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Die Pädagogik als Wissenschaft gleicht doch vielfach den Stillen im Lande, die sie als Geschäft betreiben. Bald redet sie griesgrämig und klug wie ein Dorfschulmeister, bald fromm und behäbig wie der Herr Pfarrer; auch mit unfehlbaren Grundsätzen ist sie immer bei der Hand. Ihr ältester und darum heiligster Grundsatz aber lautet: »Ὁ μὴ δαρεὶς ἄνϑρωπος οὐ παιδεύεται,« deutsch: »Schindet den Menschen so lange, bis er brav wird!« oder mit einem anderen Zitat: »Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er«.
Nach diesem Dogma wurde auch Erich von Lüttwitz erzogen bis in sein fünfundzwanzigstes Lebensjahr.
Dabei konnte er noch von Glück sagen, daß es ihm nicht erging wie mir, an dessen Natur eine theosophische Mutter, zwei atheistische Onkels und ein patriotisch-orthodoxes Knabenalumnat ihre Kraft erprobten, sondern daß er allein unter der Rute seines Vaters stand, der schon den Knaben zum königlichen Staatsbeamten protestantisch-konservativer Richtung bestimmte und alle gegnerischen Einflüsse sorgfältig fernhielt.
Die alte Exzellenz, vor deren Zorn 75 einhundertundfünfzig Räte zitterten, hatte sich den Willen seines weichherzigen Jungen bald völlig unterworfen. Er behielt ihn unter strengster Aufsicht im Hause bis zum Maturitätsexamen, ließ ihn bei den Gardereitern dienen, schickte ihn dann nach Heidelberg auf drei Semester ins Korps Vandalia und andere drei nach Leipzig ins Korps Misnia. Im siebenten Semester ward pünktlich das erste Staatsexamen mit der »Zwei« bestanden und eine vorgeschriebene Route durch Italien absolviert, »die den Blick des jungen Mannes erweitern sollte«.
Auf dieser Reise lernte ich Erich kennen.
In Neapel, im Grand Hotel Hauser, sah ich ihn zum ersten Male. Dort stand er am Ofen des großen Lichthofes und wärmte sich. Er sprach mich an, um mir sein Herz auszuschütten, das über dies sonnige Italien voller Enttäuschung war. Für Monat März fand er es doch gar zu kalt und stürmisch, vermißte auch die malerischen Trachten und die Kunstgenüsse, von denen er gelesen hatte. Getreulich war er mit dem Baedeker durch alle sehenswerten Kirchen und Museen gelaufen, ohne ein anderes Gefühl erzielt zu haben als das der Beschämung, wie langweilig doch diese vielgerühmte Schönheit ihm vorkam.
Ich versuchte anzudeuten, daß alles Genießen von Kunstwerken, zumal das von historischen, mühsam gelernt und geübt sein wolle. Sehr bereitwillig und 76 verständig ging er auf den Gedanken ein und gestand mir endlich, nachdem wir uns näher kennengelernt und die Reise zusammen fortgesetzt hatten, daß es ihm mit der Dichtung und mit der ästhetischen Erkenntnis des menschlichen Körpers ebenso erginge. Nur die Musik, in der er dilettierte, bereitete ihm Vergnügen.
Wir wurden bald intime Freunde, nicht in dem längst verschollenen Sinne, daß einer für den anderen sich hätte opfern mögen, sondern nur in der höchsten Bedeutung eines herzlichen Umgangs, der sich auf Berufs- und Interessengemeinschaft gründet, wobei die Interessenten sich ergänzen, das heißt erwünschte Eigenschaften, die ihnen abgehen, am anderen genießen.
Mir behagte an Erich seine ausschließlich auf den menschlichen Verkehr gerichtete Wohlerzogenheit, seine unerschütterliche Liebenswürdigkeit und sein subtiler Takt, der sich durch Laune oder Leidenschaft niemals beirren ließ.
Er verstand unterhaltend zu plaudern und im richtigen Moment zu gehen. Kleidung, Haltung und Bewegung taten das übrige, mir den angenehmen Eindruck einer formvollendeten, geselligen Persönlichkeit zu verschaffen, auf die man sich außerdem noch verlassen konnte.
Dagegen mochte er wohl in mir das Stimulans finden, dessen sein schwerfälliger Ernst bedurfte. Denn immer waren es Anregungen zum Nachdenken oder 77 zum Erleben, die er von mir verlangte. Neugierig fragte er mich über Lebenssphären aus, die sein Erziehungsgrundsatz ihm verschlossen hatte, und konnte oft staunend wie ein Kind die Hände zusammenschlagen. –
Eines Abends, kurz vor Fastnacht dieses Winters, suchte ich ihn, wie so oft, in seiner Wohnung auf.
Er lag auf dem Sofa, etwas blaß und verstimmt, ohne Beschäftigung.
»Guten Abend! Was treibst du denn?« fragte ich ihn.
