Eugenie Marlitt
Die zwölf Apostel
Eugenie Marlitt

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Werner hatte bewegungslos zugehört. Er mochte fürchten, durch einen tieferen Atemzug oder einen Blick die weiche Stimme zu verscheuchen, die ihm hier, in Luft und Schmerz halb gebrochen, die Tiefen einer Mädchenseele enthüllte. Als Magdalene schwieg, sagte er langsam und ohne sich nach ihr umzuwenden: »Und fiel kein einziger Liebesstrahl in Ihr Kindesleben?«

»Die Muhme hat mich mütterlich und zärtlich gepflegt – ihr Herz ist voll Liebe gegen mich«, sagte Magdalene rasch und bewegt, »aber sie mußte für Brot sorgen, und es blieb ihr keine Zeit zu beobachten, was in meinem Innern vorging. Auch hatte sie gewissermaßen eine Scheu vor meinem stürmischen Wesen, was mich später bewog, ihr gegenüber so ruhig wie möglich zu sein, um ihr keinen Kummer zu machen... Dann saß in der Schule neben mir ein schönes, kleines Mädchen mit einer sanften Stimme, die ich unbeschreiblich liebte; das Kind war barmherzig gegen mich; es spielte mit mir und nahm mich sogar einmal mit in sein elterliches Haus. Seitdem aber wurde es scheu und wich mir aus, und als ich einstmals sehnsüchtig auf der Steintreppe vor dem Hause saß, da kam ein Dienstmädchen heraus und hieß mich rauh meiner Wege gehen – die Frau Sekretärin leide es nicht, daß ihr Töchterchen mit hergelaufenen Kindern spiele... Oft, wenn ich aus der Schule nach Hause ging, begegnete ich einem Knaben, der ernst und stolz den Kopf in den Nacken warf und der doch so mild aussehen konnte mit seinen blauen Augen. Seine Locken waren so golden wie die meiner Mutter, und deshalb mußte ich ihm immer nachsehen, solange ich konnte. Ich betrachtete ihn mit ehrfurchtsvoller Scheu und meinte, in den schön gebundenen Büchern, die er unter dem Arme trug, müßten Wunderdinge stehen. Er war viel älter als ich und der Sohn vornehmer Eltern; das kümmerte mich nicht –, er sah ja aus wie meine Mutter, und deshalb mußte er gut und edel sein und ein Herz voll Mitleiden haben... Als mich aber einst eine Horde wilder Knaben mit Steinwürfen verfolgte und mich mit höhnendem Geschrei umringte, ging er vorüber. Er führte ein kleines Mädchen mit lichten Augen und farblosen Haaren sorgsam an der Hand; sie war ihm verwandt und hieß Antonie, sie zeigte geringschätzend auf mich, das berührte mich nicht, aber von ihm dachte ich, er wird dich schützen und die bösen Kinder verjagen... Oh, wie weh tat es, als er von fern stehenblieb, Abscheu in den Zügen und das kleine Mädchen an sich drückend, als könne mein Anblick ihr schaden... Wahrlich, er war schlechter noch als meine Verfolger; denn es hätte nur eines Wortes aus seinem Munde bedurft, um mich vor der Verwundung zu schützen, deren Narbe ich noch am Arme trage... Es war, als drehe sich in jenem Augenblicke mein Herz um, und es ward voll Haß gegen den Knaben!«

Magdalene war einen Schritt näher getreten. Sie hatte immer lauter und heftiger gesprochen, und ihre Augen, die sie jetzt fest auf den jungen Mann richtete, flammten, als käme erst in diesem Augenblick jenes Gefühl zum Durchbruch.

Werner blickte auf. Er sah bleicher aus als vorher, nahm aber gelassen den Bleistift auf und schnitt ihn zurecht, indem er fragte: »Und – hassen Sie ihn noch?«

»Oh, mehr als je!« stieß Magdalene leidenschaftlich heraus. »Ich mag ihm nie mehr begegnen!... Einen Gifttropfen, der zerstört, segnet man nicht!«

