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Von Erich erhielt ich, nachdem wir uns noch kurz vorher getroffen, einen Brief aus Dresden:
Liebster Just, ich bitte Dich von Herzen, wenn irgend möglich, sofort auf ein paar Tage herüberzukommen. Meine Mutter ist durch einen Sturz verunglückt. – Seit gestern liegt sie schwer krank und meist besinnungslos. Es sind entsetzliche Stunden, die ich verlebe, und ich sehne mich, einen Freund bei mir zu haben. Verzeih mir die Bitte, die Dir vielleicht recht unbequem kommt. Aber ich bin überzeugt, daß Du mir nachfühlen kannst.
Dein
Erich Lüttwitz.
Ich erschrak aufs heftigste. Denn ich wußte ja, was das Leben dieser Mutter für eine verhängnisvolle Bedeutung hatte. Die Bitte selbst erfreute mich. Ersah ich doch daraus, daß es noch jemand gab, dem ich mich nützlich machen konnte, eine Aufgabe, die nicht beschämend war.
Ich packte meinen Handkoffer und fuhr mit dem nächsten Zuge, der nach Dresden abging.
217 Das Haus der Exzellenz Lüttwitz lag im Innern der Stadt, ganz nahe dem königlichen Schlosse. Es war ein massives, altertümliches Gebäude, das schon lange im Eigentum der Familie stand.
Ein Diener in brauner Interimslivree nahm mir das Gepäck ab und führte mich über eine schmale Treppe, deren Fliesen mit leinenem Läufer bedeckt waren, nach dem ersten Stock. In den Korridoren hingen nachgedunkelte Ahnenbilder und Jagdtrophäen. Alles war absichtlich einfach und doch mit einer selbstverständlichen Gediegenheit ausgestattet. Wie oft mochte hier von den bröckligen Wänden das Gelächter der Haudegen und Kavaliere widergetönt haben oder hinter Fächern hervor die zischelnde Medisance der Damen, die ihren Hof nur um so mehr anbeten, je lustiger sie ihn bespötteln. Jetzt waren die Räume in drückendes Schweigen gehüllt. Man hörte den Holzwurm in den Möbeln und das Ticken verschlafener Uhren.
Vor der Tür des Fremdenzimmers, das mir der Diener eben öffnen wollte, trat mir Erich entgegen und begleitete mich hinein.
Er drückte mir beide Hände.
»Ach, das ist gut, daß du da bist,« sagte er leise und wie aufatmend. »Aber ich wußte, daß du es mir zuliebe tun würdest. Du kannst dir ja denken, wie es um mich steht.«
218 Er sah leichenblaß und übernächtig aus, so unstet in Blick und Bewegungen, mit wirrem Haar und zerknittertem Rock, daß ich ihn kaum wiedererkannt hätte. Sein ganzes Benehmen verriet weniger Trauer oder Besorgnis als vielmehr jene vollkommene Kopflosigkeit, in die der Unerfahrene gerät, wenn eine Gefahr ihn überrascht.
Ich fragte, wie denn das Unglück geschehen sei.
Niemand konnte das sagen. Sie war auf der Treppe gestürzt. Ein Dienstbote hatte sie, bereits bewußtlos, an den untersten Stufen gefunden. Man hatte sie zu Bett gebracht. Der Arzt konnte die Verletzungen noch nicht feststellen. Vielleicht eine Gehirnerschütterung.
Ob es nun besser mit ihr gehe?
»Nein,« sagte Erich, und seine Zähne schlugen im Schauder zusammen. »Sie hat das Bewußtsein überhaupt noch nicht wiedererlangt. Meist liegt sie ganz still, so daß sie kaum zu atmen scheint. Dazwischen aber treten die Fieberdelirien auf. Dann fängt sie an laut zu phantasieren und schreit und schlägt um sich. Das ist so fürchterlich! Schon das mit anzusehen, könnte einen wahnsinnig machen. Dabei sind ihre Gedanken immer nur mit mir beschäftigt. Von nichts anderem redet sie, als wo ich sei und was ich treibe. Sie bildet sich ein, daß ich Feinde habe und verfolgt werde. Da will sie mich verteidigen. Dann wieder bricht sie in 219 jämmerliches Klagen aus, daß ich verloren sei, weil ich beim König in Ungnade gefallen und verurteilt werden solle. Ach, ihre ganzen Ideen, die mich immer schon so mitnahmen, die kommen nun tausendfach verzerrt immer wieder und wieder. Tag und Nacht muß ich das mit anhören, wie sie sich aufzehrt um mich, in Angst und in Liebe.«
»Ja, da werd' ich dir wenig helfen können, armer Kerl!«
»O doch, wenn ich dich nur in meiner Nähe weiß und zwischendurch ein wenig mir dir plaudern kann! Das lenkt einen ab. Das erinnert mich daran, daß ich mit der Welt gottlob noch in Beziehung stehe. Aber du selber tust mir leid. Hier in den kahlen Zimmern fremde Leiden mit durchzumachen, das ist eine Zumutung. Weiß auch gar nicht, wie ich dir's danken soll.«
»Ach, sei vernünftig und quäl' dich nicht immerfort. Wir sind's doch gewöhnt, stundenlang allein beieinander zu sitzen. In schlimmen Tagen wird das um so eher gehen.«
Der Arzt kam und ging mit Erich ans Krankenbett.
Ich war mit meinem neuen Aufenthalte ganz zufrieden. Zwar aufs Trösten und Raten verstand ich mich schlecht, wohl aber auf Unterhaltung, und die bleibt überall der Freundschaft besseres Teil. Ich fühlte ehrlich mit, wenn ich auch noch nicht recht verstand, wie 220 jemand seine Mutter, wenn er sie niedrig einschätzt und fast mißachtet, dabei so maßlos lieben kann. Es ist so selbstverständlich, daß alte Damen sterben. Man möchte sagen, es ist eine Wohltat für sie wie für die Angehörigen und alle Welt. Selbst wenn sie jemals im besten Sinne Mutter waren, so hören sie auf, es zu sein, wenn sie mit ihren Kindern sich nicht mehr verstehen. Dann wird ihre Liebe fruchtlos oder gar gefährlich. –
Das Verhalten des Arztes hatte Erich völlig entmutigt. Noch immer keine sichere Diagnose. Lakonische Redensarten und die gewöhnlichen Verlegenheitsmittel: Eisbeutel und Tee.
