Eugenie Marlitt
Die zwölf Apostel
Eugenie Marlitt

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Ach du lieber Gott, Jakob, ist das ein Schicksal mit dem Lenchen!« seufzte die Seejungfer einige Tage nach jenem Vorfall, indem sie Jakobs Stübchen betrat.

»Ja, was ist denn mit dem Mädchen?« fragte Jakob erschrocken.

»Hättet Ihr denn geglaubt, daß mir das Mädchen das noch in meinen alten Tagen antun würde?« entgegnete Suschen, und heiße Tränen liefen über ihre Wangen. »Ich bin ein armes, geplagtes Weib mein Lebtag gewesen«, fuhr sie fort, »aber ich habe alles geduldig auf meinen Rücken genommen, so wie mir's unser Herrgott beschert hat, aber jetzt wird mir's zuviel... Das ist doch das Schlimmste, was ich nun noch erleben soll, das Lenchen will fort, will durchaus fort in die weite Welt, und ich soll nun wieder allein sein. Bin nun meine sechzig Jahre alt, muß jeden Tag auf mein selig Ende gefaßt sein, und habe keine Menschenseele, die mir die Augen zudrückt... Ach, ach!«

»Ja, wie kommt denn das Mädchen mit einemmal auf den Gedanken?« fragte Jakob erstaunt.

»Ich weiß nicht«, entgegnete die Seejungfer, indem sie ihre Augen mit dem Schürzenzipfel trocknete, »aber sie ist gerade wie ausgewechselt seit dem Abend, wo die alte Rätin da drüben – na, die Strafe wird da auch nicht ausbleiben – so grob mit uns war. Das Mädchen ißt und trinkt nicht mehr, und gestern abend, als wir still beieinandersaßen und noch kein Licht angesteckt hatten, da legte sie ihren Arm um meinen Hals, wie sie als Kind immer getan hat, wenn ich ihr was gab oder sie ins Bett brachte... ›Liebe, gute Muhme‹, sagte sie, ›Ihr habt mich lieb, gelt?... Ich weiß es ja, so lieb, als ob ich Euer eigen Kind wäre... Eine gute, echte Mutter bringt ihrem Kinde jedes Opfer und fragt nicht, ob es schwer oder leicht ist – gerade so habt Ihr ja auch immer an mir gehandelt... Und wenn nun so eine Mutter weiß, daß ihr Kind rechte Schmerzen leidet, und einsieht, daß es nur wieder gesund werden kann, wenn sie sich von ihm trennt, so tut sie das auch, gelt, Muhme?‹ Ach, Jakob«, unterbrach sich die Seejungfer, und neue Tränen stürzten hervor, »ich wußte zwar eigentlich noch nicht, wo sie hinauswollte, aber so viel merkte ich doch, daß sie nicht mehr bei mir bleiben will, und da weinte ich bitterlich... Sie sagte mir nun, daß sie's hier nicht mehr aushalten könne – die Menschen seien nicht gut gegen sie; sie wolle in einer fremden Stadt einen Dienst suchen. Gelernt hätte sie ja ihre Sache und verspreche mir heilig, daß sie mir jeden Groschen, den sie verdiene, schicken wolle... All mein Zureden war in den Wind gesprochen, und als ich Licht gemacht hatte, da holte sie ihr Sparbüchschen aus dem Schranke und zählte das Geld – es waren sechs Taler – wie sauer hat sie die verdient! Sie meinte, damit käme sie freilich nicht weit, doch bis in eine andere größere Stadt reiche es vielleicht... Ach, Jakob, ich bitte Euch um Gottes willen«, wandte sich die Seejungfer an den Alten, »redet dem Mädchen die Sache aus... Ich schlafe keine Nacht mehr ruhig, wenn ich das Lenchen unter fremden Leuten weiß... Sie ist ja so absonderlich; es wird niemand die Geduld mit ihr haben wie ich, und sie wird schlecht behandelt.«

Jakobs Frau, eine sehr praktische Natur, beleuchtete die Sache von einer anderen Seite und meinte, das könne vielleicht dem Lenchen ein Glück sein. Die Seejungfer habe ja auch nicht das ewige Leben, und dann müsse das Mädchen doch hinaus. Davon aber wollten weder Suschen noch Jakob etwas hören, und letzterer versprach der geängstigten alten Jungfer, heute abend noch ins Kloster zu kommen und Lenchen den Kopf zurechtzusetzen, wie er sich ausdrückte.