»Nichts, wie du siehst. Oder weißt du vielleicht etwas Besseres für mich?«
»Na, die Gewerbeordnung zum Beispiel, das neueste Reichs-Gesetzblatt oder dergleichen. So was könnte dich doch fördern.«
Er richtete sich auf und lachte mir mit einer grimmigen Bitterkeit ins Gesicht:
»Es lohnt sich nicht, mein Junge; es lohnt sich nicht, das weißt du selbst am besten.«
Sein Lachen, das immer krampfhafter wurde, erschreckte mich.
»Na, hör' mal,« sagte ich, »du hast doch wahrlich keinen Grund, dich zu beklagen. Dir macht doch die Karriere wenigstens noch Spaß.«
»Im Gegenteil, sie plackt und schindet mich mit ihrer widerwärtigen Spekulation auf Eitelkeit.«
»Dann versuch' es mit deinem starken Pflichtgefühl.«
78 »Was ist denn für mich Pflicht? Wenn ich das erst herausbekommen hätte! Etwa die Arbeit hier für eine Staatsräson, an die kein Mensch mehr ehrlich glaubt? Du bist ja stets so nett gewesen, mir meinen Glauben dran zu lassen . . .«
»Erlaube mal . . .«
»Na ja, weil du meintest, er machte mir Spaß. Aber schließlich gehen einem die Augen von selber auf.«
»Ich verstehe nur nicht . . .«
»Wie das so plötzlich kommen kann? – Ich denke, es muß sich immer schon heimlich vorbereitet haben. Losgebrochen ist es seit dem Tode meines Vaters. Damals, in den Tagen nach dem Begräbnis, stieg das ungewohnte Gefühl in mir auf, daß ich ja nun mein eigener Herr wäre und das Leben nach meinem Geschmack leben könnte. Sogar eigene Ansichten durfte ich haben und die Menschen von meinem Standpunkt aus betrachten. – Und nun geschah das Unheimliche, daß sich auf einmal in wenigen Wochen die ganze Welt vor mir verwandelte. Je mehr ich dachte, je mehr ich las, desto mehr verzerrte sich das Bild der Verhältnisse, in denen ich lebte. Die Herren Kollegen zum Beispiel waren mir bisher stets als die überzeugten Diener Seiner Majestät, als die felsenfesten Stützen von Thron und Altar erschienen. Jetzt wurden sie zu griesgrämigen, widerwilligen Handlangern, die entweder gedankenlos in ihr 79 unvermeidliches Amt sich schickten, ohne zu wissen, daß es bessere Dinge gibt, oder zwar herausmöchten, aber doch seufzend die Karre weiterschieben, weil sie Gehalt und Titel nicht entbehren können.
Und dann ich selbst! In dem Berufe, der mein ganzes Leben ausfüllen soll, ein Wust von Phrasen und Widersprüchen, der sich durch Akten und Referate weiterschleppt, eine Praxis offizieller Anschauungen, die niemand mehr auf ihre Wahrheit hin zu prüfen wagt, Abgründe von Dünkel und Ignoranz! Da klebe ich nun tagelang und vergleiche Innungsstatuten mit dem Gesetz, eine Arbeit, die jeder Schulbube verrichten könnte, während es die Spatzen von den Dächern pfeifen, daß das Handwerk zugrunde geht. Oder ich sitze in den städtischen Kollegien stolz als Vertreter der Regierung und muß erleben, wie meine und des Bürgermeisters Weisheit von den Argumenten beschränkter Untertanen so zerpflückt wird, daß unsere Königliche Regierung dasteht wie ein Hanswurst. Das ist nun mein Beruf: mich nicht verblüffen lassen, weiterschreiben, weiterdekretieren und referieren, bis ich alt und stumpf werde und den Albrechtsorden kriege.«
Erich, der korrekte, wohlerzogene Assessor ging, vollkommen außer sich, mit hastigen Schritten auf und nieder. Sein ganzes Wesen, ja selbst der Ausdruck seiner Stimme hatte sich derart verändert, daß ich einen 80 Fremden, einen verbitterten Schwärmer vor mir zu sehen glaubte. Und doch fand ich beim besten Willen kein Wort der Widerlegung. Nur auf die tausend Anderen konnte ich ihn verweisen, die mit ihrem Bündel juristischer Kenntnisse einziehen in die Bedientenstube und schließlich doch sich alle daran gewöhnen, die Sonne nicht mehr zu sehen.
»Ja, die Anderen!« rief er. »Die mögen sich wohl selber so gebettet haben, wie sie jetzt liegen. Es gibt ja Ehrenmänner genug, die zu nichts Besserem zu gebrauchen sind als zum Gehorchen. Aber zu denen, wahrhaftiger Gott, zu denen gehöre ich nicht. Ich hab' schon einmal so einen gewissen Lebensmut gehabt, ganz früher einmal als Junge – das fällt mir jetzt erst langsam wieder ein –, und es hätte auch etwas aus mir werden können, vielleicht ein tüchtiger Kerl, der schaffen und genießen kann, wenn ich mir meine Wege selber hätte suchen dürfen. Aber niemals haben sie mir was anderes gezeigt als ihren engen Horizont; hinterrücks haben sie mich eingeschnürt in meine Zwangsjacke, in meine Uniform als Gentleman und Leutnant der Reserve, ehe ich überhaupt zur Besinnung kam . . .«
Er schwieg, wie über sich selbst erschrocken; es fiel ihm ein, daß er schon an die Heiligtümer seiner Stellung tastete und Lästerungen sprach, die ihm den Hals hätten brechen können, wenn ich sie weitertrug. Darum biß er 81 sich auf die Lippen und strich etwas verlegen sein blondes, hochgebundenes Bärtchen, ohne mich anzusehen.