Mit diesen Worten wandte sie sich um und eilte durch den Kreuzgang hinauf in die Stube, die sie hinter sich verriegelte. Hier stand sie eine Weile atemlos und mit starren Augen am offenen Fenster und wiederholte sich, was eigentlich geschehen war. Sie hatte sich hinreißen lassen, vor einem Manne, den sie selbst herzlos und hochmütig nannte, die Wunden ihrer Seele zu enthüllen, sie, die bis dahin zu stolz gewesen war, vor fremden Ohren je eine Klage laut werden zu lassen. Sie hatte ein Erlebnis erzählt, das, wenn auch in ihr Kindesleben fallend, doch von großem Einfluß auf ihr innerstes Sein gewesen war und das in jüngster Zeit wieder die heftigsten Kämpfe in ihr hervorgerufen hatte... Nie hatte selbst die Muhme erfahren, wie dem armen Kinde der ganze Sonnenglanz seiner Seele, die kindliche Schwärmerei für ein aus der Ferne abgöttisch verehrtes Wesen grausam entrissen wurde. Nie aber hatte Magdalene sich selbst eingestehen mögen, daß das heranwachsende Mädchen später jenen Vorfall in der Erinnerung zu verwischen suchte und gern das Ideal ihrer Kindheit mit dem stolzen, lockenumwallten Gesicht in ihren Träumen heraufbeschwor. Sie sträubte sich ja noch in diesem Augenblick leidenschaftlich gegen das Bewußtsein, daß kein Gedanke sie beseele, der nicht ihm gehöre, keine Regung in ihrer Brust auftauche, die nicht von ihm spreche, ja, daß sie mit jeder Faser ihres Lebens an ihn gekettet sei, der auf der eisigen Stirn ihr nur Hohn und Spott entgegenhielt... Und nun war vieles über ihre Lippen geschlüpft, das aus dem tiefinnersten Geheimnis hervorging, und zwar vor ihm, der es nie und nimmer hätte wissen sollen. Mußte nicht die Treue, mit der sie jene Episode der Kinderzeit festgehalten, die leidenschaftliche Aufregung, in die sie bei ihrer Erzählung geriet, ihm notwendig zeigen, in welchem Maße ihre Seele von ihm erfüllt war?... Es war ihren Blicken nicht entgangen, trotz der strengen Beherrschung seiner Züge, daß Werner in der Schilderung des Knaben sich erkannt hatte – einen Moment war dies ruhige kalte Gesicht bleich geworden, ohne Zweifel im Zorn darüber, daß ein Mädchen den Mut haben konnte, ihm, dem verwöhnten, vornehmen Mann, gegenüber ungescheut zu sagen, sie hasse ihn... Das war ein Triumph für sie gewesen, eine glänzende Sühne für die Qualen, die jene hochmütigen Augen, jenes spöttische Lächeln ihrem Herzen so oft zugefügt hatten. Ja, sie hatte sich und ihren Mädchenstolz einen Augenblick vergessen; aber sie hatte auch gesiegt...

Und doch weinte sie jetzt über diesen Sieg heiße Tränen; ja, es war ihr, als klaffe unter ihm ein Grab, in das sie das liebste Eigentum ihrer Seele mutwillig selbst gestoßen habe.

Aus dem Gewirr von widersprechenden Gedanken, welches in ihrem Kopf auf und ab wogte, trat nur einer klar ausgeprägt vor ihre Seele, und sie griff nach ihm als dem einzigen Rettungsanker – sie mußte nun unausbleiblich fort, weit fort. Es half zu nichts, wenn sie in eine andere nahe gelegene Stadt ging – sie durfte keine deutsche Luft mehr atmen, keinen deutschen Himmel mehr über sich sehen, das Meer mußte zwischen ihm und ihr liegen – sie wollte fort, weit, weit fort.

Als gäbe dieser Gedanke ihr neue Flügel, lasse sie aber auch jetzt schon nirgends mehr rasten, eilte sie aus der Stube und betrat mechanisch wieder den Kreuzgang. Beim ersten Blick überzeugte sie sich, daß Werner den Garten verlassen hatte. Sie lief rastlos auf und ab, ihr Denken angestrengt auf den einen Punkt gerichtet, wie sie sich Reisemittel verschaffe, bis sie sich todmüde auf das Postament setzte, das jahrhundertelang die Statue der Jungfrau Maria getragen hatte. Sie schloß die Augen und schmiegte sich an das Gemäuer, das eine erfrischende Kühle über ihre brennenden Glieder hauchte. Tiefe Stille herrschte in dem kleinen Winkel, die kein Lüftchen zu stören wagte; nicht einmal die Ranken des Ginsters bewegten sich, die, droben um die Säulenknäufe gewickelt, ihre Enden mutwillig und frei in der Luft hängen liegen... Nur dann und wann, sobald das junge Mädchen aufzuckte und hastig seine Stellung änderte, ließ sich ein leises Knirschen in der Wand hören, wobei das Postament jedesmal leicht erzitterte. Zu tief in sich selbst versenkt, hatte Magdalene anfänglich dies seltsame Geräusch nicht weiter beachtet; einmal aber stieß sie heftiger an eine hervorragende Stelle in dem untern Mauerwerk und wurde in dem Augenblick unter einem widrigen Gekreisch, das aus dem Gemäuer zu kommen schien, samt dem Postament stark gerüttelt. Das kam ihr grauenhaft vor. Sie sprang auf und floh einige Schritt in den Garten hinaus. Bald aber kam sie zurück. Schien doch die Sonne so lebenswarm und goldig herein; eben flogen die Schwalben, deren Nester an den umgrünten Säulen des Ganges hingen, unbeirrt und fröhlich zwitschernd aus und ein, und über die Gartenmauer klang helles Kindergelächter... Sie schämte sich ihres Grauens und fing an, die Sache ernsthaft zu untersuchen.