Verzweifelt lief er im Zimmer auf und nieder:
»Mag nun geschehen, was da will!« rief er aus. »Früher oder später hab' ich mich damit abzufinden. Hätt' ich mich früher nur an den Gedanken schon gewöhnen können! Jetzt aber . . . Jetzt aber . . . weiß Gott, wie das enden soll!«
Am Abend bat er mich, mit ihm in seinem Zimmer zu schlafen, das neben dem der Kranken lag.
»Diese Nachtstunden,« sagte er, »sind die schlimmsten von allen. Die regen mich jetzt auf wie einen ängstlichen Jungen, der sich vor Gespenstern fürchtet. Ich muß ja wach bleiben, drüben an ihrem Bett oder doch gelegentlich nachsehen, wie es mit ihr steht.«
Ich willigte gern ein; hätte ohnehin keine Ruhe 221 gehabt, wenn ich mir vorstellte, wie er ein paar Schritte weiter sich abmarterte.
»Nur würde ich mir eine Diakonissin zur Unterstützung nehmen.«
»Ich liebe diese Wesen nicht, die so fremd und gewohnheitsmäßig pflegen. Was sollten sie hier auch helfen! Sie würden mich noch zurückhalten wollen, wenn meine Mutter nach mir ruft!«
Ich legte mich nieder und versuchte zu schlafen. Erich streckte sich auf seinem Bette aus, sprang aber bei jedem Geräusch empor und spähte durch die Tür des Nebenzimmers, die angelehnt blieb, damit keine Bewegung der Kranken ihm entgehen sollte. Ich bemerkte, wie er aufsteigende Seufzer und Klagen gewaltsam zurückhielt, um mich nicht zu stören. Doch wuchs seine Unruhe mit jeder Minute und teilte sich mir in gleichem Maße mit. Schließlich kleidete ich mich wieder an und nahm ihm gegenüber am Tische Platz.
»Du reibst dich auf,« warf ich ihm vor, »wenn du dich immer mit denselben Gedanken herumschlägst.«
»Befrei' mich davon, wenn du's kannst! Bring' mich auf andere!«
»Wir wollen uns vorlesen. Ist dir's recht?«
»Ja! Lesen, das wird gut sein.«
Ich nahm einen Band aus dem Bücherschrank, Andersens Märchen, und las ein paar davon mit 222 flüsternder Stimme. Aufmerksam hörte mir Erich zu. Als ich jedoch zufällig an die Geschichte vom »Garten des Paradieses« kam, legte er die Hand abwehrend auf das Buch. Tränen standen in seinen Augen.
»Als ich noch Kind war,« sagte er, »hat meine Mutter sie mir so oft erzählt. Seitdem habe ich nie wieder daran gedacht. Und nun . . . an diesem Abend! – Nein, laß . . .! Bei jedem Worte fällt mir ihre Stimme wieder ein.«
Wir legten die Märchen beiseite und nahmen ein Kartenspiel vor. Mitternacht war längst vorüber, und wir spielten Bezigue, lautlos, eine Partie nach der anderen.
Er sah noch einmal hinüber. Alles war still.
»Ich glaube, es geht besser,« sagte er. »Legen wir uns ein paar Stunden nieder!«
Darauf schliefen wir bis gegen Morgen. Plötzlich aber erwachten wir zu gleicher Zeit. Augenblicklich war Erich an der Tür und stand dort lauschend mit erstarrten, weit aufgerissenen Augen.
Jetzt erklang ein pfeifender Laut, der in qualvolles Röcheln überging. Erich stürzte hinüber und schlug die Tür hinter sich zu.
Aber das Röcheln blieb in meinen Ohren. Und ich ahnte, daß es viel mehr bedeutete als den Tod einer alten Frau.
223 Der Tag brach an, ohne daß ich Erich wieder zu Gesicht bekommen. Im Hause ward es lebendig. Die Dienstboten gingen den Korridor entlang. Nebenan aber blieb es still. Dann hörte ich an der Haustür schellen. Der Diener klopfte an meine Tür und meldete, daß irgendeine Generalin sich nach dem Befinden der gnädigen Frau erkundige. Aber ich konnte mich nicht entschließen, deshalb ins Krankenzimmer einzutreten. Ich ließ dankend antworten, der Zustand sei unverändert.
Nach Verlauf des Vormittags wurde ich besorgt und öffnete leise die Tür. Mein erster Blick fiel auf das Bett, von dessen weißen Decken sich das bereits entstellte gelbe Antlitz der Toten grauenvoll abhob. Erich stand am Fenster, die Hände auf dem Rücken, und musterte die kahle Wand.
Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu; er rührte sich nicht. Ich legte meine Hand auf seine Schulter. Da trat er zurück, deutete mit einer halben Geste nach dem Leichnam und zuckte die Achseln.