Schließlich begannen wir zu rauchen, zwei, drei Zigaretten hintereinander. Unsere Blicke folgten dem Rauch und die Gedanken den armseligen Zielen unserer Bildung und Tätigkeit.
So fand sich Erich vorläufig wieder in seine Bescheidenheit zurück. Weichherzige Träume gewannen über den Ingrimm Oberhand. Nur eine schmerzliche Spannung an den Augenlidern ging nicht mehr vorüber und ließ erkennen, daß sein Grämen in der Tiefe saß.
Am Schreibtische, zwischen den Akten und dem Bücherbrett stand ein Cello, wie eine Erfrischung, die immer zur Hand sein muß, wenn jemand lästige Arbeit tut. Das nahm sich Erich auch diesmal vor. Ohne weitere Einleitung rückte er sich das Instrument zurecht und begann nach einigen tastenden Strichen das Händelsche Largo.
Obwohl er kein geübter Künstler war und nur soviel von Musik sich angeeignet hatte, als zum geselligen Talent gehört, wußte er doch viel Eigenes in das Spiel hineinzulegen. All das verkümmerte Hoffen und die geknickte Kraft, die einstmals frisch in seiner adligen Natur gewesen war, ließ er zu mir reden wie eine laute Klage. Die Scheu des Mannes, der innerste Leiden selbst dem Freunde nicht offenbaren möchte, fand hier 82 halb unbewußt Ausdruck in den Tönen des frommen Meisters aus einer fröhlicheren Zeit. Er spielte leise und zögernd und nickte dazu nachdenklich mit dem gesenkten Kinn den Takt, als wolle er die ganze Schwermut seiner schläfrigen Stunden ausklingen lassen in Melodie.
Ich stand hinter ihm und empfand für seine stille Art eine noch wärmere Zuneigung als bisher. Eine fast sinnliche Freude überkam mich, als dieses sonst so schamhafte Fühlen vor meinen Ohren sich entkleidete. Denn immer war es mir Lust und Genugtuung, meine Neugier an den Reizen fremder Seelen zu befriedigen, beim Freunde nicht anders als bei der Geliebten. Wo aber der Schmerz in die Seele einzieht, da schillern immer neue herrliche Farben.
Auf dem Konsol des Spiegels bemerkte ich die Bilder von Erichs Eltern. Ich nahm das seiner Mutter, um es auf Ähnlichkeit mit dem Sohne hin zu prüfen. Unzweifelhaft war diese Ähnlichkeit vorhanden, nicht zum Vorteil meines Freundes; denn die Züge dieser alten schwarzseidenen Dame waren leer, affektiert und in absichtliche Falten gelegt. Und doch lag etwas darin, das längst verklungene Saiten in mir widerklingen ließ, ein Blick voll Zärtlichkeit und Toleranz, der von viel Sorgen und unermüdlicher Liebe zu erzählen weiß, der Blick, den alle Mütter haben.
83 Als Erich bemerkte, daß ich dies Bild betrachtete, ließ er sein Spiel und trat zu mir. Mit einer Vertraulichkeit, die ihm sonst fremd war, schob er seine Hand unter meinen Arm; so standen wir wie zwei Brüder vor der alten Frau. Einer hielt den anderen fest, grübelnd über die Bedeutung leerer Züge.
»Sie hat doch vieles, was andere nicht so sehen,« sprach Erich. »Freilich bin ich Partei, aber ich glaube, wenn du sie kennen würdest, könntest du sie auch bald liebhaben, zuweilen wenigstens, wenn sie zu Hause und ganz einfach ist.«
»Du hängst noch sehr an ihr?«
»Ja, sie ist vorläufig alles – alles für mich; das heißt, ich bin gewohnt, alles auf sie zu beziehen, weil ich niemanden außer ihr besitze – zum Liebhaben«.
