einladung zu Alices Hochzeit.
Das war von seiten ihrer Familie eine Auszeichnung, die ich nicht erwartet hatte. Niemandem anders konnte ich sie zu verdanken haben als Alice selbst. Und die hoffärtigsten Gedanken darüber erfüllten mein entzücktes Herze. Sie hatte es sehr eilig mit ihrem Leutnant, das mußte man sagen. Doch war mir der jetzt keine Beunruhigung mehr. Ich dachte kaum an ihn, der doch in den Liebesangelegenheiten seiner Frau gewiß ein Wort würde mitreden wollen, vorausgesetzt allerdings, daß sie ihm das Stimmrecht einräumte. Aber mit welchem Rechte zweifelte ich daran? – Widersinnig und behext war mein Hoffen, daß es gerade jetzt nicht mehr verzweifeln wollte, wo doch am ersten Veranlassung dazu gewesen wäre. Immer noch, bildete ich mir ein, müsse es einen Ausweg oder vielmehr einen Zugang geben, wie durch ein Wunder unvermutete Himmelfahrt. Zugleich aber war meine 320 Seele aller Ängste voll. Die alten, dummen Herzbeklemmungen und schweren Atemzüge bedrängten mich wieder, so daß ich schleunigst an die Arbeit stürzen mußte, um Kräfte zu sammeln für meine Souveränität. – –
Es hätte nahe gelegen, mich nach dem geheimnisvollen Schicksal von Erich Lüttwitz zu erkundigen. Doch die Scheu, von irgendeinem Greuel zu vernehmen, hielt mich lange davon ab. Auch nahm ich an, daß, wenn er noch lebte – und dies erschien mir jetzt wahrscheinlich – zunächst eine Äußerung von seiner Seite erwartet werden müsse. Wollte er noch von sich hören lassen, so würde er sich gewiß rechtzeitig melden.
Bei einer Gelegenheit, die mich an seinem Haus vorüberführte, betrat ich den Garten, fand aber diesmal nicht nur die Fenster, sondern auch das Tor verschlossen. Auf mein Klingeln wurde nicht geöffnet. Einen Augenblick dachte ich an Nachfrage bei der Polizei, unterließ es aber, weil mir das wie Indiskretion gegen einen Freund vorkam, der für mich tot sein wollte, ob er nun im Grabe oder sonst wo in der Welt vermoderte.
* * *
Die Fiedlersche Hochzeit! – So oft ich daran denke, werde ich wieder gerührt und übermütig, sehe die erhitzten Mienen der Brautjungfern und atme den 321 süßlich-brenzlichen Dunst von Ehrbarkeit, unter deren Mantel die Phantasie gar lockere Spiele treibt. –
Wehleidig glitt ich mittags in meinen Frack. War es doch eine Art Leichenbegängnis, zu dem Alice mich gebeten hatte. War ich doch nahe daran gewesen, ein Gedicht zu machen »an die tote Geliebte«. – Oh, wenn ich mir jene Stunde vergegenwärtige, da ich auf die Hochzeitskutsche wartete, noch ganz Nervosität, ganz Katzenjammer, noch nicht zerstreut von den Faxen der Festgenossen, wie möchte ich da dem Bilde meiner Vergangenheit heute ermutigend zuwinken mit dem Humor des erfahreneren Freundes!
Erst als der Wagen vorfuhr und ich darin zwei fremde Leutchen fand, die wider Willen als Brautführer und Brautjungfer für den geschlagenen Tag zusammengeschweißt worden waren, wurde mir heiter zumute. Der Dicke gegenüber war mir sofort sympathisch. Er galt eigentlich als mauvais sujet, weil er übermäßig lange Medizin studierte, Landsmannschafter war, viel Schulden und schlechte Manieren besaß. Ich hatte über ihn klagen gehört und machte ihm mein Kompliment. Sehr offenherzig erklärte er mir, daß man ihn nur eingeladen habe, weil er der einzige ledige Verwandte der Brautfamilie sei und somit als Brautführer herhalten müsse. Seine Nachbarin, eine von Alices »Kränzchenschwestern« fühlte sich durch dies Bekenntnis mit Recht 322 verletzt. Sie betrachtete unablässig ihr Bukett mit geringschätzigen Blicken, wahrscheinlich weil die Farben mit denen ihrer Toilette sich schändeten, und hüllte sich in verbissenes Schweigen. Ich führte darauf mit dem Studenten ein Gespräch über Erlanger Bier mit Brühwürstchen, woran sich die Brautjungfer trotz chevaleresker Bemühungen meinerseits erst recht nicht beteiligen wollte.