»Komm,« sagte ich und versuchte sanft, ihn zu führen. »Komm', liebster Erich, komm', du mußt Ruhe haben.«
Fremd und abweisend sah er an mir vorüber:
»Ich bitte dich, Just, laß mich allein hier.«
»Es ist verschiedenes zu besorgen. Darf ich das für dich tun?«
224 »Wenn du – so liebenswürdig sein willst,« sprach er zeremoniös, »ja, ich bitte darum.«
Als ich mich zum Gehen wandte, fügte er etwas wärmer hinzu:
»Vielen Dank, lieber Just. Du wirst ja wissen, was jetzt . . . übrigens ist es gleichgültig, es kommt ja nicht mehr darauf an . . .«
Nun, wohl oder übel mußte ich doch nach Standessitte handeln und all den erbärmlichen Kram besorgen, den sie Leidtragenden niemals ersparen will. Ich bestellte also den Arzt und den Geistlichen und bei der Firma »Pietät« ein »Leichenbegängnis erster Klasse nebst Trauerdekoration im Hause«. Ich setzte die Anzeige auf, die noch am Abend im »Dresdener Journal« erscheinen mußte:
Heute morgen verschied nach kurzem Krankenlager meine inniggeliebte Mutter
Frau Sibylla verw. von Lüttwitz
geb. Gräfin von Gatterburgim 61. Lebensjahre.
Die Einsegnung findet Mittwoch, den 2. Juni, mittags 12 Uhr im Trauerhause, die Beisetzung auf Rittergut Barchow am 4. Juni statt.
Erich von Lüttwitz,
Assessor an der Königlichen Kreishauptmannschaft, Leipzig.
225 Dieselbe Nachricht war auf Trauerbriefe gedruckt an die auswärtigen Bekannten, deren Adresse ich zur Not feststellen konnte, zu versenden, an die Mitglieder der Hofgesellschaft dagegen durch einen königlichen Lakaien herumzutragen.
So drängte sich der gute Ton mit seiner ehrwürdigen Fratze bis in die Sterbezimmer vor; und je einsamer der Verwaiste ist, desto emsiger hat er sich den Bestattungsgeschäften zu widmen.
Am nächsten Tage traten die Leichenfrauen an und begannen ihre widerliche Arbeit. Voll Abscheu zog sich Erich von ihnen zurück und leistete mir stumme Gesellschaft. Nur wenn er hörte, wie sie drüben plätschernd ihren Schwamm ausdrückten und ihre rohen Anweisungen sich zuriefen, fuhr er wie gefoltert zusammen und preßte sich die Fäuste gegen den Kopf.
Der Superintendent, ein Dresdener Modeprediger, ließ sich melden und fragte nach Einzelheiten aus dem Leben der Verstorbenen, als Material zu seiner Leichenrede. Ich empfing ihn und suchte Erich zu entschuldigen, so gut es ging. Ein paar rührende, gottesfürchtige Züge log ich ihm zuliebe rasch zusammen.
Am Morgen der Leichenfeier kamen schon frühzeitig die Männer der Firma »Pietät«, räumten geräuschvoll den breiten Salon aus und nagelten die schwarzen Draperien fest, stellten den Katafalk auf, dahinter im 226 Halbkreis zwölf hohe vernickelte Leuchter, und genossen zwischendurch mit Appetit ihr Frühstück. Kränze und Palmenzweige wurden gebracht; Kondolenzbesucher gaben ihre Karten ab. Die Treppen auf und nieder ging ein Hasten und Poltern. Süßliche Blumengerüche, vermengt mit dem Dunst arbeitender Menschen, erfüllten das ganze Haus.
Pünktlich zwölf Uhr erschienen die ersten Trauergäste, zwei Herren mit halb verdrossener, halb sarkastischer Miene, die sich draußen vor dem Spiegel noch ihre Bärte bürsteten und den Zylinder mit dem Ärmel strichen. Sie scherzten über ihre Mission: »Geh' du nur voran,« sagte der eine, »und bete zuerst dein Sprüchel vor; wenn ich dein altes Rotweingesicht in Trauerfalten sehen sollte, könnt' ich mir ja das Lachen nicht verbeißen!« – Damen in schwarzer Seide rauschten die Stufen empor, zupften die Spitzen zurecht und stürzten dann plötzlich laut weinend in den Empfangssalon, in dessen Mitte Erich Lüttwitz alle Kundgebungen des forcierten Mitgefühls über sich ergehen ließ. Er stand finster, steif wie eine Bildsäule, und kleidete seine Erwiderungen in knappe, kühle Worte. Ein paar Würdenträger sprachen sich untereinander in günstigem Sinne über ihn aus: »Er hält sich doch recht gut, der junge Mann,« sagten sie, »jawohl, hält sich famos, durchaus korrekt!« Zuletzt begrüßte ihn der Superintendent 227 mit salbungsvollem Händedruck. Erich führte ihn hinüber an den Katafalk. Die übrigen folgten mit gesenkten Häuptern.
Die Leichenrede war lang und tief empfunden, vollzählig brachte sie alle gottesfürchtigen Züge aus dem Leben der Verstorbenen, hob rühmend hervor, daß ihr Kirchenstuhl an keinem Sonntag leer gestanden, wie ja überhaupt alternde Witwen die getreuesten Kinder Gottes seien. Selbst aus dem Theresienorden, der zu Füßen des Sarges auf samtnem Kissen prangte, wußte der Prediger christliche Tugenden herzuleiten.
Ich stand wie auf Kohlen, zumal ich bemerkte, daß Erich unter diesen Zeremonien litt. Er grub die Nägel in seine gefalteten Hände, und seine Lippen zitterten über den entblößten Zähnen.
Sobald die Feier erledigt war, ward der Sarg abgeholt zur Überführung nach dem Erbbegräbnis. Wir folgten am nächsten Tage nach, nahmen dort an erneuten Kondolationen und Bestattungsgebräuchen teil und kehrten dann erst gemeinsam nach Leipzig zurück.
Auf dieser Fahrt schien er zum ersten Male wieder gefaßt. Einzelne Äußerlichkeiten der letzten Tage beschäftigten ihn. Es fiel ihm ein, daß er nun bald die »Danksagungen« drucken lassen und an den Anwalt schreiben müsse, der den Verkauf des Hauses und der beiden Güter vermitteln sollte. Vielmals entschuldigte 228 er sich, daß er den ganzen lästigen Krimskrams mir allein überlassen habe. Das sei nicht sein Wille gewesen, nur hätten die gesellschaftlichen Formen ihn nicht mehr gekümmert.