»Du solltest dir . . .«
»Nein, sage nicht so etwas, Just. Du meinst – die Frauenzimmer; und das ist ganz verschieden von dem, was ich meine. Für die werde ich niemals etwas übrighaben. Gegen die ist man eben gewissenlos. Bei der Mutter aber . . .! Da müßte doch noch mancherlei zwischenkommen, ehe ich die mit gutem Gewissen übersehen könnte.«
»Mein Gott,« rief ich, »du bist aber in den Jahren, in denen man anfängt, für sich selbst zu leben.«
»Ja, wenn ich könnte!« antwortete er. »Wenn mir 84 nur je in meinem Leben etwas begegnet wäre, das ich wichtiger, heiliger hätte finden können als meine Mutter. Aber ich habe ja immer nur sie vor Augen gehabt. So wie das Bild hier hat sie mit ihrer zärtlichen Erwartung mich immer angeschaut, ob ich mein Leben auch ganz so einrichte, wie es für den Sohn sich schickt, der ihr ganz gehört. Ängstlich und eifersüchtig hat sie meine Liebe überwacht, ob sich nicht jemand Fremdes einschleicht; denn sie wollte auch nicht das kleinste Stück von meinem Herzen mir zur eigenen Verfügung überlassen. So ist es nun gekommen, daß ich immer noch ihr ganz allein gehöre. Ich bin vernarrt in sie und – ja, ich kann wohl sagen, ich bete sie an.«
»Und wenn du's weniger tätest? Wofür würdest du dann leben?«
»Dann? – Ja, dann würde ich vor allem meine Bedientenstube hier verlassen und mir die Welt ansehen, ja – und – dann lernen, nachholen, arbeiten . . .«
»So tu's doch! Tu's jetzt! Versuch' es wenigstens!«
»Du kennst sie nicht, meine Mutter. Wenn sie so einsam zu Hause sitzt und ihre armen Gedanken sich immer nur mit mir beschäftigen. Sie hat ja nichts mehr als die Zukunft ihres Sohnes. Seit ihr Mann gestorben ist und sie keine Rolle mehr spielt, träumt sie immer nur von den glänzenden Ehren, mit denen ihr Sohn einmal überschüttet wird. Sie zählt meine Vordermänner 85 und sucht Partien für mich aus den besten Familien des Landes. Und wenn ich sie besuche, wird sie krank vor Freude, so daß sie mich sitzend im Lehnstuhl empfangen muß. Dann fragt sie aufgeregt nach meinen Vorgesetzten, ob ich mich gut mit jedem stehe, und ob die alten Damen liebenswürdig zu mir sind. Oder sie streicht mir mit ihren schönen, zitternden Händen übers Haar und flüstert mir ins Ohr: ›Nicht wahr, Erich, du holst dir noch einmal das Portefeuille, oder gar . . . oder gar . . . warum solltest du nicht einmal – Kanzler werden?‹ – Wenn man so etwas immer und immer wieder erlebt, dann wird man mürbe in den vernünftigsten Entschlüssen; ja, dann habe ich doch immer nur das eine Gefühl, die Torheit solch einer Mutter zur Weisheit werden zu lassen; denn schließlich steckt doch etwas hinter dieser Zuversicht, das einem das Herz im Leibe zusammenrüttelt.«
Seine Worte rissen mich mit in dieselbe Stimmung schmerzlicher Skepsis, für die ich jederzeit empfänglich war, in der man vor sich selber flüchten möchte aus dem Willen heraus in die zerstreuende Welt der Vorstellung. Dies fruchtlose Wühlen in der eigenen Kraftlosigkeit mußte ein Ende finden. Auch waren wir schon gewohnt, Gespräche derart, wenn sie quälend wurden, abzubrechen.
Wir mochten den Abend nicht zu Hause verbringen, 86 am wenigsten jeder allein. Darum beschlossen wir, irgendwo auswärts uns herumzutreiben, unter Menschen, deren Anblick erhebend wirkt, weil wir uns ihnen immerhin noch überlegen fühlen. –
Also etwa ins Schauspiel! – Nach dem »Alten Theater«, wo vor einem dankbaren Publikum leichte Stücke gespielt werden! Wir nahmen eine der kleinen Logen, dicht am Proszenium. Sie haben den Vorzug, daß man dort hinter einem Schirme sitzt und ungesehen Parkett und Ränge überschauen kann. Deshalb werden sie auch häufig recht ungeniert als chambres séparées benutzt und stehen in entsprechendem Rufe. Diesmal waren wir allein. Nur den zweiten Vorderplatz hatte, wie der Kassierer sich ausdrückte, ein Herr Offizier bereits erworben. Erich kannte ihn und stellte uns einander vor. Ein Leutnant von Fiedler vom 107. Regiment, dessen Vater mir auf dem Gymnasium den Homer hatte beibringen wollen. Als ich dies bei meiner Anrede erwähnte, berührte es ihn sichtbar peinlich. Im übrigen, wie es schien, ein guter Kerl, der seine hohe Nummer mit einer gewissen Verlegenheit trug und sich nicht erst Mühe gab, den Schick der vornehmen Regimenter nachzuahmen.
Man spielte die berüchtigte »Renaissance« der Herren Schönthan und Koppel-Ellfeld. In der Hosenrolle glänzte eine Diva, die bei den Leipzigern ihrer schönen 87 Beine wegen sehr beliebt war und durch eben diese in der Entkleidungsszene der »Zirkusleute« vor kurzem lauten Beifall geerntet hatte. Der Zuschauerraum war stark gefüllt: in den vorderen Reihen des Parketts der zahlungsfähige Mittelstand, zum Teil mit Weib und Kind, darunter eine beträchtliche Anzahl kleiner jüdischer Familien, die übrigens selbst hier den intelligenteren Teil des Publikums darstellten, weiter hinten Kommis mit Bräuten und Studenten zu ermäßigten Preisen; im ersten Range Damen, welche sich reich und bunt zu kleiden lieben. Alle die braven Leute waren von dem Kunstgenusse außerordentlich befriedigt und hatten tatsächlich den Ausdruck, den Kinder zur Schau tragen, wenn sie verzuckerten Himbeerschmarren mit Schlagsahne verzehren.