In der Sakristei großer Empfang; ähnlich wie an der Gewandhausgarderobe. Man bedienert sich und macht die bei Hochzeiten üblichen Redensarten über die »recht entsprechende Partie«, das »junge Paar«, die »entzückende Ausstattung« u. dgl. Die Herren, mit dem Chapeauclaque oder dem Helm unterm Arm, engagieren die Damen, die dann kokett ihre seidenen Unterröcke knistern lassen. Indes wird jeder durch eine gewisse Versteinerung der Mienen andeuten, daß er der feierlichen Stelle und Gelegenheit sich wohl bewußt ist.
Alice rauscht herein, am Arm ihres Bräutigams. Allgemeine Bewegung. Ostentative Umarmungen übers Kreuz. Händeschütteln, mannigfaltig in Form und Ausdruck, nach der Ordnung des gesellschaftlichen Verkehrs.
Ein Kirchendiener erscheint, um den Hochzeitszug zu ordnen. Er zieht mich freundschaftlich am Frackschoß in die Reihe. Sein Atem duftet nach Kaffee mit 323 Kautabak, während die mir zuteil gewordene Dame ein Parfüm von eau de mille roses ausstrahlt. Danach ziehen wir unter den Klängen von »Jesus meine Zuversicht . . .« nach dem Altarplatze.
Der alte, innige Choral, den ich als Knabe so oft voll Hingebung, mit andächtigen Schauern, glückselig in meiner Gotteskindschaft gesungen hatte, wollte mir für die Kirche, die ich abgeschworen hatte, schon wieder pietätvolle Regungen erwecken. Doch alle Gefühle erstarben im Keim, als die Herrschaften ringsum ihre gezierten Stimmen erhoben, weil sich das bei Trauungen so schickt. Und als nun vollends der Pastor im unvermeidlichen Kanzelton seine stereotypen Ermahnungen vorbrachte, die Redensarten vom bevorzugten Stande des Bräutigams und der in Wohlleben aufgewachsenen Braut, von dem Pfunde, mit dem sie beide wuchern sollten, den Rechten, welchen auch Pflichten entsprächen, kurz was bei Trauungen von Leutnants mit reichen Mädchen eben so gepredigt wird, da verfiel ich in jene nüchterne Resignation, aus der die Schläfrigkeit beim Gottesdienst entspringt.
Es regte mich nicht mehr auf, mein früheres Besitztum jetzt vor mir in den Händen dieses Unwürdigen zu sehen, mit ihm verkettet durch geschäftliche Vorverträge und durch die Drohungen des Gesetzes. Nun war die Lage wenigstens geklärt. Mochte ich mich damit 324 abfinden, wie ich wollte, jedenfalls gab es nichts mehr zu befürchten, und im allgemeinen setzte ich mich über vollendete Tatsachen ja leicht hinweg. Nur ein uneigennütziges, rein ästhetisches Bedauern empfand ich, daß der komplizierte Duft dieser Blüte ganz verständnislos würde genossen werden, sowie der Vielfraß den Geruch gemeiner Brühe in die Nase zieht. Gewiß war Herr von Fiedler seiner Gattin in Züchten zugetan; hauptsächlich aber brauchte er sie doch als Repräsentantin, als Geldquelle und zur Fortpflanzung seiner skrofulösen Gattung. Schade, jammerschade um die verborgenen Feinheiten ihrer Natur, die er mit seinen klotzigen Nerven niemals hervorlocken konnte!