So wurde er gesprächiger. Zwar erfuhr ich niemals, was in den Stunden seiner schlimmsten Verdüsterung ihn eigentlich bewegte – vielleicht schon die Ahnung von den Folgen dieses an sich so nichtigen Todesfalles? – Doch ließ er sich nun über manches aus in abgerissenen Sätzen, deren schwache, eintönige Laute von dem Dröhnen des dahinrollenden Zuges oft verschlungen wurden:
»Es hätte nichts geschadet,« sagte er, »wenn wir all die Formalitäten beiseite gelassen hätten. Die leidtragenden Herrschaften wären ja gern zu Hause geblieben. Sie hätten das geräuschlose Begräbnis eine Zeitlang skandalös gefunden und mich endlich vergessen, so wie ich selbst sie jetzt vergessen werde. – Was gehen wir uns denn eigentlich an? Wieso nehmen sie teil an mir? Ich bin nichts weiter für sie als ein Mitglied der Familie Lüttwitz, ein Standesgenosse, ein Assessor, im besten Falle noch ein unterhaltsamer Kavalier. Ob ich sonst noch etwas bedeute, danach fragen sie nicht. Nur ein Mitglied wollen sie, aber keinen Menschen.
»Doch das Schlimmste ist, daß sie recht haben. Was bin ich denn mehr als der Sohn meiner Eltern? Und 229 nun, da sie beide tot sind . . .? Bin ich nichts; hat auch der Kavalier und der Assessor seinen Sinn verloren! – Und der Mensch? – Bin doch neugierig, ob sich noch etwas Menschliches, etwas mir Eigentümliches finden lassen wird.
»Wenn ich gehe, wird keine Lücke sein. Wenn ich eines Tages nicht mehr auf dem Posten stehen werde, wird meine Behörde sich ein paar Minuten wundern und einem anderen die Arbeit übertragen. Die Hintermänner freuen sich nur, daß einer weniger geworden ist. Sie rücken nach, und augenblicklich ist jede Spur von nur verwischt. Wozu da noch lange zögern? Schaffen wir Platz für bessere Kräfte!«
»Soll das heißen, daß du den Dienst quittieren willst?« fragte ich.
»Ich denke, ja. Darin wirst du mir doch nicht widersprechen wollen?«
»Bei mir liegt die Sache wohl anders. Ich hab im Amte nie etwas getaugt, während du darauf allein erzogen worden bist.«
»Und dazu soll ich ewig Ja und Amen sagen, auch wenn niemandem mehr daran gelegen ist?«
»Es wird dir kaum was anderes übrigbleiben.«
Er lehnte sich müde in das Polster zurück:
»Nun, meinetwegen,« seufzte er. »So oder so! Mag es denn gehen, wie's da will!«
230 Und er ging tatsächlich wieder seinem Amte nach. Wenn ich ihn besuchte, was beinahe täglich geschah, so fand ich ihn über die Akten gebeugt oder im Gesetzbuch blätternd, als ob er immer noch das Portefeuille in Aussicht nähme.
Eines Tages aber teilte er mir beiläufig mit, daß der Kreishauptmann sich mit seinen Arbeiten nie mehr recht befreunden könne und ihm, da er noch angegriffen scheine, einen längeren Erholungsurlaub geraten habe.
»Da siehst du,« fügte er hinzu, »daß mir jede Tätigkeit, deren Zweck ich nicht verstehe, schließlich von selbst versagt.«
Darauf reichte er, meinem Beispiel folgend, zugleich mit dem Urlaubsgesuch, den Abschied ein.
Auch er empfand zunächst flüchtig ein Gefühl der Genugtuung darüber, daß seine Persönlichkeit keinem Menschen, keiner Sitte mehr Rede zu stehen brauchte. Die Schwächen, Lügen und Vorurteile, die sein Beruf ihm aufgezwungen hatte, fielen sofort wie Schlacken von ihm ab. Doch bald begann es ihn zu frösteln. Und er begab sich auf die Suche nach Überzeugungen, die ihn umhüllen und neue Wärme schaffen sollten.
Mit fieberhafter Gier stürzte er sich auf das vielgestaltige Leben, das ihm so fremd geblieben war, mit dem er sich nun aus eigenen Kräften abzufinden hatte.
Alle Weltanschauungen, Lebenszwecke und 231 Lebensführungen, alle Berufe, alle Genüsse galten ihm vorläufig gleich. Und doch mußte er sich nach einer bestimmten Richtung hin entscheiden. Eine schlimme Aufgabe, wo ihm selbst über das Wahlprinzip keinerlei Anhalt gegeben war.
Ich selbst hatte mich ja früher in diesem Dilemma befunden. Deshalb beobachtete ich jetzt das krampfhafte Tasten meines unbefangeneren Freundes voll Spannung und Grauen. Ihn konnten die schwierigsten Labyrinthe noch locken. Er glaubte an selbstherrliche Überwindungen und war noch lange nicht reif für Gott.
Sein erstes war, daß er im Nietzsche sich vergrub. Er meinte, das müsse den Geist stählen und fruchtbar machen für gesunde Entschlüsse, mit denen er alsdann sein Leben auf sich selber stellen wollte. Doch seine ungeübte, formalistische Logik konnte die sprunghaften Gedanken, die ausschweifenden Symbole nicht fassen. Verzweifelnd sah er sich nach anderen Philosophen um. Er geriet auf Fechner und Lotze und hörte zur Abwechslung Kollegien bei Wundt. Von jedem ließ er sich zuvörderst überzeugen, um ihm, sobald ein anderer widersprach, desto eigensinniger zu mißtrauen.
Nebenbei erprobte er seine Anlagen auf den verschiedensten Gebieten, ob sich nicht so vielleicht ein Feld der Tätigkeit eröffnete, für das er sich nachträglich, wie ja die meisten tun, die dazu passenden Meinungen bilden könnte.