Die Seejungfer hatte nicht übertrieben, wenn sie Magdalene gänzlich umgewandelt nannte... Wo war die Elastizität ihrer Bewegungen geblieben? Jene sichere, stolze Haltung des Kopfes, die an ihr stets auffallen mußte und die im Verein mit den ausdrucksvollen Gesichtszügen und dem eigentümlich bewußten Blick auf eine große geistige Kraft schließen ließ... Das Aussehen des jungen Mädchens schien selbst den Klosterbewohnern aufzufallen; denn heute, als sie der Muhme den Waschkorb bis an das äußere Tor getragen hatte und nun über den Hof langsam zurückkehrte, da schob der Nachbar, ein fleißiger Leinweber, sein Fenster auf und rief: »Na, Lenchen, du bist wohl so traurig, weil die ungezogenen Kinder das alte Muttergottesbild aus dem Kreuzgang drüben, deine Marie, vor der du so oft sinnend gesessen hast, von dem Postamente heruntergeworfen haben?«

Magdalene sah auf, als erwache sie aus einem Traume; er aber sagte: »Nun ja, wenn du's noch nicht weißt, da gehe einmal hinein – ich hab's heute morgen gesehen.«

Auf des Leinwebers Mitteilung hin öffnete Magdalene die Tür und sah auch schon von weitem das Marienbild vor dem Postament liegen. Vor einigen Wochen noch, als einer der Knaben hinaufgeklettert war und im Begriff stand, das hölzerne Gesicht mit schwarzen Augenbrauen und einem ebensolchen Bart zu versehen, hatte sie dem kindlichen Vandalen eine so leidenschaftliche Strafpredigt gehalten und ihn mit so zornigen Augen dabei angesehen, daß er erschrocken davongelaufen war. Heute aber hob sie still und geduldig das geschändete Bild auf, wischte die Erde aus dem Gesicht und lehnte es sorgfältig in die Ecke neben das Postament. Dann schritt sie langsam durch den großen offenen Bogen hinaus auf den Rasenplatz, der, von Kirche und Kloster rings eingeschlossen, einsam und sonnenbeschienen dalag... Wie oft war sie flink über diesen Grasfleck weggehuscht, um gewandt auf einigen Mauervorsprüngen nach dem offenen Kirchenfenster zu klettern, in welchem sie verschwand. Dann war sie allein in der schaurig stillen Kirche; nichts störte sie als der Schall ihrer eigenen Schritte oder das Gezwitscher eines Vogels, der sich draußen auf dem Holunderbusch niederließ, neugierig den Kopf in die düsteren, kühlen Hallen steckte und dann erschrocken davonflog, um sich aufs neue im Sonnenglanz zu baden. Hier unter diesen gewaltigen Säulen atmete sie auf, und ihrer im engen Stübchen mattgedrückten Seele wuchsen die Schwingen... Ihre Phantasie beschwor die Zeiten herauf, wo noch der Weihrauch durch diesen Raum flutete, wo die Hora klang und prächtige Meßornate am Hochaltar schimmerten. Sie sah bleiche Nonnengesichter an der zertrümmerten Orgel sitzen und mit bebenden, blassen Händen die vergilbten Tasten berühren... Wie oft mochten diese Töne den Schmerz eines heißen, gewaltsam unterdrückten Herzens ausgehaucht haben... Sie beobachtete die Sonnenstrahlen, wie sie durch die Reste der bunten Glasmalerei im hohen Fensterbogen glitten, die Farbenpracht zitternd auf die schlanken Säulen warfen und sie hinauftrugen in die kunstvollen Schnörkel und Rosetten der Knäufe, die wohl seit dem letzten Meißelschlag des längst in Staub und Asche zerfallenen Meisters keine Menschenhand wieder berührt hatte. Stundenlang konnte sie neben jenem alten Madonnenbild sitzen und sich in die Heimat träumen, wo sie Tausende in heißer Inbrunst vor einem solchen Bilde hatte knien sehen, wo ihr Vater nie vorübergegangen war, ohne ehrfurchtsvoll das Haupt zu entblößen und gläubig das Zeichen des Kreuzes zu machen... An alle diese Dinge aber schien Magdalene in diesem Augenblick nicht zu denken. Es war, als bebe sie fröstelnd vor den dunklen Kirchenmauern zurück und als fühle sie zum erstenmal die totenähnliche Stille des verlassenen Tempels, der im glühenden Sonnengold dalag wie ein riesiger Leichnam unter Purpur und goldenen Decken. Sie hatte sich, den Rücken nach der Kirche gewendet, unter einen alten Apfelbaum gesetzt, auf dessen verwittertem Stamm sich nur noch ein einziger, aber breiter und voller Ast wiegte. Lang aufgeschossene Gräser, an denen grüngoldene Käfer geschäftig auf und ab liefen, bogen ihre befiederten, blühenden Spitzen an ihre Knie, und eine zahlreiche Familie großer Kamillen duftete zu ihren Füßen.