Man brauchte nur die beiden Profile nebeneinander zu betrachten: seines mit den Linien vom Widderschädel, mit dem Kneifer vor den verblödeten Augen, mit dem Stempel des Gamaschendienstes – dann das von Alice, zart, blaß und vieles verheißend, untadelhaft schön geschnitten wie eine venezianische Gemme. Oh, wie von der Bewunderung mein Blut schon wieder aufwallte! Wie sollte ich verwinden, das zu entbehren, Perlen wie Sand verschleudert zu haben, in sündhafter, krankhafter Laune!
Nein, ich durfte mich an ihrem Anblick nicht länger erhitzen; ich mußte mich zerstreuen, ernüchtern. Also etwas Gleichgültiges her, etwas Dummes: zum 325 Beispiel den Degen des Bräutigams, den der erste Brautführer ihm abgenommen hatte und zwischen den Knien hielt. Ich heftete meinen Blick auf den goldenen Griff, auf die Parierstange und den gescheitelten Löwenkopf, der die Kuppe bildete. Und wie ich mich in den Ausdruck dieser Bestie vertiefte, da war es mir doch, als ob sie das Maul verzöge und mich vertraulich anblinzelte. Ich dachte: Hast du Wohlwollen für mich gefaßt, du guter Löwe? Du machst einen ganz friedfertigen Eindruck. Und die Mordwaffe, die du krönst, ist gar nicht so gefährlich, wie sie sich stellt. Wir wollen Freundschaft miteinander schließen, gute Bestie! Da grinste der Löwe wieder hinter dem Rücken seines Herrn.
Dort vorn fand die Manipulation des Ringewechselns statt. Das ist ein Symbol für die Unauflöslichkeit des ehelichen Bundes. – Sehr gut! Man soll die Pfeiler von Sitte und Ordnung nur ja der Symbole nicht entkleiden! Das erleichtert es den Gutgesinnten wesentlich, an die Form sich zu klammern und den Gedanken darüber zu vergessen. Gerade wie sie ihren Kirchgang vornehmen oder die patriotischen Feste feiern und meinen, der Religion und der öffentlichen Sicherheit sei nun Genüge getan. Hätten sie ihre toten Symbole nicht, wer weiß, vielleicht würden sie lebendig werden und sich gar zu einer lästigen 326 Widerspenstigkeit aufraffen? Doch vorläufig – wechseln sie noch vertrauensvoll ihre Ringe und fühlen sich damit in ihren Rechten garantiert. –
Nach beendeter Feier bestieg das junge Paar sofort den Wagen. In fröhlichem Getümmel schlossen die Gäste sich an. Nun, da die Unbequemlichkeiten überwunden waren und der bessere Teil der Hochzeit, das Diner bevorstand, erwachten alle Lebensgeister.
Im Prachtsalon des elterlichen Hauses fand Gratulationscour statt. Leutnant von Fiedler strahlte, soweit er dazu fähig war. Alice fiel selbstverständlich durch »mädchenhaften Liebreiz« auf. Irgendwelche Ausnahmegefühle waren nicht an ihr zu bemerken.
Nun trat ich auf sie zu. Und in demselben Augenblick ging eine Veränderung mit ihr vor. Ob es nur ein Zucken der Wimpern, ein Strich an den Lippen war, ich habe das niemals herausbringen können. Aber ich erinnerte mich, diesen selben flüchtigen, jedem Fremden unerkennbaren Ausdruck in einer unsrer zärtlichsten Stunden schon einmal erlebt zu haben. Wann dies gewesen, was er bedeutet hatte, war mir entfallen. Nur so viel wußte ich – und mit klopfendem Herzen schwur ich es mir zu – daß er ein Zeichen ihrer höchsten Gunst gewesen und mich jählings auf den Gipfel aller Lust getragen hatte.