232 Er ließ seine Cellokünste auf dem Konservatorium prüfen. Doch sagte ihm der Lehrer ins Gesicht, daß er talentlos sei. Er fing an zu zeichnen und zu dichten. Da rieten ihm die eigenen Freunde dringend ab. Ferner lag es nahe, seine juristischen Kenntnisse irgendwie zu verwerten. Aber alle Stellungen, die da möglich gewesen wären, widersprachen seiner innersten Natur so sehr, daß er niemals hoffen konnte, Befriedigung darin zu finden.
So brachte er seine Zeit hin, wieder zu beleben, was längst in ihm ertötet war, und sich aus dem Werkzeug seiner Eltern in einen Menschen mit Selbstzweck zu verwandeln. Auf allen Wegen aber begleitete ihn wie ein bedrohliches Gespenst die Liebe zur verstorbenen Mutter.
* * *
Für mich stand der Tag der feierlichen Konversionshandlung nahe bevor, ohne daß ich mich besonders reif oder würdig dazu fühlte. Wissenschaftlich zwar stand ich auf der Höhe eines jungen Theologen; auch Wandel und Wille waren, milde beurteilt, einwandfrei. Nur die Liebe, ohne die selbst der Gläubige »tönendes Erz und klingende Schelle« ist, war mir immer noch fremd.
Deshalb versagte auch die mystische Versenkung. Der beseligende Gottesfriede, um dessentwillen allein ich mich unterwarf, blieb aus.
Der Pfarrer sprach mit mir das äußere Verhalten 233 beim Konversationsakte und beim Genuß der Sakramente bis in alle Einzelheiten durch. Das mußte ich ihm danken, da ja eine verkehrte Bewegung genügen konnte, mich und alle Beteiligten in peinlichster Weise aus dem Konzept zu bringen. Bezüglich der Generalbeichte riet er mir, ein buchstäbliches Sündenregister anzulegen, das heißt in knapper, erschöpfender Form jeden Verstoß gegen die christlichen Sittengesetze, soweit ich mich dessen entsinnen könnte, schriftlich aufzuzeichnen. Diesen Bericht brauchte ich im Beichtstuhl dann einfach vorzulesen, wodurch Unvollständigkeit und stockende Rede vermieden wurden.
Die Ausarbeitung dieses Schriftstückes, welches zugleich die vorgeschriebene Gewissenserforschung enthielt, ging mir leicht von der Hand. Ich schilderte mein sündiges Leben gewissenhaft bis in die kleinsten Züge. Jeder Bosheit wurde nachgespürt, keine Ausschweifung beschönigt. Mit einer gewissen epischen Breite verweilte ich bei den Auswüchsen der Sinnlichkeit und mußte zuweilen sogar beschämt entdecken, daß die Erinnerung daran mich vergnügte. Dann legte ich sofort die Feder nieder und suchte eifrig Reue zu erwecken. Bald hatte das Manuskript einen derartigen Umfang erreicht, daß die Vorlesung viele Stunden in Anspruch genommen hätte. Ich mußte mich daher entschließen, das meiste zusammenzustreichen, Einzelheiten der Verderbnis in 234 generelle Gruppen zu verteilen und nur besonders charakteristische Gemeinheiten anschaulich hervorzuheben.
Um mich mit den beiden Zeugen des heiligen Aktes persönlich bekannt zu machen, lud uns der Pfarrer zu einer gemeinsamen Mahlzeit. Der eine war Kaplan. Obwohl er kaum mehr als drei Worte sprach, sondern mich nur unverwandt mit kalten, durchdringenden Blicken betrachtete, gefiel er mir außerordentlich, und ich bedauerte, den Unterricht nicht von ihm empfangen zu haben. Der andere ein verabschiedeter Oberst, weißhaarig, gebückt, mit zittrigen Gliedern, redete desto mehr und half, indem er die Gefahren des Liberalismus bejammerte, über manche Gesprächspause hinweg.
Mein guter Pfarrer benahm sich rührend nett und gab sich alle Mühe, einen gemütlichen Ton zwischen seinen Gästen herzustellen, was ihm aber, obwohl wir alle einig im Glauben waren, nicht recht gelingen wollte. Ich fühlte mich außerordentlich unbehaglich und machte mir Gedanken darüber, wie ich mich mit diesen Genossen je verständigen würde.
Es war ein Abend verabredet worden, an dem wir uns in der Kirche zusammenfinden sollten.
Noch wenige Stunden vorher bemühte ich mich vergebens, mir das Ernsthafte des Schrittes vorzuhalten, der mir keineswegs als Entscheidung, sondern vielmehr nur als Probe erscheinen wollte. Vielleicht war die 235 Rückwirkung auf mein Gemüt nicht die erwünschte oder blieb gänzlich aus. Was war dann verloren? Nichts als ein paar Stunden der Sammlung und des Unterrichts, die immerhin noch einen Entwicklungswert besaßen. Die Sache war so gefahrlos, daß ich mich fast ärgerte. Keine Verfolgungen, keine Anfechtungen standen bevor. Humanität und Bildung haben das alles ja nachsichtig ausgeglichen.
Noch einmal versuchte ich es in Gebeten. Mehr konnte ich ja nicht tun, als mit den letzten Kräften meines guten Willens mich der göttlichen Gnade zu empfehlen. Wenn sie mich jetzt in dem bedeutungsvollsten Augenblick im Stiche ließ, so mußte ich wohl annehmen, daß ich bereits auf der Liste der Nichtauserwählten stehe.
Nun, die Andacht konnte ich zwar mit dem stärksten Aufwand meiner Energie diesmal erzwingen. Unfreiwilliger Seitensprünge vermochten die Gedanken sich zu erwehren. Betrachtungen und Litaneien nahmen ihren vorschriftsmäßigen Verlauf. Nur Stimmung und Herzensüberschwang ließen sich nach wie vor entschuldigen.