... Und wenn sie nun Muhme, Kloster und Stadt verließ; wenn sie hinausging in die weite Welt, über dem Haupt mit den quälenden Gedanken einen anderen Himmel; wohin sie blickte, fremde Gesichter, auf denen nichts Wohlbekanntes stand; ihr ungestümes Herz inmitten einer Menschenflut, die achtlos vorüberbrauste, nichts von ihr nahm und nichts zurückgab – ja, das gerade wollte sie, allein sein, nichts mehr hören vom Vergangenen, keinem liebevoll und ängstlich fragenden Blick begegnen... vergessen, vergessen! Darin lag die Heilung eines plötzlich aufgerüttelten Herzens, das im Riesensturm ungeahnter, neuer Empfindungen ihr ganzes Inneres aus den Fugen zu reißen drohte... Wohl fielen die Tränen der alten, treuen Muhme schwer in die Waagschale und rissen an tausend zarten Fäden ihrer Seele; aber wie klein war dieser Schmerz gegen die Qual, die sie sich durch ihr Bleiben auferlegte, unter der sie erliegen mußte, wenn sie nicht floh!... Wie furchtbar hatte sie in den letzten Wochen gelitten! Sie meinte, sich selbst verachten zu müssen, weil sie da nicht hassen konnte, wo sie sollte und mußte... Wie geschäftig war ihr Herz gewesen, einen strahlenden Nimbus um sein Bild zu zaubern, als er neulich sie und die Muhme gegen seine Tante beschützte! Tags darauf begegnete sie ihm im Klosterhof, als er den Kirchenschlüssel bei der Muhme holen wollte. Sein eisiges Gesicht, die vornehme Ruhe seiner Haltung und die wenigen, gleichgültigen Worte, die er an sie richtete, zeigten ihr abermals, wie töricht es sei, in diesem kalten Herzen reges Mitgefühl vorauszusetzen. Er hatte einfach seine Rechte als Hausherr der anmaßenden Tante gegenüber vertreten wollen, und deshalb war es ihm jedenfalls sehr gleichgültig, wer die Veranlassung zu dieser Zurechtweisung gewesen.

Ein Vogel, der lange auf einem Zweig über ihr auf und ab spaziert war, flog schnell davon. Sie beachtete es nicht; als sie aber den feinen Duft einer Zigarre plötzlich einatmete, da fuhr sie erschrocken in die Höhe und blickte um sich. Eine Männergestalt, den Rücken nach ihr gekehrt, saß nicht weit von ihr auf einem großen, bemoosten Steine und zeichnete. Diese Männergestalt war Werner. Er schien in seine Arbeit so vertieft, daß Magdalene, welcher das Herz vor Schrecken heftig klopfte, hoffen konnte, er habe sie gar nicht gesehen, und sie könne unbemerkt entschlüpfen.

Leise erhob sie sich und glitt wie ein Schatten unter dem überhängenden Ast weg, das Auge voll Angst auf den emsig Zeichnenden geheftet.

Aber kaum hatte sie sich von ihm einige Schritt weit entfernt, als Werner ohne aufzublicken hinüberrief: »Verzeihen Sie, daß ich in Ihr Reich eingedrungen bin!«

Darauf wendete er sich um nach ihr und lüftete den Strohhut, der leicht auf seinem dunkelblonden Haar saß.

Augenblicklich verwandelten sich Magdalenes Gesicht und Haltung. Die scheue Angst verschwand und machte einem finsteren Trotz Platz.