Mein Glückwunsch ging formell, in wenigen 327 Sekunden vorüber. Ich verbeugte mich tief. Unsere Hände berührten sich kaum. Noch einmal grüßten wir uns mit verbindlichem Lächeln. Dann machte ich anderen Platz. Aber die Kunde, die aus dem in jedem vibrierenden Fältchen mir so vertrauten Antlitz der Geliebten wie ein Blitzstrahl die Finsternis durchleuchtet hatte, blieb im Herzen eingebrannt. Ich grübelte und deutete daran herum, zermarterte mir das Gedächtnis nach jenem Vorgang, der mir als Schlüssel hätte dienen können. Vergebens. Ich konnte es nicht in Worte, ja nicht einmal in dunkle Gefühle übersetzen. Und dennoch wurde ich die Überzeugung nicht los, daß ich die Bewegung scharf gesehen, daß auch viel Glückverheißendes darin gelegen, etwas von dem Glück unserer zärtlichsten Stunden.
Selten hab' ich mich an läppischen Familienfesten mit solcher Munterkeit beteiligt, selten wohl einen charmanteren Kavalier gespielt. Meine Tischnachbarinnen behaupteten, ich »triebe das Kälbchen mit ihnen aus«, was so viel heißen sollte, als daß sie von der Unterhaltung befriedigt waren. Die Tafelredner, die mit gequältem Witz und gigantischen Geschmacklosigkeiten das Brautpaar, die Eltern, das Regiment und die Kränzchenschwestern leben ließen, empfand ich duldsam als Zierden deutschen Geistes; die Verse aus den Knallbonbons las und variierte ich mit schelmischen Pointen und ward 328 zuletzt so herzhaft albern, daß die Damen mich »im Grunde ganz vernünftig« fanden.
Die Lustbarkeit setzte sich dann an Rauch- und Kaffeetischen fort. Das Brautpaar, noch viel umworben und von verstohlen-neugierigen Blicken gemustert, hielt in verschiedenen Ecken Cercle. Alice hatte bei ihrer Wanderung um die Tafel mit ihrem Kelchglas auch das meine angestoßen. Sie hatte verschmitzt dazu gelächelt, Neues aber erfuhr ich dabei nicht.
Erst zu später Stunde gelang es mir, noch ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Sie und ihr Gatte standen im Gespräch mit mehreren Offizieren. Ich trat hinzu, und während Fiedler unter seinen Kameraden blieb, wandte sie sich mir sofort mit ein paar Schritten zu:
»Wo verstecken Sie sich denn immer?« fragte sie lächelnd.
»Ich widme mich Ihren Kränzchenschwestern, gnädige Frau.«
»Und mir wollen Sie sich nun gar nicht mehr widmen?«
»O – gnädige Frau! – So oft Sie gestatten.«
»Sie werden sich doch einmal bei uns sehen lassen, wenn wir in unserem home erst eingezogen sind?«
Ich traute meinen Ohren nicht. Jetzt hatte sie endlich den Triumph, mich fassungslos zu sehen. Kaum fand ich vor Überglück die Worte in diesem hastigen Gespräch:
329 »Zu gütig – meine gnädige Frau – zu gütig! – Sobald Sie gestatten. – Ihr Herr Gemahl . . .«
»Ja, mit Arthur habe ich schon gesprochen. Er wird sich sehr freuen. Habe Sie als amüsanten Plauderer gerühmt . . . alte Jugendfreundschaft von mir . . . und dann hab' ich ihm erzählt« – sie dämpfte die Stimme fast bis zum Flüstern – »daß Sie an einer unglücklichen Liebe leiden und zerstreut werden müssen . . .«
Fiedler hatte sich von seinen Kameraden verabschiedet und trat zu uns.