Vor der Kirche traf ich meine beiden Zeugen, die mir stumm die Hände drückten und dann im Querschiff den Pfarrer erwarteten, während ich es für das Richtigste hielt, auf einer der vordersten Bänke in stiller 236 Sammlung zu verweilen. Mir war es so gar nicht weihevoll zumute. Wie das Opfer einer ziemlich langweiligen Komödie kam ich mir vor und fand es zugleich empörend, daß diese Vorstellung in mir entstehen konnte.
Es war schon völlig dunkel in dem hohen Raume. Nur der Platz vor dem Altar war matt erleuchtet von dem Schein der beiden Kerzen, die man mir zu Ehren angesteckt. Dazwischen warf die ewige Lampe ihren rötlichen Schimmer senkrecht auf den Betschemel, der unter ihr aufgestellt war. Mit Befriedigung bemerkte ich, daß Zuschauer und andere ungebetene Gäste sich nicht einstellten. Ein verdächtiges Individuum zwar hatte sich ein paarmal hinter mir geräuspert. Indessen stellte sich dasselbe bald als Ministranten vor und teilte mir mit, der Herr Pfarrer sei schon in der Sakristei, und würde die Feier baldigst beginnen. Inzwischen nahm ich aus meiner Paletottasche den Rosenkranz, den ich mir eben noch gekauft und betete daran viermal zehn Ave Marias mit je einem Paternoster an der Spitze langsam herunter. Nach deren Verlauf erschien der Pfarrer im Ornat; der Ministrant winkte mich an meinen Schemel; die Zeugen stellten sich rechts und links von mir auf.
Die Responsorien nahmen ihren Anfang. Ich hatte deren Inhalt zu Hause schon gelesen und mir verdeutscht. Gleichwohl vermochte ich jetzt den Worten 237 nicht zu folgen, und wenn dies auch möglich gewesen wäre, sie hätten mich weder erbaut noch geläutert.
Kein heiliger Rausch wollte mir den Verstand umnebeln. Ich blieb so klar und kritisch, als zöge der ganze Vorgang nur wie ein originelles Schattenbild an mir vorüber. Ohne daß ich einen Gesamteindruck empfangen hätte, prägten sich Nebensachen meinen geschärften Sinnen ein. Während ich tiefernst das Tridentinische Glaubensbekenntnis las und alle Ketzereien feierlichst abschwor, fiel mir ein, daß die Finger des Ministranten, mit denen er mir ein symbolisches Kirchenlicht in die Hand gegeben, sehr schmutzig gewesen waren. Wiederholt fürchtete ich, daß das geschmolzene Wachs auf meinen kostbaren schwarzen Rock abtropfen könnte, und brachte endlich die gefährdeten Zipfel verstohlen in Sicherheit. Dann, als der Priester wieder seine Stimme erhob, fand ich an deren fettig näselnder Klangfarbe ein unmotiviertes Wohlgefallen und wünschte, er möge nur eine Weile noch so weiter reden, vielleicht, weil es angenehm auf die Nerven fiel. Er sprach den Exorzismus über mich. Doch der Teufel, den er beschwor auszufahren, tat gar nicht dergleichen, sondern grinste noch höhnisch aus meiner eigenen Seele mir entgegen.
Sollte dies also die Pforte in das ersehnte Reich des Friedens sein? Bei meiner Gemütsverfassung mußte ich es bezweifeln. Sehr kleinlaut hörte ich noch das 238 Tedeum an und nahm nach beendeter Feier die Glückwünsche der Zeugen und des biederen Ministranten mit einem Armsündergesicht entgegen, das mir hoffentlich als Ausdruck der Rührung gedeutet worden ist.
Unmittelbar hieran schloß sich die Beichte. Der Priester begab sich, um sein Gewand zu wechseln, wieder nach der Sakristei. Ich blieb allein auf einer Bank des Kirchenschiffs zurück.
Die beiden Altarkerzen waren ausgelöscht worden. Völlige Dunkelheit umgab mich. Nur das Licht der ewigen Lampe flimmerte unter seinem roten Glas. Wohl eine Viertelstunde lang vernahm ich keinen Laut. Auch draußen auf den Straßen schien es still. Die Abendluft drang vom Portal herein und wand sich in langen, kühlen Streifen um die mächtigen Pilaster.
Da war mit einem Male, ohne daß ich mich darum bemüht, das Weben der ewigen Mächte rings um mich her.
Ja, wenn ich so hätte bleiben dürfen, einsam, zwischen Traum und Wachen, fern von dem Gespreiz der Menschen, von ihren lauten Forderungen nicht bedrängt, von ihren grellen Eitelkeiten nicht geblendet, einzig im Angesichte des ewigen Lichtes, dann hätte ich wohl leicht eines der getreuesten Kinder Gottes werden können, und in meinem Herzen wären Liebe und Ehrfurcht und Vertrauen niemals erstorben. Denn nur da, wo 239 die Geschöpfe schweigen, redet Allvater zu uns mit seiner leisen, gütigen Stimme.
Doch das Fühlen erlosch, sobald der geschäftige Priester in seinem weißleinenen Rock wieder hervortrat und, nachdem er die Brille auf die Stirn geschoben, sich nach mir umsah. Er winkte mir zu und führte mich nach der Beichtkapelle, einem engen, versteckten Raume neben dem Altarplatz, wo inmitten geweihter Fahnen, abgenutzter Gefäße und Gewänder der Beichtstuhl stand.
Kein Zweifel, daß aus dieser Umgebung, von den zusammengekniffenen Lippen dieses alten treuen Gesichtes kein Verrat in die Öffentlichkeit dringen würde. Nur lag mir an der Diskretion, die sich aufdrängte, auch nicht allzuviel. Was ich jetzt unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit dem Beichtiger anvertrauen sollte, hatte ich schon allzuoft harmlos und sachlich mit Psychologen und Medizinern diskutiert oder gar zur Unterhaltung der Freunde scherzend am Biertisch erzählt. Also wieder nur eine Form zu erfüllen, deren Inhalt seinen Sinn für mich verloren hatte!