»Mein Reich?« wiederholte sie bitter, indem sie stehenblieb. »Nicht eine Fußstapfe Weges hier möchte ich so nennen, ohne mit der wohllöblichen Stadtbehörde in Konflikt zu geraten.«

»Nun, auch ich will sie nicht in ihrem Besitz verkürzen«, entgegnete Werner, indem er gleichmütig mit dem Gummi eine nichtgeratene Linie wegwischte. »Ich kann jedoch nicht glauben, daß sie auch Beschlag legt auf die mystische Luft, die um die alte Kirche weht, und in diesem Reich, meine ich, begegnen wir uns. Ich kann nicht einen Augenblick auf diesem Stein sitzen und das dunkle Gemäuer gegenüber ansehen, ohne daß nicht auch sogleich geheimnisvolle Gestalten auftauchen, welche jene Bogen, Nischen und Pfeiler bevölkern... In der Fensterhöhle dort, die auch nicht eine einzige Glasscheibe mehr aufzuweisen hat, sehe ich zum Beispiel stets eine Mädchengestalt aus und ein schlüpfen, so oft ich auch hinüberblicke... Vielleicht der Schatten einer unglücklichen jungen Nonne, welche das schöne Leben gänzlich nicht verstanden hatte und nun ruhelos das verschmähte Glück sucht – was meinen Sie dazu?«

Magdalene fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. Ohne Zweifel hatte Werner sie auf ihrem Weg in die Kirche beobachtet. Sie war entrüstet über diese Indiskretion, sagte aber ziemlich ruhig: »Ich habe hier ganz und gar keine Meinung. Die Spukgestalten des Klosters haben mich bis jetzt nicht für würdig gehalten, sie sehen zu dürfen. Auf alle Fälle möchte ich jedoch jener vermeintlichen Nonne raten, sich künftig auf ihre enge Behausung zu beschränken, denn es mag selbst einem Schatten nicht gleichgültig sein, wenn ein fremder Blick in sein Walten und Wesen eindringt.«

Ein feines Lächeln, das jedoch ebenso schnell wieder verschwand, erschien im Gesicht des jungen Mannes. Er blickte aufmerksam nach dem Kirchenfenster, warf in zarten Linien die schöne reine Spitzbogenform auf das Papier und sagte gelassen: »Gewiß nicht, vorzüglich wenn dieser Schatten, von bitterer Weltanschauung erfüllt, in jedem harmlosen Begegnenden eine feindliche Gestalt sieht, die ohne weiteres mit Feuer und Schwert bekämpft werden muß... Weh mir, wenn jene Himmelsbraut so denkt! Ich komme dann vielleicht in den traurigen Fall, bei der nächsten Begegnung als unschuldiges Opfer einer Rache zu fallen, welche die Erdbewohner des sechzehnten Jahrhunderts heraufbeschworen haben.«

»Wie leicht mag es sein, über trübe Lebenserfahrungen zu spotten, wenn man im Schoße des Glückes sitzt!«

»Ohne Zweifel sehr leicht, nicht ganz recht zwar und vielleicht auch ein wenig leichtsinnig... aber ich weiß nicht, ob ich diesen gefährlichen Übermut nicht weit weniger verdammungswürdig finden soll als zum Beispiel das Gebaren einer jungen Seele, die nach trüben Erlebnissen und Enttäuschungen alle Fühlfäden einzieht und sich der greulich verderbten Welt nur bis an die Zähne bewaffnet zeigt... Ah, ich sehe deutlich an Ihrem Gesicht, daß Sie nicht meiner Meinung sind!«

Er legte den Bleistift hin, stützte den Ellbogen auf das Zeichenbrett, welches auf seinen Knien lag, und maß das junge Mädchen mit einem sarkastischen Lächeln. »Gut denn«, fuhr er fort, »Sie sind ein Anwalt jener Seele aus dem einfachen Grunde, weil Sie ebenso handeln würden oder vielleicht schon so gehandelt haben. Aber ich sehe nicht ein, was Sie berechtigt, der gesamten Menschheit so ohne weiteres den Fehdehandschuh hinzuwerfen... Sie stehen hier auf einem eng begrenzten Fleckchen Erde. Dort drüben hören die Klostermauern auf, dann sind da draußen einige wenige Straßen mit wenigen, wenigen Menschen, weiter kommt etwas Feld und Wald mit der einsamen Spitze eines Dorfkirchturms oder dem langen Arme eines Wegweisers, und dann ziehen die Berge eine enge Linie, über die das Auge nicht hinaus kann; ich wette, weiter kam auch Ihr Fuß und Blick nicht, als bis zu diesem Horizont!...«