»Ich habe den Herrn Referendar eben schon aufgefordert . . .«
»Außerordentlich liebenswürdig, Herr von Fiedler . . .«
»Wird mir sehr angenehm sein, Herr Referendar,« sprach Herr von Fiedler mit einer fast rührenden Aufopferung. »Lassen Sie sich nur recht bald einmal sehen. Wissen Sie, wir machen keine große Hochzeitsreise. Nach Berlin, eine Woche; das ist alles. Längeren Urlaub konnte ich nicht nehmen; habe nämlich die Rekruten diesen Winter.«
»Ja, denken Sie,« wiederholte Alice mit bedauernder Miene, »Arthur hat die Rekruten!«
»Da ist zur Abwechslung,« fuhr er fort »'n bißchen Geselligkeit sehr nett! 'n paar fidele Herren 'mal abends 330 zum Skat oder so . . . Na, dann also auf Wiedersehen, Herr Referendar!«
Und eine Gruppe von Matronen nahm das Brautpaar wieder in Beschlag.
Ich aber ergab mich dem Tanz und sprang und walzte alle Touren, bis ich um jedes Mädchen den Arm wenigstens einmal geschlungen hatte und stellte mir vor, in jeder Gestalt Alice von neuem zu besitzen und gewann zu guter Letzt noch den Brautkranz, zu dem mir alle lachend gratulierten.
* * *
Nicht lange nach diesen lauten Festlichkeiten die Weihnachtstage, für mich von jeher die stillste Zeit im Jahre, diesmal aber doppelt willkommen, weil ich mich über den allzu regelmäßigen Erwerb von positivem Wissen wieder einmal erheben, die Unterbrechung der Vorlesungen zur Umschau benutzen wollte.
Weihnachten ist eine Familiensitte, eine der wenigen Sitten, deren Innerlichkeit sich noch erhalten hat. Und die Familien wissen auch, daß unter dem Lichterbaum ihr ursprünglich ideales Wesen noch einmal aufzuleuchten scheint. Darum hüten sie ihr Weihnachten mit Recht wie einen Talisman. Wo aber die vertrauten Bande der Familie, die Neigung von Eltern und Kindern, von Gatten zueinander fehlen, da hält auch die 331 Fiktion einer Familie nicht stand; die Armenbescherungen, die Weihnachtskränzchen später Mädchen, die Punschbowlen unter Junggesellen sind trübsinnige Nachbildungen. Ich habe stets auf dergleichen verzichtet, mich lieber in meinem Zimmer eingeschlossen und ein Fest, das mir nicht galt, vergessen.
Nun rühmen ja viele die Pracht der großen Einsamkeit. Sie meinen, daß ein Mann, dem seine eigene Gesellschaft nicht genügt, wohl wenig Tiefen haben müsse. Ich aber brauche die Menschen. Es gibt eine Liebe in mir, die nach ebenbürtigen Genossen schreit, und je tiefer es aus mir quillt, desto breiter will ich das Feld für mein Schaffen, desto näher die Freunde, mit denen man das Beste teilt.
Nicht weil die Weihnachtstage mir zu stille waren, sondern weil mit der Freude aus dem freieren Schaffen die Freude an der Gattung »Mensch« gewachsen war, trieb es mich endlich hin zu der, die ich am liebsten zur Gefährtin hatte.
Vielleicht gab es jetzt Aussichten für meinen wohlersonnenen Eheplan. An Esthers Aufnahme würde ich merken, was für eine Rolle ich in ihrer nächsten Zukunft spielen könnte. –
An gewohnter Herzlichkeit ließ die Aufnahme nichts zu wünschen übrig. Esther machte mir Vorwürfe, daß ich den Besuch so lange hinausgeschoben.