Ich kniete vor dem Gitter nieder und sprach die vorgeschriebenen Worte:
»Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, der heiligen Jungfrau Maria, dem heiligen Erzengel Michael, dem heiligen Johannes dem Täufer, den heiligen Aposteln Petrus und Paulus, allen Heiligen und Ihnen, Vater, 240 daß ich in Gedanken, Worten und Werken viel gesündigt habe durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine allergrößte Schuld!«
Darauf zog ich das umfangreiche Manuskript hervor und las sehr langsam und eindringlich die Historie meiner Sünden.
Bald bemerkte ich den Anteil des Priesters an einem ausdrucksvollen Knurren, mit dem er hervorragend anstößige Stellen begleitete. Ja, zuweilen wurde er unruhig auf seinem Sitze und schien mich unterbrechen zu wollen. Einmal, als ich von der Satansfeier, der ich in Prag beigewohnt, berichtete, konnte ich es mir nicht versagen, nach ihm aufzublicken, wobei ich seine Augen mit einer grenzenlosen Verblüffung, die schon an Entsetzen grenzte, auf mich gerichtet sah. Und es überrumpelte mich die frevelhafte Eitelkeit darauf, daß ich den Mann mit meiner Darstellung zu fesseln schien. Schließlich aber überwog doch der Widerwille gegen dieses Gewirr von Tücken, Schwachheiten und Lügen, gegen diese kläglichen Ausbrüche der Selbstsucht und Sittenlosigkeit, mit denen ich mir nicht einmal ein vergängliches Glück hatte verschaffen können. Und diesem Widerwillen hatte ich es zu danken, daß ich doch noch die zur Wirksamkeit des Bußsakraments erforderliche Reue empfand, die von der Kirche als »ein Schmerz der Seele und ein Abscheu über die begangenen Sünden« 241 definiert wird. Noch immer glaubte ich krampfhaft an Gott und seine Gnaden; weil ich Gott beleidigt und die Gnaden verloren, bereute ich wahrhaft »übernatürlich«, und das befriedigte mich derart, daß ich auch die Absolution des Priesters außerordentlich angenehm empfand.
Die Ratschläge, die er mir nun erteilte, standen nicht ganz auf der Höhe psychologischen Scharfblicks. Unsicher tappten sie zwischen Trost und Tadel umher und konnten, da sie sich offenbar in den Motiven meiner Sünden nicht zurechtfanden, auch nichts Treffendes darüber sagen. Sehr rücksichtsvoll sprach er in der ersten Person Pluralis:
»Wir haben uns da vielfach und schwer vergangen. Besonders die Ausschweifungen, denen wir uns hingegeben haben, sind Todsünden der schlimmsten Art. Um so maßvoller und zurückgezogener wollen wir nun leben, damit wir den Versuchungen aus dem Wege gehen . . .«
Als Buße legte er mir – glimpflich genug – dreimaliges Abbeten des Rosenkranzes auf. Dann entließ er mich mit dem Segen und bestellte mich auf den nächsten Morgen zum Empfang der Kommunion.
Leichten Herzens und froh, daß die Hauptsache hinter mir lag, ging ich nach Hause und tat einen überaus gesunden, traumlosen Schlaf, während etwas Aufregung 242 nach dem so bedeutungsvollen Abend doch eigentlich schicklich gewesen wäre.
Körperlich nüchtern, wie die Kirche es gebietet, aber leider auch nüchtern im Geiste trat ich dann am Morgen gegen sieben Uhr den Weg zum Tische des Herrn an.
Die Frühmesse, die an einem der Marienaltäre gelesen wurde, war nur schwach besucht. Ausnahmslos waren es Frauen, die in dem engen Seitenschiffe saßen, ein paar Marktweiber, ein paar Gebrechliche und zwei Dienstmädchen in weißen Hauben, die wahrscheinlich von ihrer gottesfürchtigen Herrschaft um diese Stunde, da man ihrer noch nicht bedurfte, hergeschickt worden waren.
Ich spielte ganz die Rolle des ungebetenen Gastes. Alle betrachteten mich mit erstaunten, scheelen Blicken. Die Gebrechlichen rückten von mir weg, und die Dienstmädchen kicherten über meinen langen Rock. Erst als sie bemerkten, daß ich es ihnen in allen Zeremonien nachtat, beim Glockenzeichen des Ministranten aufstand und niederfiel und beim Gebet den Kehrreim sprach, wurden sie friedfertiger und begnügten sich damit, die Köpfe zu schütteln. Aber auch mir kam es unheimlich vor, daß dies nun meine neuen Glaubensgenossen waren. Mit ihnen würde ich die innerlichsten und teuersten Interessen teilen; im Bunde mit ihnen würde ich die Weisheit dieser Welt verfluchen und in ihrer Gesellschaft dafür die Freuden der Ewigkeit verleben.
243 Ich war der einzige Kommunikant. Beim Beginn des Paternoster trat ich, wie vorgeschrieben, mit aufgehobenen Händen und niedergeschlagenen Augen vor und empfing nach dem dreimaligen Ruf Domine, non sum dignus die Hostie.
Die Beteuerung meiner Unwürdigkeit gewann für mich den allerschlimmsten Sinn. Denn ich empfing den heiligen Leib tatsächlich unwürdig trotz meines Glaubens, trotz aller Energie der Andacht, trotz aller vorbereitenden Gebete. Keine Gnade wollte in mir wirken. Kein Strahl von Liebe fiel in mein ausgekältetes Herz. Als ich, nach meinem Platz zurückgekehrt, dort auf die Knie fiel, sprach ich zu mir selber resigniert und trocken: »Gib dir keine Mühe weiter; denn ›wer unwürdig von dem Brote isset, genießt es sich selber zum Gericht!‹«
Und ich verließ die Kirche noch nüchterner, als ich sie betreten.