Da ich das Stück zur Genüge kannte, so blieb mir Muße, an jedem Einzelnen beschaulich mich zu freuen.
In der Pause begann Herr von Fiedler ein Gespräch mit mir. Da ich ihm offenbar in mehr als einer Beziehung verdächtig vorkam, pürschte er sich erst mit vorsichtigen Phrasen an mich heran. Endlich hatte er das neutrale Gebiet gefunden, auf dem sich Herren verschiedenster Gattung stets verstehen, und erörterte nicht ohne Witz die körperlichen Vorzüge beliebter Leipziger Damen. Ganz unvermutet, wenn auch naturgemäß, geriet er dabei auf Alice.
88 Er rühmte ihren Nacken, den ich zufällig selbst niemals gesehen. Als ich die Bälle noch besuchte, war sie ein Kind gewesen, ohne das Recht, sich zu dekollettieren. Nun lag mein Eigentum in aller Händen. Jeder durfte sie mit seinen Blicken bestreichen, soweit es die Mode der Saison gerade bestimmte. Mir gehörte die Puppe, aber die anderen durften damit spielen.
Mit grimmiger Renommage ging ich auf die Würdigung des Nackens ein. Besonders erwähnte ich den flaumigen Schimmer der Haut und die leicht eingesenkte Rinne des Rückgrats. Wenn man dieser Rinne, so erklärte ich, mit den Augen folge, so könne man bei günstiger Gelegenheit und einiger Anstrengung etwa über der Mitte der Wirbelsäule ein kleines Muttermal entdecken, dessen Anblick besonderen Reiz gewähre. Herr von Fiedler geriet über meine Enthüllung in täppisches Entzücken und versprach, auf dem Gewandhausballe danach suchen zu wollen.
Mir aber stieg das Blut zu Kopf über meine Rechtlosigkeit gegenüber der Geliebten, die als verheißungsvolle Ware so sich prüfen, rühmen und erwerben ließ. Dazu gab es kein Mittel, mich ihrer zu versichern. Selbst wenn ich sie vom Standesbeamten mir hätte gesetzlich zusprechen lassen wollen, wäre ich nicht besser daran gewesen. Dann war sie vollends vogelfrei und durfte, wenn galante Augen sich über ihren Nacken beugten, 89 sogar noch lächeln und drohend flüstern: »Ei, ei, Herr von Fiedler, was suchen Sie? mir scheint, Sie haben schlimme Gedanken!« –
Mit einem Male fand ich die Gesellschaft dieses Menschen ganz unerträglich widerwärtig. Flüchtig empfahl ich mich und zog Erich, der gleichgültig meinen Einfällen folgte, hinter mir her. Der verdutzte Leutnant blickte uns nach mit einer grenzenlosen Bewunderung für dieses neuste Tipp-Topp, sich im Theater nur zwei Akte anzusehen.
Erich hatte Appetit auf Varieté bekommen. Sein Mißmut schlug um in krampfhafte Ausgelassenheit, die alle Sinne zugleich beschäftigen möchte, um nur das unbequeme Denken zu betäuben. Ich hatte keinen Anlaß, ihm zu widersprechen. Denn warum sollte man nicht ins Varieté gehen? Man kann immer dort sitzen und den bunten Blödsinn aus allen möglichen Gründen an sich vorüberziehen lassen. Jedermann denkt so, wenn er fürchten muß, sich anderswo bedrückt zu fühlen. Deshalb sind diese Fleischpaläste auch so beliebt und überfüllt. Wir nahmen uns ein Billett für die Alberthalle des Krystall-Palastes und bestellten einen schlechten Wein, dem sich Erich sofort mit Eifer widmete.
Er schwatzte krauses Zeug zusammen, halbverstandene Brocken seiner letzten Lektüre, eindeutige Scherze über die Sängerinnen, anfechtbare Betrachtungen über das 90 Dasein und seinen tiefsten Sinn. Ob man nicht versuchen solle, sich selbst im Stile des Varietés ganz auszuleben, wie manche es schon von der Kunst verlangen, gedankenlos zu tändeln und dem Tode mit Purzelbäumen entgegenzuspringen, als Bajazzo mit Colombine?
Nein, ich für meine Person mußte das ablehnen. Bei mir verschlugen die Narrenspossen nicht mehr. Das Tanzen tat mir weh und strengte mich an. Und beim Anblick der anderen stieß das Absichtliche mich ab, der verzerrte Leidenszug, der unter der grotesken Schminke mir überall entgegengrinste.