»Und deshalb ist es eine unverzeihliche Anmaßung von mir, ein Urteil über Welt und Menschen zu haben«, unterbrach ihn Magdalene, indem sie auf seinen spöttischen Ton einzugehen suchte, wobei jedoch ihre Stimme merklich zitterte. »Es gibt aber noch andere Wege«, fuhr sie fort, »die über engen Horizont und beschränkte Verhältnisse hinausführen, und ich nehme mir deshalb die Freiheit, zu denken, daß die moralischen Gebrechen der Menschheit überall dieselben sind – wie sich ja der Mond mit seinen Flecken im kleinsten Gewässer genau so abspiegelt wie im unermeßlichen Weltmeer... Übrigens«, fuhr sie nach einer Pause fort, indem sie tief Atem schöpfte, »muß ich Sie ersuchen, nicht zu früh zu wetten; denn ich habe diese Berge schon einmal überschritten und weiß seit jenem Moment genau, was jene ersten, unseligen Menschenkinder empfinden mußten, als das Paradies hinter ihnen geschlossen wurde – ich vertauschte damals meine südliche Heimat mit dem Norden.«

»Ach, Sie waren ja damals noch ein kleines Kind!«

»Aber kein Kind, das gedankenlos auf dem heimischen Boden umherhüpft, das, infolge der Gewohnheit des täglichen Anschauens, keinen Begriff für Schönheit oder Häßlichkeit seiner Umgebung hat!« entgegnete Magdalene heftig. »Oh, ich wußte, daß meine Heimat schön war!... Der Schaum des Meeres netzte meine Füße, und über mir rauschte der Lorbeer... Und das Sonnenlicht, wie flammt es dort! Wie glüht der Mond, wenn er feierlich heraufschwebt! Das ist Licht und Glut, das ist Leben!... Ihr nennt die blasse Luft da oben ›den Himmel‹... Wenn sonntags die Kirchenglocken verstummt sind, dann verlaßt ihr euer Haus und wandelt bedächtigen Schrittes vor die Tore, erzählt euch, was euer Nachbar alles nicht hätte tun sollen, und sagt dann und wann: ›Ei, wie schön blau ist heute der Himmel!‹... Ach, daheim, da lag ich stundenlang vor der Tür, unter den Bäumen! Ich hörte das Brausen des Meeres, wie es sich gegen den Strand bäumte; auf den Zweigen über mir zitterte es golden – sie bewegten sich leise, und das tiefe, prächtige Blau flutete herein – das ist Himmel! – der Himmel, den ich mir voll schöner Engel denke!... Man schleppte mich hierher, wo die Sonne mich kalt ansieht wie die Augen der Menschen; wo der Schnee lautlos niederfällt und tückisch die letzten Blumen erstickt. Ich wurde unter einen Haufen roher wilder Kinder gesteckt. Das Kind, das bis dahin nur die weiche Hand einer zärtlichen Mutter berührt, das ein treues Vaterauge ängstlich und unausgesetzt bewacht hatte, weil es das einzige ihm gebliebene war, es wurde von der ausgelassenen Kinderschar verfolgt und mißhandelt, weil es arm, fremd und – häßlich war und weil es nicht sein wollte wie sie, die um einen elenden Apfel rauften und die sich gegenseitig die Fehler und Mängel ihrer Eltern vorwarfen... Ich lernte den Unterschied zwischen reich und arm bitter erkennen. Der goldene Glaube, daß das Brot vom Himmel falle, zerstiebte an der sorgenvollen Stirn der alten, guten Muhme, die mühsam um den täglichen Unterhalt rang und die von den Nachbarn geschmäht wurde, weil sie mich, die Last, sich aufgebürdet hatte... Ach, wie oft empörte sich mein heißes Kinderherz! Wenn ich allein war, warf ich mich auf den Boden, weinte und schrie und rief nach meiner toten Mutter...«

Magdalene war, während sie sprach, wieder unter den Baum getreten. Das heiße Auge auf die Kirche gerichtet, sprach sie, als habe sie ihres Zuhörers vergessen und als quelle wider ihren Willen ein Gedankenstrom, bis dahin mühsam gebändigt, an das Licht, nicht achtend, an welche Ufer er rausche. Bei den letzten Worten schlang sie ihre Arme heftig um den Baumstamm und drückte die Stirn an die harte Rinde.


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