Nun war ich also mit allem erdenklichen Pomp eingeführt in das Reich Gottes auf Erden. Alle Bedingungen, unter denen der ersehnte Frieden mir verheißen war, hatte ich nach bestem Können erfüllt; ich glaubte, betete und hatte die Sakramente genommen, und der Erfolg war – die Enttäuschung.
Nicht die geringste Änderung ging mit meinem Innenleben vor. Es wurde nicht wiedergeboren, nicht einmal geläutert, nicht einmal aufgerüttelt. Stumpf und 244 kalt und schlaff trottete ich weiter in Verlassenheit und erfüllte die Pflichten meines neuen Bekenntnisses ohne Lohn.
Ich besuchte fortan die Messe an jedem Feiertag und bisweilen auch in der Woche. Die Musik des Hochamtes, zu dem die Landbevölkerung Kopf an Kopf sich drängte, erweckte mir die ersten Male etwas wie rührselige Schwärmerei, ließ mich aber kalt, nachdem Rhythmus und Melodie sich meinem Gedächtnis eingeprägt. Danach bevorzugte ich die stillen Messen, in denen sich auch die Gläubigen der guten Gesellschaft zusammenfanden und deren Besuch für die katholischen Studentenverbindungen »offiziell gemacht« worden war. Alle trugen die bekannte Physiognomie der Kirchgänger aus Gewohnheit. Ältliche Männer schlummerten, und junge Mädchen zischelten oder kokettierten, nicht anders als Protestanten beim protestantischen Gottesdienst.
Alles so natürlich, so menschlich und selbstverständlich, daß mir mein Ärger daran schier unbegreiflich vorkam. Hatte ich mir etwa eingebildet, daß die Erhabenheit des christlichen Erlösungsgedankens, das Gewaltige und Trostreiche der Kirche Petri in den Formen ihres Wirkens sich offenbaren sollte? Dann war es ein gefährliches Spiel, an Ideen sich zu begeistern, und war Phantasterei, darauf ein neues Leben begründen zu wollen.
245 Es gab da im Anschluß an die Gemeinde eine Wohltätigkeitsanstalt, den Laurentiusverein. Diesem beizutreten, wurde ich dringend aufgefordert. An jedem ersten Dienstag des Monats fand abends Versammlung in einem Klassenzimmer der Schule statt.
Am Tische präsidierte der zweite Geistliche mit mehreren Honoratioren. Die übrigen saßen auf den Bänken ringsherum. Ich wurde vorgestellt und mit neugierigen Blicken gemustert. Zwei Großindustrielle, Vater und Sohn, die ich schon früher flüchtig auf Bällen gesehen, kamen als Vertreter der vornehmen Klasse und wurden mit derselben Ehrerbietung behandelt wie die Priester. In der Überzahl gab es verschüchterte Jünglinge, Angehörige des katholischen Gesellenvereins und Kommis vom katholisch-kaufmännischen Bruderbund. Ich nahm unter ihnen Platz.
Der vorsitzende Pfarrer eröffnete die Sitzung mit einem Gebet, dessen Refrain von den Versammelten nachgemurmelt wurde. Darauf machte er uns zunächst mit erhobener Stimme die erfreuliche Mitteilung, daß zweien der Mitglieder – er verneigte sich gegen die Großindustriellen – eine hohe Ehre widerfahren sei. Herr Aloysius Schneider junior sei nämlich zum Kommerzienrat, Herr Schneider senior sogar zum Geheimen Kommerzienrat ernannt worden. Er glaube, im Sinne des Laurentiusvereins zu handeln, wenn er den beiden 246 hochverdienten Mitgliedern die allerherzlichsten Glückwünsche ausspreche. Darauf beschrieb er mit der Hand einen emphatischen Kreisbogen und reichte sie den verdienten Männern dar, die beide militärisch in die Höhe schnellten und geschmeichelt lächelten.
Der erste Teil des Abends, der sogenannte erbauliche, wurde damit ausgefüllt, daß der Kaplan aus einem Traktätchen »Missionarserlebnisse vom Bismarck-Archipel« vorlas; im zweiten, dem geschäftlichen Teile, kamen Unterstützungsgesuche armer Glaubensgenossen zur Sprache, meist Briefe bedrängter Witwen, die, wie sie wenigstens schrieben, von ihrem protestantischen Gatten dem heiligen Glauben abtrünnig gemacht werden sollten; wenn ihnen nicht bald mit Geld geholfen würde, so könnten sie für nichts mehr stehen. Oder auch eine völlig mittellose Jungfrau bat den Verein um ein Darlehen, widrigenfalls sie sich dem Laster ergeben müsse. Da wurde denn nun debattiert, was zu bewilligen sei. Auch wurde der und jener christliche Jüngling bestellt, »als Pfleger« die Verhältnisse an Ort und Stelle zu untersuchen. So übte er sich zugleich praktisch in den Werken der Karitas. Endlich wurde beantragt, daß im Herbst ein Basar stattfinden sollte, zu dem zahlreiche Damen ihre Mitwirkung in christlicher Barmherzigkeit zugesagt hatten. Die Gattin des Geheimen Kommerzienrats war schon bereitwilligst an die Spitze 247 eines Komitees getreten. – Wie mir der Pfarrer vertraulich riet, könnte ich mich gleich bei der Gelegenheit in die hiesigen katholischen Gesellschaftskreise einführen. Ich zeigte eine hocherfreute Miene und hätte fast mit der Zunge geschnalzt, um zu beweisen, wie lecker ich darauf war. Die Leipziger elegante Welt mit katholischer Nüance . . .! Diesen Hafen hätte meine fromme Ausfahrt allerdings verdient. 248