»Aber ist es nicht merkwürdig,« fragte Erich, »daß sich in diesem Geschmacke endlich einmal Künstler und Volk zusammenfinden?«
»Weil gerade jetzt die reifsten Künstler und die schlimmste Bürgerkrapüle Verächter des Intellekts sind, allerdings aus ganz entgegengesetzten Gründen.«
»Sie wollen das Körperliche endlich einmal ganz auskosten. Das ist es doch?«
»Die Künstler? Ja, sie versuchen es wenigstens. Aber mich ekelt vor dieser Vergötterung des Bizeps und der Klitoris. Vorläufig verstehe ich es noch, meine spärlichen Lustwerte aus der Einbildung hervorzuholen.«
»Bis sie ausgeschöpft ist.«
»Ja, dann muß man neue Kräfte sammeln, irgendwo.«
91 Das war der wundeste Punkt, den Erich da berührte, meine beständige, qualvolle Angst. Ich wußte nicht, was aus mir werden sollte, wenn ich die letzte kleine Freude ausgekostet hätte und dann wunschlos vor meiner Zukunft stünde.
Indessen flogen über mir wie zum Hohne die Equilibristen in ihren abscheulichen Trikots von einem Trapez zum andern, um mit der langweiligsten aller Geschicklichkeiten uns über die Zeit hinwegzutäuschen. Dann traten noch fünf gut geschulte Mädchen auf, die in der Barrisonschen Art mit ihren Hüften jene gespreizten Linien zogen, die unsere Zeichner so hübsch zu übertreiben wissen, daß der Kenner sie wirklich als Grazie zu empfinden glaubt.
Freund Erich wurde vom Weine aufgeräumt. Ein ganz neues Wesen ward hinter seinen Formen sichtbar; es schoß gleichsam empor wie ein Springbrunnen, dem man die Hähne aufgedreht; er sprudelte nachdenklichen Widersinn und wonnige Albernheit. Er predigte und randalierte, vergaß die Würde seines Amtes und ulkte benachbarte Damen an. Das Leben kam ihm auf einmal nicht mehr so mißgünstig vor, sondern eher wie ein widerspenstiger Schatz, den man sich durch erzwungene Liebkosungen gefügig machen muß. Sein zappelnder Geist ward unzufrieden mit der Szenerie und verlangte von diesem Abend noch möglichste Mannigfaltigkeit.
92 Unsere Wünsche trafen sich leicht in dem Gedanken an ein kleines Schlemmermahl, bei dem die Einbildung des physischen Genießens immer noch am täuschendsten gerät. Demnach suchten wir das Weinrestaurant von Staacke, Abteilung der Nischen, auf, ließen Pommery frappieren und bestellten Seezunge mit Kaviarsauce, getrüffelten Fasan mit Sauerkraut und gebackenen Austern. Ringsum, in den dicht verhängten Logen, kreischten und krakeelten die Pärchen. Sie bewarfen sich unbekannterweise über die Wände weg mit Propfen, riefen sich Prosit zu oder wurden einander grob. An Stelle der Luft war der Geruch von Menschen, deren Zigarren und Parfüms getreten. Aber die Luft behagte uns; denn sie betäubte. Ja, wir schwuren, daß solch ein Souper das höchste der Gefühle sei; wenn wir die Austern schluckten, so unterbrachen wir die Rede und richteten das Augenmerk nach innen, dem Magen, zu, damit nur jeder vom anderen glauben solle, dessen Kraft zur Freude sei noch ungebrochen.
Nachdem wir uns auf diese Weise gesättigt und angeheitert hatten, suchten wir weiterhin die »Gute Quelle«, ein Tingel-Tangel niederer Gattung, auf, wo der beste Kern des Bürgerstandes, der kleine Handwerksmeister und der Subalternbeamte mit Frau und Töchtern vertreten war. Sie erholten sich von ihrer Tagesarbeit, anspruchslos befriedigt.
93 Da wir auch dieses Lokals überdrüssig wurden, begaben wir uns nach einer Lagerbierkneipe und trafen dort wiederum diese selben Vertreter von gutem Kern. Nur, daß hier die Männer, weil sie Skat und Doppelkopf spielten, gar wichtige Mienen zeigten, während die Gattinnen aus ehelichem Pflichtgefühl etwas schläfriger danebensaßen. An den Wänden aber prangten die Photographien von Bismarck und Moltke herab, die man dem deutschen Patrioten so gern in die Heimstätten seiner Gelage und viehischen Brünste hängt, damit er seine paar schönen Gefühle stets traulich beisammen habe.
Nach Mitternacht endlich strandeten wir in einem Weinlokal der Ritterstraße, wo sich um diese Zeit ein Kreis zusammenfand, der sich »Rotte der Nörgler« nannte.
»Es sind Leute,« erklärte ich Erich, »von denen du sagen wirst: sie gefallen mir nicht. Aber es mag gut für dich sein, sie einmal kennenzulernen.«
Erich brannte darauf und dankte mir in den verbindlichsten Ausdrücken für meine Vermittlung.
In einem tapezierten Bretterverschlag saßen etwa zehn Mann bei saurem Brauneberger in überlautem, fanatischem Streit, unter ihnen Dimitri und Doktor Tönnies, die Erich aufs herzlichste begrüßten. Aber auch die übrigen nahmen ihn freundlich auf. Sie 94 schienen über sein Wesen genügend aufgeklärt, um sich an dem Beamtentitel nicht zu stoßen.
Dimitri und zwei Redakteure der »Volkszeitung« nahmen Erich sofort in Beschlag und verwickelten ihn in einen Disput über Staatssozialismus, den der Unglückliche gerade in diesen Tagen mit sich herumtrug. Ich setzte mich ans andere Ende des Tisches neben Doktor Tönnies und einen Literaten, namens Worms, ein mir befreundetes und besonders interessantes Exemplar.