Über dem Postament, neben einem weit hervortretenden Stein befand sich eine Art Knauf, rund und massiv, wie man sie noch hier und da an sehr alten Türschlössern findet. Er war bisher unbemerkt geblieben, weil ihn die Statue vollkommen verdeckt hatte. An diesen Knauf hatte Magdalene mit dem Arm gestoßen... Unwillkürlich fiel ihr die Sage von den zwölf silbernen Aposteln ein, die, einst im Besitz des Klosters, noch in einem unterirdischen Gang desselben liegen sollten. Der Volksmund hatte freilich auch hier nicht verfehlt, schwarze Kettenhunde mit tellergroßen, glühenden Augen bewachend vor den Aus- und Eingang zu plazieren und letzteren verschwinden zu lassen, sobald ihn das ungeweihte Auge eines Sterblichen berühre... Wenn nun hier die Lösung dieses Geheimnisses vor ihr lag? Wenn ihr vielleicht vorbehalten war, jenen Schatz zu heben, von dessen Wert und Größe die Sage Unglaubliches fabelte?... Welche Genugtuung für sie, wenn sie dann diesen geldstolzen Stadtbewohnern, und vor allem ihm, diese Silbermassen verschmähend vor die Füße werfen konnte, nichts für sich behaltend als die Mittel, die es ihr möglich machten, die Stadt verlassen zu können!... Aber das war ja alles so märchenhaft lächerlich! Nur eine aufgeregte Phantasie konnte mitten in die Wirklichkeit solche Luftschlösser zaubern. Trotz dieses Raisonnements des Verstandes faßte Magdalene den Knauf. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, ihn umzudrehen, stieß sie ihn endlich mit Gewalt in die Mauer zurück, und siehe da – mehrere Quadersteine, die ohnehin aussahen, als wollten sie jeden Augenblick aus dem Gemäuer herausfallen, schoben sich unter lautem Geräusch, und eine mächtige Staubwolke aufwirbelnd, langsam vorwärts. Ein breiter Spalt erschien in der Mauer, und nun sah Magdalene, daß die Quadern keineswegs so dick im Durchmesser waren, als von außen schien; sie waren vielmehr dünn gespalten und geschickt auf einer eichenen Tür befestigt, die sich jetzt ohne Mühe weiter öffnen ließ. Unmittelbar zu Magdalenes Füßen führten acht bis zehn ausgetretene Stufen in die Tiefe. Drunten aber dämmerte es grüngolden, wie wenn die Sonne durch dichtes Laubwerk dringt. Es sah ganz und gar nicht unheimlich aus, und deshalb stieg Magdalene auch rasch entschlossen die Treppe hinab. Unten angelangt, sah sie einen schmalen, ziemlich niedrigen Gang vor sich, der links, dicht an der Decke, schmale, aber lange Öffnungen hatte, durch welche frische Luft und ein gedämpftes Licht einströmten. Der Gang lief ohne Zweifel parallel mit der Klostermauer droben, die im Verein mit der lebendigen Wand von dichtem Buschwerk dem Auge die Luftlöcher von außen entzog. Der Boden des Ganges war mit einem feinen Sande bedeckt, und auf den Wänden saß der Mörtel noch so fest in dem Steingefüge, als seien erst Jahre und nicht Jahrhunderte an ihm vorübergestrichen.