332 »Oder bin ich Ihnen ohne unseren Gottfried weniger wert?«
»Es ist schwer, Sie beide getrennt sich vorzustellen.«
»Und doch war unser Beisammensein schließlich nur ein räumliches. Er kannte mich nicht mehr, höchstens fühlte er mich noch. Und als er dann auch körperlich noch abstarb, war es eine Befreiung, für ihn weit mehr als für mich.«
»Der Abschied vom Körper ist Ihnen nicht schwer geworden?«
»Sie werden mich recht verstehen, Just, wenn ich sage: nein! – Ernst und einfach, wie die letzten Jahre seines Lebens, war auch das Erlöschen. So haben wir das Ende aufgenommen, und so haben wir ihn bestattet, ohne allen Schmuck.«
»Tönnies war mit Ihnen?«
»Er besorgte alles und begleitete mich nach dem Krematorium. In der Halle dort wurde der Sarg geöffnet. Da haben wir von dem lieben, schwermütigen Gesicht den letzten Abschied genommen, ohne Sang und Klang. Und dann ist der Sarg in die Tiefe gesunken, in den Raum der Verbrennung. Und die Asche . . . was liegt an der Asche? Ob man sie dort beigesetzt oder in alle Winde verstreut hat, ich weiß es nicht. Aber an seinen Geist kann ich nun wieder glauben, an die neue Klarheit und an die Erkenntnis, die er nun endlich finden 333 wird. – Sie sollen nicht versuchen, lieber Just, mir das auszureden; ich bitte Sie darum. Das ist eine Gewißheit der Gefühle, auf die sich unsere grobe Logik nicht versteht.«
»Immerhin werden Sie fühlen, daß er Sie allein zurückgelassen hat. Sie haben für niemand mehr zu sorgen, niemanden, an dem Sie Ihre Güte auslassen können.«
»Nun, ich habe doch Tönnies! – Wissen Sie denn nicht?« . . .
»Was soll ich denn wissen? – Ist er zu Ihnen gezogen?«
»Aber natürlich!« rief sie belustigt. »Wir leben zusammen und haben uns so lieb wie nur irgendein Ehepaar.«
In sprachloser Verblüffung starrte ich sie an.
»Liebster Just,« fuhr sie lachend fort. »Es wird allerdings hohe Zeit, daß Sie sich etwas mit Beobachtung beschäftigen. Den ganzen Sommer hocken Sie mit uns zusammen und – sind mit Blindheit geschlagen.«
»Aber, um alles in der Welt, wie soll man das ahnen? Ja, daß der Tönnies Sie anbetete, das war wohl deutlich genug. Aber Sie! – Esther – Sie!« –
»Just, Sie sind kostbar! Halten Sie mich für zu alt oder für zu dumm, oder meinen Sie, ›ich schnitt es gleich in alle Rinden ein‹?«
334 So verschnupft, so vexiert war ich mir lange nicht vorgekommen:
»Erklären Sie mir, ich flehe Sie an, erklären Sie mir, wie dies hat zustande kommen können!«
»Einfach genug! – Tönnies liebte mich. Ich bemerkte das und fragte ihn, ob er mich haben wolle. Auf den Standesbeamten wurde beiderseitig verzichtet, und so kam die Ehe zustande.«
»Ja, lieben Sie ihn denn?« Mit einer gewissen Beschämung mußte ich daran denken, wie ich dieselbe Frage unter ähnlichen Umständen an Alice richtete.
»Das soll so viel heißen,« antwortete sie, »als: dem Tönnies gegenüber versteh' ich das nicht! Nun, um ganz zu verstehen, was ich an Tönnies finde, dazu müßten Sie mein Leben kennen. Ich habe dieses Leben – und ich schäme mich nicht, das vor aller Welt zu bekennen – mit vollen Zügen genossen. Jung und unabhängig bin ich in die Welt getreten. Niemals hat es mein Bruder versucht, mich einzusperren. Da habe ich denn Männer in allen Spielarten getroffen, und wo ich liebte, da habe ich auch alle Seligkeiten und alles Elend gekostet. Was meine Verehrer im Grunde wert gewesen sind, hab' ich mich nie gefragt. Denn als Mädel von zwanzig Jahren ist man dumm und meint, die Stärke des Mannes läge in den Knochen. – Dann ist die Krankheit von Gottfried gekommen, und ruhig und 335 gern habe ich die Zeit über für ihn allein gelebt. Ich war gesättigt von meiner Jugend; bereut habe ich sie nie. Jetzt aber, nahe den dreißig, bin ich zu gesetzt und zu verständig geworden, um mich noch einmal in den Trubel zu stürzen. Und da das Weib denn doch von Natur monogamisch ist, so suchten meine Augen den Einzigen.«
»Den Mann als Ideal, als Gatten und Vater?«
»Ganz recht! Aber es ist mein heiliger Ernst. Na, und als Einziger verstand sich von selbst – der Doktor Tönnies.«
»Wenn Sie sich aber ineinander täuschten?«
»So werden wir uns eben trennen. Dazu ist immer noch Zeit. Doch, ich glaube, wir brauchen damit nicht zu rechnen. Wir kennen uns beide zur Genüge, und über die Zeit der brutalen Instinkte sind wir hinaus. – Nun, wollen Sie mir also gratulieren oder nicht?«
Da gab ich meiner Enttäuschung einen Stoß. Eigentlich freute ich mich doch, daß es so gekommen und gönnte den beiden ehrlich ihre Bestimmung.