Dieser Herr Worms war gerade dabei, die geschäftlichen Vorteile, die er von dem Import einer neuen Pariser Richtung erwartete, fachkundig und anschaulich auseinanderzusetzen. Da er wußte, daß seine Kniffe mich nicht entrüsten konnten, daß ich vielmehr verschwiegen alle Gaunereien ihre fruchtbare Straße ziehen ließ, so störte es ihn nicht, daß ich zuhörte, wie er mit halblauter Stimme auf Tönnies einredete. Sein kleines verschlagenes Gesicht saß etwas schief zwischen den hohen Schultern und begleitete jeden seiner Gedanken mit ausdrucksvollen Grimassen. Es waren Gedanken, die weit in die Zukunft griffen und doch den realen Boden nie verließen, wohldurchdachte, weitverzweigte Pläne einer Monopolisierung des gesamten Schrifttums. Und er, der kleine, unangenehme Worms, wollte alle Fäden in seiner Hand halten, er wollte Autor, 95 Verleger, Kritiker in einem einzigen, groß angelegten Geschäftsbetriebe sein und dadurch, daß er mit anderen Unternehmungen derart heimliche Kartelle schloß, dem Publikum Wert und Preis der geistigen Nahrung vorschreiben, wie es die Großhändler mit Getreide und Petroleum pflegen. Natürlich sprach er selbst dem arglosen Tönnies gegenüber dies nicht so unumwunden aus. Der war mit seiner Zeitschrift »Atlantis« nur ein unbedeutendes X in seiner Rechnung, aber ein X, hinter dem sich einflußreiche Größen bargen. Doktor Tönnies sollte, so schlug Worms ihm vor, die neue französische Richtung, zugeschnitten auf deutschen Geschmack, in seinem Blättchen vertreten, auch einen Verlag damit verbinden und womöglich einen Stamm eingeschworener Mitarbeiter in Leipzig vereinigen. Später könnte man damit vielleicht noch einen literarischen Verein und eine Lesehalle verknüpfen, wie dies schon anderwärts gelungen war. Um das Geld keine Sorge, das würde Worms ihm geben, Worms, der sich die Leitung des ganzen Betriebes vorbehielt. Tönnies war ganz Ohr, und wenn er auch nicht alles begriff, so zeigte er doch großen Respekt vor dem gewandten jungen Mann, der die Grundsätze kritischen Schaffens ebenso sicher beherrschte wie die des Geschäftslebens und der geltenden Rechte, der sogar zuweilen ganz unterhaltsam zu dichten verstand. Dann würde der arme Tönnies endlich auch 96 seine Manuskripte drucken können, er würde unabhängig und seine »Atlantis« mächtig werden! Und doch konnte er sich nicht entschließen aus Scheu vor der Kaltherzigkeit dieses Handels. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß man sein Bestes ihm aussaugen und seine Zeitschrift, die er mit der Zärtlichkeit eines Vaters liebte, ihm entreißen, entweihen oder gar in ein Familienblatt verwandeln könnte. So blieb er eigensinnig trotz aller Vorstellungen von Ruhm und Dividenden, die Worms ihm vorzuzaubern suchte.
Die übrigen achteten nicht auf das Gespräch. Vielleicht war ihnen auch manches von jenen Plänen bekannt, die der sozialen Doktrin so stracks zuwiderliefen. Doch duldeten sie in ihrem Kreise jeden, dessen radikale Gesinnung wenigstens feststand. Und Worms schwur auf den Radikalismus; denn er hielt ihn für die erfolgreichste Richtung der nächsten Zukunft.
Ein überlautes, fanatisches Streiten schwirrte durch unseren Winkel. Wie die Wogen einer aufgeregten See, so prallten die Gedanken gegeneinander ab, so vermengten und überschlugen sie sich in willkürlichen Sprüngen. Viel unsinniges und phantastisches Gerede sprang aus der Flut hervor; aber es war eine Flut mächtiger, übervoller, überquellender Gedanken, eine Fülle freier, intellektueller Kräfte, die so nach Ausdruck rang. Jeder Kopf hier eine Persönlichkeit, jedes Herz 97 voll Tapferkeit und wild auf Taten und alle einig im Haß gegen das Bestehende, Feinde des Staates und der Gesellschaft, bewaffnet bis an die Zähne. Hier, in dem rauchigen, heißen Winkel verarbeiteten sie durcheinander die Probleme der Marx und Krapotkin, die Ideen von Stirner, Darwin und Stuart Mill; selbst Lagarde und der Rembrandt-Deutsche spukten zuweilen; denn jeder Gedanke war willkommen, der unbefangen, unbeeinflußt aus sich selbst erwachsen war. Bald strömten Rede und Gegenrede zu einem brodelnden Gischt zusammen, daß keiner mehr den anderen hörte und verstand, bald lösten sich die kühleren Gruppen los und führten den Disput verständig nach allen Regeln der Kunst, bald wieder sprach ein Einziger, wie ein Redner vor dem Volke, mit flammenden Blicken und geballter Faust und entzündete mit seinem Grimm und seinen utopischen Bildern von neuem die Leidenschaft der Genossen.