Magdalene schritt weiter. Der Gang senkte sich ziemlich steil abwärts, und plötzlich tat sich zur Rechten des Mädchens ein zweiter Gang auf, der sie in tiefster Finsternis angähnte. Sie eilte erschrocken vorüber, immer den grün schimmernden Leitsternen folgend, die so tröstlich in den Hauptgang hereinglänzten. Eine Strecke lang jedoch hörten auch diese auf. Eine starke Erschütterung über ihr ließ sie vermuten, daß sie sich unter einer belebten Straße voll Wagengerassel und Menschenverkehr, wahrscheinlich unter dem Marktplatz, befinde. Der Gang bildete hier eine scharfe Ecke nach rechts, und beim Umbiegen glänzten ihr droben die Lichter wieder entgegen.

Magdalene war nun ziemlich lange geschritten, allein nirgends, weder an den Wänden noch am Boden war eine Spur der Klosterschätze zu entdecken. Ihr Fuß watete in dem weichen mehlartigen Sande, ohne einen anderen Gegenstand zu berühren, und in den Luftlöchern droben zeigte sich manchmal der schillernde Schuppenleib einer vorüberhüpfenden Eidechse – das war alles!

Noch einige Schritte, und sie stand vor einer Tür, die genauso aussah wie die am Eingang. Magdalene blieb zögernd stehen. Ohne Zweifel löste sich hier das Rätsel, aber wie?... Wenn nun dieser unbekannte Raum da vor ihr Miasmen aushauchte, die sie augenblicklich betäubten und ihren Tod unvermeidlich herbeiführen mußten?... Hier unten wollte sie nicht sterben – der Gedanke war entsetzlich – sie trat einen Schritt zurück... Aber nun flog alles, was sie heute schon gelitten, wieder durch ihre Seele. Noch vor einer Stunde schien ihr kein Preis zu hoch, ihre Seelenruhe wiederzuerlangen, und war, selbst wenn sie hier unten sterben sollte, dieser Gedanke schrecklicher als das Bewußtsein, daß sie nun ein vielleicht langes Leben, so freudenleer und sonnenlos, mit müdegehetztem Herzen an einem verhaßten Orte hinschleppen müsse?... Ihre Pulse klopften hastig. Es war, als ob Stürme ihr Haupt umbrausten und mit schwarzen Flügeln über ihre Augen wehten... Sie faßte den Knauf an der Tür und stieß ihn zurück – ein lauter Krach, begleitet von Rasseln, betäubte ihr Ohr – ein Strahl, als ob die Sonne ihre ganze Lichtgewalt hier ausströmen wolle, blendete ihre Augen – sie wankte einen Schritt vorwärts und verbarg ihr Gesicht in beiden Händen, während abermals ein donnerähnliches Gepolter hinter ihr ertönte und den Boden unter ihren Fügen erschütterte.

Endlich schlug sie die Augen auf... Wo war sie?... Vor ihr lag ein reizendes Blumenparterre; über ihr wölbte sich eine Gruppe prächtiger Linden; sie selbst stand auf einem reinlichen Kiesplatz, und das leise Rauschen einer Fontäne schlug an ihr Ohr, deren silberner Strahl nicht weit von ihr durch das Gebüsch schimmerte.

Im ersten Augenblick erschien dem jungen Mädchen, das aus dem schwachen Dämmerlicht eines engen Schachtes trat, die ganze Umgebung blendend und feenhaft. Kein Wunder, wenn ihrer reichen Phantasie die überraschenden Lösungen der Märchenwelt vorschwebten. Aber nach einem einzigen forschenden Blick sanken die hochgehobenen Flügel der Einbildungskraft und machten einem heftigen Schrecken Platz... Himmel, sie stand auf fremdem Grund und Boden, in dem Garten irgendeines vornehmen Hausbesitzers!... Unter einem lustigen Pavillon, jenseits des Blumenparterres, saß eine reizende Gruppe junger Mädchen. Sie plauderten, nachlässig in den Sessel zurückgelehnt und eine Arbeit in den Händen haltend, während mehrere andere einen Rosenstrauch in der Nähe plünderten und unter lautem Lachen die prächtigen Centifolien in ihre Flechten steckten. Sie flatterten in ihren leichten, weißen Gewändern wie Tauben durch die Gebüsche, und Magdalene blieb, trotz ihres tiefen Schreckens, einen Augenblick wie angefesselt vor dem wunderlieblichen Bilde stehen. Dann aber wollte sie in den Gang zurückfliehen. Sie wandte sich um – da war jedoch keine Tür, keine Maueröffnung zu sehen, wohl aber starrte sie aus einem grünbemoosten, mächtig wallenden Barte das ernste Steingesicht eines großen Heiligenbildes an.