In aller Freundschaft schüttelten wir uns die Hände.
Bald erschien auch Tönnies, der glückliche Gatte. Er sah wahrhaftig wie neugeboren aus; nicht bloß netter und sauberer im Anzug, mit gestutztem Bart und frischer Wäsche, sondern auch elastisch im Gang und von gesunder Farbe.
336 Daß ich das Ereignis eben erst erfahren, kam ihm vor wie ein gelungener Scherz. Er rieb sich schmunzelnd die Hände und tanzte dazu durchs Zimmer.
»Aber sind Sie denn auch ins Redaktionsgeheimnis eingeweiht?« rief er endlich. »Natürlich nicht! Diese Art von Diskretion kenne ich schon bei meiner guten Frau. Also hören Sie: Fräulein Esther Bernheim hat die Zeitschrift »Atlantis« käuflich erworben. Sie ist nunmehrige Herausgeberin der »Atlantis« und hat den Doktor Tönnies zu ihrem Redakteur ernannt. Nettes Kuliverhältnis! Was? So wird man als Proletarier ausgebeutet!«
Esther lachte:
»Wenn der Proletarier keinen Schenkungsvertrag schließen will, muß seine Leistungsfähigkeit eben auf andere Weise erhalten werden.«
»Daraus folgt,« fuhr Tönnies fort, »daß sich die Redaktionsräume jetzt im Hause Bernheim befinden, und zwar in der ersten Etage, wodurch zugleich unser Leipziger Konkubinatsparagraph in taktvoller Weise umgangen wird.«
»Da scheint sich die ›Atlantis‹ also wohl zu befinden,« fragte ich.
»Aber glänzend, sag' ich Ihnen, glänzend!« Vor Jubel sprang seine Stimme in die höchsten Fisteltöne über. »Sie wird auf den doppelten Umfang gesetzt, erhält ein Plakat von Chéret und zahlt Honorare!«
337 »Noch eine Überraschung!« sprach Esther bedeutungsvoll.
Überrascht blickte Tönnies sie an.
»›Atlantis‹ wird unser Organ, verstehst du, das unabhängige Organ unserer Sache!«
»Wie! – Wie sollte das möglich werden?«
»Teniawsky hat es mit mir besprochen.«
Da traten ihm vor Stolz und Rührung Tränen in die Augen. –
Noch eins erfuhr ich an diesem Abend: Dimitri war in Berlin, auf der Bendlerstraße, einem Cabriolet begegnet, darin Erich Lüttwitz mit einer älteren, aufgeputzten Dame. Er hatte Dimitri bemerkt, sich jedoch, ohne dessen heiteren Gruß zu erwidern, verlegen abgewendet. Als Ergänzung hierzu vernahm ich späterhin, daß Erichs Villa samt Inventar auf den Namen der Frau von Lüttwitz, verwitweten Heinemann, zum Verkaufe ausgeboten wurde.
Tönnies meinte, daß jenes Sterbefest nichts weiter gewesen sei, als der Narrenstreich eines Herostrat, der, weil der Ruhm ihm versagt war, wenigstens Aufsehen erregen wollte. Dimitri dagegen, der Lüttwitz mit scharfem Auge beobachtet hatte, ist gleich mir der Ansicht, daß er für den erlösenden Selbstmord in letzter Minute noch zu feige war. 338