Dimitri allein saß schweigend, mit wahrhaft olympischer Ruhe, zwischen den Streitern. Aber sein Geist war allerorten; Auge und Ohr wanderten von einem zum anderen; kein Wort entging ihm, keine Miene. Wie ein Feldherr, der seine Truppen mustert, so durchdrang er Mann für Mann mit seinen kleinen, blitzenden Augen oder spottete wohl auch mit dem verkniffenen Lächeln, das einer schmerzlichen Narbe glich. Hin und wieder 98 warf er eine Bemerkung dazwischen, wo ein Begriff unklar oder die Debatte abzuirren schien, oder er sprach selbst das erlösende Wort, das dem Redner nicht gelingen wollte.
Nur einmal ward er heftig, ohne doch den Humor zu verlieren, als ein hitzköpfiger Student Majestätsbeleidigungen sprach, die an Deutlichkeit und Schärfe nichts zu wünschen übrigließen.
»Zum Teufel, Herr,« fuhr er ihn an, »was soll das verwünschte Geplauder über Gott und die allerhöchsten Herrschaften. Ich dächte, unsere Meinungen darüber wären doch genügend festgelegt, als daß wir sie noch zu beschwatzen brauchten.«
Der andere wollte sich damit entschuldigen, daß ihm die Galle häufig überliefe.
»Das soll sie eben nicht,« antwortete Dimitri. »Sie geben ja dem Staate selbst die beste Waffe in die Hand, wenn Sie die geltenden Gesetze übertreten. Überlassen Sie doch ruhig die ohnmächtige Wut unseren Gegnern. Aber ich finde das bei euch noch überall, daß ihr den Haß nicht zu konzentrieren versteht; ihr verzettelt euch mit Kleinigkeiten, mit Symptomen, anstatt die Wurzel anzupacken.«
Niemand widersprach. Nur bezweifelten die Parteisozialisten die Möglichkeit, das Staatswesen gegenwärtig anders als mit kleinen Mitteln zu bekämpfen. 99 Das führte auf Fragen der Taktik, die den Sturm heftiger als zuvor entfesselten.
Dimitri aber war durch keinen Einwand mehr zum Reden zu bewegen. Er horchte und verglich das, was sich festzuhalten lohnte. Hinter seiner breiten Stirn stapelte er die Gedanken wohlgeordnet auf; mir war, als hörte ich das Räderwerk in seinem Hirn gleichmäßig surren und die eisernen Speichen der Logik ineinandergreifen, um den Stoff zu liefern, mit dem man Staaten in Luft und Staub zersprengt. –
Erst als nach zwei Uhr die Lampen ausgelöscht und das Lokal geschlossen wurde, ließen die Gegner ihre Meinungen begraben sein und wanderten als vertraute Genossen unter lustigem Geschrei und trunkenen Späßen heimwärts.
Sowie der herrliche Winterfrost mich umfing und ich in dem gedämpften Licht der Straße mich einsamer und freier fühlte, schlug meine Stimmung unvermittelt um in einen Widerwillen vor jener brutalen Kampfeslust, die ich soeben noch bewundert hatte. Das Ringen der Ideen schien mir ein lächerliches Spiel für eitle Träumer, und alle Kraft des Denkens, aller Zorn nutzlos vergeudet an eine Wirklichkeit, die sich noch nie an menschliche Berechnung kehrte; da sinnen, streiten, schaffen diese Burschen so siegesbewußt für ihr System, und schon ist irgendwo der Stein im Rollen, irgendwo 100 der Mensch geboren, mit dem der Zufall alles durcheinanderwirft und neues baut, ganz anders, als wir wünschten und erwarteten.
Nein, lieber noch erstarren, eiskalt und stille werden wie die Toten, wie die erstorbene Natur, die so strahlend und feierlich ist in ihrem Frost. Nicht mehr nach der Sonne blinzeln, sondern die Augen in den finsteren, unergründlichen Himmel bohren und die Sterne zählen, nur um das Leben zu vergessen.
Dorthin sich retten, wo Frieden ist, wo Denken aufhört und Andacht beginnt, wo das blasse Gefühl des Glaubens unsere Sinne stumpf macht und uns mit frommen Märchen in Schlummer wiegt, dorthin sich retten – zu Gott und seiner mächtigen Kirche, die noch immer auf dem Felsen thront, ehrwürdig und heilig wie der Leichnam eines greisen Königs.
Wie gern wollte ich doch Gott das Opfer meines Intellekts bringen, um aus den Händen der Muttergottes das Geschenk zu nehmen, das sie dem Gläubigen bietet – Reinheit!
So hing ich meinem Hoffen auf Genesung nach. Mechanisch folgte ich dem Rufen und Lachen der Genossen und sah gerade noch, wie sie in eine der verrufenen Gassen bogen. Doch plötzlich ward es still vor mir, als ob die Mauern sie verschlungen hätten. Nur einer war geblieben und kam mir entgegen: Dimitri Teniawsky. 101