Mit bebenden Händen tastete sie an der Mauer nach einem Knauf oder irgendeinem Mittel, die verschwundene Pforte wieder aufzufinden. Sie durchwühlte die Brennesseln am Fuße der Statue, befühlte jede Steinfalte des priesterlichen Gewandes und rüttelte zuletzt verzweiflungsvoll an dem Bilde, das wie zürnend seine starren Augen auf sie gerichtet hielt – vergebens, hier war ihr der Rückzug abgeschnitten, und vorwärts konnte sie nicht gehen, ohne den Hausbewohnern zu begegnen... Sie mußte an den Auftritt in Werners Hause denken. Ihre ärmliche Kleidung, die nicht einmal durch ein schützendes Tuch bedeckt war, konnte ihr auch heute ähnliche Demütigungen zuziehen. Sie sah ein, daß man anfänglich ihrer Erzählung keinen Glauben schenken würde, weil sie ja so unglaublich klingen mußte, und bis sie imstande war, die Wahrheit zu beweisen, wie viele Anfechtungen hatte ihr stolzes Gemüt bis dahin zu erdulden!

Noch einmal blickte sie hinüber nach den jungen Mädchen; sie sahen so harmlos und lieblich aus, sie waren jung wie sie, vielleicht, wenn sie mutig auf sie zuging und ihr Abenteuer erzählte, glaubten sie ihr und nahmen sie bis zur einbrechenden Dunkelheit auf oder gaben ihr eine Hülle, um über die Straße gehen zu können.

Schnell betrat sie den Kiesweg, der drüben vor dem Pavillon mündete, aber kaum hatte sie das erste Blumenbeet erreicht, als sie heftig erschrocken stehenblieb. Aus einem großen, eisernen Gittertor, gerade ihr gegenüber, trat im schwarzen Seidenkleide, einen mächtigen Schlüsselbund über der sorgsam vorgebundenen weißen Schürze, die Rätin Bauer, gefolgt von ihrer Enkelin, die gleich der hinter ihr gehenden Magd eine Platte voll Tassen und Kuchenkörbe trug. Es blieb Magdalene kein Zweifel, der unterirdische Gang war ein Verbindungsweg zwischen zwei Klöstern gewesen, sie befand sich in Werners Garten.

Das Herz stand ihr fast still vor Angst, aber da kam ihr plötzlich ein trostreicher Gedanke. In diesem Hause wohnte ja auch ihr alter, guter Jakob; wenn es ihr gelang, seine Stube zu erreichen, dann war sie geborgen. Die Fenster des hohen Wohnhauses blinkten durch die Reste einiger Kastanienbäume über ein niedriges Dach, jedenfalls das Hintergebäude, zu ihr herüber. Sie wußte nun die Richtung, die sie einzuschlagen hatte, und bog in einen schmalen Seitenweg ein, der durch ein Boskett führte.

Nach wenigen Schritten stand sie vor einem kleinen Gebäude, das sich an die Rückwand des Hinterhauses lehnte und oben große Glasfenster hatte. Halb zugezogene seidene Gardinen verbargen das Innere, zu welchem mehrere an beiden Seiten mit Topfgewächsen besetzte Stufen führten. Vielleicht stand dies Zimmer in Verbindung mit dem Hintergebäude oder führte wenigstens in den Hofraum. Magdalene trat schnell hinein; es war niemand darin, aber es hatte auch, wie es schien, keinen zweiten Ausgang.

An der Wand hin, die keine Glasscheiben hatte, liefen Bänke mit dunkelroten Polstern. In der Mitte stand eine verhüllte Staffelei, und auf den Tischen lagen im bunten Durcheinander Zeichnungen und Bücher. Das war ohne Zweifel Werners Atelier. Einen Augenblick blieb sie wie angezaubert stehen und blickte in den Raum, den die zugezogenen Gardinen in eine grüne Dämmerung hüllten... Hier schaffte und waltete er, und hier auch, hatte der alte Jakob gesagt, war das Bild des italienischen Mädchens, das Werner als seine zukünftige Frau bezeichnet hatte... Wenn sie einen Zipfel der Hülle über der Staffelei hob, dann konnte sie vielleicht die Züge derjenigen sehen, der es gelungen war, jenes stolze Herz zu besiegen... Nein, und wenn es Engelszüge waren, sie hätte sich nicht überwinden können, das Tuch zu lüften.


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